Chancengleichheit für Studierende mit Behinderungen an deutschen Hochschulen?

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-98 Gemeinsam leben (2/1998)
Copyright: © Luchterhand 1998

Das Recht auf Chancengleichheit

"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" (Artikel 3 Abs. 3 GG). Behinderte Menschen haben ein Recht auf gleiche Chancen in allen relevanten Lebensbereichen. Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen schließt ganz wesentlich die Teilhabe an Bildung und Studium, beruflicher Qualifizierung und Eingliederung als Voraussetzung für eine umfassende gesellschaftliche Integration ein.

Dieses Bildungsrecht gilt für die allgemeinen Bildungsangebote und in gleicher Weise für die Möglichkeit, an einer Universität, Gesamthochschule oder Fachhochschule ein reguläres Präsenzstudium zu absolvieren. Der Anspruch auf ein Studium mit Behinderung, der die Chancengleichheit gegenüber nicht-behinderten Studierende absichert, ist im § 2 Abs. 5 des Hochschulrahmengesetzes, in den Hochschulgesetzen der einzelnen Bundesländer und in verschiedenen Empfehlungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder sowie der Hochschulrektorenkonferenz verankert. Auch die Bundesregierung hat noch in jüngster Zeit eindeutig Position bezogen: "Die Bundesregierung hat - in Übereinstimmung mit Beschlüssen der Kultusministerkonferenz von 1982 und 1987 - wiederholt festgestellt, daß aufgrund einer Behinderung kein Studienbewerber oder Student von der Integration in die Hochschule seiner Wahl ausgeschlossen sein darf" (BUNDESMINISTERIUM ... 1994, 94).

Die Chancen junger Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten, ein Studium aufzunehmen und erfolgreich abzuschließen, sind in erster Linie von den Rahmenbedingungen des Studierens an der jeweiligen Universität oder Fachhochschule abhängig. Nach dem Hochschulrahmengesetz gehört es zu den Aufgaben und Verpflichtungen aller Hochschulen, die besonderen Bedürfnisse behinderter Studierender zu berücksichtigen. An vielen Hochschulen wurden inzwischen verbesserte Voraussetzungen für ein Studium mit Behinderungen geschaffen. Dennoch sind noch längst nicht alle Hochschulen behindertengerecht gestaltet. Auch unverzichtbare flankierende Unterstützungen und Dienstleistungen stehen nicht immer zur Verfügung. Deshalb haben behinderte Menschen nach wie vor besondere Probleme und Schwierigkeiten bei der Aufnahme, der Durchführung und dem Abschluß eines Studiums.

Die recht allgemein formulierten Vorgaben der Ländergesetze lassen den Hochschulen einen erheblichen Ermessensspielraum zur Sicherung eines Studiums mit Behinderungen. Die meisten Bundesländer treffen keine eindeutigen Vorkehrungen, um den besonderen Bedarfen behinderter Studierender gerecht zu werden. Die konkrete Ausdifferenzierung geeigneter Maßnahmen zur Unterstützung behinderter und chronisch kranker Studierender liegt in der Autonomie und Selbstverwaltung der einzelnen Hochschulen.

Die Beschlüsse der Hochschulrektorenkonferenz von 1982 und der Westdeutschen Rektorenkonferenz (heute Hochschulrektorenkonferenz) von 1986 zu einem Studium mit Behinderungen sind lediglich Empfehlungen, die in der Landeshochschulpolitik und von den Hochschulen berücksichtigt werden sollten, stellen aber keine normative Vorgabe dar. Daraus ergibt sich, daß die Empfehlungen der Gremien auf Bundesebene lediglich auf "freiwilliger Basis" umzusetzen sind und nicht zu unmittelbaren Veränderungen in der Hochschulpolitik bzw. in den Planungen und Maßgaben der jeweiligen Hochschulen führen.

Ungenauigkeit und Unverbindlichkeit der Vorgaben sind dafür verantwortlich, daß behinderte Studierende durch vielfältige Schwierigkeiten an einer regulären und gleichberechtigten Durchführung ihres Studiums gehindert werden.

Um ein reguläres Studium realisieren zu können, sind behinderte Studierende darauf angewiesen, an der Hochschule ihrer Wahl Konzeptionen, strukturelle Vorgaben sowie vor allem infrastruktuelle Bedingungen und flankierende Unterstützungen vorzufinden, die ein Studium ohne Hürden und Barrieren ermöglichen. Nur unter diesen Voraussetzungen wird der Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile gesichert. Nur so können für behinderte und nicht-behinderte Studierende die gleichen Ausgangsbedingungen vorgehalten werden.

Gerade in den letzten Jahren muß festgestellt werden, daß nicht nur fehlende Planungen und organisatorische Unzulänglichkeiten an den Hochschulen die Chancen behinderter Studierender einschränken. Auch die Kürzungen in den Bildungsbudgets und die dadurch bedingte Ressourcenknappheit der Hochschulen hat zu einer Stagnation bei der Umgestaltung der Hochschulen zu "behindertengerechten Hochschulen" geführt.

Die reale Situation an deutschen Hochschulen

Die folgenden Ausführungen basieren im wesentlichen auf den beiden Untersuchungen: "Studieren mit Behinderungen in den neuen Bundesländern" (ADAM 1996) und "Rahmenbedingungen und Organisationsformen zu einem Studium mit Behinderungen am Beispiel ausgewählter Hochschulen in NRW" (STARKE 1995).

Es dürfte in zwischen an keiner bundesdeutschen Hochschule öffentlich den normativen Vorgaben, ein chancengleiches Studium mit Behinderungen zu unterstützen, widersprochen werden. Die Hochschulen verpflichten sich zumeist in ihren Grundordnungen bzw. Verfassungen unter dem Paragraphen "Aufgaben der Hochschule" dazu, den besonderen Bedürfnissen von behinderte Studierenden Rechnung zu tragen. Diese Tatsache darf jedoch nicht hinsichtlich eines tatsächlichen Engagements der Hochschulen, Behinderten und chronisch Kranken ein Studium zu ermöglichen, fehlinterpretiert werden, da das Thema "Studieren mit Behinderungen" an den Hochschulen einen eher untergeordneten Stellenwert einnimmt. In Abhängigkeit von der hochschulinternen Prioritätensetzung ergeben sich Unterschiede beim aufreibenden Mehraufwand, den behinderte Menschen betreiben müssen, um ihr Studium bewältigen und erfolgreich absolvieren zu können.

Um Chancengleichheit zu gewährleisten, ist es erforderlich, daß die Hochschulen die geeigneten strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen schaffen. Dazu gehören klare Zuständigkeiten und Organisationsformen auf allen Ebenen, mit denen es möglich ist, die Studienmöglichkeiten für behinderte Menschen so zu gestalten, daß niemand in seinen Rechten und Möglichkeiten auf Bildung eingeengt wird. Das folgende Schaubild macht dies deutlich:

Abb. 1: Strukturelle Ebenen zur Unterstützung eines Studiums mit Behinderungen (Quelle: STARKE 1995, 96)

Dem Schaubild ist zu entnehmen, daß die konzeptionellen und strukturellen Vorgaben und Planungen der jeweiligen Hochschule ausschlaggebend dafür sind, ob die bauliche Infrastruktur, die flankierenden Maßnahmen bzw. Dienstleistungen und die Prüfungsmodalitäten auf eine effektive Unterstützung des Studiums mit Behinderung ausgerichtet sind.

Über die baulichen Voraussetzungen der Hochschulen, über Planungs- und Baustandards und über die Qualitätsanforderungen an Ausstattungen - auch unter Berücksichtigung spezifischer Beeinträchtigungen der Studierenden - liegen detaillierte Publikationen vor (vgl. LOESCHKE/POURAT 1994; STARKE 1995, 118 ff; ADAM 1996, 175 ff). Auch bei der Frage der Notwendigkeit und Praxis von flankierenden Maßnahmen und unterstützenden Dienstleistungen kann auf einen umfassenden Erfahrungsbestand und relevante Veröffentlichungen zurückgegriffen werden (vgl. STARKE 1995, 126 ff; ADAM 1996, 188 ff). In gleicher Weise wurde an verschiedenen Stellen umfassend über die Anpassung der Prüfungsmodalitäten für chronisch ranke und behinderte Studierende berichtet. Verbesserungsrichtlinien wurden zuletzt in der Neufassung der "Allgemeinen Bestimmungen für Diplomprüfungsordnungen" niedergelegt (vgl. KMK 1995 und STARKE 1995, 135 ff).

Nach unserer Auffassung hängt eine wirkungsvolle und verbindliche Unterstützung eines Studiums mit Behinderungen entscheidend davon ab, wie die hochschulinternen Planungs- und Umsetzungsprozesse verlaufen und in welchem Umfang die Interessen und Belange der Studierenden kontinuierlich berücksichtigt und vertrete werden. Deshalb betonen wir die hohe Bedeutung der Verankerung der Funktion eines "Behindertenbeauftragten", die Sicherstellung eines umfassenden Informations- und Beratungsangebots, die Unterstützung und Förderung der Interessenvertretung behinderter Studierender und die Etablierung koordinierender Gremien und Arbeitsforen in den Vorgaben und institutionellen Rahmenbedingungen jeder Hochschule. Wie die von uns durchgeführten Untersuchungen belegen, lassen sich gerade bezogen auf diese Bereiche noch deutliche Mängel feststellen.

Behindertenbeauftragte/Behindertenbeauftragter

Die Behindertenbeauftragten werden von den Zentralorganen der Hochschule bestimmt und für ihre Arbeit legitimiert. Die behinderten Studierenden haben bei der Berufung zumeist kein Mitsprache- oder Wahlrecht, obwohl der Behindertenbeauftragte für sie oftmals der einzig direkte Ansprechpartner ist und z. T. als offizieller "Repräsentant" ihrer Belange angesehen wird.

Nach Auffassung der Kultusministerkonferenz sollte der von der Hochschule benannte Beauftragte für Behindertenfragen Ansprechpartner für behinderte Studierende sein, an der Beratung mitwirken, sich für die Schaffung von Nachteilsausgleichen einsetzen, bei der Planung und Ausführung behindertengerechter Maßnahmen beteiligt werden und der Hochschule regelmäßig über die Situation und die Probleme behinderter Studierender Bericht erstatten. Die derzeitige Praxis zeigt, daß normative und strukturelle Unklarheiten die Arbeit der Beauftragten häufig blockieren. "Die Aufgabe kann vielfach nicht mit der notwendigen Durchsetzungskraft vorgenommen werden ,weil sie in Nebentätigkeit und ohne unterstützende Servicekapazität und Sachmittel erledigt werden muß. Dies führt zu erheblichen Belastungen der beauftragten Person mit der Folge von Resignation (...)" (KMK 1995, 7).

Die überwiegende Zahl der Hochschulen bindet die Funktion eines Behindertenbeauftragten an normativ und strukturell nicht ausreichend eingebundene Personen. Das Gros der Hochschulen trifft in Grundordnungen/Verfassungen keine Festlegungen bezüglich seiner Funktionen und Rechte, obwohl die Sicherung eines "Studiums mit Behinderungen" zu einem beträchtlichen Teil an den Behindertenbeauftragten gebunden wird. Notwendige Voraussetzungen zu einem Studium mit Behinderungen hängen damit zu einem Großteil von dem Engagement, der Sichtweise und der hochschulinternen Position des jeweiligen Funktionsträgers ab. In der Realität haben die Behindertenbeauftragten deshalb nur geringe strukturelle Einflußmöglichkeiten. Sie konzentrieren sich darauf, auf individuelle Einzelfälle behinderter Studierender einzugehen und persönliche Bedarfslagen auszugleichen.

Unsere Bestandsaufnahmen zeigen, daß die Arbeit der Behindertenbeauftragten nur dort wirkungsvoll und effektiv ist, wo sie angemessen in die Struktur der jeweiligen Hochschule eingebunden sind, von den Verantwortlichen der Hochschule in Entscheidungsprozesse einbezogen werden und mit allen zuständigen Funktionsträgern sowie mit den behinderten Studierenden kooperieren.

Information und Beratung

Beratung ist ein Dienstleistungsangebot, das den Zugang zu Informationen und flankierenden Maßnahmen gewährleistet und damit ein Studium mit Behinderungen unterstützt. Durch Beratung kann der Zugang zu existentiell notwendigen Informationen gesichert werden. Der Erfolg des Studiums wird durch die Qualität der Beratung mitbestimmt. "Ein Beratungsangebot an den Hochschulen schafft oft erst die Voraussetzungen, um Behinderten ein chancengleiches Studium zu ermöglichen" (ADAM 1993, 106).

Behinderte Studierende benötigen ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Beratungsangebot, denn für sie besteht "nicht nur zum Beginn und am Ende ihres Studiums, ein ständiger, kontinuierlicher, alle Studien- und Lebensbereiche überschreitender Hilfsbedarf. Dieser Bedarf kann aus eigener Anstrengung behinderter Studierender heraus nicht befriedigt werden. (...) Es ergibt sich daher deutlich die Notwendigkeit, an jedem Hochschulort ein Beratungsangebot für behinderte Studierende zu schaffen" BAUS 1993, 160 ff).

Die Untersuchungen in den neuen Bundesländern und in Nordrhein-Westfalen belegen, daß eine Beratung behinderter Studierender nicht selbstverständlich ist. An den meisten ostdeutschen Hochschulen gab es in der Erhebungsphase (1994-1995) noch keinen speziellen Beratungsservice für behinderte Studierende. An den befragten Hochschulen in NRW ist lediglich bei zwei Universitäten davon auszugehen, daß sie hinsichtlich ihres Beratungsangebots den Ansprüchen behinderter Studierender gerecht werden. Insgesamt sind die bestehenden Beratungsangebote mehrheitlich unübersichtlich und eher zufällig organisiert, so daß die betroffenen Studierenden von ihrem eigenen Geschick oder einem glücklichen Zufall abhängig sind, wenn sie Informationen und Beratung benötigen. An vielen Hochschulen fehlen strukturelle Abstimmungen. Die Frage, wie, von wem und zu welchen Themen informiert und beraten werden kann, ist häufig ungeklärt.

Ein Teil der Hochschulen ist überzeugt, daß die Belange Behinderter durch die Bestellung eines Behindertenbeauftragten ausreichend berücksichtigt sind. Die generell "ehrenamtlich" tätigen Behindertenbeauftragten sind vielfach überfordert, wenn sie zusätzlich zur Erfüllung ihrer sonstigen Aufgaben auch Beratungsaufgaben übernehmen müssen. An den allgemeinen Studienberatungsstellen (Zentrale Studienberatung) gibt es nur selten einschlägig qualifizierte Mitarbeiter, die speziell für die Beratung behinderter Studierender zuständig sind; zudem sind die Studienberatungsstellen aufgrund von Personalknappheit vielfach schon durch die allgemeine Beratung überlastet. Für behinderte und chronisch kranke Menschen existieren somit in der Beratung keine einheitlichen und verläßlichen Standards und Zuständigkeiten.

Um allen behinderten Studierenden die wirkliche Wahrnehmung ihrer Chancen zu ermöglichen, ist es für den gesamten Studienverlauf erforderlich, eine institutionalisierte Beratung von behinderten und chronisch kranken Studierenden zu etablieren. Dabei bieten sich zwei Lösungsmöglichkeiten an:

Das Deutsche Studentenwerk favorisiert eine zentraleBeratungsstelle an den Hochschulen, in der die für behinderte Studierende notwendigen Beratungsangebote zusammengefaßt sind. Die Ratsuchenden brauchen sich bei diesem Modell nur an eine zentrale Stelle zu wenden. Es bleibt dabei offen, ob diese zentrale Beratungsstelle eher beim örtlichen Studentenwerk oder eher bei der Hochschule angesiedelt werden sollte. Entscheidend ist nur, daß dieses Dienstleistungsangebot eine institutionalisierte Einrichtung am Hochschulstandort darstellt. Das Modell der Beratungsstellen für behinderte Studierende existiert z. B. in Nordrhein-Westfalen an zwei Hochschulstandorten: Bochum und Dortmund.

Eine Alternative zu der zentralen Beratungsstelle für behinderte und chronisch kranke Studierende stellt eine dezentrale Beratung dar. Alle Einrichtungen der studienvorbereitenden und -begleitenden Beratung kooperieren untereinander und werden vernetzt. Die bestehenden Beratungsangebote werden dabei nicht bei einer Beratungsstelle zusammengefaßt, sondern die verschiedenen Aufgabenbereiche der studienbegleitenden Beratung (Klärung studienbezogener Fragen, Regelung sozialer und alltäglicher Belange sowie lebenspersektivisch, psychosoziale Begleitung) werden organisatorisch und personell voneinander getrennt wahrgenommen. Entsprechend der sonstigen Aufgabenstellung wäre es möglich, daß die Verantwortung für die studienbezogene Beratung bei der Hochschule liegt, während die Beratung in sozialen und alltäglichen Fragen beim Studentenwerk angesiedelt wird. Voraussetzung für dieses Alternativkonzept ist die Qualifizierung des beteiligten Personals.

Unterstützung und Förderung der Interessenvertretung und Selbsthilfeaktivitäten

Behinderte Studierende sind Expertinnen und Experten in eigener Sache. Ihnen steht das Recht einer gleichberechtigten Partizipation am Hochschulalltag in demselben Maß wie nicht-behinderten Studierenden zu.

An einigen der von uns untersuchte Hochschulen existieren Organisationsformen der Interessenvertretung mit unterschiedlichem Stellenwert. Grundsätzlich handelt es sich dabei immer um Zusammenschlüsse behinderter (und nicht-behinderter) Studierender, die die Notwendigkeit erkannt haben, ihre Bedarfe eigenständig und gebündelt zu artikulieren. Dies ist die Voraussetzung für eine effektive Mitwirkung.

Die Zusammenschlüsse behinderter Studierender sind eigenständige Gruppen, die auf der Basis eigener Erfahrung und Betroffenheit ihre Interessen vertreten. Für behinderte und chronisch kranke Studierende relevante Entscheidungen werden oftmals von nichtbehinderten Verantwortlichen getroffen. Ein Großteil der Hochschulen ignoriert damit die Kompetenz der Betroffenen. Ob und in welchem Umfang eine Hochschule behindertengerecht ist und damit den Ansprüchen ihrer behinderten Mitglieder entspricht, kann letztlich nur von den Betroffenen selbst definiert und entschieden werden. So berichten behinderte Studierende und Interessenvertretungen davon, "daß sie meist nur in einer Bittstellerposition sind und kaum Rechte haben, die sie einfordern oder sogar einklagen können, um notwendige und wirksame Veränderungen zu erreichen" (MILES-PAUL 1993, 225). Die z. T. eingeschränkte Bereitschaft der Hochschulen, auf die spezifischen Bedarfe behinderter Studierender einzugehen, führt deshalb nach Aussagen Betroffener dazu, daß eine Interessenvertretung und Mitwirkung oftmals mit einem erheblichen Aufwand an Energie verbunden ist.

Koordinierende Gremien und Arbeitsforen

Die Thematik Studium mit Behinderungen umfaßt ein breites Aufgabenspektrum, an dem eine Reihe von Personen und Institutionen mittelbar und unmittelbar beteiligt sind und ihre Kompetenz einbringen. An den meisten Hochschulen existieren allerdings keine koordinierenden Gremien, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Es zeigt sich, daß es nur in wenigen Fällen Arbeitskreise gibt, an denen alle zuständigen Funktionsträger beteiligt sind, um kooperativ am Ziel einer "behindertengerechten Hochschule" mitzuarbeiten. Gelingen kann ein Konzept der verbesserten Interessenvertretung von behinderten Studierenden nur, wenn jede Hochschule die Aufgaben der/s Behindertenbeauftragten nicht nur einer Person überträgt, sondern ihre/seine Funktionen und Aufgaben unterstützt, indem sie eine Arbeitsgruppe "behindertengerechte Hochschule" zusätzlich mit der Koordinierung aller behinderungsrelevanten Fragestellungen beauftragt.

Eine Arbeitsgruppe "behindertengerechte Hochschule" könnte den Hochschulen dazu verhelfen, bisher noch nicht vorhandene Konzeptionen für ein Studium mit Behinderungen zu erarbeiten. Konzeptionelle Vorgaben der Hochschule könnten erstellt werden, wenn ein Gremium vorhanden ist, das ausschließlich die Verantwortung für die Koordination und Kontrolle behinderungsrelevanter Fragestellungen hat. Eine eher beiläufige Wahrnehmung der Aufgabe "Unterstützung eines Studiums mit Behinderungen" ließe sich damit vermeiden.

Abb. 2: Mitgliedschaft in der AG "Behindertengerechte Hochschule" (Quelle: ADAM 1996, 173)

Eckpunkte zur Realisierung der Chancengleichheit

Um Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen Chancengleichheit im Studium zu ermöglichen und zu garantieren, müssen alle Hochschulen Voraussetzungen schaffen, die Studierende benötigen, um trotz behinderungsbedingter Einschränkungen ihr Studium ordnungsgemäß durchführen zu können. Bisher fehlt jedoch ein auf den verschiedenen Zuständigkeitsebenen von Bund und Ländern abgestimmtes Gesamtkonzept für eine "behindertengerechte Hochschule".

Um das hochgesteckte Ziel zu erreichen, die Hochschulen behindertengerecht zu gestalten, sind noch vielfältige, langfristige Anstrengungen notwendig. Den Absichtserklärungen müssen strukturelle Veränderungen folgen, die schwerpunktmäßig und dauerhaft gefördert werden.

Alle Hochschulen haben die Verantwortung, bedarfsgerechte Rahmenbedingungen für behinderte Studierende zu schaffen und die Aufnahme und Durchführung eines Studiums zu erleichtern. Die Verantwortung und Planungskompetenz für eine "behindertengerechte Hochschule" muß in Zukunft von jeder Hochschule als zentrale Verpflichtung im Sinne einer Querschnittsaufgabe begriffen werden.

Eine behindertengerechte Hochschule kann nur im Rahmen hochschulinterner Strukturen, Organe und Verfahrensweisen in Selbstverwaltung und Mitbestimmung realisiert werden. Neben einer Grundordnung, die die Verpflichtung zur Förderung und Unterstützung behinderter Studierender möglichst präzise und verbindlich formuliert, ist vor allem die Ernennung einer bzw. eines Behindertenbeauftragten mit genauer Definition von Aufgaben und Kompetenzen dringend notwendig. Eine Arbeitsgruppe "Behindertengerechte Hochschule" sollte den Behindertenbeauftragten bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben beraten und unterstützen, die Thematik "Hochschule und Behinderung" wachhalten und zur Lösung von Detailproblemen beitragen.

Um allen behinderten Studierenden ein Studium entsprechend ihrer Qualifikation und Wahl zu ermöglichen, müssen in Zukunft hohe Anforderungen an die Bedarfsgerechtigkeit der Hochschulen gestellt werden. Unter infrastrukturellen Aspekten liefert das Gutachten von LOESCHCKE/POURAT (1994) eine Vielzahl von Planungsgrundlagen für einen praktikablen Maßnahmenkatalog zur Verwirklichung einer behindertengerechten Hochschule. Die dort entwickelten "Planungsparameter" gehen auf die unterschiedlichen Bedarfe von Behinderungsgruppen ein und eröffnen mögliche Planungs- und Lösungswege für Neu- und Umbauten sowie die notwendigen Ausstattungen der Hochschulen.

Die Beratung behinderter Studierender sollte an allen Hochschulen systematisch aufgebaut und wo nötig konsequent verbessert werden. Zugänglichkeit und Effektivität der Beratungsangebote sind ganz entscheidend abhängig davon, wie sie in der jeweiligen Hochschule organisatorisch verankert sind, d. h. welche Teilinstitutionen und Personen der Hochschule sie tragen und wie Fachkompetenz und Kontinuität sichergestellt werden.

Behinderte Studierende haben ein Recht auf eine umfassende Partizipation an allen Bereichen ihrer Hochschule. Als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Situation sind sie am besten in der Lage, ihre spezifischen Bedarfe und Interessen zu artikulieren und zu interpretieren.

Um ihre Vertretungskompetenz zu verbessern und ihre Interessen bündeln zu können, benötigen die Studierenden "Treffpunkte" und Gremien, in denen sie Formen selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebens und Studierens entfalten können. Von den Hochschulen kann außerdem verlangt werden, daß sie Bereitschaft zeigen, die behinderten Studierenden an Planungs- und Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen zu beteiligen und die Mitwirkungsmöglichkeiten zu garantieren.

Literatur

ADAM, C. (1993): Behinderte Menschen in Nordrhein-Westfalen. Wissenschaftliches Gutachten zur Lebenssituation von behinderten Menschen und zur Behindertenpolitik in NRW. MAGS - Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Düsseldorf

ADAM, C. (1996: Studieren mit Behinderungen in den neuen Bundesländern. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.). Bonn

BAUS, H. (1993): Beratungsangebote für behinderte Studierende, die tägliche Bemühung um Parität im Studium. In: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hg.): Studieren mit Behinderungen. Studien zu Bildung und Wissenschaft 112. Bad Honnef. 160-164

BUNDESMINISTERIUM FüR ARBEIT UND SOZIALORDNUNG (1994, Hg.: die Lage der Behinderten und die Lage der Rehabilitation. Dritter Bericht der Bundesregierung. Bonn

KMK (1995): Bericht zum Stand der Umsetzung der KMK-Empfehlungen "Verbesserung der Ausbildung für Behinderte im Hochschulbereich" vom 25. Juni 1982. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 08. 09. 1995.

LOESCHKE/POURAT (1994): Integrativ und barrierefrei. Behindertengerechte Architektur für Hochschulen und Wohnheime. Darmstadt/Bonn

MILES-PAUL, O. (1993): Aktionsbündnis und Anti-Diskriminierungsgestz Kassel. In: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hg.): Studieren mit Behinderungen. Studien zu Bildung und Wissenschaft 112. Bad Honnef. 224-228

STARKE, B. (1995): Rahmenbedingungen und Organisationsformen zur Unterstützung eines Studiums mit Behinderungen am Beispiel ausgewählter Hochschulen in NRW.Dortmund (unveröffentlicht)

Autoren:

Prof. Dr. rer. soc. Clemens Adam, Björn Starke

Universität Dortmund, Fachbereich 13,

Soziologie in Sondererziehung und Rehabilitation

44221 Dortmund

Quelle:

Clemens Adam und Björn Starke: Chancengleichheit für Studierende mit Behinderungen an deutschen Hochschulen?

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-98

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1998

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 15.09.2005

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