Die Exklusion von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Ein Beitrag zur Debatte um nationale Bildungsstandards und die Schule für alle

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr.10/05. 68-78 Gemeinsam leben (10/2005)
Copyright: © Lisa Pfahl, Justin J.W. Powell 2005

Individuelle sonderpädagogische Förderung

Aktuelle bildungspolitische Reformbemühungen zielen darauf, eine Erhöhung der schulischen Leistungen zu bewirken und messbare Kompetenzen weiter zu entwickeln. Dabei wird die Selektion von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf durch die Institution Schule und die Frage nach der Chancengleichheit eines segregierenden Schulsystems eher selten thematisiert. Statt solcher "Strukturfragen" stehen die Forderungen nach nationalen Bildungsstandards, Ganztagsschulen und der Kultushoheit der Bundesländer im Mittelpunkt der Diskussion. Die Idee einer individuellen Förderung von Schüler/innen, evtl. sogar in einer Schule für alle, wird seit PISA 2003 zunehmend Gegenstand der gesellschaftlichen Diskussion. Jedoch bleiben sonderpädagogische Förderprogramme trotz deren Spezialisierung auf solche individualisierte Unterrichtsformen, unberücksichtigt. Anhand zweier unterschiedlicher Ansätze in der Bildungsforschung - biographische Analysen und gesellschaftshistorische Vergleiche - werden die Autoren aufzeigen, dass die weitgehende Nicht-Berücksichtigung des sonderpädagogischen Bereichs in der allgemeinen Bildungsforschung die Scheiternserfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf ausblendet, und die (inter)nationalen Ergebnisse von PISA, sowie die ermittelten - oder zu ermittelnden - "nationalen Bildungsstandards" verzerrt. Gerade die Situation von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Sonderschulen unterstreicht die Wichtigkeit der aktuellen Diskussion um eine Schule für alle. Eine solche Schulform wäre ohne diese Schüler/innen lediglich eine weitere exkludierende Schulform, denn Schulen ohne behinderte Kinder ist keine normalen Schulen (vgl. Feuser 1995).

Im aktuellen Diskurs um die Schule für alle wird unter dem Stichwort "Integration" zumeist ein Gegenentwurf zum gegliederten allgemeinen Bildungssystem verhandelt. Integriert werden sollen insbesondere Schüler/innen aus niedrigen sozialen Schichten und mit Migrationshintergrund, wie sie beispielsweise an den Hauptschulen häufig vertreten sind (vgl. Solga 2005; Wagner 2005; Solga/Wagner 2002). Beide Schülergruppen sind auch in sonderpädagogischen Maßnahmen deutlich überrepräsentiert; bei den Migrantenjugendlichen in zunehmendem Maße über die 1990er-Jahre (vgl. Powell/Wagner 2002). Dies mag mit der besonderen Stellung der Sonderschulen im deutschen Bildungssystem zusammenhängen: die Sonderschulen ergänzen lediglich das allgemeine Bildungsangebot und werden nicht selten als "Notlösung" betrachtet, die unersetzbar scheint (vgl. Hänsel 2005). Das eine inklusive Schulform der "Vielfalt in Gemeinsamkeit" angestrebt oder gar realisiert werden kann, zeigen gelingende inklusive Gesamtschulkonzepte in vielen Regionen Deutschlands (vgl. z.B. Preuss-Lausitz 2001). Dort wird zur Kenntnis genommen, dass Sonderschulen, trotz nachahmenswerter individualisierender pädagogischer Konzepte, eine Institution der Aussonderung mit gravierenden (berufs)biographischen Folgen für die Schüler/innen darstellen. Die bildungspolitische Form institutionalisierter Segregation von Kindern und Jugendlichen mit ‚Lernbehinderungen' wird nach der Schulzeit aufgrund mangelnder qualifizierender Abschlüsse in eine Exklusion vom Arbeitsmarkt verwandelt und kumuliert vermutlich in für die Gesellschaft kostspielige Scheiternsbiographien. Warum jedoch die unteren Schulformen diskursiv häufig "unangetastet" bleiben, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Und doch müssten den PISA-Studien, die die mittelmäßigen Ergebnisse des deutschen segregierenden Schulwesens im internationalen Vergleich aufgedeckt haben, eine Beschäftigung mit dem Thema sonderpädagogische Selektion unausweichlich folgen. Denn nur so können die Bildungskarrieren und Leistungsstandards der steigenden Anzahl von Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Bildungsreformdebatte berücksichtigt werden - insbesondere mangels einer repräsentativen Befragung der Sonderschüler/innen durch PISA (vgl. Baumert/Schümer 2001: 325). Die Frage nach den individuellen Konsequenzen der Sonderbeschulung und dem "warum" der historisch-gewachsenen organisatorischen Strukturen des deutschen "Sonderwegs" bleiben durch die Querschnittanalysen des internationalen Benchmarking-Verfahrens unbeantwortet.

Die Erforschung von Bildungsverläufen und Bildungssystemen muss nicht nur individuelle und regionale Leistungsunterschiede aufzeigen und begründen, sondern auch herausarbeiten, welche Kontextfaktoren die Lernprozesse fördern bzw. behindern. Während eine biographische Studie junger erwachsener Schulabgänger/innen von Lernbehindertenschulen exemplarisch Ergebnisse auf der Individualebene vorstellt, beschreibt ein deutsch-amerikanischer Vergleich die Effekte von schulischen Institutionen auf nationale Bildungsreformprozesse und -ergebnisse. Es werden weiterhin verschiedene disziplinäre Perspektiven, Kompetenzen und Forschungsvorhaben notwendig sein, um die inzwischen in den meisten Köpfen als notwendig erachteten Reformen des deutschen Bildungswesens zu begleiten und zu gestalten. In diesem Artikel wollen wir beispielhaft die Scheiternserfahrungen von Sonderschüler/innen von Lernbehindertenschulen aufzeigen, bevor wir uns anschließend dem internationalen Vergleich widmen, um der Frage nachzugehen, ob die Einführung nationaler Bildungsstandards erfolgsversprechend die institutionalisierte Exklusion von Schüler/innen reduzieren kann.

Individualisierte Scheiternserfahrungen von Sonderschulabgänger/innen

Die Perspektive auf die biographische Selbst- und Fremdwahrnehmung von "lernbehinderten" Jugendlichen verschafft einen Einblick in die individuellen Lerngeschichten und Identitätsentwicklungen von Jugendlichen und in die Ursachen von Schul(miss)erfolgen. Der selektierende Umgang der Institution Schule mit Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf prägt die Schulkarrieren von Kindern und Jugendlichen so, dass junge Erwachsene, die Sonderschulerfahrungen gemacht haben, sich ihrer negativen Besonderung bewusst sind und empfindlich auf sie reagieren. Der Sonderschulbesuch, der in Regel nicht zum Erwerb eines qualifizierenden Schulabschlusses führt, stellt für die Kinder und Jugendlichen eine Stigmatisierungserfahrung dar. Die Ergebnisse der Studie "Lebensverläufe von Schulabgängern von Sonderschulen für Lernbehinderte (NRW)", die 2001 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung von uns durchgeführt wurde, zeigen, dass sich knapp ein Drittel der befragten Sonderschulabgänger/innen aufgrund ihres Sonderschulbesuchs benachteiligt fühlen, und zwei Drittel der Befragten gerne eine andere Schulform besucht hätte (vgl. Pfahl 2003: 55).

Biographische Selbstbeschreibung eines jungen Erwachsenen

Anhand biographischer Selbstbeschreibungen junger Erwachsener kann der typische Lebensverlauf ehemaliger Sonderschüler nachvollzogen werden. Die auf biographischen Interviews beruhenden Fallstudien von ehemaligen Sonderschüler/innen veranschaulichen sowohl die Lerngeschichten, als auch die verschiedenen Formen des Stigma-Managements, die die jungen Erwachsenen entwickeln. Das ausgewählte Interviewmaterial wurde im Rahmen der Studie "Zurück zur Normalbiographie? Biographische Konstruktionen ehemaliger Sonderschulabsolventen" im Winter 2004/05 erhoben. Der Interviewpartner Andreas, wie wir ihn genannt haben, berichtet über seine Schulzeit, die er ausschließlich an einer Sonderschule für Lernbehinderte in Berlin verbracht hat, und seine anschließenden Bewerbungsversuche Folgendes:

Sonst die Schule jing eigentlich. Zeugnis war ooch janz jut, aber ebend damit brauch ick mich ja nich bewerben jehn. Wenn die schon sehn Sonderschule: "He-he (gibt einen Ton des Erschreckens von sich). Danke, das war's". Aber und sonst eigentlich, (atmet hörbar aus) Lehrstellen ja, würd dit jerne machen. Aber klappt ja janüscht. Jetzt wolln se schon bei Lehrlingen mit Führerschein-. Und ha ick Pech. Vielleicht hab ich irgendwann mal Glück die nächsten Jahre. Zwee Jahre versuch ick's noch. Aber mit 26 brauch ick mich nich mehr bewerben. Dit hat allet keen Sinn mehr dann. Mit ner Lehrstelle. Jetzt mit 24 bin ick eigentlich so zu alt für ne Lehrstelle. Und heutzutage verlangen se ja sojar für'n Hilfsarbeiter schon am besten zwanzig- zwanzig Jahre Berufserfahrung).

Während die Schule "eigentlich ging" und das Abgangszeugnis "auch ganz gut war", wendet sich die Situation für Andreas nach dem Verlassen der Sonderschule. In wörtlicher Rede beschreibt Andreas direkt die Ablehnung, auf die er, aufgrund seines Sonderschulbesuches, bei seinen Bewerbungsversuchen gestoßen ist. Trotzdem ist es sein Wunsch, eine berufliche Ausbildung zu absolvieren. Dabei ist er sich bewusst, dass ihm nicht nur ein qualifizierender Schulabschluss, sondern auch der Führerschein fehlt. Zudem nennt Andreas sein Alter als Ausschlusskriterium. Er resümiert, dass ‚das alles keinen Sinn mehr hat' und erwähnt seine Alternative, ungelernt beschäftigt zu sein, wiederum in Zusammenhang mit einem zusätzlichen Hindernis: seiner mangelnden Berufserfahrung.

An diesem kurzen Textauszug werden zentrale biographische Problematiken des Sonderschulabgängers deutlich: Die Schulzeit wird insbesondere rückblickend als problematisch erfahren bzw. als Konsequenz der Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt. Aus der Retrospektive wird der errungene Schulabschluss als äußerst nachteilig bewertet, da die vorhandene berufliche Orientierung hin zu einer beruflichen Ausbildung im Normalfall nicht realisiert werden kann. Die routinemäßige Ablehnung, die der junge Erwachsene in den Bewerbungssituationen erfährt, führen ihn zu einer "realistischen" Chancenantizipation und zu einem Rückzug von eigenen Ansprüchen. Wie weitere Interviewtextstellen belegen, passt er sich den Arbeitsmarktgegebenheiten an und ordnet sich dem Prinzip "Hauptsache Arbeit" unter. Eine befristete Anstellung in einem gemeinnützigen Projekt ist dem Familienvater jedoch bislang nur über die Vermittlung des Sozialamts gelungen.

Anders als die meisten Schulabgänger/innen von Lernbehindertenschulen besitzt Andreas einen Hauptschulabschluss. Er gehört damit zur Elite - den 20% der Schüler/innen, die beim Verlassen der Schule einen Hauptschulabschluss (oft aufgrund von Anwesenheit) erhalten. Er ist jedoch nicht unter den Wenigen, denen es gelingt, im Anschluss an die Schulzeit eine berufliche Ausbildung zu beginnen. Wie die überwiegende Mehrheit besuchte Andreas nach der Sonderschule eine berufliche Maßnahme, die seine bildungspolitische Besonderung arbeitsmarktpolitisch fortführt (vgl. Pfahl 2003). Der junge Erwachsene weiß um den negativen gesellschaftlichen Status, der mit seiner mangelnden schulischen und beruflichen Ausbildung einhergeht. Aufgrund komplexer familiärer Problemlagen und gesundheitlicher Schwierigkeiten kann sich Andreas im Übergang in das Erwachsenenleben seiner Berufsbiographie jedoch nur begrenzt bemächtigen:

Also, Schulabschluss hab ich Sonderschule und wollte dann normalen Hauptschulabschluss machen. Hab'n nich jeschafft, weil damals so war, der hat än Stoff von Beru- äh von normalen Schulen, den wir gar nich hatten. Dadurch hab- hab ick'n nich jeschafft. Wollt'n noch mal machen, mit der Berufsschule, BBC, bin ick auch, hab ich auch nich jeschafft, aus Krankheitsgründen, weil ick fast n halbet Jahr krank jeschrieben war. Und dadurch hab ick, krieg ich auch keine Lehrstelle mit Sonderschule. Will keiner. Wird man für doof hinjestellt, für beknackt.

Andreas möchte sich den allgemein anerkannten Leistungsstandards anpassen und versucht im Anschluss an die Sonderschule zweimal, seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Das Scheitern dieses Vorhabens führt er auf mangelnde Vorbereitung auf den ‚normalen' Schulstoff durch den Sonderschullehrplan zurück und auf längere krankheitsbedingte Fehlzeiten. Diese Konstruktion schützt den jungen Erwachsenen davor, die Verantwortung für sein Scheitern vollständig sich selbst zuzuschreiben. Gleichzeitig findet er eine kausale Begründung dafür, dass seine Lehrstellensuche bislang erfolglos blieb. Die in Andreas Bericht namenlos bleibenden Arbeitgeber/innen hingegen schreiben die Gründe für ihre Ablehnung ihm zu. Sein Scheitern wird von ihnen individualisiert und pathologisiert: "man wird für doof hingestellt, für beknackt". Die wiederholten Misserfolgserlebnisse haben den jungen Erwachsenen dazu bewegt, seine berufliche Orientierung, seine beruflichen Erwartungen und andere individuelle Ziele an das konkret Mögliche anzupassen:

Na ja, und ha ick dann anjefangen mit- übert Sozialamt mit Arbeit, stundenweise, BZA-mäßig, arbeit seit knapp vier Jahren, dieset Jahr hat's jeklappt mit'm Jahresvertrach. Und sonst eigentlich hab ich weiter gar nichts gemacht. Lehrstelle versuch ick, krieg aber keine. Und bewerb mich zwar, aber- Führerschein darf ich auch keinen machen, sonst hätt ick auch schon Arbeit kriegen können, wenn mir eener n Führerschein finanziert. Aber dit Problem is ebend, durch meine Krankheit darf ich keinen machen. Elepsidie, Elepsiker. Ick müsste vier Jahre anfallfrei sein, bin ich, aber will ich nich, trau ick mir nich zu, Führerschein. Is mir zu risikoreich.

Seine Lehrstellensuche hat Andreas in Antizipation seiner schlechten Chancen zurückgestellt und begonnen, über das Sozialamt zumindest zeitweise in Arbeit zu gelangen. Er problematisiert dabei die Tatsache, dass er keinen Führerschein finanziert bekommt. Die Finanzproblematik wird anschließend durch seine Krankheit relativiert. Zunächst berichtet Andreas, dass er den Führerschein aufgrund seiner Epilepsie "nicht machen darf", später präzisiert er, dass er ihn "nicht machen will", da er es sich nicht zutraut: "ist mir zu risikoreich". In der Frage um den Führerscheinerwerb nimmt Andreas wiederum eine Entlastung seiner selbst und eine Erwartungsanpassung vor. Wichtigster Grund dafür, dass er keinen Führerschein besitzt, scheint seine materielle Situation zu sein. Parallel dazu führt er seine Krankheit als Gegenargument ein, die den Führerscheinerwerb zu einem Risiko werden lässt, wenn nicht gar verbietet. Da Andreas die formalen Voraussetzungen für den Erwerb des Zertifikats erfüllt, erscheint sein Einwand als eine vorgeschobene Begründung. Auf diese Weise entlastet sich der junge Erwachsene der finanziellen Restriktionen und passt sich seinen eingeschränkten Möglichkeiten an, ohne sie als direkte Scheiternserfahrung erleben zu müssen. Mit der beruflichen Rückzugshaltung geht eine biographische einher.

Stigmatisierung durch negative Besonderung

Die von uns befragten Sonderschulabgänger/innen haben alle individuelle Umgangsweisen mit ihrer Stigmatisierung als "Lernbehinderte" entwickelt. Gemeinsam haben sie jedoch, dass sich insbesondere jüngere Sonderschulabgänger/innen an einer Ingroup von Sonderschüler/innen orientieren und die "Normalen" entweder auf- oder abwerten. Beide Orientierungen unterstützen die hier an einem Fall exemplarisch dargestellte Rückzugshaltung, die häufig geschlechtstypisch defensiv oder offensiv geprägt ist. Die Jugendlichen rebellieren einerseits gegen die sozialen Erwartungen im Erwerbsleben, andererseits passen sie sich den Einschränkungen des konkret Möglichen an und entwickeln ein großes Vertrauen in institutionelle Maßnahmen. Als Schutz gegen diese enttäuschungsanfälligen Vorgehen entwickeln viele Jugendliche kaum eigene Erwartungen an ihren beruflichen Erfolg, sondern verlagern eigene Ansprüche auf gesellschaftlichen Anerkennung in persönliche Beziehungen.

Wie das angeführte Beispiel aufzeigt, hat die negative Besonderung der Schüler/innen und die damit verbundenen Stigmatisierungserfahrung nachhaltige Konsequenzen für die (berufs)biographischen Konstruktionen der sozial benachteiligten jungen Erwachsenen. Die Lerngeschichten der Jugendlichen sind an individualisierte Scheiternserfahrungen geknüpft, die ihre berufliche Orientierung mangels Aktivität, Motivation und fachlichen Fähigkeiten stark gefährdet. Der "Schonraum" der Sonderschule wird somit zu einer Brücke ins berufliche Abseits (vgl. Friedemann/Schroeder 2000).

Anders als in den meisten anderen Ländern der industrialisierten Welt, werden die meisten Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Deutschland nach wie vor an Sonderschulen überwiesen; die Segregationsrate beträgt in Deutschland über 85% (vgl. KMK 2002). Bleibt die Frage, ob und wie andere Bildungssysteme durch die Institution Schule nach Leistung aussortieren und wie sie über die Teilnahme von förderbedürftigen Schüler/innen an Leistungsbemessungstest bestimmen, insbesondere dann, wenn dieses Tests künftig mehr und mehr über individuell Bildungschancen bestimmen.

Bildungsstandards als bildungspolitische Lösung? Das Beispiel der USA

Vergleicht man die europäischen Länder miteinander, zeigt sich eine hohe Varianz der Schüleranteile, die eine besondere Förderung erhalten: von weniger als einem Prozent der Schüler in Griechenland bis zu 18% in Finnland (vgl. EADSNE 2003). Diese Zahlen sind deutlicher Beleg für disparate, länderspezifische Fördersysteme, die nicht nur äußerst unterschiedliche Definitionen schulischer Lernschwierigkeiten, Benachteiligungen und Behinderungen aufzeigen, sondern sich auch in ihren bereitgestellten Ressourcen und der Art der individuellen Förderung grundlegend unterscheiden. Obwohl Deutschland und die USA in diesen Analysen im Mittelfeld liegen, zeigt sich eine auffällige Divergenz der Schülerpopulation seit den 1950er-Jahren: Von der Jahrhundertwende an bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatten beide Nationalstaaten ähnliche Klassifizierungsraten in den exkludierenden Bildungssystemen (Powell 2004a). Heute gibt es in den nationalen Klassifizierungsraten signifikante Unterschiede: Während 12% Prozent der amerikanischen Schüler/innen nach einen individualisierten Förderplan arbeiten, erhalten nur ungefähr 5% der deutschen Schüler/innen eine besondere Förderung. Offensichtlich gibt es kein Konsens, wie notwendig sonderpädagogische Förderung ist; dennoch gelten sonderpädagogische Förderprogramme inzwischen als selbstverständlicher Teil von Bildungssystemen in allen Regionen der Welt (vgl. z.B. OECD 2004a).

Auf Standards basierende Reformen: Folgen für die Sonder- und Integrationspädagogik

Durch internationale Benchmarking-Verfahren wie dem Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS) und dem Program for International Student Assessment (PISA) werden Nationen in Wettbewerb gestellt sowie (inter)nationale Standards verallgemeinert. Das nationale Ziel, im Ländervergleich zu konkurrieren und hohe Standards zu erreichen, kann den Effekt haben, dass immer mehr Schüler/innen in sonderpädagogische Fördermaßnahmen platziert werden. In den USA stellt diese aktuelle Entwicklung eine Gefahr für die betroffenen Kinder und Jugendlichen dar: Nicht mehr individuelle Lernzuwächse (gemessen an ihren individuellen Förderplänen), sondern absolute Bildungsstandards bestimmen, wie der Bildungserfolg der Schüler/innen gemessen wird. Die USA stellen ein frühes Beispiel dafür dar, wie die Verfahren um "einheitliche" Bildungsstandards institutionalisiert werden. Welche soziale Gruppen zu welchen Anteilen in welchen Einzelstaaten getestet werden, und welche Kompetenzen dabei gemessen werden, sind noch offene Fragen, die zunehmend Gegenstand der gesetzlich-geförderten Bildungsforschung in den USA werden (vgl. z.B. US DoED 2002).

Die Folgen jährlicher nationaler Leistungstests, die auch in Deutschland entwickelt werden, lassen sich am Beispiel der USA abschätzen. Der Vergleich der umstrittenen Bildungspolitik George W. Bushs und die seit einigen Jahren herrschende gesellschaftliche Debatte nach dem "PISA-Schock" in Deutschland verdeutlicht die künftigen Herausforderungen an dezentrale, föderale Bildungssysteme. Das 2001 verabschiedete Gesetz "No Child Left Behind" (als Teil der reauthorization des Elementary and Secondary Education Act) sieht vor, dass alle Einzelstaaten alljährlich alle Schüler/innen von der Vorschule bis zum Ende der Sekundarstufe (12. Klasse) testen, um deren Lese- und Mathekompetenzen aufzuzeigen (vgl. US DoED 2002). Schulen, die drei Jahre sequentiell keinen ausreichenden Fortschritt aufweisen können, werden umstrukturiert; Lehrer/innen und Verwaltung können ausgetauscht werden, und den Schüler/innen ist es erlaubt, alternative Plätze in anderen Schulen in ihrem oder einem benachbartem Schuldistrikt zu suchen. Das Gesetz setzt auf diese negativen Sanktionen; es fehlen bereitgestellte Mittel, um leistungsschwache, arme Schulen anschließend (finanziell) zu fördern und langfristig zu verbessern. Uneinheitliche und absolute Bildungsstandards tendieren damit zur Willkür im sanktionierenden Umgang mit den Schulen. Gleichzeitig fehlt eine positive Berücksichtigung der individuellen und schulischen Verbesserungen. Bei den amerikanischen Reformumsetzungen bleiben die organisatorischen und institutionellen Strukturen und Prozesse, die die gemessenen Ungleichheiten produzieren, nur unzureichend berücksichtigt. Dennoch, die Fokussierung auf benachteiligte soziale Gruppen und die Orientierung an den Lernergebnissen aller dürfte zumindest zur Datensicherung und Erforschung verschiedener sozialer Gruppen und regionaler Unterschiede beitragen (vgl. z.B. NCES 2003).

Eine auf Standards beruhende Reform stellt für die Schulpädagogik ein Paradox dar. Einerseits werden Schulen für die Leistungen aller Schüler/innen verantwortlich gemacht. Andererseits schaffen die neuen Leistungs- und Inhaltsstandards möglicherweise weniger tolerante schulische Bedingungen, etwa in der Form von erhöhte Anforderungen für qualifizierte schulische Abschlüsse, wie die National Research Council berichtet (vgl. NRC 2002: 31ff.). Die Konsequenz bisher: Die sonderpädagogische Population stieg um mehr als ein Drittel über die neunziger Jahre hinweg, so dass heute eine/einer von acht Schüler/innen sonderpädagogische Förderung erhält. Lernschwierigkeiten werden immer öfter diagnostiziert, wobei die Kategorie "specific learning disability" seit deren Definition in den 1960er-Jahren eine Diskrepanzmessung zwischen getesteter Intelligenz und den Schulleistungen impliziert (im Gegensatz zu der deutschen Definition des "Förderschwerpunkt Lernen", vgl. Powell 2003a: 121ff.). Trotz der standardisierten Verfahren ist die Häufigkeit des ermittelten Förderbedarfs in den Einzelstaaten äußerst unterschiedlich. Tatsächlich beträgt die gesamte Förderquote zwischen 7% und 15% der gesamten Schülerpopulation (NRC 1997: 4). Diese ungleiche regionale Verteilung der Förderung hat erhebliche Konsequenzen für die Bildungschancen der Schüler/innen.

Die Verwendung großangelegter Leistungstests durch Schuladministratoren in den USA wächst. Mit diesen Tests werden "höhere Entscheidungen" (high stakes) über die schulische Karriere von Schüler/innen getroffen, um sie leistungsbasierten Schulen oder Programmen zuzuweisen (vgl. NRC 1999). Die zunehmende Standardisierung von Leistungsbemessungsverfahren ist darauf ausgerichtet, die Unterrichtsergebnisse zu verbessern und die Lehrpläne inhaltlich auszubauen, ohne jedoch Inhalte vorzugeben oder Ressourcen bereitzustellen, um die gewünschten Zuwächse zu erzielen. Deshalb stellen Verantwortlichkeit, Rechenschaft und Standards für sonderpädagogisch geförderte Schüler/innen gegenwärtig nicht nur eine Chance dar: Einerseits sind hohe Erwartungen an alle Schüler/innen - auch jene in sonderpädagogischen Programmen - für Gesamtbeurteilungen nützlich. Denn allgemeine Leistungstests, die als universelle schulische Zertifikate dienen und keine Sonderbeschulung indizieren, könnten den beobachteten negativen (berufs)biographischen Folgen schulischer Segregation bzw. Separation entgegenwirken. Andererseits gehen mit den geringen Erwartungen an sonderpädagogisch geförderte Schüler/innen auch die Erwartungen der Kinder und Jugendlichen an sich selbst und andere zurück, wie anhand des Interviewmaterials verdeutlicht wurde. Das Verlangen nach Standardisierung steht im Widerspruch zu den im Augenblick praktizierten individualisierten Unterrichtsprogrammen. Die im Querschnitt, d.h. lediglich zu einem Zeitpunkt gemessenen und durch Mittelwerte gewonnenen absoluten Leistungsstandards können keine Lernzuwächse von Schüler/innen berücksichtigen. Eine aussagekräftige Einschätzung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf bedarf jedoch einer individuumsbezogenen Messung, auch der wachsenden Kompetenzen. Von Interesse ist insbesondere die leistungsmäßige Entwicklung von Schüler/innen mit vielfältigen (Start)Schwierigkeiten beim Lernen, um die Eignung der jeweiligen Förderprogramme zu evaluieren.

In den USA müssen die bestehenden individualisierten Förderprogramme (IEPs) weiter spezifiziert werden, um sicher zu gehen, dass notwenige Veränderungen auf einer individuellen Basis vorgenommen werden können. Andernfalls könnte die Teilhabe der Schüler/innen, an sonder¬pädagogischen Fördermaßnahmen dazu benutzt werden, Verantwortlichkeit zu umgehen. Deshalb verlangt die US-amerikanische Bundesgesetzgebung, dass die Staaten und Distrikte die ausnahmslose Teilnahme der Schüler/innen an den Leistungstests durchsetzen. Jedoch wird in der Praxis diese Forderung in vielen Schulen und Regionen umgangen. Wenn die Verfügbarkeit der Bundesmittel allein am Erfolg der aggregierten Leistungsentwicklung abhängig gemacht wird, verlieren die bedürftigsten Schulen ihre Mittel.

Nicht nur im Bereich der Bildungsstandards bestehen Implementierungsschwierigkeiten in den Einzelstaaten, sondern auch in den definierten Begrifflichkeiten und Rahmenbedingungen. Die Einzelstaaten stehen stehen zur Zeit im Wettkampf zueinander um Mittel des Bundes. Ungleichheiten und Veränderungen in Klassifizierungsraten und die Teilnahme an sonderpädagogischen Förderprogrammen wirken sich auf die gesamten Leistungsergebnisse einzelner Staaten aus. Beispielsweise dann, wenn Schüler/innen mit Förderbedarf mehr Zeit zur Lösung der Aufgaben gegeben oder andere Formen eines Leistungstests (i.d.R. kürzere Fragebögen) benutzt werden. Deshalb ist es im offensichtlichen Interesse der Bildungsbehörden und Schulverwaltungen, möglichst vielen "leistungsschwach" getestete Schüler/innen die Teilnahme an solchen Tests zu verwehren oder zu vermindern. Es wird geschätzt, dass nur die Hälfte aller sonderpädagogisch geförderten Schüler/innen in die vergangenen Beurteilungen nationaler Bildungsstandards einbezogen wurden: trotz Verbesserungen variieren die Inklusionsanteile insgesamt und die alternativen Leistungsbeurteilungen in den Einzelstaaten weiterhin dramatisch (vgl. NCES 1997; NCES 2003).

Ein weiterer Aspekt, welcher die Bedeutung der Bildungsreform für us-amerikanische Schulen darstellt, ist die "freie Schulwahl" (school choice). Mit Hilfe von "Schulgutscheinen" (vouchers) können Eltern ihre Kinder von einer Schule in die andere ummelden, vorausgesetzt Eltern haben genügend Wissen und Zeit, dies vorzunehmen (und es stehen freie Plätze zur Verfügung). Der damit entstehende Druck soll Schulen dazu bewegen, sich zu verbessern. In der Praxis haben gerade die Familien mit vielen Ressourcen die beste Möglichkeit, gute Schulerfahrungen für ihre Kinder zu sichern. Die Bedeutung von Schulwahlentscheidungen hängt mit der Sicherung von Lerngelegenheiten zusammen, trotz der Tatsache, dass in den Gesamtschulen der USA sonderpädagogische Unterstützung in jeder Schule angeboten wird. Alle Schulen konkurrieren miteinander - auch um Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, insbesondere dann, wenn hochbegabte Schüler/innen an diesen besonderen Förderprogrammen teilnehmen (solche "gifted and talented" Programme - oft als Teil der Sonderpädagogik - bestehen in mehr als die Hälfte der Einzelstaaten). Auch Eltern von Schüler/innen mit Förderbedarf ist die Schulwahl zu gewährleisten. Insbesondere sie haben insbesondere sie das Recht darauf, aufgrund des individuellen Förderplans, die entsprechende Einrichtung zu wählen. Somit zeigt sich ein deutlicher Gegensatz: Während in Deutschland Eltern mit förderbedürftigen Kindern durch Finanzierungsvorbehalte und fehlende Ressourcen sehr viel seltener als andere Eltern eine Schule wählen können (dies gilt auch für die Zeit nach dem Bundesverfassungsgerichtentscheidung vom 8. 10. 1997), hat in den USA insbesondere diese Gruppe eine rechtliche Garantie auf freie Schulwahl (Powell 2004b). Jedoch zeigt der Blick in die USA zugleich, dass nationale Bildungsstandards durch fehlende oder lediglich partielle Beteiligung der Schüler/innen mit besonderem Förderbedarf keine Lösung für die Probleme mit regionalen Disparitäten bieten: sie erreichen lediglich eine kurzfristige Umverteilung auf aggregierter Ebene. Die Ergebnisse der Leistungstests sind damit ein weiterer Indikator der räumlichen Ungleichheit im föderalen Bildungssystem.

Weiterhin ist in den USA wie auch in Deutschland ein steigender der Anteil an Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Sonderschulen wie auch im gemeinsamen Unterricht über die 1990er Jahre zu beobachten (Powell 2004a). Diese expandierende Gruppe wurde aber in den PISA-Studien weder repräsentativ noch differenziert nach Förderschwerpunkten analysiert. Somit bieten die PISA-Ergebnisse nur sehr beschränkte Möglichkeiten, wissenschaftliche Aussagen über die Leistungsstandards sonderpädagogisch geförderter Schüler/innen treffen zu können. Darüber hinaus verzerrt die fehlende Berücksichtigung dieser Schülergruppe den nationalen Bildungsstandard. Wird die Ebene der Bundesländer betrachtet, zeigt sich, dass 2,7% aller Schüler im Saarland, aber nahezu doppelt so viele (6,2%) in Sachsen-Anhalt Sonderschulen besuchen (Krappmann, Leschinsky & Powell 2003: 771). Durch die Exklusion der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und die damit verbundene unterschiedliche Populationskomposition ist die Vergleichbarkeit der Ergebnisse im Bundesländervergleich zu problematisieren. Dieses ungelöste Problem müsste angegangen werden, wenn die deutsche Bildungspolitik weiterhin am segregierenden Bildungssystem festhält und zugleich die "Leistungen" der verschiedenen Schulformen messen und vergleichen will.

Fortgeführte Exklusion oder inklusive Schulen?

Es ist der großen öffentlichen Resonanz der PISA-Studie zu verdanken, dass bestehende internationale und regionale Leistungsunterschiede von Schüler/innen im allgemeinbildenden Schulsystem in Deutschland allgemein bekannt geworden ist. Wie die vorangegangenen internationalen Leistungstests, zeigt auch PISA, dass Deutschland mit dem Erhalt des selektierenden, mehrgliedrigen Schulsystems im internationalen Vergleich einen "Sonderweg" beschreitet. Mehrheitlich setzen andere Länder auf eine möglichst späte Selektion der Schüler/innen, und viele ermöglichen darüber hinaus Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf den Besuch einer allgemeinbildenden "Regel"-Schule. Welche Konsequenzen für Bildungsforschung und Bildungspolitik hat die dargelegte Situation von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Deutschland im Hinblick auf den Ruf nach einer Schule für Alle? Einige der im Artikel diskutierten Punkte sollen hier nochmals zusammengefasst und zur Debatte gestellt werden:

1. Innerhalb der Bildungsforschung werden unterschiedliche Ansätze und Perspektiven nötig sein, um gegenwärtige Probleme präzise aufzuzeigen und Reformmöglichkeiten auf ihre Realisierbarkeit hin zu prüfen. International vergleichende Studien müssen neben den Leistungsstandards auch die gesellschaftshistorische Entwicklung der Institutionen und Organisationen untersuchen, um die Durchführung und Auslegung von Gesetzen und Schulprogrammen in der Praxis der Schuladministration und der Lehrer/innen zu bewerten und ggf. in andere Kontexte übertragen zu können. Solche Analysen leisten einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der heterogenen, sich wandelnden Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

2. Weiter muss berücksichtigt werden, dass gegenwärtige Reformansätze, die auf Ganztagsschulen, Bildungsstandards und inklusive Pädagogik (in umstrukturierten Schulen) zielen, spezifische und nicht immer miteinander zu vereinbarende Schwerpunktsetzungen implizieren. So widerspricht die derzeitige Forschungspraxis der Leistungsbemessung im Querschnitt dem Erkenntnisbedarf im Bereich der sonderpädagogischen Förderung, in denen individuelle Lernzuwächse und Kompetenzentwicklung im Vordergrund stehen. Während die Integrationspädagogik weniger das Lehren als vielmehr das Beobachten von und die individuelle Unterstützung einzelner Schüler/innen fordert, wurde bislang in Reaktion auf die PISA-Ergebnisse die Forderung von Bildungspolitiker/innen laut, mehr zu lehren und weniger zu beobachten bzw. zu unterstützen (vgl. Knauer 2002: 312). Die Inklusion der Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die allgemeinbildende Schule für alle stellt eine sehr anspruchsvolle, aber auch in Deutschland erreichbare Lösung dieser Problematik dar (vgl. Hinz 2002: 354-361). International vergleichende Studien können zeigen, inwiefern Scheiternserfahrungen minimiert und Bildungsstandards adjustiert werden, wenn der international steigende Anteil sonderpädagogisch geförderter Kinder und Jugendlicher eine "normale" Schule besucht.

3. Die international-vergleichende Forschung zeigt, das Schulen für alle mit Ganztagsangebot nicht nur möglich, sondern sogar üblich sind. Das bedeutet aber nicht, dass Schüler/innen mit besonderem Förderbedarf immer erfolgreich in Leistungsbemessungen einbezogen werden. Das Einheitsschulsystem der USA kann weniger als das deutsche gegliederte System Exklusion vollziehen, da die Schüler/innen nicht zwischen den Schulen, sondern innerhalb einer Schule nach Leistung und Interessen verteilt werden. Durchlässigkeit und Variabilität in der Teilnahme ist auch in der Anwendung von Bildungsstandards möglich. Sie sind zwar rhetorisch beliebt, jedoch äußerst schwierig umzusetzen. Mehr noch, sie stehen ohne sorgfältige und konsequente Umsetzung im Widerspruch zu schulischen Integrationsbestrebungen, zu individuellen Förderansätzen und zur inklusiven Pädagogik.

4. Inwiefern das selektierende deutsche Bildungssystem individuelle Misserfolgskarrieren produziert und Rückstufungen sowie Sonderschulüberweisungen von den Kindern und Jugendlichen als individualisiertes Scheitern erfahren wird, zeigen biographische Studien. Die Konsequenzen unterschiedlicher Schulstrukturen für den individuellen Lebensverlauf kann nur erfasst werden, wenn die Lerngelegenheiten und -erfahrungen von Schüler/innen mit und ohne sonderpädagogischem Förderungsbedarf in die jeweilige Untersuchung miteinbezogen werden - und zwar auf internationaler, regionaler und schulischer Ebene.

5. Da das persönliche und soziale Ausmaß einer frühen Selektion nach sozialer Herkunft und das Stigma einer Sonderbeschulung oft erst im Übergang zum Erwachsenenleben anhand gescheiterter Biographien sichtbar werden, ist es notwendig, die Übergänge von Schulabgänger/innen in die Berufsausbildung bzw. den Beruf zu untersuchen. In einer solchen Lebenslaufperspektive lässt sich die durch Ausschließungsmechanismen geprägte Stellung ehemaliger Sonderschüler/innen auf dem Arbeitsmarkt aufzeigen. Die Antwort auf die Frage nach den gesellschaftlichen Kosten der sozialpolitischen Interventionen und Rehabilitationen für die im Bildungssystem gescheiterten oder separierten Schulabgänger/innen könnte einen (finanziellen) Rahmen für auf Prävention zielende bildungspolitische Reformen darstellen.

6. Schließlich bedeutet Inklusion nicht nur institutionelle und organisatorische Transformation, sondern auch die Berücksichtigung aller Schülergruppen in die Bildungsberichterstattung, um die Konsequenzen der gegenwärtig vielfältigen Reformen zu verfolgen und evaluieren. Der Ruf nach Standards darf daher die sonderpädagogisch geförderten Schüler/innen nicht ausschließen. Unabhängig wann und wie die Schule für alle in Deutschland entwickelt wird, werden Bildungsstandards zwischen und innerhalb von Bildungsgesellschaften weiter institutionalisiert werden. Wenn es nicht möglich ist, alle Schüler/innen in die Leistungsmessung und -entwicklung zu inkludieren, werden nicht nur die Individuen scheitern, sondern die Schulen selbst.

Literatur

Baumert, J./Schümer, G.: Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.). PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske & Budrich, 2001, 323-407.

EADSNE: Special Needs Education in Europe. Middelfart, DK: European Agency for Development in Special Needs Education, 2003.

Feuser, G.: Behinderte Kinder und Jugendliche: Zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995.

Friedemann, H.-J./Schroeder, J.: Von der Schule ... ins Abseits? Untersuchungen zur beruflichen Eingliederung benachteiligter Jugendlicher; Wege aus der Ausbildungskrise. Langenau-Ulm: Vaas, 2000.

Hänsel, D.: Die Historiographie der Sonderschule. Eine kritische Analyse. In: Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005) 1: 101-115.

Hinz, A. (2002): Von der Integration zur Inklusion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 2002 (9): 354-361.

Kahl, R./Kerstan, T./Spiewak, M.: Pisa gegen Pisa: Deutschland streitet wieder über die Gesamtschule. Gegner und Befürworter berufen sich auf die Pisa-Studie. Ein Disput unter Kennern. In: Die Zeit 8/2005 (17.02.2005): 73f.

Knauer, S.: PISA und die Integrationspädagogik: Du bist mir nah und doch so fern... Zu vordergründigen Übereinstimmungen und hintergründigen Gegensätzen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 2002 (8): 310-313.

KMK: Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1991 bis 2000 (Dokumentation Nr. 159). Bonn: Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2002.

Krappmann, L./Leschinsky, A./Powell, J.: Kinder, die besonderer pädagogischer Förderung bedürfen. In: Cortina, K.S. et al. (Hrsg.). Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Reinbek: Rowohlt, 2003, 755-786.

NCES: The Inclusion of Students with Disabilities and Limited English Proficient Students in Large-Scale Assessments: A Summary of Recent Progress (NCES 97-482). Washington, DC: U.S. Department of Education, National Center for Education Statistics, 1997.

NCES: Including Special-Needs Students in the NAEP 1998 Reading Assessment, Part I, Comparison of Overall Results With and Without Accommodations (NCES 2003-467). Washington, DC: U.S. Department of Education, National Center for Education Statistics, 2003.

NCES: International Outcomes of Learning in Mathematics Literacy and Problem Solving: PISA 2003: Results From the U.S. Perspective (NCES 2005-003). Washington, DC: U.S. Department of Education, National Center for Education Statistics, 2004.

NRC: Educating One and All: Students with Disabilities and Standards-based Reform, Washington, DC: National Research Council, 1997.

NRC: High Stakes: Testing for Tracking, Promotion, and Graduation, Washington, DC: National Research Council, 1999.

NRC: Minority Students in Special and Gifted Education, Washington, DC: National Research Council, 2002.

OECD: Equity in Education: Students with Disabilities, Learning Difficulties and Disadvantages. Statistics and Indicators. Paris: Organization for Economic Co-operation and Development, 2004a.

OECD: Lernen für die Welt von morgen. Erste Ergebnisse von PISA 2003. Paris: Organization for Economic Co-operation and Development, 2004b.

Pfahl, L.: Stigma-Management im Job-coaching. Berufsorientierungen benachteiligter Jugendlicher. Diplomarbeit, Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin. (Online erhältlich als NWG Working Paper 1/2004: www.mpib-berlin.mpg.de).

Powell, J.J.W.: Hochbegabt, behindert oder normal? Klassifikationssysteme des sonderpädagogischen Förderbedarfs in Deutschland und den Vereinigten Staaten. In: Cloerkes, G. (Hg.): Wie man behindert wird. Heidelberg: Winter, 2003a, 103-140.

Powell, J.J.W.: Constructing Disability and Social Inequality Early in the Life Course: The Case of Special Education in Germany and the United States. Disability Studies Quarterly 23 (2003b) 2: 57-75.

Powell, J.J.W.: Barriers to Inclusion: The Institutionalization of Special Education in Germany and the United States. Dissertation, Freie Universität Berlin, 2004a.

Powell, J.J.W.: Schulische Integration als Bürgerrecht in den USA. In: Becker, U./Graser, A. (Hrsg.). Perspektiven der schulischen Integration von Kindern mit Behinderung: Interdisziplinäre und vergleichende Betrachtungen. Baden-Baden: Nomos, 2004b, 93-124.

Powell, J.J.W./Wagner, S.J.: Zur Entwicklung der Überrepräsentanz Migrantenjugendlicher an Sonderschulen in der Bundesrepublik Deutschland. Gemeinsam Leben, Zeitschrift für Integrative Erziehung 10 (2002) 2: 66-71.

Preuss-Lausitz, U.: Gemeinsamer Unterricht Behinderter und Nichtbehinderter, Ein Weg für Sonderpädagogik und allgemeine Schulpädagogik zu einer gemeinsamen integrativen Pädagogik. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 4 (2), 2001: 209-224.

Solga, H.: Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft: Die Erwerbschancen gering qualifizierter Personen aus soziologischer und ökonomischer Perspektive. Opladen: Verlag Barbara Budrich, 2005.

Solga, H./Wagner, S.J.: Die Zurückgelassenen - Die soziale Verarmung der Lernumwelt von Hauptschülern und Hauptschülerinnen. In: Becker, R./Lauterbach, W. (Hrsg.). Bildung als Privileg? Ursachen von Bildungsungleichheit aus soziologischer Sicht. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, 195-224.

US DoED: A New Era: Revitalizing Special Education for Children and Their Families. Washington, DC: United States Department of Education, 2002.

Wagner, S.J.: Jugendliche ohne Berufsausbildung: Eine Längsschnittstudie zum Einfluss von Schule, Herkunft und Geschlecht auf ihre Bildungschancen. Aachen: Shaker Verlag, 2005.

Quelle:

Lisa Pfahl, Justin J.W. Powell: Die Exklusion von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Ein Beitrag zur Debatte um nationale Bildungsstandards und die Schule für alle

Erschienen in: Gemeinsam Leben 10 (2005). 68-78

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 29.01.2007

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation