Anmerkungen zur Qualitätsdiskussion in Kindertagesstätten

Autor:in - Gottfried Koppold
Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-99 Gemeinsam leben (1/1999)
Copyright: © Luchterhand 1999

Anmerkungen zur Qualitätsdiskussion in Kindertagesstätten

Qualitätsentwicklung, Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement usw., das sind die Schlagworte, die seit geraumer Zeit auch das Feld der Kindertagesstätten erfaßt haben. Es hat allerdings den Anschein, als ob diese Diskussion weniger ein Anliegen der Einrichtungen selbst ist, sondern ihnen von außen aufoktroyiert wird.

Zwar mag es einige Kindertagesstätten geben, die sich nach DIN EN ISO 9000 ff. zertifizieren oder nach der Kindergarteneinschätzskala (KES) bewerten lassen oder die ihre "Qualität im Dialog entwickeln" wollen, auf breiter Ebene aber hat die Qualitätsdiskussion die Praxis bisher mit Sicherheit nicht erfaßt, sie wird nach meinem Eindruck weitgehend ohne sie geführt.

Wenn dies so ist, dann stellt sich die Frage, ob hier seitens derer, die sich aus einer gewissen Distanz mit der Praxis der Kindertagesstätten befassen, eine Diskussion eröffnet wurde, die für die Praxis nicht relevant ist und eher an der freien Wirtschaft orientierten Modetrends folgt, oder ob hier auf breiter "praktischer Ebene" eine Entwicklung verschlafen wird, deren Folgen bisher noch nicht absehbar sind.

Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst gefragt werden, wodurch die Diskussion um Qualitätsentwicklung, Qualitätssicherung etc. bedingt und ausgelöst wurde. Im Wesentlichen lassen sich hier drei Komplexe ausmachen:

1.) Die Kindergartenpraxis wird allgemein als verbesserungswürdig angesehen, da sie mit den oft als dramatisch empfundenen und rasant verlaufenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, von denen Familien und Kinder betroffen sind, nicht Schritt halte. In diesem Zusammenhang gerät sowohl die konkrete Praxis der Kindertagesstätten als auch die Ausbildung des Personals in den Blick.

2.) Die "leeren Kassen" der Kommunen führten dazu, daß seitens der Kostenträgers auch in den Kindertagesstätten ein effizienter Einsatz der Mittel verlangt werde, konkret: Mit weniger Geld und/oder Personal bzw. einer anderen Personal/Kinder-Relation solle gleiche oder bessere Qualität produziert werden.

3.) Das Kinder- und Jugendhilfegesetz mit seinem gesetzlich garantierten Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz habe zu einer erheblichen Ausweitung von Plätzen geführt, was aber teilweise schon vereinzelt aufgrund rückläufiger Geburtenzahlen zu einem Überangebot an Plätzen und damit notwendigerweise zu einer Konkurrenzsituation zwischen Einrichtungen geführt habe und weiter führen werde. Die "Überlebenschancen" der einzelnen Einrichtungen werden dabei als umso positiver eingestuft, je höher ihre Qualität ist.

Man wird im Wesentlichen wohl allen drei Punkten für die Notwendigkeit einer Qualitätsdiskussion zustimmen und sogar soweit gehen können zu sagen: Erst alle drei Begründungen zusammen machen diese Diskussion plausibel und notwendig, aber auch außerordentlich problematisch. Denn hinter diesen Begründungen verbergen sich (Abhängigkeits-) Strukturen, die grundlegend für die Realität der Kindertagesstätten sind.

Kindertagesstätten, die sich nicht an besondere zahlungskräftige Kunden wenden sondern eine auch für Eltern bezahlbare flächendeckende Versorgung sicherstellen, sind auf Förderung durch die öffentliche Hand (Kommunen etc.) angewiesen. Diese geben damit den materiellen Rahmen, in dem Kindertagesstättenarbeit erst stattfinden kann, weitgehendst vor. Grundlegend sind dabei die Vorgaben über Gruppengrößen bzw. Personal/Kinder-Relation, die Anforderungen an die fachliche Qualifikation des Personals, die dem Personal zur Verfügung stehenden gruppenfreien Zeiten für Vor- und Nachbereitung, Teamgespräche, Elternkontakte etc. sowie die räumliche und sachliche Ausstattung der Tagesstätte. Auch wenn in den einzelnen Bundesländern hier abweichende Vorgaben existieren, so lassen sich doch vor allem hinsichtlich Gruppengröße, Qualifikation des Personals und Personalschlüssel weitgehende Übereinstimmungen feststellen: die Gruppengrößen werden bei ca. 25 Kindern angesetzt, die Qualifikation des Fachpersonals in den Gruppen wird in der Regel an einer abgeschlossenen Erzieherinnenausbildung festgemacht, als Hilfspersonal werden Kinderpflegerinnen, Berufs- und Vorpraktikantinnen sowie Helferinnen des freiwilligen sozialen Jahres anerkannt und bezuschußt. Pro Gruppe mit ca. 25 Kindern werden normalerweise 1 Fachkraft und eine halbe bis ganze Hilfskraft bewilligt. Die gruppenfreien, also die Verfügungszeiten des Personals sind dabei sehr unterschiedlich geregelt, sie reichen von einem Viertel der Arbeitszeit bis hin zu null Stunden. Hinsichtlich der räumlichen und sachlichen Ausstattung sind die Vorgaben heterogener, sie sind aber in den letzten Jahren unter dem Druck, neue Plätze schaffen zu müssen, in vielen Bereichen gelockert worden oder gar weggefallen.

Charakteristisch für die Kindertagesstättenlandschaft hinsichtlich der öffentlichen Förderung ist, daß es zwei große Gruppen von Trägern gibt, die hier unterschiedlich behandelt werden: Die freien Träger wie Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Initiativen usw. erhalten in der Regel staatlich festgelegte Pflichtzuschüsse, die nur einen Teil der tatsächlichen Kosten decken, der Rest muß über Elternbeiträge, Spenden, freiwillige Zuschüsse, Eigenaktivitäten wie Basare, Sommerfeste usw. erwirtschaftet werden. Die zweite Gruppe, nämlich die Kommunen, sind bei ihren eigenen Kindertagesstätten sowohl Zuschußgeber als auch Zuschußempfänger, was immer zu einer 100%igen Kostendeckung führt.

Was haben nun all diese Strukturen mit der Qualitätsdiskussion zu tun?

Qualität verwirklicht sich immer innerhalb eines (vorgegebenen) Rahmens und ist ohne diesen nicht verstehbar. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Wenn die Ingenieure eines Automobilkonzerns die Aufgabe erhalten, ein serienreifes Auto zu entwickeln, dessen Verkaufspreis am Ende nicht mehr als DM 30.000,- betragen soll, dann ist damit ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen Qualität entwickelt werden kann. Je nach Fähigkeit, Phantasie, Erfahrung usw. der Entwicklungsingenieure wird dann ein Auto entstehen, das im Verhältnis zu seinem Preis eine Qualität hat, die irgendwo zwischen schlecht und optimal angesiedelt sein wird. Allerdings wird bei der genannten Vorgabe nie die Qualität erreichbar sein, die man bei einem Auto der Oberklasse erwartet: Qualität ist also ein relativer Begriff, der ohne Kenntnis der ihm zugrunde liegenden Rahmenbedingungen unscharf bleibt und so für Vergleiche untauglich ist.

Überträgt man dieses Beispiel auf die Qualitätsdiskus-sion der Kindertagesstätten, dann wird sehr schnell deutlich, daß man auch hier immer zuerst den Rahmen benennen muß, innerhalb dessen sich Qualität realisiert. Läßt man beispielsweise bei der Bestimmung von Qualität in Kindertageseinrichtungen die Relation Personal/Kinder außer Betracht, wie dies z.B. in der KES der Fall ist, so besteht die Gefahr, daß ein Kindergarten mit kleinen Gruppen und guter Personalausstattung mit den gleichen Kriterien bewertet wird wie einer mit maximaler Gruppengröße und minimaler Personalausstattung. Damit aber wird man der Arbeit beider Kindergärten nicht gerecht.

Nun könnte man natürlich einwenden, daß gerade solche Gegebenheiten wiederum ein Qualitätsmerkmal von Kindertagesstätten sind, und dies ist sicher auch richtig. Allerdings wird hier eine generelle Schwäche der vorliegenden Arbeiten deutlich: Sie beziehen die unterschiedlichen Verantwortungsebenen (Gesetzgebung, Kostenträger, Einrichtungsträger, Personal) entweder gar nicht (KES) oder nur teilweise (Kronberger Kreis) in ihre Konzepte ein, und sie machen in keinem Fall die Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Ebenen ausreichend deutlich.

Dies wäre dann relativ unproblematisch, wenn man den Eindruck hätte, daß allen Beteiligten an einer echten Verbesserung der Qualität in Kindertageseinrichtungen gelegen wäre und sich alle ihrer Verantwortung in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich bewußt wären. Gerade dies aber scheint, wie eingangs erwähnt, nicht der Fall zu sein. Weder auf der Ebene der Gesetzgebung noch auf der der Kostenträger scheint ein Bewußtsein dafür vorhanden zu sein, daß bestimmte Rahmenbedingungen eben auch nur eine bestimmte Qualität bewirken können.

Die Qualitätsdiskussion in Kindertagesstätten lastet so einseitig auf den Einrichtungsträgern und vor allem auf dem Personal der Einrichtungen, das sich mit dieser Diskussion in vielen Fällen überfordert fühlt und den Eindruck hat, hier würde wieder einmal etwas auf seinem Rücken ausgetragen, was eigentlich gar nicht in seinem Verantwortungs- und Einflußbereich liege.

Nun soll hier überhaupt nicht geleugnet werden, daß die Qualität der Arbeit in Kindertageseinrichtungen auch unter Beachtung der jeweils gegebenen Rahmenbedingungen zum Teil erheblich verbesserungsbedürftig und -fähig ist, daß also der jeweils gegebene Spielraum noch lange nicht überall ausgenutzt wird. Gerade deshalb erscheint es notwendig, den Erzieherinnen in den Einrichtungen Instrumente an die Hand zu geben, die es ihnen ermöglichen, ihre Arbeit in ihrem jeweiligen Kontext zu verbessern ohne daß sie dabei überfordert werden. Hierzu muß ganz klar aufgezeigt werden, was unter jeweils gegebenen Bedingungen überhaupt leistbar ist, und wer für nicht realisierte Chancen die Verantwortung zu tragen hat. Wo dies nicht geschieht, werden Qualitätskriterien sehr schnell und oft zu Recht mit dem Hinweis abgetan: "Es wäre ja schön, wenn es so sein könnte, aber die Realität ist halt leider eine andere ..."

Als Beispiel sei hier das Merkmal der "Leitungsqualität (LQ)" des Kronberger Kreises angeführt, das die Merkmale beschreibt, die gute Leitungsqualität ausmachen.

Leitungsqualität (LQ)

Die Qualität der Leitung von Tageseinrichtungen für Kinder ist für die gesamte Einrichtung von hoher Bedeutung. Die Leitungskraft muss fähig sein, die Einrichtung kompetent (d. h. mit Wissen und Können) zu leiten, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern, das Programm der Einrichtung einer ständigen Reflexion zu unterziehen, ein bedarfsgerechtes Angebot für Kinder und Familien zu entwickeln, die Einrichtung in der Öffentlichkeit darzustellen und bekanntzumachen und sich selbst ständig für ihre Leitungsaufgaben weiter zu qualifizieren. Sie sorgt für angemessene personelle Voraussetzungen und nimmt Einfluss auf vorhandene Träger- und Einrichtungsstrukturen, um günstige Rahmenbedingungen für die Arbeit zu erreichen. Sie nimmt ihre Leitungsaufgabe und -rolle bewusst an und praktiziert einen kollegialen Leitungsstil. Zu ihrer Fachkompetenz gehört auch die Auswahl, Anleitung, Unterstützung und Förderung des Personals. Sie verfügt über ein breites Allgemeinwissen und kann zur fachlichen Weiterentwicklung der Einrichtung kompetente Fachleute von außen einbeziehen und nutzen. Sie verfügt neben ihren pädagogisch-fachlichen Kompetenzen über Fähigkeiten des Sozialmanagements und der Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen.

Diese Zusammenfassung, der ein sehr detaillierter Katalog einzelner Kompetenzbeschreibungen zugrunde liegt, verlangt Fähigkeiten, die weit über das hinaus gehen, was von Leitungspersonen üblicherweise verlangt und erwartet werden kann, wenngleich hier ausdrücklich festgehalten werden soll, daß die angeführten Leitungskompetenzen durchaus wünschenswert und weitgehendst auch notwendig wären. Solange aber nicht gesagt wird, wie und wo solche Kompetenzen erworben werden können und wer diesen Erwerb bezahlt und später auch finanziell honoriert, solange also in den meisten Fällen eine Erzieherinnenausbildung allein als ausreichende Qualifikation für Leitungspositionen angesehen und honoriert wird, wird es nur in Ausnahmefällen gelingen, Leitungen mit den erwünschten Kompetenzen zu finden. Gerade im Hinblick aber auf diejenigen Leiterinnen, die, auch wenn sie mitunter eine andere Selbsteinschätzung haben mögen, aufgrund ihrer Biographie diese Voraussetzungen gar nicht erfüllen können, wäre es wichtig und notwendig diejenigen Bedingungen aufzuzeigen, die zu der gewünschten Qualifikation führen können bzw. diese verhindern. Wo dies unterbleibt, besteht die Gefahr, daß Leitungen ausschließlich selbst für fehlende oder unzureichend ausgebildete Kompetenzen verantwortlich gemacht werden, und damit ist sicher niemandem gedient.

Zu einer ähnlichen Bewertung kommt man auch, wenn man die anderen Qualitäten daraufhin untersucht, unter welchen Bedingungen sie sich gar nicht, teilweise oder voll entwickeln lassen.

Welche Einfluß aber hat nun die jeweilige Qualität einer Kindertagesstätte auf ihre "Überlebenschancen", wenn aufgrund rückläufiger Kinderzahlen ein Überangebot an Plätzen entstehen sollte? Ist es tatsächlich so, daß Qualität ein entscheidendes Kriterium sein wird, wenn es um die Frage geht, welche Tagesstätten zuerst geschlossen werden sollen?

Ein gutes Angebot wird sich in der Regel natürlich auch einer guten Nachfrage erfreuen, und es wird den jeweiligen Entscheidungsträgern umso schwerer fallen, eine Einrichtung ganz oder teilweise zu schließen, je zufriedener die Nutzer und je größer die Nachfrage gerade nach diesem Angebot sind. Es darf allerdings bezweifelt werden, ob Qualität wirklich ein entscheidendes Kriterium sein wird, wenn Schließungen anstehen. Genauso wie bei der Vergabe von Trägerschaften wird auch hier die Frage des Proporzes eine wichtige Rolle spielen. Es steht zu befürchten, daß hierbei gerade kleine Träger und Initiativen, die in den vergangenen Jahren in der Kindertagesstättenlandschaft einiges in Bewegung gesetzt haben - die Integrationsentwicklung ist ein Beispiel dafür - größere Probleme bekommen werden als große Träger wie z.B. die Kirchen. Nicht zu vergessen ist auch die Doppelrolle der Kommunen, die häufig sowohl Anbieter von Plätzen als auch Kostenträger sind. Es ist nicht zu erwarten, daß kommunale Einrichtungen zuerst ihr Angebot reduzieren werden, im Gegenteil: den Kommunen böte sich hier eine Gelegenheit, ihre Angebote als Maßstab von Qualität stärker zu verankern, als dies bisher möglich war.

Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß den bisher vorliegenden Arbeiten zur Qualitätsdiskussion in Kindertagesstätte, insbesondere der KES und dem Kronberger Kreis das Verdienst zukommt, eine längst überfällige Diskussion in Gang gesetzt zu haben, deren weitere Entwicklung sicher noch für viel Diskussions- und Zündstoff sorgen wird. Kritisch muß aber angemerkt werden, daß bisher Qualität noch zu abstrakt gesehen und nicht ausreichend auf die jeweils vorfindbaren Realitäten hin definiert wird: Wenn man Qualität fordert und einschätzt, dann muß sie auch auf dem Hintergrund der jeweiligen Rahmenbedingungen bewertet werden, dann muß auch benannt werden, welche Bedingungen von wem wie geändert werden müssen, damit in der Kindergartenpraxis auch mehr pädagogische Qualität entwickelt werden kann. Nur so kann dann auch benannt werden, welche nicht realisierten Qualitäten im Verantwortungsbereich des Personals in der Kindertagesstätte selbst liegen.

Man sollte sich auch davor hüten, Qualität eine zu große Bedeutung beizumessen, wenn es um den Abbau von Plätzen in Kindertagesstätten geht. Qualität wird hierbei zwar auch eine Rolle spielen, und es wird sicher kein Fehler sein, wenn man für seine eigene Einrichtung hier positive Argumente anführen kann, Entscheidungen werden aber wohl mehr politisch als fachlich begründet werden.

Autor

Gottfried Koppold,

Ganghofer Straße 7a

82380 Peißenberg

Quelle:

Gottfried Koppold: Anmerkungen zur Qualitätsdiskussion in Kindertagesstätten

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-99

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 1999

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Stand: 26.05.2010

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