Was kommt nach der Schule, oder was ist eigentlich aus Jenny Lau geworden?

Themenbereiche: Kultur, Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-00 Gemeinsam leben (1/2000)
Copyright: © Luchterhand 2000

Wie verworren und verwirrend die Wege in das Arbeitsleben sein können, die nicht in einer WfB enden sollen

17. November 1999. Eine Festveranstaltung im Berliner Friedrichstadtpalast, die Verleihung des Deutschen KinderKulturpreises 1999. Einer von acht Preisträgern war eine Theatergruppe aus Berlin, für die Jenny mit Kollegen in Kostümen die Ehrung entgegennehmen durfte. Das große Haus ist gut gefüllt. Im allgemeinen Gemurmel vor Beginn plötzlich hinter uns eine weibliche Stimme, die einem Kind mit Hinweis auf eine auffallend gekleidete junge Dame in der ersten Reihe erklärte, dies sei Jenny Lau, ein bekanntes Mädchen, das als erstes mit einer geistigen Behinderung in einer normalen Schule unterrichtet wurde. Das sei jedoch schon lange her.

In der Tat. Wir erinnern uns: Die Schulzeit unserer Tochter Jenny, geboren im Jahr 1972, zog sich glücklicherweise immer wieder in die Länge. Den Integrationskindergarten in Berlin-Friedenau, eine Elterninitiative, besuchte Jenny ab 1973. 1980 ging die siebenköpfige Gruppe in eine Integrationsklasse der Berliner Fläming-Grundschule. Der Schulversuch beinhaltete Klassengrößen von 15 SchülerInnen, davon 5 mit besonderem Förderbedarf und zwei Pädagogen. Die Grundschule endete, wie für alle Berliner SchülerInnen, nach sechs Jahren. Der Schulversuch verlief für die SchülerInnen mit und ohne Behinderung sehr erfolgreich.

Vom inzwischen durchgesetzten Übergang der Integrationsklassen der Flämingschule in die Sekundarstufe, hier eine Gesamtschule, wurde Jenny jedoch ausgeschlossen. Die Schulverwaltung als verlängerter Arm der hier konservativen Politik behauptete weiterhin, unsere Tochter könne nur an der Sonderschule bestmöglich gefördert werden. Die gerichtliche Auseinandersetzung führte zu einer einstweiligen Anordnung zu- gunsten von Jenny und zu einem rechtskräftigen Urteil zu ihren Lasten. Dazwischen lagen 14 Wochen, die Jenny mit ihren KlassenkameradInnen in der Gesamtschule verbrachte. Doch mit dem Urteil erfolgte im Februar 1987 der Schulverweis und anschließend die Einweisung in eine Schule für Lernbehinderte, alles nachzulesen in einer von uns herausgegebenen Dokumentation »Jenny darf nicht in die Oberschule«[1].

Das totale Versagen dieser Sonderschule beim Umgang mit förderbedürftigen Jugendlichen und das ständige Herausreden der Klassenleiterin, eigentlich gehöre Jenny ja gar nicht in ihre Klasse sondern auf eine Schule für geistig Behinderte, machte sich inzwischen auch bei Jenny negativ bemerkbar. Erst ein Regierungswechsel 1989 und ein innovationsbereites Kollegium ermöglichten einen Übergang in die 8. Klasse einer Hauptschule. Einige Stunden sonderpädagogischen Unterricht im Klassenverband und Einzelfallhelferstunden machten weitere Lernfortschritte und Lernmotivationen möglich. Ohne einen formalen Abschluss verließ Jenny mit Ende der 10. Klasse 1992 die Hauptschule.

In den folgenden zwei Jahren besuchte Jenny eine Berufsschule mit sonderpädagogischer Aufgabe für Jugendliche ohne Schulabschluss. In einer Klasse zur Vorbereitung auf die Arbeitswelt unter gleichzeitigem Absolvieren des Hauptschulabschlusses hatte sie einen guten Stand. Die Aufteilung in einen theoretischen und einen praktischen Teil kam ihr sehr entgegen, auch die Möglichkeit, sich vorwiegend der Hauswirtschaft zuzuwenden. Hier verdeutlichte sich immer mehr, dass Jennys spätere Tätigkeiten nicht im handwerklichen Bereich, so auch nicht in der Küche liegen werden. Obwohl eher zurückhaltend, sucht bzw. braucht sie den Kontakt mit auch fremden Menschen. Einen Hauptschulabschluss hatten wir nie angestrebt, er ist auch nicht nur für Jenny nicht zu erreichen. Diese Zeit jedoch mit Vermittlung von Allgemeinwissen und der weiter gehenden Orientierung an Menschen ohne Behinderung war für sie sehr wichtig und richtig. Jenny hatte dort auch eine ihr sehr zugewandte Freundin gefunden, mit der sie auch heute noch Freundschaft pflegt.

1995 schloss sich ein einjähriger Förderlehrgang des Arbeitsamtes im Christlichen Jugenddorf Berlin (CJD) im nun bewusst gewählten Bereich Hauswirtschaft an, Alternativen dazu gab es nicht, denn das Ziel war in der Tat der Service. Ein Lehrgang wieder in erster Linie für Schulversager. Jetzt wurde richtig klar, Jenny hatte sich schon formal auf einem Level eingeschrieben, der ihr bislang nicht zugestanden wurde und der noch heute Vielen verwehrt wird. Ein Ergebnis der konsequenten Verfolgung unseres Ziels. Zu Jennys Glück konnte der Lehrgang im folgenden Jahr wiederholt werden.

Diese Lehrzeit und der Umgang mit vielen und zum Teil im Sozialverhalten problematischen Menschen brachten ihr viele wertvolle Erfahrungen.

1996 war dann das Ende der Schul- und Förderlehrgänge erreicht, eine Tatsache, mit der sich auch wir Eltern abgefunden hatten. Jenny war bereits 24 Jahre und wir waren sehr froh und dankbar, dass sich die Integration unserer Tochter in unsere Gesellschaft auf Umwege so lange fortsetzte. Darüber hinaus wurde uns aber die Weiterführung dieses Weges durch Fachleute wieder einmal verwehrt. Im Rahmen der letzten, vom Arbeitsamt geförderten Maßnahme ist ein Orientierungspraktikum in einer anerkannten Bildungseinrichtung, hier das Annedore-Leber-Berufsbildungswerk Berlin, nötig. Hier werden die Teilnehmer getestet und anschließend einer weiteren, spezialisierten Ausbildung zugeführt. Jenny wurde unter anderem als Testaufgabe das Rezept und die Ingredienzien einer Zwiebelsuppe vorgelegt. Ohne auf ihre Stärken zu achten, wurden nur ihre genetisch bedingten Schwächen offen gelegt.

Nach Abschluss des Praktikums wird der Praktikant mit den Eltern zu einem Abschlussgespräch geladen. Die Beurteilung von Jenny in diesem Gremium, bestehend aus Lehrern, Psychologen und Mitarbeitern des Arbeitsamtes, war vernichtend. Jenny könne gar nichts, sie sei in dem hier getesteten Tätigkeitsfeld nicht einsetzbar. Die Frage nach Alternativen, z. B. im reinen Servicebereich, wurde mit großer Entrüstung als völlig unrealistisch vom Tisch gefegt. Überlegungen nach eigenständigem Suchen wurden somit wieder akut.

Der Übergang von der Schule zur Berufswelt war ja sehr sanft, in der Tat leider kein normaler, gerade diesen Menschen adäquater Weg. Doch am Ende stand auch nur das Arbeitsamt. Dieses hätte uns sofort den Übergang in die Arbeitswelt über eine beschütztende Werkstätte ermöglicht. Das war natürlich nicht unser Ziel. Wir suchten erst einmal den Arbeitsmarkt im Bereich Service, auch Handlangertätigkeiten im tertiären Sektor oder auch Wäscherei ab. Wir waren notgedrungen offen in allen Richtungen. Anzustreben war auf jeden Fall eine abwechslungsreiche Tätigkeit für 4-6 Stunden täglich, damit weiterhin Raum für Freizeit- und Fortbildungsmaßnahmen bleibt.

Inzwischen bestimmten eine ausschließlich von uns Eltern finanzierte Einzelfallhilfe und ihr Hobby Theater Jennys Tagesablauf. Anfang 1996 hatten wir ihr den Eintritt in die Theatergruppe RambaZamba - NormalBehinderte und ihr total verrücktes Theater - ermöglicht. Intensives Proben und leider lange, von Jenny allein bewältigte Anfahrtswege stellen immer wieder die Frage nach einer richtigen Gewichtung zwischen Beruf und sehr wichtigem, weil förderlichen Hobby mit dem Ziel einer Öffnung zur Selbstdarstellung für MitbürgerInnen, die immer noch zu selten die Gelegenheit bekommen, die Kraft der Menschen mit einer hier insbesondere geistigen Behinderung zu erfahren.

Im August 1997 kam dann die große Chance. Die Freude über die bisherige 17-Jährige, äußerst positive Schul- und Vorbereitungszeit war bereits überlagert mit der Ungewissheit der Weiterführung bis zu einer kontinuierlichen und lebenserfüllenden Beschäftigung.

Doch plötzlich lag eine Einladung des Internationalen Bundes, Bildungszentrum Berlin, für einen weiteren einjährigen Förderlehrgang vor, diesmal ein Lehrgang im Praxisbereich Service einschließlich des Besuchs einer Berufsschule. Offensichtlich wurde das vernichtende Gutachten aus dem vorlaufenden Praktikum nicht weitergegeben. Eine Stelle, bei der wir Jenny bereits vorher angemeldet hatten, meldete sich nun. Ein Jahr Verzug trat ausschließlich wegen Platzmangels auf. Die Ausbildungs- und Trainingsstätte besteht aus einem kleinen Tagungs- und Hotelbetrieb, vornehmlich für Fortbildungsseminare der Arbeitsämter und die Unterbringung von Sportgruppen. Mit Glück startete Jenny in eine wieder offene Zukunft.

Inzwischen waren wir Eltern und auch Jenny davon überzeugt, dass die Arbeit im Servicebereich ihren Fähigkeiten am ehesten entspricht. Ihre freundliche, distanzierte aber auch sehr offene Art mit Menschen umzugehen, ist ihre Stärke.

Glücklicherweise geriet sie an einen Ausbildungsleiter, der all das auch erkannte, Jenny gut zu nehmen wusste und sie richtig einsetzte. Er ging unvoreingenommen an sie heran und trainierte sie im Eindecken, Servieren, Getränke einschenken, Gäste nach Wünschen zu befragen und auch in der Spülküche zu arbeiten.

Jenny hat sich im Kreis von ca. 10 männlichen wie weiblichen Auszubildenden gut eingefügt, sie wurde beachtet und geachtet. Mit einigen SchülerInnen traf sie sich schon morgens in der S-Bahn. Jenny bediente die Gäste mit Begeisterung, was ihr auch anzumerken war. Sie war immer freundlich, wusste immer, wo etwas fehlte, war flink und zuvorkommend. Der Ausbilder war sehr zufrieden und lobte ihre souveräne Art.

Sie hatte sich so gut eingearbeitet, dass sie von einer zweiten Ausbildungsleiterin bei Arbeitsplatzwechsel mitgenommen wurde. So läuft seit November 1998 eine weitere, vom Arbeitsamt geförderte Maßnahme im Arbeitstrainingsbereich in einem kleinen Café (mit großem Sommergarten) unter der Leitung von MOSAIK-Werkstätten für Behinderte. In dem Betrieb, der im Kulturamt des Berliner Bezirks Steglitz untergebracht war, hat sich Jenny nahezu sämtliche notwendigen Fähigkeiten angeeignet, wie Bestellungen aufnehmen, an der Theke arbeiten, Servieren und auch Kassieren. Die Leitung, die Kollegen und natürlich auch die Gäste unterstützen Jenny bei ihrer Arbeit. Anfang Februar 2000 endete die Maßnahme, die dann nahtlos in eine Festanstellung im selben Betrieb überging, der zwar formal eine Werkstatt für Behinderte ist, jedoch mit weit geöffneten Türen.

Es hat sich bestätigt, dass Jenny ein Sonntagskind ist. Immer wieder, in Schule und Beruf, hat sie bisher großes Glück gehabt. Ein Glück, dass sie nicht immer wieder hätte beanspruchen müssen, wenn Fachleute, Verwaltung und Politik sich mit der Person Jenny, ihres Könnens und nicht nur ihrer Defizite auseinander gesetzt hätten.

Gisela und Wolf-Dieter Lau,

Neue Straße 6, 14163 Berlin

Quelle:

Gisela und Wolf-Dieter Lau: Was kommt nach der Schule, oder was ist eigentlich aus Jenny Lau geworden?

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-00

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 2000

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 08.02.2005



[1] Jenny darf nicht in die Oberschule. 1987, 2. Auflage 1991, zu beziehen über G. und W.-D. Lau, Neue Str. 6, 14163 Berlin, für DM 10,- einschl. Porto.

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation