Der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben - Möglichkeiten, Chancen und Risiken

Autor:in - Dieter Schartmann
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1/2000 Gemeinsam leben (1/2000)
Copyright: © Luchterhand 2000

Der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben - Möglichkeiten, Chancen und Risiken

Der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben bedeutet - für jeden Menschen - nicht nur den Wechsel von der dominierenden Tätigkeitsform »Lernen« zur dominierenden Tätigkeitsform »Arbeiten«, sondern gleichzeitig eine schlagartige Veränderung vieler sozialer Bezugsgrößen wie zum Beispiel der sozialen Rolle, des sozialen Status' und der sozialen Beziehungen. Damit verbunden sind weitere »Entwicklungsaufgaben« wie die Ablösung vom Elternhaus, häufig auch der Aufbau einer Partnerschaft. Insofern darf der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben nicht eindimensional als der Prozess des Erwerbs von arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen und Kompetenzen bewertet werden, sondern muss in einem umfassenden Sinne auf mehreren Ebenen analysiert werden.

Ziel dieses Artikels ist es jedoch, den Übergang von der Schule in das Erwerbsleben ausschließlich unter der Perspektive der heutigen beruflichen Möglichkeiten für behinderte Menschen zu beschreiben.

1 Ein allgemeiner Überblick

Die traditionellen Möglichkeiten zur beruflichen Eingliederung behinderter Menschen werden von der Berufsberatung der regionalen Arbeitsämter angeboten. Es sind dabei vier große Bereiche zu unterscheiden[1]:

  1. Die reguläre Vollausbildung nach §§ 25 BBiG (Berufsbildungsgesetz)/HWO (Handwerksordnung).

  2. Die abgestufte Ausbildung nach §§ 48 BBiG/42b HWO für diejenigen Menschen, für die eine betriebliche Ausbildung nach §§ 25 BBiG/HWO auf Grund der Behinderung nicht in Frage kommt. Für diesen Personenkreis kann eine modifizierte Ausbildung angeboten werden. Hier sind in aller Regel die Anforderungen an die Fachtheorie und/oder an die Fachpraxis reduziert. Durchgeführt werden diese Maßnahmen überwiegend in Berufsbildungswerken (BBW).

  3. Ein F-Lehrgang ist eine Berufsvorbereitende Maßnahme, die mit dem Ziel einer dauerhaften Integration in Ausbildung oder Arbeit durchgeführt wird. In aller Regel wird diese Fördermaßnahme in einer überbetrieblichen Reha-Einrichtung absolviert. Das Arbeitsamt beauftragt freie und gemeinnnützige Träger mit der Durchführung dieser Maßnahmen.

  4. Die Werkstatt für Behinderte (WfB) bietet Personen, die nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, einen Arbeitsplatz oder die Gelegenheit zur Ausübung einer geeigneten Tätigkeit. Im Rahmen des Arbeitstrainingsbereichs einer WfB wird ein in der Regel zweijähriger Kurs zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und der Persönlichkeitsentwicklung durchgeführt.

In der folgenden Tabelle sind die beschriebenen Maßnahmen nach Behinderungsart ausgewiesen. Je nach Behinderungsart zeigen sich - erwartungsgemäß - deutliche Schwerpunkte.

Behinderung

Berufsausbildung §§ 25 BBiG/ HWO

Berufsausbildung §§ 48 BBiG, 42b HWO

F-Lehrgang

WfB

Blindheit und geringes

Sehvermögen

434

151

124

132

Gehörlosigkeit

1629

381

333

123

Psychische Erkrankung[a]

1878

521

997

968

Körperbehinderung[b]

3605

765

580

425

Geistige Behinderung

83

91

368

6759

Lernbehinderung

17702

16998

17353

1843

[a] Bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind die Kategorien Psychosen und Neurosen zusammengefasst worden.

[b] Bei den körperbehinderten Menschen wurden folgende Gruppen zusammengefasst: Zerebrale Kinderlähmung, Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes, Kongenitale Anomalien, Fraktur der Wirbelsäule mit Rückenmarksschädigung, Schädelfraktur und andere Frakturen, Traumatische Abtrennung von Gliedmaßen.

Die Angebote, die die Arbeitsverwaltung behinderten Menschen machen kann, sind nach einer »Maßnahmelogik« organisiert: Es bestehen fest definierte und institutionalisierte Angebote, denen behinderte Menschen zugeordnet werden. Durch den Besuch der Maßnahme soll der behinderte Mensch so qualifiziert werden, dass anschließend eine Aufnahme in den Arbeitsmarkt möglich ist. Dieses relativ starre Korsett der beruflichen Bildung kommt nicht unbedingt den individuellen Bedürfnissen behinderter Menschen entgegen. Zwar findet durch die arbeitsmedizinische und/oder psychologische »Begutachtung« der Versuch statt, dem behinderten Menschen eine seinem aktuellen Leistungsniveau adäquate Maßnahme anzubieten; häufig werden den eigentlichen Bildungsmaßnahmen auch zusätzliche Erprobungsmaßnahmen vorgeschaltet. Letztenendes findet aber eine Anpassung des Menschen an das bestehende System der beruflichen Bildung statt, welches darüber hinaus häufig in Sonderinstitutionen organisiert ist (BBW, Überbetriebliche Bildungsmaßnahmen, WfB). Vor dem Hintergrund wachsender Anforderungen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gestellt werden und die eine verstärkte realitätsnahe berufliche Bildung verlangen, ist die Frage zu stellen, ob der Übergang von der Schule in das Berufsleben gerade für behinderte Menschen nicht auch flexibler, individueller, betriebsnäher sowie nach regionalen Besonderheiten organisiert werden kann.

In den letzten Jahren sind zahlreiche Modelle und Projekte entwickelt worden, in denen der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben unter verschiedenen Schwerpunkten konzeptionell bearbeitet worden ist und modellhaft Wege der Qualifizierung von behinderten Menschen erprobt worden sind, so für

  • sehbehinderte Menschen (Appelhans et al. 1999),

  • körperbehinderte Menschen (z.B. BMA 1995, Bungart & Barlsen 1995, LVR i.D.),

  • hörgeschädigte Menschen (LVR 1993),

  • lernbehinderte Menschen (z.B. Pfeiffer et al. 1997),

  • geistig behinderte Menschen (z.B. Böhringer 1993, Ciolek 1998, Glenz & Sturm 1997, IMPULSE 1997, LVR i.D.).

Sowohl wegen der Vielzahl der Projekte als auch wegen der Heterogenität der Zielgruppen kann hier keine differenzierte Beschreibung der vorliegenden Modelle vorgenommen werden. Vielmehr sollen im Folgenden die Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Schulen und Integrationsfachdiensten für geistig behinderte Menschen - als relativ neue Instrumente zur beruflichen Integration - näher untersucht werden sowie vertieft auf die Einbindung der Eltern in die Beratungsarbeit des Integrationsfachdienstes eingegangen werden.



[1] Unberücksichtigt bleiben hier: BBE-Lehrgang, tip-Lehrgang, Grundausbildungslehrgang, Berufsfindungsmaßnahmen und Arbeitserprobungen.

2 Geistig behinderte Menschen und der Übergang von der Schule in das - Erwerbsleben

Inhaltsverzeichnis

Insbesondere geistig behinderte Menschen haben nach den oben dargestellten Daten nur in Ausnahmefällen die Möglichkeit, sich außerhalb der Werkstatt für Behinderte zu qualifizieren. 93% aller geistig behinderten Menschen sind auf die Werkstatt für Behinderte angewiesen. Wer die Übergangsquote von der WfB in den allgemeinen Arbeitsmarkt kennt (sie liegt gegenwärtig trotz aller Bemühungen von Seiten der Integrationsfachdienste und der Kostenträger immer noch bei ungefähr 1%) weiß, dass damit gleichzeitig der weitere berufliche Weg von geistig behinderten Menschen vorgezeichnet ist.

Bundesweit existieren zur Zeit etwa 160 Fachdienste, die sich um die berufliche Integration behinderter Menschen kümmern. Nach einer aktuellen Übersicht von Lindmeier und Oschmann (1999) kann davon ausgegangen werden, dass nur eine kleine Anzahl dieser Dienste auch die Zielgruppe Schülerinnen und Schüler erfassen.

Dies ist vor allem dadurch begründet - wie dies Lindmeier und Oschmann (ebd. 1999, 349) richtig ausführen -, dass die allermeisten Integrationsfachdienste durch die Hauptfürsorgstellen eingerichtet worden sind und finanziert werden, deren klassische Aufgaben in der psychosozialen Betreuung bereits beschäftigter schwerbehinderter Menschen liegen und nicht in der Integration. Sowohl eine gesetzliche Grundlage als auch eine inhaltlich/fachliche Sinnhaftigkeit der Finanzierung von Integrationsdiensten durch die Hauptfürsorgestellen ist aber gegeben (vgl. ausführlich Ernst 1998, 158f.).

Welche Erfahrungen liegen vor?

Fasst man die vorliegenden Erkenntnisse und Erfahrungen zusammen, so zeigt sich ein relativ homogenes Bild: Die berufliche Integration von geistig behindertenSchülerinnen und Schüler in den allgemeinen Arbeitsmarkt ist möglich. Sie bedarf allerdings verschiedener Voraussetzungen, um realisiert werden zu können:

1. Lehrerinnen und Lehrer müssen für die Idee der beruflichen Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt sensibilisiert werden. Die - leider immer noch - häufig anzutreffende Einstellung, dass für geistig behinderte Menschen ausschließlich die Werkstatt für Behinderte als Arbeitsort in Frage kommt, muss sukzessive abgebaut werden zu Gunsten einer prinzipiellen Offenheit bezüglich der nachschulischen Situation.

2. Die schulische Vorbereitung auf die berufliche Integration muss sehr früh einsetzen, am sinnvollsten muss diese als pädagogisches Konzept bereits in der Unter- und Mittelstufe umgesetzt werden (vgl. LWV 1992, 95). Sie muss bei jeder erzieherischen Interaktion, bei jedem erzieherischen Handeln mitgedacht werden, der Unterricht muss auf die spätere Integration und die dafür erforderlichen Kompetenzen bezogen sein. Dies bedeutet, dass nicht nur die Lehrerinnen und Lehrer nach diesen Prinzipien unterrichten sollten, sondern dass sich das gesamte Schulsystem daran orientieren muss.

3. Die Vernetzung mit dem Integrationsdienst muss sehr früh erfolgen. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, dass die Kooperation zwischen der Schule und dem Integrationsfachdienst zwei Jahre vor der Schulentlassung beginnt. So bleibt ausreichend Zeit, gemeinsam mit dem Schüler/der Schülerin die einzelnen Prozessschritte zur beruflichen Integration abzuarbeiten.

4. Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist es, dass alle Prozessbeteiligten (SchülerIn/LehrerIn/Berufsberatung/Eltern/Integrationsdienst, im weiteren Prozessverlauf der aufnehmende Betrieb) kooperativ am gemeinsamen Ziel arbeiten. Zu Beginn des Begleitungsprozesses muss ein Gremium eingerichtet werden - wie man es auch immer nennen mag: Integrationskonferenz, case-management, Reha-Konferenz ... -, in dem die Prozessbeteiligten zusammenkommen und sich über das Grundsätzliche des Integrationsprozesses verständigen (Aufstellen eines individuellen Integrationsplans). Dieses Gremium muss in regelmäßigen und sinnvollen Abständen (beispielsweise zur Strategieabsprache vor einem Praktikum, zur Auswertung nach einem Praktikum) tagen, um das weitere Vorgehen abzusprechen. Wichtig ist es dabei,

a) einen Prozessverantwortlichen zu benennen, bei dem die Informationen zusammenfließen, der zu den jeweiligen Sitzungen einlädt usw. Diese Aufgabe übernimmt in der Regel der Integrationsdienst, da er gemäß seinem Auftrag die besten Voraussetzungen dafür mitbringt. Des Weiteren muss bei jeder Sitzung festgelegt werden, wer welche Aufgabe bis zur nächsten Sitzung verantwortlich übernimmt.

b) Es muss sich darauf verständigt werden, dass alle Prozessbeteiligten in der Verantwortung stehen, ihren eigenen Teil zur Verwirklichung der beruflichen Integration beizutragen. Es muss allen bewusst sein, dass der Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt von allen Prozessbeteiligten mehr Engagement und Bewegung verlangt als der Übergang in die WfB. Ebenso muss herausgearbeitet werden, dass durch die Einschaltung des Integrationsdienstes nicht die gesamte Arbeit und Verantwortung für den Prozess an den Integrationsdienst delegiert worden ist, sondern dass dem Integrationsdienst auf Grund seiner Erfahrungen aus der Arbeitswelt eine koordinierende Funktion im Prozess zukommt. Der Integrationsdienst ist der Brückenbauer zwischen der Welt der Pädagogik (Schule) und der Welt der Ökonomie (Betriebe).

5. Eine wichtige Voraussetzung für die Integration ist aus der Sicht der Betriebe die passgenaue Besetzung des Arbeitsplatzes (LVR 1998, Schartmann 1999b). Insofern kommt der Fähigkeits- und Motivationsabklärung ein zentraler Stellenwert zu. Die Fähigkeitsdiagnostik ist so anzulegen, dass sie nicht als Statusdiagnostik durchgeführt wird, sondern dass sie die Zone der nächsten Entwicklung des behinderten Menschen einschließt (vgl. Schartmann 1999a). Zur Ermittlung der Fähigkeiten haben sich Praktika als der Königsweg herausgestellt. Da mit der beruflichen Integration eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angestrebt wird, sind die Praktika vorrangig dort durchzuführen. In der Integrationskonferenz müssen die Praktika ausgewertet werden und individuelle Fördercurricula auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse mit allen Prozessbeteiligten entwickelt werden. Diese sind im Unterricht umzusetzen.

6. Konzeptionell sind zwei Wege des Überganges denkbar:

a) der direkte Übergang von der Schule in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Bei dieser Option wird versucht, ohne eine berufsqualifizierende Maßnahme die direkte Integration zu erreichen. In der Regel dürfte dies der schwerer zu gehende Weg sein, da bei einem Schulabgänger keine Berufserfahrung erwartet werden kann und dies häufig einen »Sprung ins kalte Wasser« bedeutet.

b) Es kann versucht werden, einen betriebsinternen F-Lehrgang einzurichten. Der F-Lehrgang, der üblicherweise in einer überbetrieblichen Einrichtung durchgeführt wird, kann auch als eine Einzelmaßnahme innerbetrieblich durchgeführt werden, wenn ein geeigneter Betrieb gefunden worden ist und ein pädagogischer Fachdienst eine angemessene Begleitung sicherstellen kann. Diese innerbetrieblichen Förderlehrgänge haben in der Praxis häufig dazu geführt, dass nach Ablauf der Fördermaßnahme der Arbeitgeber den behinderten Menschen in seinen Betrieb eingestellt hat. Unter integrationspädagogischen Gesichtspunkten sind betriebsinternen Förderlehrgängen deswegen den überbetrieblichen F-Maßnahmen gerade beim Klientel der geistig behinderten Menschen der Vorzug zu geben.

Sind die genannten Voraussetzungen erfüllt, ist für einen bestimmten Personenkreis der Schülerinnen und Schüler die berufliche Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt möglich.

Diese Erfahrungen werden durch ein kurz vor dem Abschluss stehendes Projekt des Landschaftsverbandes Rheinland bestätigt: Pro Abgangsklasse von Schulen für geistig behinderte Menschen wurden maximal zwei bis drei Schülerinnen oder Schüler - unter den momentan gegebenen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen - zur Begleitung angenommen. Von diesem Klientel konnten in Laufe des Projektes 65%, also fast exakt zwei Drittel aller begleiteten Schülerinnen und Schüler, dauerhaft in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden, wie die erste Zwischenauswertung zeigt (LVR 1999). Dieser Trend scheint sich auch in der Abschlussauswertung zu bestätigen (LVR i.D.). Gemessen wurde dabei nicht der kurzfristige Integrationserfolg, sondern auf der Basis einer Längsschnittstudie der Verbleib der ehemaligen Schülerinnen und Schüler. Es konnte somit der Nachweis erbracht werden, wie sinnvoll und effektiv eine frühe Kooperation zwischen der Schule und einem Integrationsfachdienst sein kann.

Relevant unter konzeptionellen Gesichtspunkten ist die Diskussion zweier Fragestellungen:

  1. Sollen die Möglichkeiten, die Werkstätten für Behinderte zum Trainieren von Arbeitsfähigkeiten anbieten (Arbeitstrainingsbereich), genutzt werden?

  2. Bereiten Integrationsschulen besser auf die berufliche Integration vor als Sonderschulen?

Zu a) Aus dem bislang vorliegenden Datenmaterial lässt sich feststellen, dass der unmittelbare Übergang von der Schule in den allgemeinen Arbeitsmarkt wesentlich leichter gelingt als der Übergang von der Werkstatt für Behinderte in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die häufig formulierte These, dass behinderte Menschen zunächst im Arbeitstrainingsbereich einer Werkstatt für Behinderte in den Grundarbeitsfähigkeiten qualifiziert werden und anschließend in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert werden können, ist somit falsifiziert. Arbeitet ein behinderter Mensch einmal in einer WfB, so wird der Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt schwieriger als bei einem direkten Übergang von der Schule in den allgemeinen Arbeitsmarkt[2]. Soll eine berufliche Integration angestrebt werden, so muss die Qualifizierung des behinderten Menschen so betriebsnah und realistisch wie nur eben möglich durchgeführt werden; jeder Weg über eine Sonderinstitution ist ein Umweg und führt in der Regel zu Zeitverzögerungen oder gar zu einer vollständigen Aufgabe des Zieles der beruflichen Integration.

Zu b) Ob Schülerinnen und Schüler von Integrationsschulen »leichter« oder zumindest häufiger in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert werden können als Sonderschülerinnen und -schüler ist eine weitere interessante Fragestellung. Leider entspricht die empirische Datenlage zur Beantwortung dieser Frage nicht den Kriterien der wissenschaftlicher Dignität, da die geringen Vergleichszahlen momentan eine Analyse mit den Mitteln der Statistik nicht zulassen. Eine Befragung der rheinischen Integrationsdienste (9 Dienste, 21 IntegrationsbegleiterInnen) erbrachte allerdings einige interessante Erkenntnisse, die durchaus einen hypothesengenerierenden Charakter besitzen können.

Nach Ansicht der rheinischen Integrationsdienste bestehen folgende Unterschiede zwischen Integrationsschülerinnen und -schülern und Schülerinnen und Schüler von Sonderschulen:

  • Das Sozialverhalten und die Kommunikationsfähigkeiten/Verbalisierungsfähigkeit sind bei Integrationsschülern stärker ausgeprägt.

  • Sonderschüler sind in ihrem Sozialverhalten schwieriger.

  • Die so genannten Schlüsselqualifikationen sind bei Sonderschülern nicht so stark ausgeprägt wie bei Integrationsschülern.

  • Nach Einschätzung der Integrationsdienste kommt der Praxisanteil in den Integrationsschulen zu kurz, hier profitieren Sonderschüler von dem praxisorientierten Unterricht in der Sonderschule.

  • Die Kooperation zwischen dem Integrationsdienst und der Integrationsschule ist enger als die Zusammenarbeit mit »normalen« Sonderschulen.

  • Schwierigkeiten gibt es häufig beim Rollenverständnis und den Erwartungen, die die Integrationsschulen an den Integrationsdienst herantragen. Hier zeigt es sich, dass die Integrationsschulen häufig in dem Integrationsdienst den Garanten zur Vervollständigung der in der Schulen begonnenen Integration betrachten. Diese an den Integrationsdienst herangetragenen Erwartungen wirken in der Arbeit oft hemmend und belastend.

Diese Erkenntnisse zeigen, dass eine pauschale Beantwortung der oben formulierten Fragestellung nicht möglich ist, sondern dass eine sehr differenzierte Diskussion zur Versachlichung dieses häufig viel zu emotional geführten Disputes notwendig ist. Die einfache Gleichung »Sonderschule ist schlecht für die spätere berufliche Integration, Integrationsschule ist gut für die spätere berufliche Integration« ist zu eindimensional und greift sicherlich zu kurz.

Die oben beschriebenen Erkenntnisse sind auf der einen Seite nur singuläre Beobachtungen und Erfahrungen, die einer weiterführenden und gründlichen Analyse bedürfen. Auf der anderen Seite stellen sie erste inhaltliche Annäherungen an ein Thema dar, welches in der Zukunft grundlegende Konsequenzen für die Gestaltung der Schullandschaft haben kann.



[2] Die Gründe für die niedrige Übergangsquote müssen nochmals ausführlich separat diskutiert werden; sie sind sicherlich vielfältig und lassen sich nicht nur auf das bekannte Argument reduzieren, dass die Werkstätten ihre »fähigsten« MitarbeiterInnen nicht gerne an den allgemeinen Arbeitsmarkt verlieren.

3 Aspekte des Überganges von der Schule in das Erwerbsleben - der Baustein der Elternarbeit

Wie schon oben ausgeführt, darf der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben nicht auf die Kooperationsebene zwischen Schule und Integrationsdienst reduziert werden, sondern alle Prozessbeteiligten (behinderter Mensch, Eltern, LehrerIn, Berufsberatung, Werkstattvertreter, Integrationsdienst) müssen in den Integrationsprozess eingebunden werden. Im Folgenden soll exemplarisch ein Baustein des Überganges inhaltlich konkretisiert werden, der für die Realisierung der beruflichen Integration gerade von Schülerinnen und Schülern von erheblicher Bedeutung ist.

Die Zusammenarbeit mit den Eltern muss unter einer doppelten Perspektive gefasst werden: Zum einen sind Eltern behinderter Kinder - und hier besonders die Mütter (vgl. Schildmann 1996, Schumann 1996) - Initiatoren der Integrationsbewegung und benötigen selbst Entlastung und Unterstützung. Als Vorkämpfer für die Integration ihrer Kinder haben sie bereits wichtige Pionierarbeit im Elementar- und im Schulbereich geleistet. Zum anderen können gerade Eltern auf Grund der räumlichen und emotionalen Beziehungsdichte zu ihren Kindern zu wichtigen Integrationshelfern werden.

Eine wesentliche Aufgabe eines Integrationsdienstes muss es sein, die Kooperation der Eltern zu gewinnen, sie für diese Bereiche zu sensibilisieren sowie diese bei ihren eigenen Anstrengungen zur beruflichen Integration ihrer Kinder zu entlasten. Das Verhältnis zu den Eltern ist unter dieser doppelten Perspektive zu betrachten: Einerseits sind die Eltern in ihrem eigenen Unterstützungsbedarf wahrzunehmen, andererseits sind die Unterstützungsressourcen zu erkennen, mit denen die Eltern die Integrationsmaßnahme fördern können. Der Kontakt zu den Eltern unter dieser doppelseitigen Voraussetzung beinhaltet, die Eltern auch in einer Doppelrolle zu sehen: Einerseits sind Eltern in ihren Ängsten, Unsicherheiten und Ambivalenzen bezüglich der beruflichen Perspektiven ihrer Kindern ernst zu nehmen, andererseits müssen sie in ihren Kompetenzen und Unterstützungsmöglichkeiten in den Integrationsprozess einbezogen werden. Diese beiden Seiten der Elternarbeit müssen durch eine Beratungsarbeit, die sich an den Kriterien der Offenheit und Transparenz orientiert, deutlich gemacht werden.

In fünf Bereichen kann die Kooperation mit den Eltern den Integrationsprozess unterstützen:

  • Eltern können eine praktische Unterstützung anbieten, die sich von einer Entlastung des behinderten Menschen (z. B. bei häuslichen Pflichten oder bei Behördengängen) bis hin zu einer aktiven Mitgestaltung der Integrationsmaßnahme (z.B. für das pünktliche Erscheinen am Arbeitsplatz sorgen) erstrecken kann.

  • Eltern können eine wichtige emotionale Unterstützung geben. Als oftmals primäre Bezugspersonen können sie Motivationshilfen geben, wenn im Laufe des Integrationsprozesses »Motivationslöcher« auftreten sollten. Auf Grund ihrer - in der Regel - sehr differenzierten Kenntnisse der Persönlichkeit ihres Kindes bemerken sie eventuelle Probleme früher und können entsprechende Maßnahmen ergreifen.

  • Eltern von geistig behinderten Kindern sind häufig deren Betreuer nach dem BTG (Betreuungsgesetz). Sie sind somit auch die offiziellen Ansprechpartner für einen Integrationsdienst; die einzelnen Integrationsschritte müssen dann mit der Betreuung abgestimmt werden.

  • Die wichtigste Funktion von Eltern im Integrationsprozess ist jedoch die, den für die Integration benötigten Entwicklungsraum auch zu gewähren. Die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des behinderten Menschen sollte das Emanzipationsziel in der sich verändernden Beziehung zu den Eltern sein.

  • Im wörtlichen Sinne zu kooperieren, d.h. gemeinsam zu handeln, bedeutet allerdings auch die Verpflichtung des Integrationsdienstes gegenüber den Eltern, diese nicht nur in die Verantwortung zu nehmen, sondern sie auch in ihrer Situation durch Beratungsarbeit und praktische Unterstützungsleistungen zu entlasten. Erwartungen von Eltern an einen Integrationsdienst beziehen sich vor allem auf verlässliche Hilfestellungen (z. B. bei Vorstellungsgesprächen), auf Rücksichtnahme und Offenheit, auf rechtliche Beratung im Interesse der Betroffenen sowie auf Durchsichtig- und Zugänglichmachen bestehender Hilfssysteme (vgl. Schön 1993, 97f.). Für Eltern bedeutet die professionelle pädagogische Unterstützung »die Möglichkeit, die eigene Isolation und Arbeitsbelastung durch ihr behindertes Kind zu reduzieren« (Schildmann 1996, 57).

Bausteine der Beratungsarbeit mit den Eltern können sein,

1. dass eine berufliche Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarkt von allen Beteiligten ein Miteinander und - möglichst vom Fachdienst koordinierte - Aktivität erfordert;

2. dass die Erwerbsbiographie des behinderten Menschen mit Sicherheit nicht lückenlos sein wird und unsicherer im Gegensatz zu anderen behinderten Menschen, die in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten;

3. dass der Integrationsprozess der aufwändigere und unbequemere Weg jenseits des etablierten Versorgungssystems ist;

4. dass aber die berufliche Integration für die Persönlichkeitsentwicklung einen einmaligen Schritt in Richtung Selbstbestimmung und Selbstständigkeit des behinderten Menschen bedeuten kann und

5. dass aus diesen Gründen Eltern die Integrationsbemühungen in den aufgezeigten Bereichen unterstützen müssen.

Gleichzeitig muss Eltern deutlich werden, dass durch die berufliche Integration ihres Kindes auch ihre eigene Beziehung zu ihrem Kind redefiniert wird:

Die berufliche Integration bedeutet einen Abnabelungsprozess des Kindes von den Eltern. Mit der zu erwartenden ökonomischen Unabhängigkeit des behinderten Menschen wächst auch der Wunsch nach einer Ablösung vom eigenen Elternhaus und einer Selbstbestimmung bezüglich der Wohnortfrage. Dieser für Eltern oft nicht einfache Loslösungsprozess darf die Persönlichkeitsentwicklung des behinderten Menschen jedoch nicht einschränken.

Diese Seiten sind bei der Elternarbeit integrativ miteinander zu verzahnen. Die engagierte Teilhabe am Integrationsprozess bei gleichzeitiger Gewährung von Entwicklungsmöglichkeiten ist das Ziel, welches in der Zusammenarbeit mit den Eltern erreicht werden muss.

Und: Berufliche Integration bedeutet und verlangt Bewegung von allen Menschen, die am Integrationsprozess beteiligt sind, auch von den Eltern.

4 Ein Blick in die Zukunft

Um die sinnvollen und effektiven Ansätze der beruflichen Integration von Schülerinnen und Schülern weiter zu fördern, müssen Integrationsdienste flächendeckend eingeführt werden. Damit muss gleichzeitig eine rechtliche Festschreibung des Auftrages des Integrationsdienstes erfolgen sowie die beteiligten Institutionen (vor allem Schule und Arbeitsverwaltung) zur Zusammenarbeit verpflichtet werden. Den Kooperationsbeziehungen, vor allem den zu den Behörden, darf nicht der Status der Beliebigkeit anhaften; es wird vielmehr ein verbindlicher, von allen zu akzeptierender Rahmen benötigt, innerhalb dessen ein Integrationsdienst operieren kann.

Gleichzeitig muss allen Beteiligten und vor allem den Kostenträgern klar sein, dass Integrationsdienste keine arbeitsmarktpolitischen Steuerungsinstrumente sein können, um die allgemeine Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen (zur Zeit etwa 190.000 Menschen) abzubauen. Auf Grund der intensiven individuellen - pädagogischen - Arbeit mit behinderten Menschen auf der Basis der sozialpädagogischen Methode der Einzelfallarbeit können auf der einen Seite nicht die Vermittlungszahlen erreicht werden, die Schwerbehindertenvermittler der Arbeitsverwaltung aufweisen. Dieser - unreflektierte - Vergleich verbietet sich schon allein durch die nur geringe Schnittmenge bei der Zielgruppe. Vermutlich wäre eine hohe Anzahl an Vermittlungen sogar eher kontraproduktiv, wenn man die Erwartungen und Bedürfnisse der Betriebe berücksichtigt, nämlich eine personal-kontinuierliche Begleitung des Betriebes durch einen pädagogischen Fachdienst (LVR 1998).

Auf der anderen Seite dürfen die Integrationsdienste nicht für die marktwirtschaftlichen Gesetze verantwortlich gemacht werden, die verhindern, dass jeder, der eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufnehmen möchte, dies auch kann.

Literatur

Appelhans, P.; Braband, H.; Düe, W.; Rath, W. (1999): Berufliche Eingliederung junger Menschen mit Sehschädigung in Schleswig-Holstein. In: Behindertenpädagogik, 38, 279-295

Böhringer, K. P. (1993): Vom projektorientierten Unterricht zur Eingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. In: Landeswohlfahrtsverband Baden (Hrsg.): Wege zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit geistiger Behinderung, Walldorf: Integra-Verlag, 92-100

Bronfenbrenner, U. (1989): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung, Stuttgart: Fischer-Verlag, 2. Aufl.

Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.)(1995): Vorbereitung des Übergangs körperbehinderter Jugendlicher von der Schule in das Arbeitsleben, (Forschungsbericht Nr. 248). Bonn: Bundesdruckerei

Bundesanstalt für Arbeit (BA)(Hrsg.)(1997): Berufliche Rehabilitation junger Menschen. Handbuch für Schule, Berufsberatung und Ausbildung. Variograph GmbH: Bad Liebenwerda

Bungart, J.; Barlsen, J. (1995): Von der Schule in die Arbeit: Bericht über ein Modellprojekt an der Schule für Körperbehinderte in Münster. In: Gemeinsam Leben, 3, 69-72

Ciolek, A. (1998): Hamburg: Modellprojekt zur beruflichen Orientierung und Qualifizierung im Übergang von der Schule in unterstütze Beschäftigung. In: IMPULSE, 9, 22

Ernst, K. F. (1998): Integrationsfachdienste für besonders betroffene Schwerbehinderte. In: Behindertenrecht, 37, 155-159

Glenz, V.; Sturm, H. (1997): Integrative Förderlehrgänge in Hamburg - Der Weg geistig behinderter Menschen aus Integrationsklassen in die Arbeitswelt. In: Ellger-Rüttgardt. S.; Blumenthal, W. (Hrsg.). Über die große Schwelle. Junge Menschen mit Behinderungen auf dem Weg von der Schule in Arbeit und Gesellschaft, Ulm:Univ.-Verl., 215-228

IMPULSE (1996): Schwerpunktthema: Integrative Übergänge von der Schule in den Beruf, Nr. 2, 1996

Landeswohlfahrtsverband Baden (LWV)(1992): Beschäftigung von Menschen mit geistiger Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, Walldorf: Integra-Verlag

Landschaftsverband Rheinland (1993): Gehörlose im Arbeitsleben. Interdisziplinärres Forschungsprojekt des LVR, Hauptfürsorgestelle, 2 Bände, Köln: Rheinland-Verlag

Landschaftsverband Rheinland (1998): Übergänge von der Sonderschule/WfB in das Erwerbsleben, 3. Zwischenbericht (Betriebsbefragung), Köln: Druckerei des LVR

Landschaftsverband Rheinland (1999): Übergänge von der Sonderschule/WfB in das Erwerbsleben, 4. Zwischenbericht (unveröffentlicht), Köln: Druckerei des LVR

Landschaftsverband Rheinland (i.D.): Übergänge von der Sonderschule/WfB in das Erwerbsleben, Abschlussbericht

Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)(1999): Projekt Integration. Integrationsbegleitung in Arbeit und Beruf für Schwerbehinderte mit geistigen Beeinträchtigungen, Münster: Burlage-Druck

Lindmeier, C.; Oschmann, M. (1999): Kooperation zwischen Schulen für geistig Behinderte und Integrationsfachdiensten; IN: Geistige Behinderung, 38, 348-363

Pfeiffer, G.; Knödler, U.; Neyer, R. (1997): Modellversuch zur beruflichen Qualifizierung schwer lernbehinderter Jugendlicher in vier Berufsbildungswerken - Konzeption und erste Erfahrungen. In: ELLGER-RüTTGARDT. S.; BLUMENTHAL, W. (Hrsg.). Über die große Schwelle. Junge Menschen mit Behinderungen auf dem Weg von der Schule in Arbeit und Gesellschaft, Ulm: Univ.-Verl., 251- 270

Schartmann, D. (1999a): Persönlichkeitsfördernde Arbeitsgestaltung mit geistig behinderten Menschen, Münster: Lit-Verlag

Schartmann, D. (1999b): Die berufliche Integration geistig behinderter Menschen - die Sicht der Betriebe. In: Gemeinsam Leben, 7, 69-75

Schildmann, U. (1996): Integrationspädagogik und Geschlecht: theoretische Grundlagen und Ergebnisse der Forschung: Opladen: Leske & Budrich

Schumann, M. (1996): Zur (Eltern-)Bewegung gegen die Aussonderung von Kindern mit Behinderungen »Gemeinsam leben - gemeinsam lernen«. In: Behindertenpädagogik, 35, 37-55

Autor

Dr. Dieter Schartmann

Hausener Gasse 9

52385 Nideggen

Quelle:

Dieter Schartmann: Der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben - Möglichkeiten, Chancen und Risiken

Erschienen in: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 1-00

Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied 2000

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.07.2006

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