Fetale Bewegungen und Ruhe - Konsequenzen für Entwicklungsmodelle

Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Buch
Releaseinfo: erschienen in: Hans von Lüpke/Reinhard Voß (Hg.) Entwicklung im Netzwerk: Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1994, S. 72 - 81
Copyright: © Lüpke/Voß 1994

Fetale Ruhe: Alarmzeichen oder Teil einer "Komposition"?

Anfang der 80er Jahre arbeiteten Tajani und Janniruberto als Geburtshelfer und Milani Comparetti als Kinderneurologe mit den Möglichkeiten der Realzeit-Ultraschallaufzeichnung gemeinsam an einer interdisziplinären Studie über fetale Bewegungen. Das Ergebnis war eine funktionale Interpretation fetaler Bewegungen im Rahmen eines ontogenetischen Entwicklungsmodells (Ianniruberto & Tajani, 1981; Milani Comparetti, 1981).

Der Fetus wird hier als eine "autonome" Einheit in wechselseitigem Austausch mit seiner Umwelt interpretiert. Seine motorische Aktivität ist gleichzeitig Ausdruck einer "Bereitschaft für etwas" wie auch eine Art Generator von Kompetenzen, die später auf höheren Organisationsstufen genutzt werden.

Primäre motorische Bewegungsmuster (Primary Motor Pattern, PMP) entwickeln sich als genetisch determinierte Einzelelemente von Bewegungen wie Beugung oder Streckung des ganzen Körpers oder einzelner Teile. Sie treten auf, wenn die notwendigen und ausreichenden Bedingungen dafür gegeben sind. Eine funktionale Bedeutung kommt ihnen noch nicht zu. Sie sind die "Bausteine" (Milani Comparetti, 1982; Milani Comparetti Dokumentation, 1996) für größere Bewegungseinheiten mit spezifischen Funktionen. Ihre höchste Entwicklungsstufe erreichen sie als "Psychomotorik" im Sinne von Milani Comparetti, d.h. als Mittel zur Kommunikation (Milani Comparetti, 1982; Milani Comparetti Dokumentation, 1996).

In der Literatur stand bisher die Bedeutung von fetalen Bewegungen als Ausdruck der Lebendigkeit, des Wohlergehens und der "Fitness" des Feten im Vordergrund. Eine Reihe von Studien versuchte die Bandbreite der "Normalität" mit den Möglichkeiten einer quantitativen Erfassung fetaler Bewegungen zu definieren (Vries et al., 1984, 1985). Eine auffällige Zu- oder Abnahme der Bewegungen galt als Zeichen dafür, daß es dem Feten schlecht ging.

Berücksichtigt man jedoch die qualitativen Aspekte fetaler Bewegungen, muß auch das Fehlen von Bewegungen, die Bewegungsruhe, nicht von vornherein als Mangelzustand angesehen werden. Im Gegenteil, gerade die Fähigkeit, zwischen Bewegung und Ruhe zu variieren, könnte Ausdruck einer umfassenden Kompetenz sein. Das bedeutet, daß der Wechsel von Bewegung und Ruhe Ausdruck eines Niveaus von Organisation beim Feten sein kann.

Fetale Bewegungslosigkeit kann zunächst vielfältige Ursachen haben.

  • Fehlen von Bewegung als Ausdruck einer Störung;

  • Bereitschaft und Vorbereitung des ganzen Körpers, um die nächste Bewegung möglich zu machen;

  • Warten auf unmittelbar bevorstehende biologische Ereignisse wie Hervorbrechen primärer motorischer Bewegungsmuster, Urinieren oder Wahrnehmungen aus dem Körperinneren.

Der wichtigste Aspekte fetaler Ruhe ist jedoch der Aufbau von Identität als eines inneren Prozesses, der die Organisation unterschiedlicher Zustände innerhalb des gesamten Spektrums von Ruhe und Aktivität ermöglicht. Dieses primäre Zusammenfügen der Teile zu einem Ganzen im Sinne einer Komposition bildet den Kern von Identität. Es vollzieht sich in jener Bewegungslosigkeit oder Pause, in der sich bislang noch subjektlose Formen fetaler Verhaltensvarianten zu einem Ganzen zusammensetzen. Im Austausch mit anderen Verhaltensmustern modifizieren sie sich und geben auf diese Weise dem Subjekt selbst eine Form. "Im fetalen Verhalten könnten Pausen Ausdruck eines Ruhezustandes sein, in dem geistige Abbilder von Bewegungsformen sich miteinander verbinden und sich wie Teile eines Skripts für das Körperselbst zusammenfügen als Bausteine für die Komposition des Ganzen und seiner spezifischen Individualität" (Gidoni, 1989).

Metaphern aus dem Bereich der Musik bieten sich an: das Zusammenfügen einzelner für sich selbst bedeutungsloser Elemente in der Komposition, das Prinzip der Veränderungen mit den Mitteln der Variation und der Modulation. Schließlich die Tatsache, daß Pausen keine Unterbrechung, sondern Bestandteil der Musik sind, nicht selten ein Mittel zu deren rhythmischer Strukturierung. Die ständige Modifikation des Themas sowie die Herstellung des Kontrastes, beispielsweise im Kontrapunkt, bringt gerade durch die Diskrepanz das ursprüngliche Thema zur Entfaltung, wie wir es etwa aus den Fugen von Bach kennen. Anders ausgedrückt: Diskrepanzen ermöglichen erst die Entwicklung von Identität. Diese Fäden werden an anderer Stelle wieder aufgenommen. Hier soll das Netzwerk der Metaphern zunächst verlassen werden, um die Bedeutung fetaler Verhaltensvarianten auf der Ebene der Beobachtung zu diskutieren.

Weiterführende Beobachtungen

Ein motoskopischer Befund, d.h. die Beobachtung und Auswertung eines Bewegungsverhaltens, das für die Beurteilung fetaler Ruhe eine Schlüsselstellung einnimmt, ist die Kontrolle der Körperachse, d.h. die Aufrichtung von Kopf und Rumpf. Änderungen in der Haltungskontrolle der Körperachse wurden schon 1981 von Tajani & Janniruberto als Zeichen für eine Störung im Befinden des Feten gedeutet. Milani Comparetti (1981) sah in ihr ein Zeichen für das Scheitern eines organisierenden Systems. Heute können wir einige weiterführende Aspekte ergänzen.

  1. Neuere Beobachungen von Tajani (Tajani, 1990) unterstützen die Vorstellung, daß Bewegungslosigkeit und Pausen nicht in jedem Fall ein schlechtes Zeichen sein müssen, wie er früher angenommen hatte. Heute betont er vielmehr, daß die in sich zusammenhängende aufrechte Haltung von Kopf und Rumpf als deutliches Zeichen für die Qualität von Pausen und Bewegungslosigkeit eine Funktion hat, während er Bewegungslosigkeit als Zeichen eines bedenklichen Zustandes daran erkennt, daß der Fetus zusammengerollt erscheint, Kopf und Rumpf vornüberhängend, nicht als Folge einer aktiven Beugung, sondern als Ausdruck eines Mangels an Haltungskontrolle.

  2. Tajani beschreibt den Rythmus von Pausen und Bewegungen als jeweils charakteristisch für ein Individuum bei gleichzeitig festem Bezug zu biologischen Parametern der Mutter.

  3. Die Erfahrung aus der Arbeit mit neurologisch und geistig beeinträchtigten Kindern zeigt - unabhängig von der jeweiligen Ursache der Störung - daß diese Kinder in der Säuglingszeit die vollständige Ausstattung mit primären motorischen Bewegungsmustern zeigten, dabei aber eine typische Beeinträchtigung der Körperachsenkontrolle. Gut bekannt ist die immer wieder in der Praxis zu beobachtende Beziehung zwischen einem langanhaltenden Defizit in der Haltungskontrolle und der Schwere einer geistigen Behinderung.

  4. Das Bild der "Motorrhoe", wie es Milani Comparetti 1982 bei frühen Formen von Psychosen oder in der Erholungsphase des Koma beschrieben hat, ist durch eine Bewegungsunruhe der Gliedmaßen mit voller Verfügbarkeit über die primären motorischen Bewegungsmuster bei gleichzeitigem Mangel an Rumpfkontrolle charakterisiert.

In differentialdiagnostischen Überlegungen auf der Basis motoskopischer Untersuchungen sollten daher die verschiedenen Aspekte der fetalen Ruhe den selben Stellenwert haben wie die Beurteilung unterschiedlicher Bewegungsmuster. Es liegt auf der Hand, daß dies nicht nur für den Feten, sondern auch für spätere Altersstufen gilt.

In den chronobiologischen Kurven, wie sie 1976 von Milani Comparetti & Gidoni (1967a, 1967b) sowie 1981 von Milani Comparetti veröffentlicht wurden, sind die primären motorischen Bewegungsmuster zugleich Ausdruck einer bereits bestehenden Organisationsstufe wie auch die treibende Kraft für Kompetenzen, die zu einer höheren Stufe in der Entwicklungshierarchie gehören. Diese höheren Stufen erreichen die primären motorischen Bewegungsmuster allerdings nicht als "Entwicklungskletterer"; im Gegenteil: sie müssen durch andere Muster unterschiedlicher Herkunft "moduliert" werden.

Dabei geht es

  1. um die Muster, die auf die Reifung anderer Strukturen angewiesen sind und aus anderen Substrukturen des zentralen Nervensystems hervorgehen;

  2. um vorübergehende oder andauernde Einwirkungen der Umwelt;

  3. um "Attraktoren", positive wie negative, die zu gänzlich anderen Systemen gehören.

Die hier (d.h. in der Chaostheorie) angenommenen Systeme sind indeterminiert, nichtprognostizierbar, sie werden nicht von "Faktoren", sondern von sogenannten "Attraktoren" beeinflußt, die eine längerfristige gleichsam "magnetische" Wirkung auf bestimmte Systembereiche ausüben, die meist nicht im voraus als solche erkennbar sind und also auch nicht berechenbar sind. (Huschke-Rhein)

Hier ist beispielsweise an die Rolle des Systems "Eltern" mit seinen familiendynamisch bedingten Vorderungen und Plänen zu denken. Es erweitert die reine Entwicklungsausstattung um die Erwartung von Kompetenzen und verwandelt das subjektlose biologische Funktionieren in eine zielgerichtete Orientierung innerhalb von Beziehungen (Milani Comparetti Dokumentation, 1996). Darüber hinaus ist das Bild einer Treppe, die es zu erklettern gilt, als Metapher für eine Bewertungsskala von Entwicklung ungeeignet. Es legt zwangsläufig ein Wertesystem fest, in dem "weiter oben" mit Fortschritt und "weiter unten" mit Defiziten in der Entwicklung gleichgesetzt wird. Im Zusammenhang mit Entwicklung sollte der Ausdruck "hierarchisch übergeordnete Stufe" eine Ebene größerer Handlungsfreiheit bezeichnen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine bestimmte Person innerhalb eines für sie wichtigen Beziehungszusammenhangs bedeutsam wird. Jedes Bewegungsmuster wird in der modulierenden Interaktion eine Art "Form". Durch diese wechselseitige Interaktion verliert es seine individuelle Struktur und bildet eine neue Form: die Form, die einer höheren Kompetenz entspricht.

Neue Metaphern

Im Verlauf dieses Prozesses ist der entscheidende Punkt - geht man von einem nach vorn gerichteten Ansatz aus - die Frage danach, wie sich Beziehungen zwischen dem Ganzen und den Teilen entwickeln. Diese Frage ist wichtiger als die sonst übliche, nämlich die Frage danach, wann Entwicklungsprozesse beginnen.

In der Arbeit mit Kindern und ihren Familien bemüht man sich, das Konzept von der psycho-biologischen Einheit des Individuums aufrecht zu erhalten, obwohl dieses Konzept von der Verführung durch aufspaltende, ausgrenzende Prozesse immer wieder bedroht wird. Die erneute Formulierung von Fragen führt zu neuen Antworten, bereichert durch den interdisziplinären Ansatz. Hier geht es nicht um den Vergleich von Daten, sondern um den Vergleich von Denksystemen. Unter dieser Voraussetzung besteht Hoffnung, daß es zwischen der "unbelebten" Neurologie und der "nicht materiellen" Psychologie eine Verständigung gibt. Darüber hinaus hat die Entwicklung innerhalb der Erkenntnistheorie dazu geführt, daß die Position des Beobachters stärker in die Diskussion einbezogen wird und damit Subjektivität als legitime, wissenschaftliche Position gerechtfertigt erscheint (Ceruti & Gidoni, 1990).

Eine weitere Konsequenz dieses Ansatzes hat im Bereich von Psycho-Linguistik, Psychologie und Psychotherapie dazu geführt, daß die analog-metaphorische Sprache als optimaler Träger für alle Informationen, die mit Gefühlen, Phantasien und geistigen Bildern im Zusammenhang mit psychophysischem Wohlbefinden oder Leiden zu tun haben, heute weitgehend akzeptiert wird. Für den Prozess des Denkens gewinnen Metaphern gerade dadurch besondere Bedeutung, daß sie sich als unschätzbare Träger für "semantische Unsachlichkeit" bis hin zur "Unverschämtheit" anbieten. Eine authentische Metapher ermöglicht im Gegensatz zur bloßen Ähnlichkeit oder Analogie die bildliche Vorstellung eines abstrakten Konzepts. Sie ist ein rascher und eleganter Denkprozess, um Zugang zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Sie führt zur neuen Definition von Realität, indem sie unscheinbare Daten in die nicht-cartesianischen Koordinaten von Gefühlen einträgt, sie von der Reduktion auf einen bloßen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang befreit. Auf diese Weise schafft sie eine "Gestalt", deren Informationspotential nur durch eine besondere geistige Aufnahmebereitschaft erfaßt wird: keine Erinnerung, kein Vorurteil. Gerade in der Psychotherapie fällt das schwer. Ist man hier doch immer noch auf die psychische Störung beim Patienten fixiert.

In einer anderen Arbeit (Ceruti & Gidoni, 1990) wurde vorgeschlagen, daß der ärztliche Praktiker (und warum nicht der Wissenschaftler?) sich auf die ankommenden Daten einläßt, auch wenn sie ungereinigt, "schmutzig" erscheinen. Gerade dadurch erweisen sie sich als Bestandteil und Ausdruck menschlicher Realität. Metaphorische Kommunikation und darauf aufgebaute Lernprozesse könnten sich zu einem zusätzlichen Weg zu umfassenderem Wissen über die Aneignung von Wissen selbst entwickeln.

Im Zusammenhang mit der fetalen Entwicklung bedeutet das Einbeziehen des Beobachters, daß ganz unterschiedliche Systeme wie Familie, Gesellschaft und die theoretischen sowie praktischen Modelle der Medizin ins Spiel kommen. Eine ausgedehnte Erfahrung mit Verlaufsbeobachtungen an gesunden Kindern und sogenannten Risiko-Kindern sowie mit der Rehabilitation von neurologisch und geistig beeinträchtigten Kindern zeigt, daß die Entwicklung immer wieder anders verläuft als bei der Mehrzahl ähnlich gelagerter Fälle. Oft scheinen die Verbindungen am ehesten einem lockeren Fischernetz zu entsprechen, mit großen Löchern, Öffnungen und Knoten an unerwarteten, "falschen" Stellen. Dieses Bild macht es möglich, Erfahrungen einzubeziehen, die sonst - mangels geeigneter Konzepte - "durch die Maschen fallen".

In der medizinischen Betrachtungsweise ist nur die Verlangsamung eine Störung der Entwicklung. Wir sehen aber, daß sowohl die langsame wie auch die schnelle, hastige Entwicklungsstörungen sind. (Aly)

Dazu einige Beispiele:

Entwicklung hat einen doppelten Aspekt. Den diachronen (den der zeitlichen Aufeinanderfolge) und den simultanen (den der Gleichzeitigkeit). Die Analogie in der Musik wäre Melodik und Harmonie. Reale Fakten weichen oft von den phantasierten Erwartungen und Wünschen ab. Manches ereignet sich anachronistisch, indem es mit den Phantasien anderer Perioden übereinstimmt. Darin liegt eine organisierende, strukturierende Qualität wie in anderen Diskrepanzen auch. Die Regeln dieses Zusammenspiels jedoch sind unklar.

In Familien stimmen, wie hinreichend bekannt ist, die Rollen und Personen oft nicht überein. Kinder müssen teilweise Elternfunktionen übernehmen. Mütter scheitern in ihrer neuen Rolle, weil sie von den eigenen Müttern weiterhin in der Rolle der Tochter festgehalten werden. Bis zu einem bestimmten Ausmaß können solche Konfusionen toleriert werden. Kommt es jedoch zur Vermischung von Identitäten, dann ist auch die Identität des Säuglings gefährdet. Im Extremfall gibt es weder Rollen noch Schranken zwischen den Generationen. Die Familie erscheint als ein "Syncytium", d.h. ein Gewebe, in dem die einzelnen Zellen nicht mehr voneinander getrennt werden können. Diese Beziehungsstruktur findet sich beispielsweise bei Familien, in denen Kinder mißbraucht werden. Der Säugling entwickelt sich nicht im Vakuum, sondern im Spannungsfeld der Phantasien seiner Eltern. Er ist ein Teil ihrer Orientierung auf die Zukunft hin, gehört zu ihrem "Projekt". Von ihm wird Kompetenz erwartet, vorweggenommen, gewünscht, aber auch gefürchtet. Diese Phantasien können offen zutage liegen, gelegentlich aber auch so weit im Verborgenen bleiben, daß sie überhaupt nicht wahrgenommen werden. Auf der Basis seiner biologischen, auf die Zukunft ausgerichteten Aktivität erobert sich der Fetus hier seinen Platz. Organisch ist er auf das Zusammenspiel mit der Biologie der Mutter und deren weiterer Umgebung angewiesen. Gleichzeitig wird er Zuschreibungen ausgesetzt, die ihm innerhalb eines geistigen Zusammenhangs gegeben werden.

Das Geheimnis und die "harte Arbeit"

Identität wird daher als das Resultat vielfältiger Modulationen unterschiedlicher Systeme und Stufen von Systemen aufgebaut, in Frage gestellt und erneut wieder erworben. Immer definiert sich das endgültige Resultat durch die Beziehungen zwischen den Teilen und dem Ganzen. Überflüssig zu sagen, wie sehr die Identität des Säuglings auch durch die Eltern gefährdet werden kann: durch die verhängnisvolle Konsequenz eines Mißbrauchs von Technik oder durch den Eifer, vollkommene Kontrolle über die Realität zu erlangen. Das Geheimnis, die nicht mehr vermittelbare Einmaligkeit jedes menschlichen Wesens - und vielleicht nicht nur des menschlichen - kann nur dadurch bewahrt werden, daß man niemals versucht, ein für allemal die Identität des Säuglings zu definieren und ihm stattdessen einen geistigen Rahmen bietet, in dem er sich zum kompetenten Partner in Beziehungen entwickeln kann.

Es gibt unterschiedliche Wege, das Geheimnis zu wahren. Die Diskrepanz: sie zerstört die Thyrannei der Phantasie; die Zurückhaltung: sie soll das Verlangen wecken; die Sicht: sie konsumiert die für die Außenwelt bestimmte Selbstdarstellung und schützt dadurch die Person als ganzes; das Sprechen und die Sprache: sie versuchen, die ganze Person in der Definition von Symbolen zu fangen, während die Metapher Anspielungen auf das Geheimnis macht, jeden Schritt darüber hinaus jedoch verbietet. Der Vergleich zwischen der "Verkündigung" das Beato Angelico

[beide Abbildungen nur im Original:

Beato Angelico: Die Verkündigung (Abb. Tafelgemälde im Museo di San Marco, Florenz)

Besprechung nach einer Ultraschalluntersuchung (Abb. entnommen einem Prospekt der Firma Kretz)]

und die Mitteilung des Arztes nach einer Ultraschalluntersuchung mag dies verdeutlichen. Die "Verkündigung" läßt jedem die Freiheit, in welchem Ausmaß er sich auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen den vielen unausgesprochenen Verbindungen mit dem Thema Schwangerschaft überlassen will. Bezieht der Arzt sich ausschließlich auf die Technologie, bleibt für das Geheimnis kein Raum. Der Engel oder das Ultraschallgerät, Fortschritt oder Verlust? Hier die Botschaft, da die Diagnose: eine Überraschung, ein Schock, eine Furcht, ein Traum, ein Zukunftsplan wird wahr. Dort die Tilgung des Geheimnisses, das Zurückgehaltene liegt offen zutage, die glückselige Fügung in etwas Höheres verwandelt sich in Aktivitäten, um die Realität zu kontrollieren. Damit ist nicht gesagt, daß Ultraschalluntersuchungen als solche dazu führen müssen. Ihre Bedeutung innerhalb der medizinischen Diagnostik soll hier nicht in Frage gestellt werden. Entscheidend ist der Stellenwert, der dieser Technik im Rahmen der Kommunikation über Schwangerschaft zugestanden wird. Beschränkt sich ihre Nutzung auf die durch die Technik begrenzte Aussage und wird sie nicht als Darstellung einer "objektiven Realitität" oder als Versprechen einer omnipotenten Machbarkeit mit Ausschaltung aller Risiken mißbraucht, kann sie selbst zur Metapher innerhalb einer Kommunikation werden. Auf der anderen Seite ist die Zunahme der Machbarkeit eine Realität, mit der Schritt zu halten für die ethische Orientierung immer schwieriger wird.

Hier müßte jeder seine eigenen Schlüsse (oder "Öffnungen") über die gut geordnete und dabei in höchstem Grade konfliktbeladene Welt der unterschiedlichen Entwicklungsmodelle ziehen. Entwicklungsmodelle sind deshalb nicht grundsätzlich abzulehnen - nur müssen wir uns darüber im Klaren sein, daß wir es nicht mit dem Säugling, sondern mit einem über den Beobachter vemittelten Bild zu tun haben. Die Botschaft der Kompetenz und der "Bereitschaft für etwas" scheint tatsächlich vom fetalen "way of live" auszugehen. Weit entfernt von einem " Nirvana in Passivität" ist es ein "self making" als harte Arbeit von Anfang an. Bewegung, Ruhe und Pausen sind Teil dieser Arbeit. Wir werden daran erinnert, daß das griechische Verb "poiein" (machen) und Poesie dieselbe Wurzel haben.

Quelle:

E. Anna Gidoni und Hans von Lüpke: Fetale Bewegungen und Ruhe - Konsequenzen für Entwicklungsmodelle.

Erschienen in: Hans von Lüpke/Reinhard Voß (Hg.) Entwicklung im Netzwerk: Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1994, S. 72 - 81

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.08.2006

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