Die Familie und das behinderte Kind

Autor:in - E. Anna Gidoni
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti (1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 28 - 45
Copyright: © E. Anna Gidoni 1996

Die Familie und das behinderte Kind[1]

Die mütterlichen Phantasien (und die des Vaters) enden nicht bei der Geburt. In Wirklichkeit setzt die Mutter den Entwurf von Plänen für ihre Kinder durch das ganze Leben hindurch fort. Bei unserer Arbeit müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, daß die Phantasien sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft gerichtet sind. Wir müssen uns jedoch gleichzeitig auch der Realität bewußt bleiben. Daher ist es unsere Aufgabe, gleichzeitig auf zwei Ebenen zu arbeiten: der von Realität und der von Phantasie. Darüber hinaus müssen wir unsere eigenen Phantasien im Zusammenhang mit Kindern berücksichtigen - uns aber auch davon lösen. Die Kinder werden zu uns gebracht, damit der Körper geheilt wird, aber man kann dabei die Bedeutung, die dieser Körper im Geiste der Eltern hat, nicht außer acht lassen.

Versuchen wir, uns dessen bewußt zu bleiben, denn das kann uns helfen, die Gründe für unsere Mißerfolge zu verstehen. Betrachten wir unsere Arbeit, so liegen einige Aspekte offen zutage, vieles aber bleibt uns verborgen.

Vielleicht nähern wir uns dem Verständnis des Themas am besten mit einem nicht vorstrukturierten Erfahrungsbericht.

Es handelt sich um eine Teamarbeit (Krankengymnastinnen, Psychologen, Erzieherinnen und andere Kollegen) mit mindestens 1500 Fällen im Verlauf von 10 Jahren. Kinder und Familien kommen aus allen Teilen Italiens.

Die Mütter kommen mit ihren Kindern, oft begleitet vom Vater oder von anderen Familienangehörigen, am Sonntag nachmittag an[2]. Ihre erste Reaktion ist häufig die Enttäuschung darüber, nicht ein Krankenhaus und die gewohnten Abläufe vorzufinden. Die Bedeutung gerade dieser Tatsache werden wir später verstehen lernen. Da bei 95% der Kinder ein Krankenblatt mit einer medizinischen Anamnese und einer Darstellung des ersten Untersuchungsbefundes vorliegt, bringt die diensthabende Schwester nur die Daten auf den neuesten Stand, versucht aber vor allem, die Eingewöhnung in die neue Umgebung zu erleichtern. Die Zimmer sind sehr einfach, vielleicht ärmlich. Sie sind für maximal zwei Mütter und zwei Kinder oder für Einzelunterbringung eingerichtet. So gehen die grundlegenden Informationen (z.B. über die laufenden Therapien) nicht verloren, aber man gibt den gerade Angekommenen doch Zeit, sich auszuruhen und die Belastung durch die neue Umgebung zu verarbeiten.

Sonntag - Vormittag: -

Sonntag - Nachmittag: Aufnahme der Kinder im Zentrum der Empfang geschieht durch die Krankenschwester.

Montag - Vormittag: Gemeinsame Untersuchung des Kindes und Gespräch mit den Eltern. Anwesend sind: Kinder-Neuropsychiater, Psychologe, Krankengymnastin, Erzieher/in, gelegentlich auswärtige Beobachter.

Montag - Nachmittag: Beobachtung des Kindes durch die verschiedenen Mitarbeiter.

Dienstag - Vormittag: Fortsetzung der Beobachtung des Kindes

Dienstag - Nachmittag: Fortsetzung der Beobachtung des Kindes. Orthopädische Konsiliaruntersuchung (*Über die Konsiliaruntersuchungen wird in jedem Einzelfall bei der Aufnahmeuntersuchung entschieden.)

Mittwoch - Vormittag: Fortsetzung der Beobachtung des Kindes

Mittwoch - Nachmittag: Ophthalmologische Konsiliarunersuchung (*)

Donnerstag - Vormittag: Entlassungsgespräch mit den Eltern in Abwesenheit des Kindes. (Jeder Entlassung geht eine Besprechung unter allen Mitarbeitern in Abwesenheit der Eltern voraus.)

Donnerstag - Nachmittag: Fortsetzung des Entlassungsgesprächs.

Freitag - Vormittag: Die Krankenblätter und die Beziehungen zu den regionalen medizinischen Einrichtungen werden auf den neuesten Stand gebracht.

Freitag - Nachmittag: -

Am Montag morgen trifft sich das Team in dem Raum, in dem später die Familie oder die Mutter mit dem Kind empfangen wird. Das Krankenblatt wird gelesen. Man stellt sich auf ein körperliches und geistiges Setting ein, das rezeptiv, zum Aufnehmen hin orientiert ist. Es geht nicht darum, den Eltern etwas zu sagen, sondern um die Aufmerksamkeit dafür, was sie sagen werden.

Von seiten der Einrichtung besteht das Team, wie schon gesagt, aus dem Kinder-Neuropsychiater[3], dem Psychologen, den Krankengymnastinnen, den Erzieherinnen. Aber oft sind noch Schüler (aus der Krankengymnastikschule), Ärzte (in der Weiterbildung zum Kinder-Neuropsychiater) oder Besucher aus dem Ausland dabei. Einige von ihnen sind teilnehmende Beobachter, anderesind außenstehende Gäste - hinter einem Einwegspiegel.

Abbildung 2 stellt als Kreis die Einrichtungen dar, die Mauern, die materielle Umgrenzung, die alle umfaßt, sowohl das Team wie auch Mutter und Kind. Der zweite - innere - Kreis stellt das spezielle Setting des Raumes und des Teams dar. Man könnte jetzt naiv denken, daß die Kommunikation sich nur zwischen denen entwickelt, die wir aufgezählt haben. Schon bald ist uns aber bei der Arbeit klar geworden, daß die Entfernten, die Abwesenden insSpiel kommen und oft sehr mächtig sind: Ihre Worte - von der Mutter übermittelt - sind oft für das Kind und für denjenigen, der sich sonst noch in der Familie um das Kind kümmert, sehr wichtig gewesen. Die Großeltern, die Ärzte, die Krankengymnastinnen der örtlichen Einrichtungen, die Lehrer: alle haben sie Bedeutung für die Phantasien.

Abb. 2.

Es ist daher unsere erste Aufgabe, die alleinige Aufmerksamkeit vom Körper des Kindes auf die Gedanken, diesich um das Kind drehen, zu verlagern, ohne sich allerdings nur mit dem Einen oder dem Anderen zu beschäftigen. Außerdem müssen wir uns daran erinnern, daß die Familien nicht zuuns kommen, um für sich psychotherapeutische Intervention zu erhalten, sondern damit das Kind"geheilt" wird. Darüber hinaus kann der Prozeß, der die Gefühleund Ängste deutlich werden läßt, sehr schmerzhaft sein und manchen dazu bringen, seine Zuflucht im Aktionismus zu suchen.

Das Gespräch dauert zwischen 45 und 60 Minuten. Man ist darauf bedacht, die Geschichte von den Eltern auf ihre eigene Art erzählen zu lassen, mit ihren spontanen Assoziationen aus der Erinnerung, den Fragen, Wünschen, Abschweifungen.

Normalerweise haben Ärzte von ihrer Ausbildung her ein Raster im Kopf, das nicht dem von Gefühlen entspricht. Es ist wichtig, nicht nur auf die emotionalen Inhalte zu hören, sondern auch auf die Beziehungen, die zwischen den Beteiligten im spontanen Gespräch zu Tage treten.

Manchmal ist das Kind während des Gesprächs anwesend, manchmal (wenn es dies akzeptiert) wird es außerhalb von einer Schülerin versorgt; manchmal ist es allerdings notwendig, den Erwartungen der Eltern zu entsprechen und eine reguläre Untersuchung vorzunehmen. Dies gilt vor allem für Situationen, in denen uns klar geworden ist, daß die Eltern derzeit eine allzu große Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen an uns und unserem tatsächlichen Verhalten nicht ertragen würden.

So gibt es kein starres, für alle einheitliches Schema, sondern unser Verhalten muß ganz in den Dienst der Aufgabe gestellt werden, dem Anderen Halt zu geben und ihm die Verarbeitung zu ermöglichen. Dies bedeutet in unserer Arbeit "psychologische Dimension": ein (körperliches und geistiges) Setting, in dem man sich über den Anderen mit seinen Gefühlen und den in ihnen begründeten Beziehungen Rechenschaft gibt und über sich selbst in Bezug auf den Anderen.

Damit dies möglich wird, muß die Gruppe ausreichend offen sein, mit definierten Rollen für jeden, aber mit gutem Einfühlungsvermögen des Einen in den Anderen, kaum konkurrent, nach außen orientiert und mit pyramidenförmiger Hierarchie[4]. Mit anderen Worten: Es genügt nicht, die Gefühle zu verstehen. Es wird deutlich, daß diese Gefühle an die Beziehung gebunden sind, und zwar nicht nur an die zur Zeit bestehende, sondern auch an die im Gruppenprozeß sich entwickelnde. Hier muß ständig ausgewertet werden, wie das Team damit umgeht. Die Komplexität wird auf diese Weise erlebt und in ihrem verständlichen Anteil begriffen; dieser Prozeß bewirkt seinerseits Veränderung. Eine Behandlung nur mit dem Körper des Kindes vorzunehmen, hat man, einmal an diesem Punkt angekommen, weit hinter sich gelassen.

Kommen wir zu den anderen Tagen derWoche. Montag, Dienstag, Mittwoch und manchmal auch Donnerstag werden verschiedene Beobachtungen vorgenommen und Einzel-Antworten gegeben; es finden Spezialuntersuchungen statt (orthopädische, psychologische, ophthalmologische, elektroenzephalographische, otorhinolaryngologische, soweit angezeigt), die Krankengymnastinnen beschäftigen sich mit den Problemen und Fähigkeiten jedes Kindes und machen Vorschläge entsprechend ihrer fachlichen Kompetenz.

Dies wird im Bild der Margerite verdeutlicht (Abb. 3): es zeigt einerseits die Einzel-Interventionen, auf der anderen Seite aber auch den gemeinsamen Leitfaden, der sie verbindet, die Linie des Denkens, die für jedes einzelne Mitglied des Teams einen inneren Bezugsrahmen darstellt.

Wer bei uns gewesen ist, hat das große Durcheinander von Eltern und Kindern in der Weitläufigkeit des Beobachtungsraumes gesehen. Aber man kann sich ein weitgehendes Durcheinander erlauben, wenn die geistigen Orientierungspunkte ausreichend stabil sind.

Abb. 3.

Auch bei diesen Teil-Erfahrungen gibt es Gespräche; alle Mitarbeiter haben jedoch sehr schnell begriffen, daß man niemals gleichzeitig handeln undsprechen darf. So macht die Krankengymnastin ihre Untersuchung mit dem Kind und spricht hinterher undgetrennt davon mit der Mutter, um ihre Fragen zu beantworten. Die Krankengymnastin muß sich aufs äußerste konzentrieren, um die motorischen Probleme des Kindes verläßlich einschätzen zu können. Sie ist nicht so omnipotent, daß sie gleichzeitig noch den Eltern Halt geben könnte. So muß sie für beides Zeit haben. Das gilt auch für die anderen Mitarbeiter. Darüber hinaus brauchen wir Zeit, damit auch die verschiedenen Beobachter miteinander sprechen können, sich gleichzeitig helfen und beraten.

In dieser Zeit spricht auch die Mutter (oder sprechen die Eltern) über Telefon mit den Angehörigen zu Hause. Sie berichten die Ergebnisse der Untersuchung. Sie müssen die Angst derer, die nicht - wie sie - die Erfahrungen selbst machen, zügeln. Es werden medizinische Auskünfte erwartet.

Nach und nach macht sich bemerkbar, daß Gefühle in Bewegung kommen. Aber es gibt auch die Überlegungen und Verarbeitungen, die von den Eltern ausgehen: Und wir müssen uns daran erinnern, daß wir das Denken nicht allein gepachtet haben. Allzu oft verhalten wir uns bei der Arbeit so, als ob nur wir allein nachdenken könnten. Dadurch, daß wir die Neugier für das Denken des Anderen nicht zulassen, berauben wir uns selbst eines Gesprächspartners für unser Denken. So verfestigt sich erstarrte Routine.

Am Tag vor der Diskussionen (denganzen Donnerstag und gelegentlich noch am Freitag vormittag) trifft sich das Team und spricht mit den Eltern. Das Kind ist hier nicht dabei. Vor diesen Gesprächen allerdings muß das Team die schwierige Aufgabe lösen, die Befunde zu verarbeiten, und es muß sich auf den Austausch mit den Eltern vorbereiten.

Es war schwierig, eine sichtbare Metapher zu finden, die diese Verarbeitung ausdrückt. Schließlich haben wir die offene Spirale gefunden, angeregt durch die Spirale, die Milani Comparetti benutzt hat, um die Fähigkeit des Kindes zu "Vorschlägen" zu verdeutlichen (siehe Abb. 4).

Abb. 4

Das Team trifft sich also und diskutiert die Daten der Einzelbeobachtungen. Hier formuliert jeder das, wasseinem Urteilnach wichtig ist: Auch die Studenten und die sich zur Zeit weiterbildenden Ärzte mit ihren sensiblen Antworten sind bisweilen wichtig, um uns die Empfänglichkeit für die "Überraschung" zurückzugeben, und bewahren uns vor dem Risiko eines "déjà vu" [5].

Im Team werden die geistigen Bilder des Kindes miteinander konfrontiert, so wie sie aus der Sicht der verschiedenen Beobachter hervorgehen. Das ist nur möglich, wenn man sich von den geistigen Bildern der verschiedenen Fachrichtungs- "Homunculi" befreit. Die Neurologie hat ihren "Homunculus" in der Penfieldschen Metapher[6] zum Ausdruck gebracht; aber jede andere Fachrichtung hat einen eben solchen, oft sogar mehr als einen!

Somit kann die Teamarbeit nicht in einer Konfrontation von "Homunculi", in gegenseitiger Konkurrenz bestehen. Es geht vielmehr um die Bildung eines "kollektiven Geistes" als Grundlage für die Entwicklung eines gemeinsamen geistigen Bildes, das seinerseits mit dem der Familie konfrontiert werden kann (siehe Abb. 5). Das Risiko der Unbeweglichkeit besteht hierbei nicht. Die Flexibilität wird durch die unvermeidbare Diskrepanzaufrechterhalten. Diese Diskrepanz ist folglich nicht als eine negative Tatsache anzusehen, sondern als Garantie dafür, daß die Abwandlungen und Unterschiede respektiert werden.

Abb. 5

Die Abwesenden sind nach wie vor sehr nahe und mächtig, jedoch interagieren sie jetzt mit uns durch ihr Bild vom Kind, so wie es von den Eltern übermittelt wird. Das Bild führt dazu, über Phantasien und Pläne zu sprechen. Wenn das Ziel darin besteht, die Eltern soweit zu bringen, daß sie sich der psychophysischen Realität ihres Kindes mit seiner Behinderung bewußt werden und dennoch damit fortzufahren, Pläne mit dem Kind und für das Kind zu schmieden, dann müssen wir zu allererst die Phantasien aufgeben, die Kinder durch Physiotherapie zu heilen und sie normal werden zu lassen. Dies ist nicht möglich. Die Magie kann etwas vortäuschen, sie schwächt aber auch in gleichem Maße. Wir haben eine prognostische Einschätzung zu liefern, was sich grundsätzlich von einer Prophezeihung unterscheidet.

Wenn hier gefragt wurde, wer für das Team spricht, so ist die Antwort, daß an dieser Stelle die Kompetenz des Psychologen oder Kinder- Neuropsychiaters zum Tragen kommt. Für das Team ist dies kein Konkurrenzproblem, da alle einen aktiven Beitrag an der Auswertung geleistet haben und überdies alle beim Gespräch anwesend sind und sich daran beteiligen. In einer weiteren Abbildung (Abb. 6) sehen wir das Kind von den Erwachsenen getrennt, und wir sehen die Erwachsenen, die eine zwar beschützende, aber offene Gruppe bilden, die Trennung, Autonomie als inneren Prozeß zuläßt.

Im letzten Bild (Abb. 7), nach der Heimkehr, werden die Rollen vertauscht. Wir sind mit dem, was wir gesagt haben, in den Gedanken der Eltern, und so kehrt auch das zurück, was fern von daheim über das Kind gesagt und gedacht wurde. Die Realität des Heimatortes führt zur Verarbeitung, Konfrontation, Veränderung.

Wir können versichern, daß diese Erfahrung sehr, sehr häufig Veränderungen mit sich bringt, sei es im positiven Sinn, daß das Kind als real existent mit vollen Rechten mitsamt seiner Behinderung erkannt wird, oder sei es in negativem Sinn, mit Widerstand und Angriffen.

Bisweilen ist eine zweite oder dritte Begegnung mit der Familie notwendig. Ich möchte betonen, daß es hierbei nicht um eine psychotherapeutische Behandlung von Personen geht, die psychopathologische Symptome zeigen: Es dreht sich darum, dem psychischen Leidensdruck mit psychologischen Mitteln beim größtmöglichen Respekt vor der Person zu begegnen, immer in dem Bewußtsein, daß man sich zur gleichen Zeit mit dem Kind beschäftigt.

Abb. 6

Abb. 7



[1] Übertragung ins Deutsche von Eckhard Jäger und Hans von Lüpke. Sämtliche Fußnoten stammen von den Übersetzern.

[2] Zum zeitlichen Ablauf siehe Abb.1.

[3] Der Begriff wurde wörtlich übersetzt, da er einem in Italien gebräuchlichen Ausbildungsgang entspricht.

[4] Damit ist gemeint: die Bewegung der verschiedenen Kompetenzen, die sich, ausgehend von einer breiten gemeinsamen Basis, schließlich an einem Punkt treffen.

[5] Frau Dr. Gidoni verwendet den Begriff "déjà vu" hier offensichtlich im Sinne von "eintöniger Wiederholung", von "Unfähigkeit, neues überhaupt noch wahrzunehmen".

[6] Der Begriff "Penfield-Homunculus" bezieht sich auf das aus der Neuroanatomie bekannte Penfieldsche Schema, in welchem die Beziehung zwischen den verschiedenen Hirnarealen der primären motorischen bzw. sensorischen Felder und den korrespondierenden Körperzonen dargestellt ist. Durch die Überrepräsentanz von Händen, Gesicht und Lippen ergibt sich in der bildlichen Darstellung eine völlig verzerrte Figur.

Anworten auf Fragen aus der nachfolgenden Diskussion

Die Frage bezüglich der technischen Aspekte

Aus dem bisher dargestellten ergibt sich nicht, daß medizinisch-technische Verfahren keinen Stellenwert hätten. Rufen wir uns in Erinnerung, daß

  1. die positive Semiotik nicht auf der Verleugnung der Krankheit basiert und

  2. die Spezialuntersuchungen gewöhnlich in großer Anzahl bereits durchgeführt sind und unsere Bemühungen, wenn überhaupt, darin bestehen, die Befunde zu sammeln, sie zu kommentieren und ihre Bedeutung für die Prognose zu beurteilen. Wenn es dennoch Probleme bei der Differentialdiagnose gibt, ist stets eine Anfrage an spezialisierte Einrichtungen möglich, die bezüglich ihrer Ausrüstung und Qualifikation geeignet sind, die diagnostische Fragestellung zu lösen.

Wenn es sich bei der Prognose um einen Prozeß handelt, schließt sie auch die Auswertung der Daten mit ein, die sich auf die Krankheit beziehen.

Das Lebensalter des Kindes

Es kommen Patienten aller Lebensalter zu uns. Die interessanteren Fälle sind die älteren Kinder, jene zwischen sechs und sieben Jahren oder die Jugendlichen. Auch hier sieht man die Schablone einer stereotypen Frühbehandlung in sich zusammenfallen und es eröffnet sich eine ganz neue Welt einer realistischen und die Sache treffenden Hilfe, welche die im Gesundheitssystem Tätigen leisten können. Im übrigen wird in den ersten Lebensjahren den verschiedensten Spezialuntersuchungen viel Aufmerksamkeit gewidmet, wobei oft grundlegende biologische Funktionen (wie Ernährung oder Stuhlgang) vernachlässigt werden, was innerhalb der Familie zu sehr nachteiligen Abhilfeversuchen führt - ohne Hilfe von außen.

Bisweilen findet man einen Kompromiß zwischen der Notwendigkeit einer medikamentösen anti-epileptischen Behandlung zur Verhinderung von Anfällen und deren negativen Wirkungen auf die Körperhaltung: Alles in allem werden all diesen Aspekten und ihren Wechselwirkungen viele Gedanken und viel Aufmerksamkeit gewidmet, so z. B. unzureichender Flüssigkeitsaufnahme, nachteiliger Ernährungsweise, dem Stau von Bronchialsekreten,

Die Frage bezüglich des "follow up" und bezüglich der Resultate

Resultate auf diesem Gebiet können nicht nur nach einer, Verbesserung" der Einzelfunktionen des Kindes bemessen werden. Die Bewertung erfolgt danach, welche Aufgaben (aus der Sicht des Teams / Anm. d. Übers.) bewältigt werden könnten:

  1. gutes "containment" [7],

  2. nur spezifische Antworten oder spezielle Problemstellungen (wie z. B. die direkt auf die Operation folgende Behandlung),

  3. das "shopping" oder der Gutachten-"Einkauf" [8]

  4. keine Rückmeldung

Um die Kapazität der Teamintervention zu verbessern, müssen wir versuchen, unsere Beziehung zur Familie zu verstehen: Selbstverständlich kann man mit der Zeit von einer Art der Beziehung zur anderen überwechseln.

Hier liegt eine gewisse Gefahr, manipuliert zu werden. Viele Angriffe und Ausweichmanöver werden toleriert. Auch die Beziehung zwischen dem Team und den im regionalen Gesundheitssystem Tätigen wird aufmerksam beobachtet.

Fragen zum "Schuld"-gefühl

Wut, Angriffe, Aggressionen: Es kann sein, daß ihnen bisweilen die "Schuld" zugrunde liegt. Hüten wir uns jedoch vor Stereotypien, die es in jeder Fachrichtung gibt. Man gibt keine Deutungen, die nicht notwendig sind, so wie es auch keine vorgefertigten Deutungen gibt, die man auf die Beziehungen anwenden kann. Man "lebt" die Beziehung, man entwickelt die Gefühle, und auch wenn man zu einer Deutung gelangt, so darf sie nicht mit einer moralischen Verurteilung verwechselt werden.

Überdies führt der Gebrauch vorschneller Deutungen dazu, grundlegende Gefühlsmechanismen zu übersehen. So ist z. B. das Konzept des "novelty shock" (Menolascino u. Egger 1978) von großer Hilfe gewesen: Die Festlegung des Kindes mit dem Formulieren einer früh gestellten Diagnose, das Einfrieren des geistigen Wunschbildes vom Kind, das Nichtentwickeln des realen Kindes. Wir beobachten, wie solche Gefühle beispielsweise bei Jugendlichen mit Schädel-Hirn-Trauma und Koma oder nach einem orthopädisch-chirurgischen Eingriff wieder an die Oberfläche kommen und noch einmal durchgelebt werden. In der emotionalen Geschichte ist ein Anachronismus beobachtbar, der einem durch das Verständnis für bestimmte Verhaltensauffälligkeiten zugänglich wird. Bisweilen verbündet sich die Medizin unbewußt mit den Gefühlen der Eltern: nach Winnicott die "perverse Allianz".

Unter den häufigen "Leitmotiven"[9] findet man auch die Rückkehr zum archaischen Denken, die Flucht des Vaters (nicht selten ganz offensichtlich, oder aber als das Ergebnis eines mütterlichen "Veto"). Die Rollenverteilung innerhalb der Familie entspricht nicht der auf den ersten Blick offenkundigen, daher muß man gegenüber voreiligen Deutungen sehr vorsichtig sein. So ist ein Macht- oder Rollengewinn möglich, der um seiner Aufrechterhaltung willen keine Veränderung der Situation zuläßt. Es handelt sich hier um "Sekundärgewinn", einen in der Familientherapie oft verwendeten Begriff.

Die Frage bezüglich der Gesellschaft

An diesem Punkt besteht die Gefahr, demagogisch zu sein und zu pauschal zu urteilen. Auch hier gibt es eine ganze Reihe von kleineren oder größeren "Sekundärgewinnen". Ich denke, man muß es tolerieren, zumindest teilweise als Mittel für die Interessen der anderen benutzt zu werden: Wenn dies nicht zu zerstörerisch wirkt und für das größere Spiel unseres Zusammenlebens unvermeidbar ist, dann müssen wir es wohl realistischerweise in unsere Betrachtung miteinbeziehen. Nicht mehr tolerierbar ist jedoch der Verlust des Respekts und des Bewußtseins des anderen als Person.

Wie das Gespräch mit den Eltern abläuft

Es ist nicht möglich, hier eine (ausführliche) Aufzeichnung eines Gespräches wiederzugeben. Zusammenfassend möchte ich jedoch sagen, daß man in dieser Art von Gesprächen, die stets das Kind als Ausgangspunkt haben, nur mit größter Vorsicht und ständigem Respekt davor, was absichtlich verschwiegen wird, daran gehen kann, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was man verstanden hat. Das Verstehen von etwas Nicht-gesagtem hilft bisweilen dem anderen, einen Ausweg aus der Situation des Leidens zu finden, wobei er Hauptperson seiner Handlungskonzepte bleibt.

In einem Beispiel, in welchem Vater wie Mutter sich gegenseitig ausdrücklich die Behinderung des Sohnes zugeschoben hatten, gelang es dem Ehepaar mit Unterstützung des Teams, durch die Umwandlung der Gefühle in Gedanken aus seinem selbsterrichteten Gefängnis auszubrechen. Ein Beleg hierfür war die Geburt eines weiteren Sohnes und ein grundlegender Wechsel der Beziehung zu ihrem behinderten Sohn.

Die Frage zu den Schwerstbehinderten

Rufen wir uns auch hier in Erinnerung, daß dem Schweregrad auf klinischer Ebene ein enormer psychischer Leidensdruck in der Familie entspricht und, daß wir alle möglichen Abwehrmechanismen eingesetzt sehen, um diesen Leidensdruck zu ertragen. Die Anforderungen an Mediziner und Sozialarbeiter sind zahlreich und vielfältig, und gewiß haben diese Patienten viele Bedürfnisse, angefangen von jenen im physischen Bereich bis hin zu dem Wunsch, in einer beschützenden Beziehung zu leben.

So müßte auch auf die Frage nach der bisweilen unvermeidlichen Heimunterbringung als korrekte Antwort die Institution im Sinne eines Zufluchtsortes genannt werden, die behinderte Menschen in positivem Sinne beschützt und nicht einen Ort der Entfremdung darstellt. Es geht um das Gefühl der Zugehörigkeit: Lebt man mit dem Gefühl, dazuzugehören, so kann dies auch innerhalb einer Institution geschehen; ist diese Möglichkeit aber verwehrt, so handelt es sich um Aussonderung und man lebt auch zuhause als Entfremdeter.

Ganz sicher ist es wichtig, wenn man über die Institution spricht, zu betonen, daß diese nicht zu einem Schwamm wird, der aus dem sozialen Körper all das heraussaugt, was schwach, gebrechlich und zu kaum etwas fähig ist.

Ich möchte an dieser Stelle eine Arbeit zitieren, die auf einem Kongreß über die Schwerstbehinderten in Florenz vorgetragen wurde. Hierin wird eine "Behandlungs"-gruppe beschrieben, bei welcher die Erwachsenen die Kinder beobachten und in deren Ausdruck Analogien, Assoziationen, Metaphern zu entdecken, zu benennen und mitzuteilen versuchen. Die sukzessive ausgearbeitete Zuschreibung von Bedeutungen gestattet es den Erwachsenen, zu dem schwerbehinderten Kind eine Beziehung mit einer Empathie aufzubauen, die anderenfalls nicht möglich wäre.

Die Integration

Hier möchte ich nur ein Beispiel anführen, welches sich gerade in Deutschland ereignet hat, um die grundlegende Bedeutung der Haltung der Erwachsenen aufzuzeigen. In diesem Fall gelang es einer Mitschülerin eines kleinen behinderten Mädchens, das in einer Regelschule unterrichtet wurde, von alleine die paranoide Abwehr, welche sie für sich selbst entwickelt hatte, zu überwinden und ihre behinderte Mitschülerin, so wie sie war, zu akzeptieren. Die Erwachsenen (Eltern wie Lehrer) griffen nicht direkt ein, gaben jedoch der Situation einen beschützenden Rahmen, indem sie darauf vertrauten, daß die beiden Mädchen von ihren autonomen Fähigkeiten aus in der Lage sein würden, dieses emotionale Problem aus eigener Kraft zu lösen.

Es ist wichtig, die Integration nicht als eine glückliche Situation anzusehen, sondern die Belastungen und den Leidensdruck, der damit verbunden ist, zu verstehen und zu ertragen. Natürlich reicht es nicht aus, daß ein Kind die Regelschule besucht. Man muß sich darüber hinaus auch mit den Erwachsenen beschäftigen.

Ich wurde nach einem Beispiel gefragt für das, was die Krankengymnastinnen machen

Bei der Arbeit am 'Centro Torrigiani' sind die Krankengymnastinnen Teil des Teams, daher erscheint es nicht erforderlich, die Beschreibung ihrer Aufgabe in diesem Sinne zu wiederholen. Ich möchte hier nur betonen, daß sie wie die anderen in diesem Zentrum Tätigen sich eine breite klinische Erfahrung aufgebaut haben: 16 verschiedene Fälle pro Monat, darunter Kinder, die sie noch nie gesehen haben und solche, die zum wiederholten Male ins Zentrum kommen. Auf diese Weise sind sie ständig mit neuen Situationen konfrontiert und haben gleichzeitig die Möglichkeit, dasselbe Kind über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen. Darüber hinaus kommen ins Zentrum Fälle aller Altersstufen und auch andere Krankheitsbilder als z. B. nur Cerebralparesen. So müssen die Krankengymnastinnen flexibel und kompetent in den verschiedensten Richtungen ihres Fachgebietes sein, eine technisch sehr vielfältige Aufgabe, die die ständige Aufmerksamkeit gegenüber den Probieren des einzelnen Kindes verlangt. Von der Verpflichtung befreit, eine Methode zu verfolgen, die für alle gleich ist, stehen sie im Dienste des Kindes, um dessen Fähigkeiten zu entdecken und ihm Hilfestellung dabei zu leisten, zur Autonomie der Bewegung zu gelangen sowie zur Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen. Kurz: Sie üben die Funktion einer "Physiotherapeutin" aus.

Ein letztes klinisches Beispiel soll als Demonstration der Komplexität von Beziehungsproblemen dienen, welche auch das Verhalten des Kindes stark beeinflussen. So kann bisweilen eine Krankengymnastin ein Kind zu uns schicken, um Empfehlungen für ihre weitere Arbeit von uns zu bekommen und erhält als Antwort etwas völlig anderes.

In diesem Fall lag in der Krankheit ein massives Identifikationsproblem zwischen Mutter und Kind: die Mutter mit spastischer Paraparese, das Kind dystonisch. Das "holding" (i. S. v. Winnicott / Anm. d. Übers.) lag auf seiten des Vaters, der stets für das Kind Zeit hatte und liebevoll mit ihm umging, was allerdings auf Kosten des Elternpaares ging, das daran zerbrach. In das Problem war schließlich auch noch die Großeltern-Generation mit verwickelt, was zu einer Konfusion der Zusammenhänge führte und jede Intervention äußerst schwierig machte. Die Tatsache, daß wir das "containment" (i. S. v. Winnicott / s. Anm. Fußnote 7) praktisch verwirklichten, die Zusammenarbeit mit Kinderarzt und Krankengymnastin des Heimatortes und nicht zuletzt die Empfehlungen des Teams hatten zu gewissen Veränderungen beim Kind geführt (das dennoch schwer behindert blieb) und eine ausreichende Trennung von den Eltern erreicht, um den Besuch des Kindergartens möglich zu machen. Die Probleme werden wahrscheinlich nie ganz gelöst werden, jedoch scheint es, daß sie fürs erste auf eine Ebene verlagert wurden, die es den Eltern leichter machte, sie zu ertragen. Dem Kern der Familie genügend Kraft zu geben, um damit fortzufahren, sich Gedanken über die eigene Zukunft zu machen: Dies könnte ein durchaus nicht geringes Ergebnis unserer Interventionen sein.

Quelle:

E. Anna Gidoni: Die Familie und das behinderte Kind

Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti.

Herausgegeben von Edda Janssen und Hans von Lüpke im Auftrag des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband e. V., Frankfurt; Dez 1996

(1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 28 - 45

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.03.2005



[7] Wir haben hier "contenimento" im Original mit dem von Winnicott vorgeschlagenen und von Milani Comparetti und Frau Dr. Gidoni gern benutzten Begriff "containment" übersetzt. Damit ist gemeint, ein nicht nur "unterstützender", sondern "umfassender" Halt, das Vorhandensein eines schützenden Raumes, der gleichzeitig nicht reglementierend einengt, sondern Platz bietet für die Entfaltung von Kräften, die Autonomie ermöglichen.

[8] Damit ist gemeint, daß eine Familie wie beim Einkaufen von einer Einrichtung zur nächsten läuft, immer in der Erwartung, endlich die "beste" Therapie, die ihnen alles bietet (d. h. das Kind "normal" macht) zu finden.

[9] Im Originaltext "Ancora fra i leitmotiv frequenti ..."

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