Gemeinsamer Unterricht in Grundschulen sozialer Brennpunkte

Situation und aktuelle Forderungen

Themenbereiche: Schule, Recht
Textsorte: Bericht
Releaseinfo: Sprecher: Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz, Peter Heyer, Monika Rebitzki, Manfred Rosenberger TU Berlin, Franklinstr. 28/29, D-10587 Berlin, Sekr. FR 4-3, Tel. 030/314-73205/7, FAX 314-73223; e-mail: preuss-lausitz@tu-berlin.de
Copyright: © AK GEM 2000

Vorbemerkung

Das Berliner Grundschulreformprogramm ("Grundschulreform 2000") betont zu Recht die Notwendigkeit, Schülerinnen und Schüler in sozialen Brennpunkten besonders zu fördern.[1] Zugleich wird in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition von Dezember 1999 die Fortführung der Integration von Kindern mit Behinderung (mit sonderpädagogischem Förderbedarf) hervorgehoben. Beides ist allerdings wenig aufeinander bezogen. Diesen notwendigen Zusammenhang stellt der AK GEM im Folgenden dar, um die Qualität von Schule in beiden Feldern zu verbessern. Denn die Verschlechterung der Rahmenbedingungen des Unterrichtens und Erziehens gefährdet den Gemeinsamen Unterricht ganz besonders in sozialen Brennpunkten, obwohl er dort nötiger denn je ist.

Wir sind der Auffassung, dass zum Schuljahr 2000/2001 deshalb gezielt Grundschulreform und Weiterentwicklung der gemeinsamen Erziehung konkret im Sinne unten erhobener Forderungen miteinander verzahnt werden sollten. Dieses Papier richtet sich aber auch an alle Verbände und Organisationen, die sich im Bereich der Behindertenarbeit, der Jugendarbeit, der Arbeit für die Verbesserung von Wohnvierteln und der Integration von Familien und Kindern nichtdeutscher Herkunft engagieren.



[1] Vgl. Grundschulreform 2000, Abschnitt A IV "Förderung benachteiligter Kinder in sozialen Brennpunkten".

1. Generelle Bildungsziele

Zukunftsfähige Schulbildung aller Kinder muss sich an folgenden zentralen Zielen orientieren: Kinder sollen sich kognitiv so weit wie möglich entfalten können und Wissen ebenso wie die dazu nötigen Techniken erwerben ("learn to know")[2]; Kinder sollen alltagspragmatische Fähigkeiten erwerben ("learn to do"); Kinder sollen sich selbst kennen lernen und ihre Ich-Stärke entwickeln ("learn to be"); und Kinder sollen schließlich für eine demokratische Gesellschaft die Fähigkeit zur Partizipation und zur Akzeptanz von unterschiedlichen Lebensauffassungen, Traditionen, Einstellungen und Interessen erwerben ("learn to live together").

Diese Bildungsziele gelten für alle Kinder, also auch für Kinder mit Behinderungen (Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf). Damit Kinder mit Behinderungen diese Bildungsziele erreichen können, stellt der Gesetzgeber besondere Mittel zum Nachteilsausgleich zur Verfügung, nämlich in der Regel Sonderschullehrerstellen und, für einen Teil, weitere unterstützende Kräfte (z.B. Betreuer, Erzieher, Zivildienstleistende, Schulhelfer, Therapeuten usw.).



[2] Wir lehnen uns an die Formulierungen des Kommissionsberichts der sog. Delors-Kommission der UNESCO zur Bildung im 21. Jahrhundert an. Vgl. UNESCO (Ed.): Learning - The Treasure Within. Paris 1996 (Chairman Jaques Delors); in Deutsch: Lernfähigkeit: Unser verborgener Reichtum. Neuwied 1997

2. Besondere Bedingungen in sozial belasteten Gebieten

In bestimmten Berliner Wohngebieten gibt es bekanntlich außerordentliche Schwierigkeiten, diese allgemeinen Bildungsziele für alle Schüler/innen, auch ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, zu realisieren: Ein erheblicher Teil der Kinder lebt unter Armutsbedingungen, wie sie generell im 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (1998) ausreichend umschrieben sind. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die für den Erwerb umfassender Bildung im obigen Sinn erschwerend sind, und die natürlich nicht alle gleichzeitig bestehen. Je kumulierender jedoch sie bei einzelnen Kindern vorhanden sind, desto größer ist die Schwierigkeit, auch mit modernen didaktisch-erzieherischen Mitteln der Grundschule produktive Bildungsarbeit zu leisten. Erinnert werden sollen an folgende Belastungsfaktoren, die häufig mehrfach auftreten und die die - nicht nur lernbezogene - Entwicklung von Kindern und Jugendlichen erschweren:

Ökonomische Armut: Sozialhilfeabhängigkeit, schlechte Wohnverhältnisse, fehlende eigene Kinderzimmer bzw. eigene Hausaufgabenplätze; ggf. auch Kinderarbeit bzw. belastende Einbindung in Familienpflichten, gesundheitliche Mangel- und Gefährdungsbedingungen;

Belastete Familien: Psychischer Stress durch Dauerarbeitslosigkeit, berufliche Belastungen der Eltern; Alkoholismus; Streit und Gewalt zwischen den Eltern und gegenüber den Kindern, wenig einfühlsame, befehlsorientierte Erziehung;

Kulturelle Ferne zwischen Schule und Familie: geringe Möglichkeiten der Eltern, Kinder direkt und indirekt ("kulturelles Kapital") bei schulischen Lernprozessen zu unterstützen; zugleich fehlende Anschlussfähigkeit der Schule, um diese Diskrepanz durch lebensnahe Bildungsarbeit zu verringern;

Sprachbarrieren: Fehlende oder geringe bzw. unsystematische Deutschkenntnisse der schulpflichtigen Kinder und/oder der Eltern; informelle Kontakte und Aktivitäten der Eltern und der Kinder nur außerhalb der deutschsprachigen Angebote und der Gleichaltrigen.

Um auf diese reale Situation angemessen reagieren zu können, sind in den letzten Jahren zahlreiche Aktivitäten formuliert und teilweise eingeleitet worden. Sie sind unabdingbar, wenn Bildung für alle in der Zivilgesellschaft der Zukunft verwirklicht werden und keine Getto-Reproduktion stattfinden soll. Natürlich müssen alle diese Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit regelmäßig geprüft werden.

Wir fordern daher für Grundschulen in sozialen Brennpunkten vor allem:

Sicherung einer vernünftigen Klassengröße und entsprechender Teilungsstunden, die einen handlungs- und an den individuellen Lernvoraussetzungen orientierten Unterricht erst ermöglichen. Gerade Kinder aus sozial benachteiligten Familien profitieren empirisch nachweislich - entgegen landläufiger Auffassung - von kleineren Klassen.[3]

Öffnungszeiten aller Grundschulen von 7.00 Uhr bis 14.00 Uhr ("verlässliche Halbtagsschule").

Einrichtung und Aufrechterhaltung von Schulstationen und "Schülerclubs" als feste Einrichtungen parallel und außerhalb des Unterrichts; Einbeziehung von Sozialarbeitern und Künstlern in nachmittägliche Angebote;

Deutschkurs-Angebote für Eltern/Mütter, vor allem mit zweisprachig aufgewachsenen Lehrkräften;

Zusätzliche Angebote für Schüler/innen nichtdeutscher Herkunftssprache im Bereich von Deutsch als Zweitsprache, auch im vorschulischen Bereich;

Möglichkeiten für Frühstück und Mittagessen, ggf.in Kooperation mit nichtschulischen Trägern/Vereinen.

Schulische Vermittlung von Beratungsangeboten für geschlagene Frauen/Mütter; Kindernotdienste; Schuldenberatung usw.

Es ist hier nicht der Ort und das Ziel, alle pädagogischen Möglichkeiten einer Schule zu nennen, wie mit sozial belasteten Kindern und ihren Eltern gearbeitet werden kann und vielfach wird. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die finanziellen Mittel, die für die oben genannten Aufgaben nötig sind, nicht mit den Mitteln für die sonderpädagogische Förderung vermischt oder gar verrechnet werden dürfen. Sonderpädagogik ist weder Sozialarbeit noch außerunterrichtliche Betreuung, sondern lernorientierte zusätzliche Förderung.



[3] Vgl. dazu Prof. Dr. J. Ramseger in Auswertung zahlreicher amerikanischer Studien Okt. 1999, vgl. http://www.ed.gov/offices/OESE/ClassSize/

3. Integration von Kindern mit Behinderungen (mit sonderpädagogischem Förderbedarf) in sozial belasteten Gebieten

Die Integration (der gemeinsame Unterricht) von Kindern mit Behinderungen (von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf) soll und darf keine Schönwetterpädagogik sein, d.h. sie soll auch jenen Schülerinnen und Schülern zu Gute kommen, die in sozial belasteten Bezirken wohnen. Dafür treten wir seit Jahren ein. Auch die Lehrkräfte an Grundschulen gerade solcher Bezirke haben seit Jahren umfangreich gemeinsamen Unterricht praktiziert. Er findet, wie Unterricht und Schulleben generell, dort unter zusätzlich erschwerten Bedingungen statt. Dafür muss das pädagogische (und das übrige, etwa beratende oder administrative) Personal besonders qualifiziert sein. Außerdem gilt, dass die berlinweite Verschlechterung der grundschulspezifischen Rahmenbedingungen sich besonders negativ für jene Kinder (und ihre Lehrer) auswirkt, die in sozialen Brennpunkten leben.

Wir fordern daher für die Unterstützung des gemeinsamen Unterrichts in sozialen Brennpunkten:

Regelmäßige Fortbildungsangebote für Sozialarbeiter, Erzieher, Pädagogische Unterrichtshilfen bzw. Schulhelfer usw. zusammen mit Sonderpädagogen und Lehrern an Grundschulen in Bezug auf den gemeinsamen Unterricht in sozial belasteten Gebieten;

Sicherung einer klar definierten Ausstattung von integrativen Grundschulklassen (Oberfrequenz 23, Höchstzahl von drei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf), die nicht verrechnet wird mit Mitteln, die den übrigen Aufgaben der Grundschulen in sozial belasteten Gebieten geschuldet sind;

Werbung um Sonderpädagogen und unterstützende Kräfte (s.o.) nichtdeutscher Herkunft, um ausländischen Kindern mit Behinderungen bessere Integrationschancen und damit Bildungsentwicklungen zu geben.

Die Ausdehnung des grundsätzlich begrüßten Grundschulreformprogramms 2000 hat zur Erhöhung der allgemeinen Wochenstundenzahl für Schüler geführt, ggf. zusätzlich durch die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion. Bei allen diesen Entscheidungen sind jedoch keine anteiligen Erhöhungen der sonderpädaogisch integrierten Förderung bedacht worden, d.h. der prozentuale Anteil sonderpädagogischer Förderung am gesamten Unterricht sinkt. Deshalb muss der bis 1995 oder 1998 bestehende Prozentanteil der sonderpädagogischen unterrichtlichen Förderung in einer integrativen Grundschulklasse aufrechterhalten bleiben, damit die Förderchancen und damit die Möglichkeit von Teamteaching, Kleingruppenarbeit, individueller Förderung anteilig erhalten bleiben.

Wir halten es für sinnvoll, dass es dem Kollegium der Einzelschule ganz im Sinne geplanter größerer Selbständigkeit überlassen bleiben sollte, wie sie innerhalb der Schule ihre zugewiesenen Mittel sachangemessen einsetzt. Allerdings sollte jede Schule, die Schüler mit sonderpädagogischer Förderung unterrichtet - also jede Sonderschule wie jede integrativ arbeitende Allgemeine Schule - den Mitteleinsatz im einzuführenden jährlichen Schulbericht darlegen und begründen.Schulen sozialer Belastung sollten ggf. Zielvereinbarungen mit der Schulaufsicht abschließen, die beide Seiten an Ziele bindet und die Umsetzung der Schule überlässt.

4. Öffentliche Diskussion und sofortige Umsetzung in Berlin nötig!

Wir halten es für nötig, die Diskussion über den gemeinsamen Unterricht in sozialen Brennpunkten nicht nur innerhalb der Schulverwaltung, sondern auch mit den Verbänden und Organisationen der Behindertenarbeit, der Jugendhilfe, der Jugendarbeit, den Vereinen und Verbänden der Migranten, der Bildungsgewerkschaft, den Behindertenverbänden und -vereinen usw. öffentlich zu führen. Der Arbeitskreis Gemeinsame Erziehung hält diese Diskussion für dringend erforderlich, die aber auch in tatsächliche Verbesserungen der integrativen Arbeit in sozialen Brennpunkten führen muss.

Adresse AK GEM via -mail: preuss-lausitz@tu-berlin.de , per fax: 314-73.223

Anhang

Betr.: Gemeinsamer Unterricht in Grundschulen sozialer Brennpunkte

Sehr geehrte Damen und Herrn,

der Arbeitskreis Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder und Jugendlicher (AK GEM) hat sich in mehreren Sitzungen mit den besonderen Problemen befasst, die der Gemeinsame Unterricht in Grundschulen sozialer Brennpunkte unter heutigen Rahmenbedigungen mit sich bringt. Wir sind der Auffassung, dass hier ein besonderer Handlungsbedarf vorliegt, der sich gut in das Grundschulreformprogramm integrieren ließe. Selbstverständlich ließen sich die am Thema Grundschule von uns entwickelten Analysen und Forderungen auch auf den Sekundarschulbereich übertragen.

Wir haben das Papier dem Senator für Schule, Jugend und Sport, Klaus Böger mit der Bitte überreicht, es in seinem Verantwortungsbereich sowohl im Schul- wie im Jugendbereich zu berücksichtigen. Wir sehen in Bezug auf die Integration Behinderter in sozialen Brennpunktschulen dringenden Handlungsbedarf - und wollen den Gemeinsamen Unterricht nicht gut ausgestatteten Schulen in günstigeren sozialen Milieus überlassen.

Seit der Verabschiedung des Papiers hat sich unseres Erachtens die schwierige Lage des Gemeinsamen Unterrichts in sozialen Brennpunktschulen noch verschärft, sollten Informationen zutreffen, dass zum Schuljahr 2000/01 für Grundschulkinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur noch 4 h + 0,5 h (statt 4 h + 1,5 h) an die Schulen gegeben werden. Diese faktische Kürzung verstärkt unsere Schlussfolgerung noch: Nötige Differenzierungsformen gerade in Brennpunktschulen werden dadurch in aller Voraussicht erschwert, Stunden für sonderpädagogische Förderung werden leichter für Frequenzssenkung oder Vertretung missbraucht. Wir haben als AK GEM immer wieder angeboten, über intelligente und pädagogisch vertretbare Mittelplanung und -kontrolle mit der Schul- und Jugendverwaltung zu sprechen, wenn dies gewünscht wird und nicht folgenlos bleibt. Diese Position vertreten wir auch heute, unter engen Haushalts-bedingungen.

Wir würden es begrüßen, wenn Sie unser Positionspapier in Ihrem Verantwortungsbereich verbreiten, um eine öffentliche Diskussion zu erleichtern. Für Nachfragen und Gespräche stehen wir jederzeit zur Verfügung.

Für den Arbeitskreis AK GEM; Ulf Preuss-Lausitz

Quelle:

AK GEM: Gemeinsamer Unterricht in Grundschulen sozialer Brennpunkte - Situation und aktuelle Forderungen

Sprecher: Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz, Peter Heyer, Monika Rebitzki, Manfred Rosenberger TU Berlin, Franklinstr. 28/29, D-10587 Berlin, Sekr. FR 4-3, Tel. 030/314-73205/7, FAX 314-73223; e-mail: preuss-lausitz@tu-berlin.de

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.09.2006

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