Stigma-Management als Aufgabe von Integrationsfachdiensten für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: "Gemeinsam leben" Zeitschrift für integrative Erziehung, 5. Jahrgang, Juni 1997, Luchterhand Verlag
Copyright: © Luchterhand Verlag 1997

Einleitung

Der Begriff "Stigma-Management" wurde von Erving GOFFMAN in seinem Buch "Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität" (zuerst 1963, deutsch 1967) eingeführt, um "Techniken der Informationskontrolle" zu bezeichnen. Personen, die ihre im Vergleich zu "Normalen" an sich selbst wahrgenommene Andersartigkeit als beschämend empfinden, entwickeln i. d. R. Techniken, um die Informationen über ihre potentiell beschämenden Merkmale entweder geheimzuhalten oder nur "dosiert" bekannt werden zu lassen, nur bis zu dem Grade in dem es sich nicht vermeiden läßt. Das so verstandene Stigma-Management ist ein weit verbreiteter, "allgemeiner Bestandteil von Gesellschaft (...), ein Prozeß, der auftritt, wo immer es Identitätsnormen gibt" (GOFFMAN 1967, S. 160 f.). Bis heute orientieren sich Arbeiten zum Thema "Umgang mit Stigmatisierungen" fast ausschließlich an dem theoretischen Bezugsrahmen, den Goffman in seinem Stigma-Buch entwickelt hat. Er bezieht darin seine Beispiele aus dem Erleben von Menschen mit allen Arten von Behinderungen, sowie von anderen "abweichenden" Gruppen, wie Straftätern oder Opfern von Rassendiskriminierung. Auch der Status der Arbeitslosigkeit wird von ihm als potentiell stigmatisierend eingeschätzt (1967, S. 27). Seine Konzeption verdankt ihren lang anhaltenden Einfluß in erster Linie dem Umstand, daß darin der Stigma-Begriff in eine Theorie der Identität eingebaut ist (auf die hier nicht näher eingegangen werden kann).[1]

Das Konzept des "Stigma-Management" ist u. E. geeignet, wesentliche Zielsetzungen von Integrationsfachdiensten für am Arbeitsmarkt besonders benachteiligte Gruppen von Behinderten zu beschreiben.[2] Zur Bezeichnung unserer Zielgruppe ziehen wir inzwischen den Begriff "Lernschwierigkeiten" vor, mit dem wir geistige und Lernbehinderung zusammenfassen. Dies entspricht in etwa der US-amerikanischen Definition von "mental retardation", die ebenfalls beide Gruppen umfaßt. Wir greifen mit dieser Sprachregelung die Aktivitäten der "Self Advocacy"-Gruppen auf, die sich zuerst in Schweden und in den USA in den 60er und 70er, dann in Großbritannien und anderen europäischen Ländern bildeten (vgl. KNUST-POTTER 1994). Diese Gruppen lehnen den Ausdruck "geistig behindert" ab und nennen sich selbst "Menschen mit Lernschwierigkeiten" (vgl. ebd.; PEOPLE FIRST 1995, S. 2).

Wir möchten in diesem Beitrag zunächst deutlich machen, daß Menschen mit Lernschwierigkeiten am stärksten von allen Behinderten-Gruppen von der Stigma-Problematik betroffen sind (I.). Anschließend möchten wir aufzeigen, daß bei der professionellen Unterstützung zur betrieblichen Integration der Grat zwischen Stigmatisierung und Entstigmatisierung sehr schmal sein kann (II.). Abschließend werfen wir die Frage auf, wie die subjektive Perspektive der Zielgruppe besser berücksichtigt werden kann (III).



[1] Zu deren zusammenfassender Darstellung und der Anwendung von GOFFMANS Ansatz in der deutschsprachigen Behindertenforschung verweisen wir auf die Artikel von Thimm über "Behinderung alsStigma" (1975 a) und von Neubert v.a. über "Stigmatisierung und Identität" ( 1991 ).

[2] In den USA hat unlängst Alan LEVY (1993) vorgeschlagen, es als "neuen klinischen Dienst" für verschiedene Zielgruppen in der Sozialarbeit zu etablieren, etwa für psychisch und körperlich Kranke oder alleinerziehende Mütter.

I. Zur besonderen Betroffenheit der Zielgruppe durch Stigmatisierungsprozesse

Das Stigma-Konzept wurde uns aufgrund des Verhaltens unserer DiskussionsteilnehmerInnen wieder in Erinnerung gerufen. Dazu einleitend zwei Beispiele von vielen; sie stammen aus dem Kontext der arbeitsvorbereitenden Kurse, die wir im Jahre 1996 durchgeführt haben.

(1) Eine Frau von etwa Mitte zwanzig mit der "Diagnose Lernbehinderung" erschien auf Drängen ihrer Wohnbetreuerin in deren Begleitung zu einem Erstgespräch. Die Betreuerin hielt ihre Teilnahme an einem unserer arbeitsvorbereitenden Kurse für zweckmäßig. Die Teilnehmerin in spe unterbrach die Darstellung von Inhalten und Ablauf des Kurses recht früh mit der Frage: "Sind diese Kurse nur für Behinderte?". Sie habe intelligente Eltern, und es könne schon aufgrunddessen gar nicht der Fall sein, daß sie ein intellektuelles Handicap habe. Ihr Ziel sei, den Hauptschulabschluß nachzuholen.

Der in der Bezeichnung des Fachdienstes enthaltene Bezug auf eine Behinderung kann die Angehörigen der Zielgruppe davon abschrecken, die Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Der Preis für die Hilfe ist die Unterwerfung unter das Etikett. ZEITLIN/TURNER schreiben daher mit Recht, daß die BewerberInnen dadurch in eine Situation des "double-bind" gebracht werden (1984, S. 93).

(2) Am ersten Unterrichtstag wurden alle Teilnehmer gefragt, warum sie sich für die Teilnahme an dem Lehrgang entschlossen haben. Ein junger Mann, der aufgrund einer Cerebralparese einen Rollstuhl benutzt, antwortete, daß er nicht weiterhin mit geistig Behinderten arbeiten will, weil er schon mit ihnen zusammen wohne. Er möchte seinen Kopf etwas mehr gebrauchen und dies könne er weder mit seinen Mitbewohnern in der Wohneinrichtung noch mit seinen Kollegen in der Werkstatt für Behinderte. Zeigt diese Antwort, daß er sich von der Gruppe der Menschen, die wir als geistig behindert bezeichnen, abgrenzt, so heißt es im Festellungsbescheid des Versorgungsamtes, daß er aufgrund einer "frühkindlichen Hirnschädigung" eine "geistige Behinderung" habe. In der Auseinandersetzung mit dieser Diagnose fand er eine Selbstdefinition, die zwischen diesen entgegengesetzten Auffassungen liegt. Er schrieb: "Ich habe einen frühkindlichen Hirnschaden, der sich aber nur noch teilweise bemerkbar macht. Viel stärker beeinträchtigt mich aber, daß ich im Rollstuhl sitzen muß. Dadurch bin ich in meiner Selbständigkeit eingeschränkt."

Wie die überwiegende Mehrzahl unserer TeilnehmerInnen, so kann auch dieser junge Mann die Bezeichnung "geistig behindert" für sich nicht annehmen. Verhältnismäßig leicht fiel es ihm wie auch den anderen LehrgangsteilnehmerInnen hingegen, über Einschränkungen der Selbständigkeit zu sprechen, die aus anderen Zusammenhängen resultieren.

Diese Beobachtungen stimmen überein mit einschlägigen Forschungsergebnissen zur Anwendung von GOFFMANS Stigma-Konzept auf Menschen mit Lernschwierigkeiten. Das Pionierwerk in dieser Hinsicht war das Buch des Kulturanthropologen Robert EDGERTON "The Cloak of Competence". Es erschien zuerst 1967 mit dem Untertitel "Stigma in the Lives of the Mentally Rentarded" und wurde 1993 ohne diesen Untertitel in erweiterter Form wiederveröffentlicht. Dieser Text bietet als erste einen detaillierten Einblick in den Alltag, die Lebenswelt und die persönliche Situation von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Es beruht auf Feldforschungen zur Lebenssituation von ehemaligen Insassen einer großen staatlichen "Clinic for the Mentally Retarded" in Los Angeles. Neben Verwahrung und Therapie bot diese Klinik auch ein Programm zur beruflichen Rehabilitation an, an dem die leistungsstärkeren und emotional stabileren Patienten teilnahmen. Dieses Programm beinhaltete betreute (Trainings-)Arbeitsplätze inner- und außerhalb der Klinik. Wer sich auf diesen "Aussenarbeitsplätzen" bewährte, konnte damit seine Entlassung aus der Klinik erreichen und ein "freier Mensch" werden. 48 Personen, denen auf diesem Wege die Deinstitutionalisierung gelungen war, konnten in die Untersuchung einbezogen werden.

Nach Edgerton ist "mental retardation" kein Stigma wie jedes andere. Das Etikett wird durchweg nicht akzeptiert und anders umschrieben. Edgerton sieht sich nicht in der Lage, die Gründe dafür exakt zu bestimmen.

Er äußert die "Spekulation, daß kein anderes Stigma so basal ist wie ,mental retardation', in dem Sinne, daß eine so bezeichnete Person so eingeschätzt wird, daß ihr basale Kompetenzen komplett fehlen. Anderen stigmatisierten Personen verbleiben typischerweise einige Kompetenzen, wenngleich sie begrenzt sein mögen, während der ,rückständigen' Person keine verbleiben. Er/sie ist per definitionem unfähig, irgendwelche der eigenen Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen. Und, anders als der Psychotiker, der zeitweise für kompetent gehalten wird, seine Angelegenheiten zu managen, ist der Entwicklungsrückständige für immer zu seiner Kondition verdammt. Wie jeder ,weiß', die Ex-Patienten eingeschlossen, ist Entwicklungsrückstand unheilbar." ( 1993, S. 184)

Robert BOGDAN und Steven J. TAYLOR präsentieren in ihrer zuerst 1982 erschienenen Studie "The Social Meaning of Mental Retardation" (1994) die Lebensgeschichten von zwei jungen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung aus deren eigener Perspektive. Bei beiden Interviewten wird noch deutlicher und anschaulicher als bei Edgerton, daß sie das Etikett "mental re-tardation" als stigmatisierend empfinden und wie sich dies für und auf sie auswirkt.

Eine bedenkliche Implikation des Etiketts "mental retardation" besteht nach Meinung von BOGDAN/TAYLOR in der Annahme, daß "die geistig Behinderten eine distinkte und homogene Untergruppe von Menschen seien - daß ihre Gemeinsamkeiten ihre Unterschiede überwiegen" (S. 12). Damit fallen die Gemeinsamkeiten, die sie mit Nicht-Behinderten aufweisen, unter den Tisch. Die Frage, ob diese (und andere) US-amerikanische Studien[3] sich eher auf Menschen mit geistiger oder Lernbehinderung richten, ist u. E. zweitrangig, wenn nicht sogar müßig. Es handelt sich nicht um wissenschaftliche Begriffe, sondern eher um administrative Unterscheidungen, denen zwei Typen von Sonderschulen entsprechen (SPECK 1993, S. 57-59).

In Deutschland liegen zur Gruppe der hier "lernbehindert" Genannten mehrere empirische Untersuchungen vor, die in die gleiche Richtung zeigen wie die amerikanischen.

NEUBERT u. a. (1991) fassen deren Ergebnisse dahingehend zusammen, daß eine offensive Bewältigungsstrategie, bei der die Existenz des Merkmals akzeptiert, die "negative Bewertung jedoch in Frage gestellt" wird, für Lernbehinderte kaum praktikabel ist: "Der Versuch, Dummheit offensiv zu bewältigen (ich bin dumm, aber was macht das schon) ist (...) kaum realistisch (...), während Körperbehinderte sich durchaus offensiv gegen ihre Abwertung wenden (...)" (1991, S. 685 f.).[4] Auch die Selbstbezeichnung der in den 70er Jahren gegründeten "Irren-Offensive e. V." signalisiert einen offensiven Umgang mit dem Etikett "psychische Krankheit bzw. -Behinderung".

Daß die Sprache unser Denken und Handeln prägt, ist in der Wissenschaft seit langem allgemein anerkannt. Zu weniger stigmatisierenden Begriffen zu kommen, ist daher auch in praktischer Hinsicht wichtig. Andererseits kann dies im Bemühen um die Beseitigung von Abwertungen nie mehr als ein Anfang sein. Solange das Bezeichnete von Abwertung betroffen ist, wird jede neue Begrifflichkeit auf längere Sicht davon negativ betroffen, wie Peter RADTKE in seinem Aufsatz "Sprache ist Denken" (1995) gezeigt hat.

In Deutschland setzten die Elternvereinigungen den Begriff "geistige Behinderung" in den 60er Jahren durch, um ältere, zweifelsfrei stigmatisierende, Bezeichnungen wie "Schwachsinn", "Debilität" und "Idiotie" aus dem wissenschaftlichen und pädagogisch-therapeutischen Sprachgebrauch zu verdrängen (Speck 1993, S. 40). Doch auch die Behauptung, ein Mensch sei geistig behindert, trägt u. E. einen diskreditierenden Charakter in sich. Mit ihrer Verwendung läuft man Gefahr, eine Distanz zum Menschlichen zu postulieren und Fremdheit zu erzeugen. Sie öffnet einen Horizont von Bedeutungen, die nicht zur Integration beitragen, sondern eher Tendenzen zur Ausgrenzung dienen können. Durch seine Verweisungszusammenhänge führt der Begriff geistige Behinderung aus der Sphäre des Humanen hinaus und ordnet die so bezeichneten Personen einer Art Lebensform nicht vollständig entwickeltem Menschseins zu.

Zwar hat man sich heute zu einer moderateren Form der Begriffsverwendung durchgerungen. Sprach man in den 80er Jahren noch überwiegend von den "Geistig Behinderten", so hat sich nun die Bezeichnung "Menschen mit geistiger Behinderung" weitgehend durchgesetzt. Diese Veränderung bringt zum Ausdruck, daß "geistige Behinderung" als nur ein Aspekt einer umfassenderen Persönlichkeit aufzufassen ist und scheint den absoluten Charakter der Bezeichnung relativieren. Doch handelt es sich dabei unserer Auffassung nach mehr um einen kosmetischen Kunstgriff als um eine wirkliche Veränderung.[5] (Für eine Vermeidung des Adjektivs "geistig" sprechen philosophische Wertungen des Begriffes "Geist", von denen unsere Alltagssprache tief durchdrungen ist. Um diese Wertungen aufzuheben, müßte erst der von Rene Descartes eingeführte Dualismus zwischen Körper und Geist überwunden werden.)

Man kommt jedoch nicht umhin festzustellen, daß das Verhältnis zwischen Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten allein durch veränderte Bezeichnungen nicht gewandelt werden kann. "´People with learning difficulties' können ebenso einfach unterdrückt, ignoriert und ausgegrenzt werden, wie ,The mentally handicapped`" (KNUST-POTTER 1994, S. 207). RADTKE hat am Beispiel des "Krüppel"-Begriffs gezeigt, daß nicht in erster Linie die Sprache diskriminiert, "sondern der Sprechende, der das Gesagte in einen bestimmten Kontext stellt" (1995, S. 89). "Angefangen bei der Betonung über die Satzstellung bis hin zur umgebenden Wortwahl kann ein und dieselbe Vokabel Diskriminierung oder Hochachtung ausdrücken." (ebd., S. 93). Die für eine Definition von "Lernschwierigkeiten" verwendeten Bedeutungen sollten daher weder im Negativen befangen bleiben noch Andersartigkeiten der davon betroffenen Menschen auf Kosten ihrer Gemeinsamkeiten mit Menschen ohne Lernschwierigkeiten betonen. Umbenennen macht. nach Radtke nur Sinn, wenn es gleichzzeitig der Beginn eines Umdekens ist: "(...) wir müssen beginnen, bewußt die positiven Seiten im Behindertsein aufzuspüren und sie zu benennen" (1995, S. 94).[6] Mit dem Schlagwort "Kompetenzinventar" wird in der wissenschaftlichen Literatur auf eben diesen Zusammenhang hingewiesen und gefordert, daß die Beschreibung von Menschen mit Lernschwierigkeiten sich an ihren Fähigkeiten und nicht an ihren Defiziten orientieren soll. Diese Forderung kann mit GOLL als ein "internationaler Trend" (1994, S. 135) bezeichnet werden, in dem sich ein "Wandel unseres Denkens über Menschen mit geistiger Behinderung" (ebd., S. 137) abzeichnet. Georg FEUSER schreibt in einem Artikel mit dem provokativen Titel "Geistigbehinderte gibt es nicht":

"Was wir als `Behinderung' fassen und an einem Menschen gering achten oder gar abqualifizieren, in der Regel aber als defizitär betrachten, ist Ausdruck einer Kompetenz, (...) lebensbeeinträchtigende (...) Bedingungen zum Erhalt der individuellen Existenz im jeweiligen Milieu ins System zu integrieren" (1996, S. 23).



[3] Zu nennen wären etwa noch die follow-up-Studien zu den Personen aus EDGERTONS ursprünglichem SAMPLE (vgl. zusammenfassend EDGERTON 1993, Kap. 7), ZEITLIN-TURNER I984 und ANGROSINO 1992. Überblicke zur Anwendung der biograpischen Methode auf Menschen mit Lernschwierigkeiten geben WHITTEMORE v.a. 1986 und GOODLEY 1996.

[4] Zur "Krüppelbewegung" vgl. die Anmerkungen von RADTKE 1995, S. 92.

[5] Zu einer ähnlichen Einschätzung im Hinblick auf den Ausdruck "persons with mental retardation" gelangen BOGDAN/TAYLOR im Nachwort zur Neuausgabe ihrer Studie ( 1994, S. 231 ).

[6] Fragwürdig erscheint uns in diesem Zusammenhang allerdings der Versuch von WOLFENSBERGER ( 1988), allgemeine Vorzüge von Men-schen mit Lernschwierigkeiten herauszuarbeiten. Seiner Auffassung zeichnen sich gerade diese Menschen durch eine Reihe von positiven Eigenschaften aus, die er als "heart-qualities" bezeichnet. So geben sie beispielsweise Leben und Wärme, erkennen andere Menschen in ihrer Bedürftigkeit, reagieren auf freundlichen menschlichen Kontakt schnell, großzügig und warmherzig, haben eine ursprüngliche Beziehung zu den guten Dingen der Welt, sind direkt und ehrlich. Auch Verallgemeinerungen positiver Art sind u.E. zu kritisieren, weil sie in Vorurteile münden, die den Zugang zur Individualität des einzelnen Menschen ebenso verstellen wie die generalisierte Zuschreibung von negativen Eigenschaften.

II. Der Schmale Grat zwischen Entstigmatisierung und Stigmatisierung

EDGERTON arbeitet das Bemühen der von ihm Untersuchten, "so normal wie möglich" zu wirken, als subjektiv zentral heraus (1993, Kap. 4). Durch "Täuschen und Verleugnen" versuchen sie, Stigmatisierungen zu vermeiden. Obwohl sie dabei recht einfallsreich sind, gelingt "täuschen" in "gemischten Situationen" (GOFFMAN) jedoch nur kurzfristig. Ein Beispiel dafür ist eine Technik aus dem Bereich der zeitlichen Orientierung. Die meisten banden sich eine Armbanduhr um, obwohl sie nicht in der Lage waren, sie zu lesen. Sie benutzten sie als Vorwand, um Nichtbehinderte fragen zu können: "Könnten Sie mir wohl sagen wie spät es ist? Meine Uhr ist stehen geblieben." (1993, S. 149 f.). In auf längere Dauer gestellten Beziehungen - wie sie gerade auch solche zu Arbeitskolleginnen darstellen - sind diese und ähnliche Techniken nicht mehr effektiv. Sie werden typischerweise bald durchschaut. EDGERTON faßt die "verzweifelte Suche nach Selbstwertgefühl" in der Metapher eines "Deckmantels der Kompetenz" zusammen.

"(...) die Deckmäntel, von denen sie glauben, daß sie sie schützen, sind in Wirklichkeit solche durchsichtigen Textilien, daß sie ihre Träger in der ganzen Nacktheit ihrer Inkompetenz enthüllen. In gewisser Weise befinden sich diese Menschen in der Situation des Kaisers aus dem Märchen von `Des Kaisers neuen Kleidern', der glaubte, er trüge die elegantesten Sachen, aber in Wirklichkeit gar nichts trug" (S. 193).

Es läßt sich also von einer doppelten Last des Stigmas "mental retardation" sprechen. Auf der einen Seite erscheint der offensive Umgang mit ihm kaum realistisch, auf der anderen Seite erfordert die Informationskontrolle eben gerade jene Reflexionsfähigkeit, die bei Menschen mit Lernschwierigkeiten ein zentrales Problem darstellt. Edgerton folgert aus der Zentralität der Stigma-Problematik im Alltagsleben seiner Untersuchten, daß diese auch in der sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Praxis Unterstützung dieser Zielgruppe berücksichtigt werden müßte (S. 185-190). So sei es kontraproduktiv und unmenschlich, diese Menschen, analog zum Vorgehen in der Psychotherapie, als Voraussetzung für Hilfe zur "Einsicht" in ihr "Problem" zu bringen. Da das Stigma "zu groß, zu global und zu selbstzerstörisch" sei, hieße dies, "etwas unmögliches zu verlangen" (S. 188). Es müßten "stigma-freie Erklärungen" angeboten werden, Begriffe, die die vorliegenden Lernprobleme als etwas "Teilweises" erklären nicht unter Rückgriff auf eine "allumfassende" Dummheit. Es sollten Wege zur Entwicklung und Aufrechterhaltung von Selbstwertgefühl aufgezeigt werden (S. 189 f.).

Für die Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist jedoch eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten ebenso wichtig wie das positive Selbstwertgefühl, von dem EDGERTON spricht. Ohne eine realistische Selbsteinschätzung bleiben die Wünsche unserer Klienten und ihre beruflichen Möglichkeiten miteinander unverbunden. Ein positives Selbstwertgefühl ist eine wichtige Voraussetzung, um die eigenen Interessen im Arbeitsalltag selbstbewußt vertreten und durchsetzen zu können. Es ist offensichtlich, daß diese beiden Ziele miteinander in Konflikt geraten können. So gibt es Menschen mit Lernschwierigkeiten, die ihr positives Selbstwertgefühl um den Preis einer nicht realistischen Selbsteinschätzung erhalten. In diesen Fällen können Erfahrungen mit der Realität der eigenen Kompetenzen zu einem unerträglichen Widerspruch zum Selbstbild führen. In der Praxis der Integrationsarbeit darf also nicht ausgeblendet werden, daß die Normalität des Arbeitslebens neben ihren persönlichkeitsfördernden Bedingungen auch zerstörerisch wirken kann. Dies kann auch auf das Angebot einer Arbeitsassistenz im Betrieb zutreffen, die in Einzelfällen durchaus als stigmatisierend empfunden werden kann. Das Eingeständnis, diese Unterstützung nötig zu haben, nagt unter Umständen am Selbstwertgefühl.

Integrationsfachdienste orientieren sich insofern indirekt am Konzept der Entstigmatisierung, als sie sich i. d. R. auf das "Normalisierungsprinzip" als normative Grundlage stützen (vgl. z.B. Kap. II, Abschnitt 1 des Handbuchs der HORIZON-ARBEITSGRUPPE 1995). Der Däne Erik BANK-MIKKELSEN formulierte in den 50er Jahren die Maxime, für Menschen mit geistiger Behinderung die Bedingungen für "ein Leben so normal wie möglich" zu schaffen, die von dem Schweden Bengt Nirje konzeptionell weiterentwickelt wurde. Wolf WOLFENSBERGER griff diese skandinavischen Ansätze Ende der 60er Jahre auf und entwickelte sie unter den Bedingungen der nordamerikanischen Situation weiter (vgl. WOLFENSBERGER 1986). Er bettete das Prinzip v.a. in soziologische Begründungszusammenhänge ein, insbesondere griff er auf die damals aktuellen interaktionistischen Reformulierungen der Ansätze zur Erforschung abweichenden Verhaltens zurück. Neben dem von GOFFMAN vertretenen wurden in den 60er Jahren eine Reihe anderer "interpretativer Ansätze" lebhaft diskutiert, insbesondere die auf Howard BECKER zurückgehende "Etikettierungstheorie", auch "labeling approach" genannt. Eliot FREIDSON wendete diese Ansätze in seinem Aufsatz "Disability as Social Deviance" (1966) erstmalig systematisch auf den Gegenstandsbereich Behinderung an. Er bezeichnete bereits "The Management of Stigma in Everyday Life" als eine wichtige Aufgabe von Rehabilitation (1966, S. 93 f.). Vor diesem Hintergrund erweiterte WOLFENSBERGER den Geltungsbereich des Normalisierungsprinzips über Menschen mit geistiger Behinderung hinaus auf Behinderte allgemein und andere diskriminierte Gruppen. Er kritisierte an BANK-MIKKELSEN und NIRJE, daß sie den Aspekt des sozialen Ansehens nicht berücksichtigt hätten. Er stellte die gesellschaftliche vermittelte Abwertung immer stärker in den Mittelpunkt und reformulierte Normalisierung schließlich als "Aufwertung der sozialen Rolle" ( 1986, S. 49). Als er 1972 schrieb, "daß Abweichung durch uns gemacht wird, sie ist in den Augen des Betrachters" (nach THIMM v.a. 1985, S. 10), stellte dies nicht zuletzt eine Anwendung der interaktionistischen Soziologie dar. WOLFENSBERGER hat diese Beeinflussung nie expliziert, aber sie wurde oft genug von anderen Autoren aufgezeigt. So schreiben etwa THIMM u.a.: "Ohne daß WOLFENSBERGER dieses kenntlich macht, ist der Bezug zu GOFFMANS Stigmabegriff unübersehbar (...)" (1985, S. 11).

Wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht mehr in einer WfB arbeiten möchten, sondern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, besteht ein zentrales, wenn nicht das zentrale Motiv dazu in dem Wunsch, in einer "normalen" Arbeitsumgebung zu arbeiten und der als stigmatisierend empfundenen Zugehörigkeit zu einer Sondereinrichtung zu entgehen. Das wird allein schon daran deutlich, daß sich der finanzielle Vorteil durch eine tarifliche Entlohnung durch den gleichzeitigen Verlust der Ansprüche auf Sozialhilfe oft in Grenzen hält (vgl. ausführlicher SCHÖN 1993, S. 206; HORIZON-ARBEITS-GRUPPE 1995, S. 24, 199). Die Kehrseite einer gelungenen Vermittlung in einen regulären Betrieb besteht jedoch in der Möglichkeit, dort zum Opfer von Stigmatisierungen durch nichtbehinderte Kolleginnen zu werden - ein Risiko, ohne das Normalisierung nicht zu haben ist. In der einschlägigen Literatur über die Arbeit deutscher Fachdienste für Menschen mit geistiger Behinderung sind solche Erfahrungen hinlänglich beschrieben worden:

Ein Ergebnis der Begleituntersuchung zu den beiden an "Sonderschulen für Geistig Behinderte" angegliederten Diensten in Donaueschingen und Pforzheim ist, daß in vielen Betrieben Vorbehalte der Belegschaft zu überwinden waren, bevor es in den meisten Fällen dann doch zu einer guten sozialen Integration kam. "So wurde z.B. versucht, unbeliebte Arbeiten auf die Behinderten abzuschieben, ober sie mit Hänseleien und Anspielungen herauszufordern. Vor allem innerhalb der `männlich' orientierten, auf Stärke und Souveränität ausgerichteten Betriebskultur fiel es den geistig Behinderten anfangs schwer, sich zu integrieren." (TROST/SCHÜLLER 1992, S. 150).

Über ähnliche Erfahrungen wird aus dem Berufsbegleitenden Dienst in Reutlingen (BRD) berichtet, wo insbesondere Frauen negativ betroffen waren (SCHÖN 1993, S. 54 ff., 65-68, 184).

Die Hamburger Arbeitsassistenz führt eine Liste von Bedenken an, die Arbeitgeber bei Akquisitionsbemühungen um Stellen für Menschen mit geistiger Behinderung vorbringen. Diese enthält auch den folgenden Punkt: "der `rauhe Umgangston' im Betrieb macht eine Integration schwer" (BEHNKE u. a. 1993, S. 12).

Eine wesentliche Aufgabe von Integrationsfachdienste im Sinne von Stigma-Management besteht darin, Abwertungen im Betrieb zu vermeiden. Sie sollen um Verständnis für die Behinderten werben, Vorurteile abbauen und nach Möglichkeit soweit Einstellungsänderungen zum Positiven bewirken, daß aus dem Kreis der nichtbehinderten KollegInnen heraus Unterstützung für die behinderten BewerberInnen organisiert werden kann. In der Terminologie von THIMM formuliert, geht es dabei um "Entstigmatisierung als Sicherung von Basisprozessen der Interaktion" (1979, S. 706-709). Vereinfacht ausgedrückt, sind dies alles Beiträge zur (Wieder-)Herstellung einer gleichberechtigteren Beziehung.

Die Organisation "natürlicher" Unterstützungspotentiale entspricht einer Strategie, die bereits EDGERTON beobachten konnte. Die meisten der von ihm untersuchten Personen schafften es, "im Leben draussen" (life on the outs) zurecht zu kommen, indem es ihnen gelang, sich der Unterstützung von "Wohltätern" (benefactors) zu versichern, von "normalen" Personen, die ihnen bei ihren Problemen helfen. Bemerkenswert daran ist, daß die Arbeitgeber nach den Ehegatten bzw. Lebenspartnerinnen die zweitgrößte Gruppe innerhalb dieser Wohltäter waren, gefolgt von Vermietern/Nachbarn. Erst an letzter Stelle folgen die "Professionellen", beispielsweise SozialarbeiterInnen (1993, SS. 179-181).

LAUTMANN weist zu Recht darauf hin, daß "während Stigmatisierungen meist ungeplant geschehen", es naheliege, "eine Entstigmatisierung absichtsvoll einzuleiten, als ein Ziel der Gesellschaftspolitik" (1975, S. 173). Daß aber mit guten Absichten ausgeführte Handlungen, wie bspw. zur Entstigmatisierung einer Person oder Gruppe beitragen zu wollen, nicht immer auch gute Folgen zeitigen, sondern sich unter Umständen sogar in ihr Gegenteil verkehren können, ist eine der ältesten Erkenntnisse der Soziologie.[7] Um der Gefahr vorzubeugen, daß Integrationsfachdienste vermeidbare alte Fehler wiederholen, geben wir im Rest dieses Abschnitts eine knappe Skizze der "unvorhergesehenen Folgen zielgerichteter sozialer Handlungen" (MERTON 1967) in der Geschichte der bundesrepublikanischen Sozialpolitik.

Lothar BÖHNISCH hat zu Beginn seines Aufsatzes "Perspektiven der Entstigmatisierung im Bereich der Sozialpolitik" (1975) zusammenfassend die vorliegenden Erkenntnisse darüber dargestellt, wie unter bestimmten Bedingungen in der Fürsorgeerziehung, der Psychiatrie, sowie der Arbeit mit Obdachlosen und mit Straffälligen professionelle Bemühungen zur Stigmatisierung von Randgruppen beitrugen (S. 145-149). Er hat diese ungeplanten Vorgänge folgendermassen komprimiert:

"Stigmatisierungsprozesse im Bereich der Sozialarbeit laufen meist so ab, daß das Verhalten der Klienten individualisiert und pathologisiert, aus seiner konkreten Lebenswelt `abgetrennt' und in eingespielten Definitionsmustern den kontrollierenden Instanzen verfügbar gemacht wird. Diese Vorgehensweisen werden durch individualgenetische Praxistheorien legitimiert; Der Klient wird in eine durch einseitige Rollenbeziehungen fixierte `helfende Beziehung' eingepaßt." (1975, S. 147, Hervorhebung i.0.)

Zugespitzt formuliert, trägt Sozialarbeit immer dann zur Stigmatisierung bei, wenn sie sich nicht hinreichend auf die Perspektive ihrer Klienten einläßt, d.h. sich nicht genügend für deren Situationsdefinitionen und Selbstbilder interessiert, sondern schon vorab ein hinreichendes Bild über ihre Zielgruppe zu haben meint, das dieser dann aufoktroyiert wird.

Seit Beginn der 70er Jahre gab es Reformtendenzen innerhalb der Sozialarbeit, insbesondere im Bereich der Jugendhilfe. Sie bestanden zum einen in zunehmender "Dezentralisierung, Differenzierung und Spezialisierung der sozialarbeiterischen Dienste" und zum anderen in einer "Programmatik `erzieherischer Hilfen`" (BÖHNISCH 1975, S. 148). Das änderte in der Praxis jedoch nichts daran, daß nach wie vor "auf zunehmende Schwierigkeiten des Jugendlichen (...) mit zunehmend verschärften und isolierenden Maßnahmen reagiert" wurde (ebd., S. 149). THIMM vertritt die Einschätzung, daß diese Erkenntnisse über die Zwiespälte der Sozialarbeit voll auf die Sonderpädagogik zu übertragen seien: "Es ist erstaunlich, wie über Bedürfnisse Behinderter unter Professionellen verhandelt wird ohne Einbeziehung der Betroffenen. Der Behindertenfachmann wird zum Definitions- und Zuschreibungsspezialist, zum Experten für die Rekonstruktion von individuellen Biographien als einen Fall für spezielle Interventionen, zum Initiator und Verwalter von Prozessen der Bürokratisierung von Behinderung" (1979, S. 709). Indem die Professionellen als Grund dafür, daß sie nicht mehr für ihre Klienten tun könnten, auf die Einstellungen der "Nicht-professionellen" verweisen, werde "verdeckt und verdrängt, daß sich eine fortschreitende Professionalisierung und Spezialisierung der Behindertenhilfe als Stigma erzeugend und Stigma verfestigend auswirken können" (ebd., Hervorhebung von den Autoren).

Integrationsfachdienste stellen die neueste Stufe solcher "Professionalisierung und Spezialisierung" dar. Wir meinen, daß sie sich der aufgezeigten Problematik expliziter als bislang widmen sollten, damit die von THIMM angesprochene Möglichkeit von stigmatisierenden Effekten nicht eintritt. Diese Integrationsfachdienste sind selbst Sonderinstitutionen, die am von den Adressaten ggf. als stigmatisierend empfundenen Behinderungsmerkmal ansetzen. Nur durch Bezug auf das Vorliegen einer vom Geldgeber definierten Behinderung können sie über Annahme oder Ablehnung von Bewerberinnen entscheiden.

In den auf die Vermeidung von stigmatisierenden Effekten in der Sozialarbeit zielenden Reformperspektiven seit den 70er Jahren wurde das Postulat in den Mittelpunkt gestellt, sich stärker auf die Sichtweise der jeweiligen Zielgruppe einzulassen. Entstigmatisierung bedeutet nach BÖHNISCH "im praktischen Kontext der Sozialarbeit (...) vor allem: sozialarbeiterisches Handeln an der Lebens- und Erfahrungswelt seiner Adressaten zu orientieren" (1975, S. 168). Diese Forderung ist unserer Meinung nach für Integrationsfachdienste zu übernehmen. Dies ist nach unserem Verhältnis ein zentraler Aspekt des von THIMM seit Ende der 70er Jahre vorgetragenen Plädoyers, die Professionalisierung der Hilfen für Behinderte u.a. am Leitkonzept des Stigma-Managements auszurichten (1978; 1979, S. 709; 1983).



[7] Allerdings sind die Auffassungen darüber, wie man diesem Phänomen konzeptionell am besten gerecht wird, bis heute kontrovers, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann.

III. Zur stärkeren Berücksichtigung der subjektiven Perspektive der Betroffenen

Die Berücksichtigung der subjektiven Perspektive von Menschen mit Lernschwierigkeiten kommt in der US-amerikanischen Literatur zu Supported Employment zu kurz. Diese füllt zwar inzwischen Regale, wenn nicht eine ganze Bibliothek; die Menge an Literatur ist jedenfalls von einer Einzelperson kaum noch zu überblicken. Soweit wir darin Einblick genommen haben, ist dieser Diskurs jedoch in starkem Maße auf sich selbst zentriert, es werden nur wenige Bezüge zu benachbarten Forschungsfeldern hergestellt. Die objektivistische Schlagseite läßt sich beispielsweise daran festmachen, daß im Stichwortregister des von Paul WEHMAN u.a. herausgegebenen Bandes "Supported Employment" (1992) Begriffe, wie Selbstbild, Identität, Stigma, Biographie, Alltag oder Lebenswelt, nicht vorkommen.

Auf der anderen Seite gibt es, wie wir am Beispiel Stigma-Management zu zeigen versucht haben, in der Tradition qualitativ-interaktionistisch ausgerichteten Forschungsarbeiten eine Fülle von Hinweisen, die für das Verständnis der sujektiven Perspektive von Menschen mit Lernschwierigkeiten richtungsweisend sein können. Auch in der BRD gibt es je eine theoretische Abhandlung über Lernbehinderung und geistige Behinderung "als Stigma" (THIMM 1975; GRZESKOWIAK 1980). Zu Lebensgeschichten von Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt es im deutschen Sprachbereich gut ein halbes Dutzend meist kürzerer Aufsätze, die zwar thematisch meist auf den Wohnbereich beschränkt sind, aber dennoch für einen Einstieg in das Thema gut geeignet sind (BADER 1986; 1988; HENTIG 1988; LINDEMAIER 1988; FRITSCHE/STÖRMER 1988; FISCHER 1988; 1992).

Die Einbettung des Konzeptes der Supported Employment in diese Tradition bietet einer am Individuum, seinen Interessen und Wünschen ausgerichteten Praxis der Integrationsarbeit ein theoretisches Fundament sowie Methoden, die es den professionellen Helferinnen ermöglichen, ihre Handlungen an der Lebens- und Erfahrungswelt von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu orientieren.

In einer derart ausgerichteten Praxis würden Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht als inkompetent, sondern als Experten in eigener Sache begriffen, die mit der Unterstützung von professionellen Helferinnen über ihren Lebensweg selbst entscheiden können. Sie würden von Personen, die sie akzeptieren und denen sie vertrauen, mit der von ihnen gewünschten Unterstützung auf einem Lebensweg begleitet, den sie gehen wollen. Nicht das Gespräch über Menschen mit Lernschwierigkeiten, sondern der Dialog mit ihnen stünde im Vordergrund einer Praxis, deren Qualität nicht nur nach den objektiven Standards geleisteter Qualifizierungsstunden oder vorgegebenen Integrationszahlen beurteilt würde, sondern anhand der Definitionen von Lebensqualität, die von den Adressaten der Integrationsfachdienste selber stammen (vgl. EDGERTON 1975).

Leider droht eine so verstandene Qualitätsbeurteilung an den quantitativen Kriterien einer zunehmend wirtschaftlich orientierten Sozialarbeit zu scheitern. So sind die in der Modellphase befindlichen Dienste verständlicherweise an einer Fortführung der Finanzierung ihrer Arbeit auf einer dauerhaften Basis interessiert. Der daraus resultierende Druck, möglichst hohe Integrationszahlen zu erreichen, kann sogar dazu verführen, Klienten in Arbeitsverhältnisse zu drängen, in denen sie sich nicht wohlfühlen.

Mit Alleinherrschaft der Frage, ob sich die berufliche und soziale Integration von Menschen mit Lernschwierigkeiten "rechnet", würden die qualitativen Standards einer am Subjekt orientierten Sozialarbeit den buchhalterischen Erwägungen eines betriebswirtschaftlichen Paradigmas ausgeliefert.

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Quelle:

Manfred Gehrmann und Joachim Radatz: Stigma-Management als Aufgabe von Integrationsfachdiensten für Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Erschienen in: "Gemeinsam leben" Zeitschrift für integrative Erziehung, 5. Jahrgang, Juni 1997, Luchterhand Verlag

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.10.2006

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