Raus aus der Werkstatt, rein ins (Arbeits-)Leben?

Arbeitsmarktintegration am Beispiel des Projekts New Work

Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: berufsbildung, Zeitschrift für Praxis und Theorie in Betrieb und Schule, Heft 115 (2009), S. 11-12 (http://www.zeitschrift-berufsbildung.de)
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Raus aus der Werksatt, rein ins (Arbeits-)Leben?

Nach dem Erwerb verschiedener Abschlüsse im Regelschulsystem der BRD wie dem Realschulabschluss oder dem Abitur folgt bei nichtbehinderten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen der Beginn einer Ausbildung in einem Betrieb oder eines Studiums und somit eine größtmögliche Qualifizierung zur Teilhabe am Erwerbsleben. Ein "normaler" Lebenslauf besteht in der Regel aus genau solchen Stationen im Leben eines Menschen. Häufig jedoch nicht bei Personen, die als benachteiligt gelten: Zu dieser Gruppe zählen unter anderem Menschen mit geistiger Behinderung. Nach dem Besuch der Förderschule mit dem Schwerpunkt ‚Geistige Entwicklung' geht ihre berufliche Laufbahn meist über die Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) nicht hinaus. Der dauerhafte berufliche Rehabilitationszustand der Angestellten in einer WfbM widerspricht jedoch aktuellen Paradigmen der Behindertenhilfe wie z. B. der Integration oder der Teilhabe, weshalb sich stetig mehr Projekte entwickeln, um diesem Missstand entgegenzuwirken und zu versuchen, Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren.

Die Konzeption und Durchführung solcher Projekte werden im folgenden Artikel dargestellt. Dazu wird einleitend die Institution WfbM und ihr Auftrag beleuchtet sowie der Unterschied in ihrer Wirkung zu dem Aufbau und Zielsetzung von Integrationsprojekten in Bezug gesetzt. Das Integrationsprojekt New Work dient hierbei als exemplarisches Beispiel aus der Praxis.

Arbeitswelt von Menschen mit geistiger Behinderung

Um Menschen mit (geistiger) Behinderung die Möglichkeit zu bieten, eine adäquate Arbeitsstelle nach dem Schulabschluss an Förderschulen (früher: Sonderschulen) antreten zu können, wurde vor nun mehr als vierzig Jahren die WfbM (früher: Werkstatt für Behinderte) gegründet. Bislang ist bundesweit ein Netz von über 650 Werkstätten mit ca. 200 000 Arbeitsplätzen entstanden. Die Entwicklung solcher Werkstätten stand unter der Prämisse der durch das SGB IX gesetzlich geregelten Rehabilitation; d. h. in diesem Kontext, dass ein Arbeitsplatz für jeden Mensch mit Behinderung gesichert ist, solange er ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Arbeit leisten kann. Darüber hinaus werden auch Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung in, an die Werkstätten angegliederten Bereichen, wie Tagesförderstätten, betreut. WfbMs arbeiten mit dem Ziel der Rehabilitation der bei ihr angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Behinderung, also der Rückführung bzw. der Eingliederung in den Allgemeinen Arbeitsmarkt. Dazu werden verschiedene berufsbildende Maßnahmen ergriffen, damit Menschen mit Behinderung an die Arbeitsanforderung auf dem ersten Arbeitsmarkt gewöhnt und vorbereitet werden, um sie letztendlich dorthin zu vermitteln und somit zu integrieren. Werden jedoch Zahlen der Vermittlungsquote betrachtet, wird ersichtlich, dass der Rehabilitationsauftrag nicht angemessen erfüllt wird. Die Quote der Rückführung bzw. Eingliederung von Menschen mit Behinderung von WfbMs in den Allgemeinen Arbeitsmarkt lag im Jahr 2001 bei lediglich 0,3 Prozent. Aus diesem Missstand heraus entwickelten sich immer mehr Integrationsprojekte, die sich gezielt mit der Vermittlung von Menschen mit Behinderung auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt auseinandersetzen (vgl. Lindmeier 2006).

Integrationsprojekte als Partizipationsmöglichkeit auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt

Wie auch die WfbM, sind Integrationsprojekte gesetzlich verankert; 2000 wurden sie durch Erneuerungen des SGB IX in die Gesetzestexte aufgenommen; sie werden verstanden als selbstständige Unternehmen (sowohl wirtschaftlich als auch rechtlich) oder Betriebe, die den Auftrag haben, Menschen mit Behinderung auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt zu beschäftigen. Integrationsfirmen/-projekte werden finanziert und unterstützt durch verschiedene Stiftungsmittel, Förderprogramme der Bundesländer, Zuwendungen des Europäischen Sozialfonds, individuellen Zuschüssen sowie Spenden. 2004 besteht der Anteil der durch Integrationsprojekte vermittelten Menschen mit geistiger Behinderung aus 15 Prozent. Fast 60 Prozent der Integrationsfirmen verzeichnen in demselben Jahr eine beachtliche Umsatzsteigerung. Die Firmen beschäftigen dabei Menschen mit (geistiger) Behinderung in verschiedenen Branchen, wie Industrie-, Haus-, Büro- und EDV-Dienstleistungen, Hotel- und Gaststättengewerbe, Handwerk, Handel, personenbezogene Dienstleistungen, sowie Garten und Landschaftsbau (vgl. Schwendy & Senner 2005). Wie genau eine solche Vermittlung verläuft, wird am Projekt New Work dargestellt.

Das Integrationsprojekt New Work: Beschreibung des Projekts

Das Projekt New Work der Lebenshilfe Gießen wurde im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative EQUAL durchgeführt. Diese wurde aus dem Europäischen Sozialfond gefördert und zielte auf die Reduzierung von "Diskriminierung und Ungleichheit von Arbeitenden und Arbeitssuchenden auf dem Arbeitsmarkt" (www.esf.de). Als Nationale Koordinierungsstelle und Programmverwaltungsbehörde für die inhaltliche und finanzielle Umsetzung des Förderprogramms war das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verantwortlich.

Das Projekt New Work definiert sich als ein berufliches Qualifizierungsprojekt für Menschen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf. Gerichtet ist die Maßnahme an in einer WfbM tätige Menschen mit dem Wunsch nach beruflichen Veränderungen, an Schulabgängerinnen und -abgänger, an Menschen mit Lernschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen.Für die Teilnahme am Projekt ist es Voraussetzung, dass sich die teilnehmenden Personen selbstständig im öffentlichen Raum bewegen und selbstständig Praktikumsbetriebe und Projekträume aufsuchen können. Wenn notwendig, wird ein Fahrtraining angeboten. Zudem sollten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die Anforderungen im Projekt bzw. im neuen Arbeitsfeld bewusst sein.

Ziele des Projekts

Das Projekt zielt darauf, dem beschriebenen Personenkreis eine Wahlmöglichkeit zwischen WfbM und einer Tätigkeit auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt zu bieten. Innerhalb des Projekts werden drei Schwerpunktbereiche für eine mögliche Qualifizierung angeboten: Zum einen die Qualifizierungsmöglichkeit zur Helferin bzw. zum Helfer in der Hauswirtschaft, zum anderen eine Qualifizierungsmöglichkeit im Bereich der Gebäudereinigung; eine dritte Qualifizierungsmöglichkeit stellt der Arbeitsbereich "Dienstleistungen im Verkauf und Lager" dar. Langfristiges Ziel des Projekts ist es, Vorurteile gegenüber der beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderung abzubauen und dauerhaft Arbeitsplätze auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt zu sichern.

Zur Organisation der Qualifizierungsprozesse

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projekts absolvieren langfristige Betriebspraktika in den jeweiligen Bereichen, die durch das Personal des Projekts begleitet werden. Innerhalb des Praktikumsbetriebs dienen Mentorinnen und Mentoren als Ansprechpersonen für die sich im Praktikum befindenden Personen, aber auch für das Projektpersonal. Bei Bedarf erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine vom Projekt gestellte Arbeitsbegleitung im Betrieb. Das Projektpersonal sowie die Mentorinnen und Mentoren kooperieren miteinander, erarbeiten und kontrollieren die individuellen Qualifizierungspläne der teilnehmenden Personen im Projekt. Auch eine Zusammenarbeit mit Institutionen, Angehörigen oder Betreuerinnen und Betreuern wird bei Bedarf initiiert. Ziel der (Langzeit-) Praktika ist es, grundlegende Kenntnisse im jeweiligen Arbeitsbereich zu erlangen, so dass eventuell ein Arbeitsverhältnis im jeweiligen Betrieb entsteht.

Neben der Qualifizierung im Betrieb findet für Teilnehmerinnen und Teilnehmer einmal wöchentlich ein Schulungstag in den Projekträumen statt. Während der Schulung geht es zum einen um die Vermittlung des für die jeweilige Tätigkeit notwendigen Fachwissens. Hierbei wird darauf geachtet, jeder teilnehmenden Person ein individuell angepasstes Unterrichtsangebot zu erstellen. Ein wesentlicher Bestandteil des Unterrichts ist die Vermittlung von Sozialkompetenzen und Schlüsselqualifikationen für die Arbeit innerhalb des Betriebs und die Zusammenarbeit mit Vorgesetzten sowie dem weiteren Personal im Betrieb. Zusätzlich zu den Unterrichtstagen werden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Schulungsblöcke zu relevanten Themen angeboten. Insgesamt wird durch eine enge Vernetzung mit Behörden und interdisziplinärer Zusammenarbeit versucht, sowohl für die teilnehmenden Personen als auch für das Projekt eine langfristige Etablierung zu erreichen und eine Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.

Literatur

Gemeinschaftsinitiative Equal: Online im Internet: URL: http://www.esf.de [Stand: 05.01.2009].

Lindmeier, C. (2006): Berufliche Bildung und Teilhabe geistig behinderter Menschen am Arbeitsleben. In: Wüllenweber, E., Theunissen, G. & Mühl, H. (Hg.): Pädagogik bei geistigen Behinderungen. Ein Handbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, 394 - 407.

Schwendy, A. & Senner, A. (2005): Integrationsprojekte. Formen der Beschäftigung zwischen Allgemeinem Arbeitsmarkt und Werkstatt für behinderte Menschen. In: Bieker, R. (Hg.): Teilhabe am Arbeitsleben. Wege der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, 296 - 312.

Kontakt

Dipl. Päd. Kathrin Gattermann

Wissenschaftliche Mitarbeiterin,

kathrin.gattermann@erziehung.unigiessen.de

Dipl. Päd. Stefan Kvas

Wissenschaftlicher Mitarbeiter,

stefan.kvas@erziehung.uni-giessen.de

Justus-Liebig-Universität Gießen

Institut für Heil- und Sonderpädagogik

Professur für Geistigbehindertenpädagogik

Quelle:

Kathrin Gattermann, Sefan Kvas: Raus aus der Werkstatt, rein ins (Arbeits-)Leben. Arbeitsmarktintegration am Beispiel des Projekts New Work

Erschienen in berufsbildung, Zeitschrift für Praxis und Theorie in Betrieb und Schule (http://www.zeitschrift-berufsbildung.de), Heft 115, 2009, S. 11-12

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.03.2011

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