Wegbegleiterinnen und Grenzüberschreiter

Ein persönlicher Rückblick von Petra Flieger

Autor:in - Petra Flieger
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Zusammen. Behinderte und nichtbehinderte Menschen. Vol. 26, 5/06, kompakt 14–15. Zusammen. Behinderte und nichtbeinderte Menschen (5/06)
Copyright: © Petra Flieger 2006

Wegbegleiterinnen und Grenzüberschreiter - ein persönlicher Rückblick von Petra Flieger

Es war im August 1994, auf einer internationalen Konferenz mit 2000 TeilnehmerInnen, die in Toronto Fragen zur schulischen Integration behinderter Kinder diskutierten, als ich zum ersten Mal eine Präsentation von VertreterInnen einer People First Gruppe erlebte. Frauen und Männer mit Lernschwierigkeiten berichteten in einem Workshop zuerst über ihre Erfahrungen mit aussondernden Schulen und beschrieben daran anschließend ihre Wünsche und Hoffnungen, die sie an integrative Schulen hatten. Ihre Botschaften waren deutlich und einprägsam, es waren starke und unzweifelhafte Plädoyers gegen aussondernde Schulsysteme. Zwar hielt ich mich damals bereits seit längerem für eine engagierte Integrationslehrerin, aber im Workshop, den die SelbstvertreterInnen in ihrer klaren, einfachen Sprache hielten, erkannte ich, dass ich noch viel zu lernen hatte.

„Über die Sprache öffnen sich Welten, und man muss dankbar sein, wenn man Führer in diese Welten hat. Jeder gute Sozialforscher benötigt dringend solche Wegbegleiter und Grenzenüberschreiter“,[1] schreibt Roland Girtler, ein Soziologe aus Wien, der seit längerem die Kulturen verschiedener gesellschaftlicher Randgruppen erforscht. Jene Frauen und Männer aus der kanadischen Selbstvertretungsgruppe waren gewissermaßen meine ersten WegbegleiterInnen in die Sprache und die Welten von Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten. Obwohl ich sie nicht persönlich kennen gelernt hatte, blieben mir ihre Überlegungen zur Schule bis heute in Erinnerung, verwendete ich ihre Texte für LehrerInnenfortbildungen und weckte ihr beeindruckender Vortrag mein Interesse für die Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Bei meinen ersten Versuchen, selbst einen Text in leichter Sprache zu verfassen, erhielt ich Unterstützung von Michaela Koenig, einer jungen Wienerin mit Lernschwierigkeiten. Gemeinsam übersetzten wir einen juristisch formulierten Appell in leichte Sprache, wir nannten ihn Aufforderung: PolitikerInnen sollten ein Verbot der Benachteiligung aufgrund von Behinderung in die österreichische Verfassung aufnehmen.[2] Gleichzeitig wurde ich auf die eigenen Texte von Frau Koenig aufmerksam. Sie beeindruckten mich nicht nur inhaltlich, sondern übten in Wortwahl, Ausdrucksweise und Stil eine große Faszination auf mich aus. Der Text „Verblendete Leute“ von Michaela Koenig erschien im Herbst 1997 in der österreichischen Behindertenzeitschrift domino.[3]

Als ich im Frühjahr 1998 an einem Weltkongress von People First in Alaska teilnahm, hatte ich das Gefühl, schon richtig dazu zu gehören. Alle Vortragenden und WorkshopleiterInnen waren Menschen mit Lernbehinderung, und leichte Sprache war kein Thema, denn alle verwendeten sie. Ich war aber nicht nur in der Welt der leichten Sprache, sondern auch in der Welt des nicht sprachlichen Austauschs angekommen: am Kongress nahmen Leute, die sich sprachlich nicht ausdrückten, mit größter Selbstverständlichkeit teil. Auch sie waren aus vielen Teilen der Welt mit ihren Selbstvertretungsgruppen angereist, brachten sich ein mit Bewegungen, Gesten oder Geräuschen und waren Teil des Ganzen. Niemand stellte ihre Anwesenheit in Frage oder bezweifelte deren Sinn.

Mir war es in den vier Jahren seit Toronto zu einem zentralen Anliegen geworden, nicht über, sondern mit behinderten Menschen zu sprechen, nicht für, sondern mit ihnen zu arbeiten. Als ich im Sommer 1998 von Integration:Österreich eingeladen wurde, bei einer Tagung über schulische und berufliche Integration zu sprechen, fragte ich Axel Weingartner, ob er mit mir einen Vortrag halten wolle. 10 Jahre vorher war er eines der ersten Kinder mit Lernbehinderung gewesen, die in Österreich eine Integrationsklasse besuchen konnten. Gemeinsam wählten wir Bilder aus Herrn Weingartners Schulzeit aus, fotografierten Schulhefte und Arbeitsblätter. Schließlich besuchte ich ihn bei seiner Arbeit als Hilfskellner in einer Gaststätte und machte auch davon Fotos. So stellten wir miteinander einen Diavortrag zusammen, den wir als Team vortrugen. Herr Weingartner beschrieb, was auf den Bildern zu sehen war, und erzählte aus seinem Leben, ich kommentierte oder fragte nach, manchmal wiederholte ich seine Worte, wenn ich das Gefühl hatte, dass seine Sprache möglicherweise schwierig zu verstehen sei. Wir begleiteten uns gegenseitig, überschritten beide Grenzen: ich tastete mich an seinem Sprachrhythmus entlang, und er, der schon so oft als geistig behindert bezeichnet worden war, stand vor 150 Leuten am Podium und hielt einen öffentlichen Vortrag.[4]

Mittlerweile hat sich viel verändert. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland gibt es Selbstvertretungsgruppen von Menschen mit Lernbehinderung und People First Projekte, immer häufiger treten nun auch hierzulande bei Tagungen oder anderen Veranstaltungen SelbstvertreterInnen auf, halten Vorträge und Workshops oder melden sich bei Diskussionen zu Wort. Leichte Sprache fordern sie vehement ein, für Vorträge ebenso wie für Texte oder behördliche Formulare. Spätestens seit der Sommeruni zu Disability Studies, die 2003 in Bremen stattfand, ist schließlich auch bei uns die Forderung nach der Übersetzung von wissenschaftlichen Inhalten in leichte Sprache auf dem Tisch. „Menschen mit Lernschwierigkeiten sollen den so genannten Kopfschlauen beibringen, wie sie in leichterer Sprache sprechen und schreiben können,“[5] ist in einem Bericht auf der Homepage vom Netzwerk People First Deutschland nachzulesen. Nichts anderes meint der Soziologe Girtler. Und so möchte ich am Schluss dieses persönlichen Rückblicks nicht nur WissenschaftlerInnen sondern auch alle anderen, die sich mit dem Thema Lernbehinderung befassen, ermutigen, sich auf die Suche nach Frauen und Männern mit Lernschwierigkeiten zu begeben, um sich von ihnen auf dem Weg in die Welt der leichten Sprache führen und begleiten zu lassen.

Quelle

Petra Flieger: Wegbegleiterinnen und Grenzüberschreiter. Ein persönlicher Rückblick von Petra Flieger. Erschienen in: Zusammen. Behinderte und nichtbehinderte Menschen. Vol. 26, 5/06, kompakt 14–15.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 05.05.2015



[1] Girtler, Roland. Vom Fahrrad aus. Kulturwissenschaftliche Gedanken und Betrachtungen. Wien: LIT Verlag, 2004, S.87.

[2] vgl. domino 2/97, S. 26/27: “Linzer Aufforderung für ein Gesetz, das die Gleichstellung von behinderten Menschen regelt.“

[3] domino 3/97, S. 35: „Verblendete Leute“ von Michaela-Christine Koenig „Warum gibt es so verblendete Leute, die es nicht verstehen, dass wir mit Down Syndrom auch normale Leute sind.“

[5] http://www.people1.de/nachrichten/2003-08-08.php

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