Behindertenheime: Die Stiefkinder der Aufarbeitung von Missbrauch und Gewalt

Themenbereiche: Psychosoziale Arbeit
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Monika Jarosch, Elisabeth Gensluckner, Martin Haselwanter, Elisabeth Hussl, Horst Schreiber (Hrsg.) Gegenstimmen. Gaismair-Jahrbuch 2015. Innsbruck-Wien-Bozen 2014, StudienVerlag, S. 144-150.
Copyright: © Flieger, Schönwiese 2014

Behindertenheime: Die Stiefkinder der Aufarbeitung von Missbrauch und Gewalt[1]

Im Unterschied zu Fürsorgeerziehung und Psychiatrie ist der Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen weder in Tirol noch in den anderen Bundesländern bisher angemessen Aufmerksamkeit geschenkt worden. In Tirol hat sich kein einziges Forschungsprojekt, das in den vergangenen Jahren durchgeführt oder vom Land finanziert wurde, vertiefend mit einer Behinderteneinrichtung beschäftigt. In den Medien wurde punktuell von einzelnen Personen berichtet, die in Behinderteneinrichtungen Gewalt oder Missbrauch erlebt hatten, aber eben nur punktuell und am Rande. Im Jahr 2013 berichtete die Wiener Stadtzeitung Falter über gewalttätige Praktiken im Pavillon 15 des Psychiatrischen Krankenhauses Steinhof bei der Betreuung von schwer behinderten Kindern und Jugendlichen.[2] Daraufhin wurde eine interne Arbeitsgruppe eingerichtet, deren Bericht noch ausständig ist bzw. bislang nicht der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Insgesamt wurde in Österreich das Thema Gewalt und Missbrauch in Behinderteneinrichtungen weder von der Öffentlichkeit noch von WissenschafterInnen oder PolitikerInnen nachhaltig aufgegriffen, es entstand keine breitere Diskussion darüber.[3] Die im vorliegenden Jahrbuch von Arno Veit[4] beschriebene Erfahrung, dass sich Medien nicht für seine als Kind und Jugendlicher erlebten Gewalterfahrungen in Behindertenheimen interessieren und das Thema nicht aufgreifen, ist symptomatisch für diese Realität. Sie erinnert an den mühevollen Prozess, der notwendig war, um die massiven Vorfälle von Pädophilie und Missbrauch an der Odenwaldschule in Deutschland öffentlich zu machen, wofür es über fast eineinhalb Jahrzehnte hinweg mehrere Anläufe benötigte.[5]

Die besondere Dringlichkeit der Beschäftigung mit Gewalt und Missbrauch in Behinderteneinrichtungen ergibt sich daraus, dass Menschen mit Behinderungen nicht annähernd dieselben Möglichkeiten wie ehemalige Zöglinge der Fürsorgeerziehung haben, ihre Geschichte selbst darzustellen und Anerkennung als Opfer von Gewalt einzufordern. Behinderten Personen fehlt es meist nicht nur an Unterstützung bei der Darstellung und Reflexion der eigenen Biografie, sondern ganz grundlegend überhaupt am Bewusstsein, dass sie Gewalt oder Missbrauch erlebt haben. Der gesellschaftliche Umgang mit behinderten Menschen und deren spezifische Sozialisationsbedingungen schreiben diese Phänomene heute noch fort. In einer Stellungnahme zum Thema Missbrauch und Gewalt, die von der Beratungsstelle Wibs verfasst wurde, heißt es: „Viele Menschen mit Lernschwierigkeiten leben immer noch in Einrichtungen. Wenn sie in Einrichtungen leben, dann wissen die Leute oft nicht, was Missbrauch und Gewalt ist.“[6] Darüber hinaus – und dies ist ein signifikanter Unterschied zu ehemaligen Zöglingen von Fürsorgeeinrichtungen – gehen wir davon aus, dass sehr viele behinderte Menschen, die in den 1960er- bis in die 1980er-Jahre Kinder Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe erfahren haben, immer noch in solchen Einrichtungen leben, möglicherweise sogar in denselben Heimen, in denen sie als Kind mit Gewalt von BetreuerInnen konfrontiert waren. Die historisch-politische Aufarbeitung dieser Realität fehlt ebenso wie die Unterstützung zur Bewältigung der persönlichen Erfahrungen durch psychotherapeutische Aufarbeitung, Entschädigungszahlung und De-Insitutionalisierung. Einzig die von der Volksanwaltschaft österreichweit seit Mitte 2012 durchgeführten Kontrollbesuche in Behinderteneinrichtungen zeigen auf, dass dort vielfältige Gewaltphänomene immer noch weit verbreitet sind.[7] Das Bewusstsein über behinderungsspezifische und strukturelle Formen von Gewalt ist weder beim Personal noch bei den Betreibern vieler Einrichtungen ausreichend entwickelt, und von der österreichischen Bevölkerung wird es immer noch als normal und richtig angesehen, dass behinderte Frauen und Männer in Heimen bzw. Wohneinrichtungen nur für behinderte Menschen leben.

Derzeit kann von mindestens 13.000 behinderten Personen in Österreich ausgegangen werden, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben.[8] Genaue Zahlen liegen nicht vor. Wie viele behinderte Menschen als Opfer von Institutionalisierung und Gewalt Anerkennung finden könnten, ist unklar. Daten über Entschädigungszahlungen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe fehlen. Uns sind persönlich einzelne Personen bekannt, die Gewalterfahrungen in kirchlichen Einrichtungen gemeldet und Entschädigungszahlungen erhalten haben. Ihre Situation zeichnet sich dadurch aus, dass sie seit Langem nicht mehr in Einrichtungen leben, nicht besachwaltert sind und tragfähige Unterstützungssysteme in Anspruch nehmen können. Der Bericht von Monika Rauchberger in diesem Band ist dafür ein typisches Beispiel. Männer und Frauen, die in Behinderteneinrichtungen leben, haben oft Angst davor, sich kritisch über die Einrichtung zu äußern, weil sie Sanktionen fürchten. In einer Publikation mit Lebensgeschichten von Frauen und Männern mit Lernschwierigkeit schreibt etwa Johannes Georg, ein Mann Mitte 40: „Ich habe meinen Namen geändert. Meinen richtigen Namen will ich nicht sagen. Wenn ich meinen richtigen Namen sage, habe ich Angst, dass sich die BetreuerInnen aufregen.“[9]

Institutionen liegt viel daran, ihren (guten) Ruf zu erhalten, daher kehren sie Beschwerden unter den Teppich und regeln Schwierigkeiten oder Probleme möglichst intern. In der bereits genannten Stellungnahme von Wibs heißt es: „Wenn man im Heim ist und Gewalt erfährt, dann erzählt man es vielleicht den BetreuerInnen. Die BetreuerInnen gehören zum Heim dazu. Die BetreuerInnen haben dann vielleicht ein schlechtes Gewissen. Deshalb wollen die BetreuerInnen oft , dass niemand darüber redet.“[10] Wie der Bericht von Monika Rauchberger in diesem Band zeigt kann es Betroffenen sogar zum Vorwurf gemacht werden, dass sie sich an eine Opferschutzstelle wenden und Entschädigungszahlungen erhalten. Das Ansehen und die damit einhergehende Legitimation der Institution dürfen nicht in Frage gestellt oder beschädigt werden, die Gewalterfahrungen oder Schicksale Einzelner sind diesem Grundsatz unterzuordnen. In diesem Sinn ist es nicht weiter verwunderlich, dass Behinderteneinrichtungen, die bis heute von der öffentlichen Hand finanziert werden, kein großes Interesse daran haben, historische Aufarbeitungen von Gewalt und Missbrauch zu betreiben. Die Tabuisierung von Gewalt an behinderten Menschen in Einrichtungen wird damit fortgeschrieben.

Zur Praxis von Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe

Das Leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in kirchlichen Heimen war in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg von einer direktiven Pädagogik zwischen fürsorglicher Gewalt und Barmherzigkeit bestimmt, die als „harte Liebe“ in Erscheinung trat. Sie folgte der Vorstellung, dass Behinderung grundsätzlich Defizit bedeutet und in erster Linie einer religiösen Erziehung bedürfe. „Die Krönung allen heilpädagogischen Bemühens ist die religiöse Erziehung. Sie muss die ganze Erziehung des schwachsinnigen Kindes beseelen, wenn diese überhaupt Erfolg haben soll“,[11] heißt es in einem der Standardwerke zur Heimerziehung in den 1950er- und 1960er-Jahren.

Die pädagogischen Richtlinien im St. Josefsinstitut[12] in Mils zielten ganz im Sinne dieser Auffassungen unter Dominanz religiöser Erziehung auf normiertes, angepasstes und ordentliches Verhalten ab. Welche Methoden dazu in der Praxis der Heimerziehung angewandt wurden, berichtete Brigitte Wanker 1982: Schläge, Festbinden, Zwangsjacken, Erbrochenes aufessen, kalte Duschen.[13] Arno Veit schildert verschiedene Formen physischer und psychischer Gewalt, denen er jahrelang im St. Josefsinstitut und im Elisabethinum ausgesetzt war. Eine staatsanwaltliche Benachrichtigung über die Einstellung eines Verfahrens aus dem Jahr 2010 dokumentiert eindrücklich die gängige Betreuungspraxis:

„Hins.[ichtlich] der nunmehr neu hervorgekommenen Taten (Versetzen einer Ohrfeige ins Gesicht des E, wodurch dieser eine leicht blutende Wunde erlitt, Zwingen des F zum Aufessen des von ihm ausgespuckten bzw. erbrochenen Essens, Hinaussperren des C über einen Zeitraum von mehreren Stunden auf den Balkon sowie bezüglich des Vorfalls vom 2.2.1980 zum Nachteil des D zusätzlich Zwang, das erbrochene bzw. ausgespuckte Essen wieder aufzuessen). Diese Vorfälle ereigneten sich zu den Tatzeitpunkten zwischen 1976 und 2.2.1980.“[14]

Die in dieser Stellungnahme der Staatsanwaltschaft geschilderten Praktiken in einem Heim der Behindertenhilfe können nicht als bedauerliche Einzelereignisse gesehen werden. Die exemplarischen Erinnerungen von Arno Veit, in denen er auch Situationen des Miterlebens von Gewalt an anderen behinderten Buben schildert, bestätigen die Vermutung, dass die Dunkelziffer an bislang nicht bekannten oder dokumentierten Fällen hoch sein dürft e. Eine systematische und aktiv betriebene Aufarbeitung steht dringend an, in Tirol ebenso wie in allen anderen Bundesländern.

Diese Erziehungspraxis der Härte war als heil- und sonderpädagogische Methode wissenschaftlich legitimiert, nicht nur in Einrichtungen der Behindertenhilfe, sondern auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, so etwa an der Kinderbeobachtungsstation des Landeskrankenhauses Innsbruck. Aus dem Bericht der Medizin-Historischen ExpertInnenkommission über die psychiatrische Kinderbeobachtungs-Station unter der Leitung von Maria Nowak-Vogl[15] sind folgende von 1954 bis 1987 angewandte kinderpsychiatrische und heilpädagogische Strategien dokumentiert, die auf psychische, physische, sexualisierte und strukturelle Gewalt in den alltäglichen Abläufen der Station in Verbindung hinweisen: Lückenlose Überwachung, Kontrolle und Verdächtigung; anachronistische klinisch-diagnostische Zuschreibungen wie „lügenhaft “, „hinterhältig“, „klebrig-anhänglich“ oder „neuropathisch veranlagt“; (heil-)pädagogische Interventionen über Kontrolle, Intensivierung oder Entzug von Beziehungskontakten, strengere oder weichere „Führung“, Zusammenführung oder Trennung von Geschwistern; Unterlassung therapeutischer Gespräche; Festlegung des repressiv-(heil-)pädagogischen Programms in der Hausordnung; autoritärer Führungsstil; Orientierung der Behandlungskonzepte an sozialen Regeln und Normen; Bedrohung, Erniedrigung, Beschämung und Beschimpfung vor anderen Kindern; sedative Medikamentierungen und Hormongaben zur ‚Bekämpfung‘ kindlicher Sexualität; körperliche und psychische Misshandlungen.[16]

Über nahezu alle in dem Kommissionsbericht genannten (heil-)pädagogischen Strategien in der Kinderpsychiatrie in Innsbruck gibt es Berichte aus Behindertenheimen, so auch in der Lebensgeschichte von Sebastian Siemaier,[17] der im Jahr 2012 von der „Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft “ für Opfer kirchlicher Einrichtungen (Klasnic-Kommission) eine Entschädigungszahlung erhielt:

„Ich heiße Sebastian Siemaier, komme aus einem kleinen Ort am Land. Geboren 1953. Ich war in der Hilfsschule. In der Volksschule haben sie mich nicht genommen. Deshalb habe ich in die Hilfsschule müssen. Dann 1964, im September oder Oktober bin ich in ein Behindertenheim gekommen. Dort bin ich 4 Jahre gewesen. Da war ich am öftesten in Dunkelhaft. Dunkelhaft ist ein Zimmer, das stockfinster ist. Da sitzt du drinnen und siehst nichts. Und kannst nichts tun. 3 Stunden lang. Das war die Strafe, wenn ich in der Kirche geschwätzt habe. Oder sie haben mich in die Badewanne hineingesetzt. Und dann 5 oder 6 Kübel arschkaltes Wasser über den Kopf geleert. Dann hinaus aus der Badewanne. Dann habe ich die Hände ausstrecken müssen und die Schwester hat mit dem Stock draufgehauen.“[18]

Zwei Berichte sind uns über das Elisabethinum in Axams bekannt: Der erste von 1982 hinterfragt neben dem strikten Tagesablauf die Funktion der Therapie und beschreibt die Entsexualisierung behinderter Kinder und Jugendlicher im Betreuungsalltag.[19] Der zweite Bericht aus dem Jahr 2010 zeugt von schweren Misshandlungen,[20] ähnlich jenen im bereits zitierten staatsanwaltschaftlichen Bericht. Die Erinnerungen von Arno Veit während seiner Aufenthalte in vier Einrichtungen der Behindertenhilfe liefern zusätzliche Hinweise für die weit verbreitete und selbstverständliche Anwendung von Gewalt im Betreuungsalltag.

Diese Praxis wurde gestärkt durch die christliche Opfervorstellung einerseits und die Vorstellung von Behinderung als medizinischem Defekt andererseits. Für beide gibt es anschauliche Belege aus der Berichterstattung der Tiroler Tageszeitung. Über eine Audienz von behinderten Personen aus Tirol 1979 bei Papst Johannes Paul II. im Vatikan ist zu lesen:

„In ausgezeichnetem Deutsch unterhielt sich Papst Johannes Paul II mit Behinderten und sprach zu ihnen: ‚Eure Gegenwart ist uns besonders wertvoll, da ihr durch das Kreuz eures Leidens in einer besonderen Weise mit Christus verbunden seid. Indem ihr eure Gebrechen nach dem Vorbild und in der Kraft des leidenden Herrn ergeben annehmt und tragt, werden diese für euch selbst und die Kirche zu einer kostbaren Quelle des Trostes, der Läuterung und der Stärkung des inneren Menschen.“[21]

Im Jahr 1976 berichtete die Tiroler Tageszeitung über ein Referat von Prof. Andreas Rett in Lienz, damals Leiter der kinder-neurologischen Abteilung am Krankenhaus Rosenhügel in Wien:

„Rett sprach über ‚Das behinderte Kind im Spannungsfeld von Familie, Schule und Gesellschaft ‘. Die Position der Behinderten in der Gesellschaft hat sich in den letzten 20 Jahren entscheidend gebessert, stellte der Referent vorweg fest. Sie werden nicht mehr ausgestoßen, sondern als Kranke gesehen. Heute weiß man vielfach um die Ursachen von Gehirnschäden Bescheid und kann daher vorbeugend wirken. Die Zahl der Kinder, die geschädigt geboren werden oder nach der Geburt einen Gehirnschaden erleiden, geht deutlich zurück. Hingegen wächst die Zahl der gehirngeschädigten Erwachsenen, weil diese Kranken älter werden als früher. Damit legt der Referent den Finger in eine Wunde der Behindertenbetreuung: ‚Wir fordern ein System, das die Behinderten ihr ganzes Leben lang betreut. Wenn man auf den erwachsenen Behinderten vergißt, war alle vorangegangene Arbeit in Sonderkindergärten und Sonderschulen umsonst.“[22]

Die beiden Positionen zeigen trotz ihrer Unterschiedlichkeit die Allianz zwischen katholisch-christlicher Fürsorge und medizinischer Expertise, mit der die institutionelle Versorgung und Unterbringung behinderter Menschen in Heimen legitimiert wird. Die christliche Fürsorge wirkt durch Entsexualisierung und klösterlicher Lebensweise eugenisch. Die aufgeklärt medizinische Herangehensweise folgt einer Heilungsvorstellung durch Pränataldiagnose, Abtreibung, medikamentöse Einschränkung von Sexualität, lebenslange paternalistische Betreuung und Spaltung in mehr oder weniger Förderbare.

Menschenrechte und Behinderung

Beide Positionen widersprechen den menschenrechtsorientierten Grundsätzen, die nach der Menschenrechtserklärung von 1948 ab den 1970er-Jahren auch in den deutschsprachigen Ländern unter den Stichworten „Integration“, dann „Inklusion“ und „Selbstbestimmung“ deutlichen Eingang in den Fachdiskurs über Behinderung Eingang fanden. Diese werden seither auch von österreichischen ExpertInnen und Selbsthilfeorganisationen von behinderten Personen sowie Eltern-Selbsthilfegruppen eingefordert, haben in der Praxis jahrzehntelang jedoch kaum ausreichende Wirksamkeit entfaltet. Zu dominant waren und sind christliche Fürsorge und medizinische Rehabilitation, obwohl bereits 1971 die Generalversammlung der UNO die Erklärung über die Rechte von geistig behinderten Menschen annahm. Hier wurde festgehalten, dass Personen mit sogenannter geistiger Behinderung unter möglichst normalen Bedingungen leben sollten, so wie Menschen ihres Alters ohne Behinderung.

1979 tagte in Wien die Internationale Liga der Gesellschaft en für Personen mit geistiger Behinderung. Es wurde die Forderung nach sozialversicherungsrechtlicher Gleichstellung erhoben und erstmals stellte eine Gruppe von jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten den Anspruch, nicht nur an der organisierten Tagesbetreuung, sondern auch am Kongress selbst teilzunehmen.[23]

1981 fand weltweit das Internationale Jahr der Behinderten statt. Es stand unter dem Motto „volle Partizipation und Gleichberechtigung“. In Deutschland und Österreich formierten sich Aktivistinnen und Aktivisten, um durch Proteste auf ihre Forderungen nach barrierefreier Umwelt, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aufmerksam zu machen.[24] In der Folge wurde 1990 in der UN-Kinderrechtskonvention verankert, dass alle Maßnahmen für Kinder mit Behinderungen so ausgerichtet werden sollen, dass die Kinder an jedem Gesellschaftsbereich bestmöglich teilhaben.[25]

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, im Jahr 2006 von der Generalversammlung angenommen, stellt den Höhepunkt dieser Entwicklung dar.[26]

Seit Beginn der 1970er-Jahre wurde in einem international geführten menschenrechtlichen Diskurs mit jenen älteren Argumentationen gebrochen, die Institutionalisierung, Anpassung und Korrektion in eugenischer Tendenz mit allen Folgen von Gewalt legitimierten oder zumindest – wie bedauernd auch immer – für unvermeidlich erklärten. Die Internierung von behinderten Menschen in totalen Institutionen konnte fortan nicht mehr als State of the Art betrachtet werden.

Zurück nach Tirol: In den 1980er-Jahren führten Diskussionen und Konflikte um die Fürsorgeerziehung zur Auflösung aller Landes-Fürsorgeerziehungsheime in Tirol. Nur die „Bubenburg“ des Seraphischen Liebeswerks in Fügen blieb unverändert bestehen. Ihrem langjährigen Leiter, Kapuzinerpater Magnus Kerner, wurde im Jahr 2013 nach einer Prüfung seiner Tätigkeit durch HistorikerInnen wegen gewalttätiger Erziehungsmethoden das im Jahr 1982 verliehene Sozialehrenzeichen der Stadt Innsbruck aberkannt.[27] Pater Magnus Kerner war als Gesamtleiter des Seraphischen Liebeswerks in Tirol auch für die Behinderteneinrichtung Elisabethinum verantwortlich. Dies blieb in der damaligen Auseinandersetzung unberücksichtigt, wie die traditionellen Heime der Behindertenhilfe insgesamt von den Diskussionen und Änderungen im Bereich der Tiroler Fürsorgeerziehung unberührt blieben. Allerdings wurden die Einrichtungen der Behindertenhilfe ab den 1970er-Jahren in einem Schritt ‚halber Modernisierung‘ durch dezentrale Unterbringung und geschützte Werkstätten ergänzt: Dies war eine Annäherung an das Paradigma einer medizin- und rehablitationsorientierten Behindertenpolitik. Diese Entwicklung war eng mit dem Aufbau der Einrichtungen der Organisation Lebenshilfe verbunden.[28] Eine ‚halbe Modernisierung‘ wie diese ist gekennzeichnet durch dezentrale Aussonderung in kleinere Heim-Einheiten, paternalistische Pädagogik des Nicht-Loslassens,[29] Therapeutisierung des Alltags, unbezahlte Arbeit (Abgeltung mit Taschengeld) in Beschäftigungstherapie-Werkstätten und Orientierung der Organisation an einem Dienstleistungs- und Marktmodell. Insgesamt wurde in den 1970er-Jahren den traditionellen Einrichtungen ein immer größer werdendes System von halb-modernisierten Einrichtungen hinzugefügt und insgesamt der Weg einer gesteuerten Umverteilung in Richtung Inklusion und Selbstbestimmung gemieden.

Ausblick

Der vorliegende Text und die Berichte von behinderten Personen in diesem Jahrbuch sollen deutlich machen, dass die Einrichtungen der Behindertenhilfe nach dem Zweiten Weltkrieg von ähnlichen strukturellen und personalen Gewaltformen geprägt waren wie die Einrichtungen der Fürsorgeerziehung und der (Kinder-)Psychiatrie. Im Detail wäre dies noch genauer zu dokumentieren und zu erforschen. Zu berücksichtigen wären die Gegenbewegungen von Betroffenen und von ExpertInnen ebenso wie die Weiterentwicklung älterer Fürsorge-Traditionen zu einem immer weiter ausgreifenden betrieblich orientierten Dienstleistungssektor der Behindertenhilfe ab den 1970er-Jahren. Die Frage, wie das System der Einrichtungen der Behindertenhilfe mit politischen Interessensgruppen, öffentlichen Verwaltungsstrukturen und der Medienindustrie verbunden ist, sollte in künftigen Forschungen genau untersucht werden.

Quelle

Petra Flieger, Volker Schönwiese: Behindertenheime: Die Stiefkinder der Aufarbeitung von Missbrauch und Gewalt

Erschienen in: Monika Jarosch, Elisabeth Gensluckner, Martin Haselwanter, Elisabeth Hussl, Horst Schreiber (Hrsg.) Gegenstimmen. Gaismair-Jahrbuch 2015. Innsbruck-Wien-Bozen 2014, StudienVerlag, ISBN: 978-3-7065-5393-3, S. 144-150.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 02.03.2016



[1] Wir widmen diesen Beitrag unserem guten Kollegen und Freund Gerhard Walter, der Ende Juli 2014 viel zu früh verstorben ist. Gerhard Walter hat sich zwei Jahrzehnte lang nicht nur in Tirol, sondern in ganz Österreich für Barrierefreiheit und Nichtdiskriminierung von behinderten Menschen eingesetzt. Wir vermissen ihn sehr.

[2] Ruth Eisenreich: Die Schande von Pavillon 15, in: Falter 22 (2013), S. 16–17.

[3] Zu den wenigen wissenschaft lichen Publikationen zählen z. B.: Sascha Plangger/Volker Schönweise, Behindertenhilfe – Hilfe für Behinderte Menschen?, in: Horst Schreiber (Hg.): Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 327–346; Volker Schönweise/ Sascha Plangger, Heilpädagogische Kindheiten. Zur Geschichte der Heimerziehung in der Behindertenhilfe in Tirol, in: ÖZG 25 (2014), S. 345–358.

[4] Siehe den Beitrag von Arno Veit im vorliegenden Jahrbuch.

[5] Vgl. Christian Füller: Sündenfall: Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte, Köln 2011, S. 149ff .

[6] Stopp Missbrauch und Gewalt! Eine Stellungnahme von Wibs, 2014, http://www.wibs-tirol.at/userfiles/dateien/Stellungnahme_Missbrauch_2014.pdf (Zugriff 26.8.2014).

[7] Vgl. Volksanwaltschaft : Bericht der Volksanwaltschaft an den Nationalrat und an den Bundesrat 2013, Wien 2014, S. 68ff , http://volksanwaltschaft.gv.at/downloads/8r3ft/37PB.pdf (Zugriff 27.6.2014).

[8] Vgl. Hubert Stockner: Persönliche Assistenz als Ausweg aus der institutionellen Segregation von Menschen mit Behinderungen, 2011, http://bidok.uibk.ac.at/library/stockner-assistenz.html#idp290320 (Zugriff 27.6.2014).

[9] Johannes Georg; Irgendwann will ich bei meiner Freundin leben, in: Selbstbestimmt Leben Innsbruck – Wibs (Hg.), Das Mutbuch: Lebensgeschichten von Frauen und Männern mit Lernschwierigkeiten, Neu Ulm 2012, S. 12.

[10] Stopp Missbrauch und Gewalt! Eine Stellungnahme von Wibs 2014, http://www.wibs-tirol.at/userfiles/dateien/Stellungnahme_Missbrauch_2014.pdf (Zugriff 26.8.2014).

[11] Aus: Friedrich Messing: Die religiöse Erziehung des schwachsinnigen (geistesschwachen) Kindes, in: Friedrich Trost (Hg.): Handbuch der Heimerziehung, Frankfurt/Main 1952–1966, S. 739–746, hier S. 739.

[12] Vgl. Brigitte Wanker: Mauern überall, in: Rudolf Forster/Volker Schönwiese (Hg.): Behindertenalltag – wie man behindert wird, Wien 1982, http://bidok.uibk.ac.at/library/wanker-mauern.html (27.6.2014).

[13] Ebd.

[14] Staatsanwaltschaft Innsbruck: Benachrichtigung der Einstellung des Verfahrens gegen NN, 7.9.2010. Privatarchiv Volker Schönwiese.

[15] Bericht der Medizin-Historischen ExpertInnenkommission: Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl, Innsbruck 2013.

[16] Ebd.: S. 38–40, 86 und 100.

[17] Sebastian Siemeier: Dunkelhaft , in: Selbstbestimmt Leben Innsbruck – Wibs (Hg.): Das Mutbuch, S. 44–49.

[18] Ebd.: S. 44.

[19] Ernst Schwanninger: Alle Macht der Betreuung?, in: Rudolf Forster/Volker Schönwiese (Hg.): Behindertenalltag, Wie man behindert wird, Wien 1982, S. 9–12, http://bidok.uibk.ac.at/library/schwanninger-macht.html (27.6.2014).

[20] Gernot Zimmermann: Für jeden Schlag dankbar, in: Echo 9 (2010), S. 52–56.

[21] Tiroler Tageszeitung, 1979 (Kopie ohne Seiten- u. Datumsangabe).

[22] Tiroler Tageszeitung 23.11.1976 (Kopie ohne Seitenangabe).

[23] Vgl. Petra Flieger/Volker Schönwiese/Angela Wegscheider: Behindertenpädagogik und Behindertenhilfe im Spannungsfeld zwischen alten Mustern und neuen Wegen, in: Heimo Halbrainer/Ursula Vennemann (Hg.): Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark 1938 bis heute, Graz 2014, S. 189–211, hier S. 190.

[24] Initiativgruppe von Behinderten und Nichtbehinderten, Befreiungsversuche und Selbstorganisation, in: Rudolf Forster/Volker Schönwiese (Hg.), Behindertenalltag, S. 377–390, http://bidok.uibk.ac.at/library/initiativgruppe-befreiungsversuche.html#id2835659 (27.6.2014).

[25] Petra Flieger: Inklusion weltweit, in: Behinderte Menschen 2 (2013), S. 6 f.

[26] Zu den speziellen Menschenrechtsdokumenten ab 1971 siehe Flieger/Schönwiese/Wegscheider, Behindertenpädagogik, in: Halbrainer/Vennemann (Hg.): Es war nicht immer so, S. 190–191.

[27] Vgl. Gutachten von HistorikerInnen des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, http://www.innsbruckinformiert.at/aktuelles-detail,pid,20,bid,1281006769,eid,1372320617,back2search,news_1372320617.html (5.12.2013).

[28] Sascha Plangger/Volker Schönwiese: Behindertenhilfe – Hilfe für Behinderte Menschen?, in: Schreiber (Hg.), Im Namen der Ordnung, S. 327–346.

[29] Vgl. Walter Parth: Zum Wohle der Behinderten und im Sinne des Ganzen. Einige Anmerkungen zur Situation der Lebenshilfe in Tirol, http://bidok.uibk.ac.at/library/parth-wohle.html (27.6.2014).

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