ZUR LEBENSSITUATION SEHBEHINDERTER ELTERN

unter besonderer Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedingungen

Autor:in - Manuela Finding
Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold - Franzens - Universität Innsbruck; eingereicht am Institut für Erziehungswissenschaften, bei Univ.-Prof. Dr. Volker Schönwiese, im Oktober 1999
Copyright: © Finding Oktober 2000

Dank (Überschrift von bidok)

Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei allen, die mir beim Schreiben dieser Arbeit zur Seite gestanden sind und mich unterstützt haben. Dabei denke ich an jene, die mir bei der Beschaffung der passenden Literatur und beim Finden meiner Interviewpartner geholfen haben.

Mein Dank gilt außerdem den sehbehinderten Eltern, die diese Arbeit durch ihr offenes, bereitwilliges und ehrliches Gespräch bereichert und ermöglicht haben.

Desweiteren bedanke ich mich in besonderer Weise bei jenen, die sich für meine Arbeit interessierten und mich dadurch ermutigt und motiviert haben.

Ich möchte nicht vergessen, an jene zu denken, die mir in großen oder kleinen Problemen mit Rat und Tat zur Seite standen.

EINLEITUNG

Den Impuls für diese Arbeit gab mir eine Begebenheit, die sich bei einer meiner zahlreichen Zugfahrten abspielte. Eine Frau war mit ihrer schätzungsweise sechsjährigen Tochter auf die Reise gegangen, deren Ende sie nun erreicht hatten.

Diese Situation passiert immer wieder und stellt sicherlich nichts Besonderes dar, jedoch sprang mir jene Begegnung sofort ins Auge. Es handelte sich in diesem Falle nämlich um eine sehbehinderte Mutter, was meine Aufmerksamkeit als selbst Sehbehinderte natürlich sofort auf sich zog. Bis zu diesem Zeitpunkt machte ich mir noch keine konkreten Gedanken über die Elternschaft behinderter Menschen, allerdings wandte sich das Blatt nach diesem für mich sehr beeindruckenden Erlebnis.

Die Dynamik des Verhaltens zwischen den beiden Reisenden, die Vorsicht der Mutter, welche auf die Sicherheit des Kindes bedacht war und das Verhalten der Tochter, die ihrer Mutter immer wieder zu verstehen gab, daß sie noch hier sei und ihr Verschiedenstes mitteilte, hatten einen tiefen Eindruck an mir hinterlassen.

Die Elternschaft (seh)behinderter Menschen begann mich dann mehr und mehr zu interessieren, und so beschloß ich, meine Diplomarbeit darüber zu schreiben. Allerdings war der Weg zu Beginn sehr mühsam, weil es nur wenig Literatur mit jenem Schwerpunkt gibt. Dennoch fand und erhielt ich mit der Hilfe einiger Blinden- und Sehbehinderteninstitutionen einige Unterlagen aus dem In- und Ausland. Begeisterung kam auf, jedoch wurde mir bald klar, daß die bestehende Literatur nicht unbedingt das war, was ich mir erhoffte. Zum einen berichteten diese Werke von äußerst behindertenfeindlichen und zu tiefst diskriminierenden veralterten Haltungen von Blindenpädagogen aus dem letzten und zum Teil auch aus den 60er und 70er Jahren unseres Jahrhunderts.

Zum anderen setzten die mir vorliegenden Arbeiten Schwerpunkte, die mir nicht unbedingt Anlaß zur Freude gaben. Sie erwähnten zwar immer mehr die gesellschaftlichen Bedingungen in bezug auf Behinderung, jedoch war mir dies zu wenig.

Im Laufe meines Studiums und meinen persönlichen Erfahrungen erwies sich die gesellschaftliche Komponente als der entscheidende Faktor, der Menschen erst zu behinderten Personen macht. Es ist nicht das sich von anderen unterscheidende Merkmal, sondern der Umgang damit, die ungünstigen nicht adäquaten Bedingungen, die Menschen als etwas Besonderes - als ein behindertes Individuum - definieren. Dies ist im wesentlichen der Schlüsselsatz der vorliegenden Arbeit.

Mein Interesse war es, die Situation sehbehinderter Eltern unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Haltungen näher zu betrachten, deren Elternschaft mit ihren Schwierigkeiten und Bewältigungsstrategien unter die Lupe zu nehmen und auch die Situation der Kinder ins Auge zu fassen. Dazu finde ich es notwendig, den Behinderungsbegriff unter verschiedenen Perspektiven zu beleuchten (Kapitel 2). Anschließend wende ich mich den gesellschaftlichen Haltungen gegenüber blinden/sehbehinderten Personen - und im speziellen Eltern - zu (Kapitel 3). Nachdem ich aber eine Forschung ohne den Einbezug der Betroffenen und deren Sichtweisen als wenig sinnvoll betrachte (Kapitel 4), machte ich mich auf die Suche nach sehbehinderten Eltern. Diese befragte ich anhand eines narrativen Leitfadeninterviews und arbeitete anschließend für mich wichtig gewordene Schwerpunkte heraus (Kapitel 5).

Die Situation der Kinder wollte ich auch nicht vergessen, und so wandte ich mich dieser in meinem letzten Kapitel (Kapitel 6) zu.

Demnach erachte ich es als essentiell, den Bezug zu den Betroffenen, die die Experten in ihrer Situation sind, nicht zu verlieren und möchte deshalb diese im Zentrum meiner Überlegungen sehen.

Somit möchte ich in dieser Arbeit sehbehinderte Eltern in ihren vielen Gemeinsamkeiten und manchen Unterschieden gegenüber "normalen" Gleichbetroffenen unter die Lupe nehmen, wobei mein Beitrag sicher nur ein Bruchteil des noch zu Erforschenden sein kann.

2. ZUM BEGRIFF DER BEHINDERUNG

Gerade heute ist die Auseinandersetzung mit und die Diskussion über Behinderung dringend notwendig.

Sparmaßnahmen und sogenannte "Reformen" gehen zu Lasten sozial schwächerer Personengruppen - diese sind vor allem alte, kranke und behinderte Menschen. Jene Entwicklung wird noch verstärkt durch Lebens-Wert-Diskussionen, welche auf Kosten-Nutzen-Rechnungen und dem Diktat der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit basieren.

"Unsere Gesellschaft steht im Begriff, behinderten und chronisch kranken Menschen die Solidarität aufzukündigen." (Neumann 1997, S. 6)

Diese tragische Tendenz hat einen Behinderungsbegriff als Grundlage, auf den ich zu Beginn mein Augenmerk richten möchte. Im engen Zusammenhang damit steht das Menschenbild, welches jeglichen Umgang mit (behinderten) Menschen bestimmt - sowohl im professionellen wie auch im alltäglichen Bereich.

Der Begriff "Behinderung" ist kein klarer und einheitlicher, sondern setzt sich aus vielen verschiedenen Facetten zusammen. Je nach Forschungsdisziplin wird Behinderung unterschiedlich verstanden und damit umgegangen, da die Meinungen über die Ursachen auseinandergehen.

Um sich in etwa ein Bild von der Vielfalt des Begriffes machen zu können, stelle ich im folgenden einige wesentliche Eckpunkte vor, wobei ich mich hier auf das Buch "Behinderung" von Johannes Neumann aus dem Jahre 1997 stützen werde.

2.1. BEHINDERUNG AUS ANTHROPOLOGISCHER SICHT

Die Grundlage meiner Erläuterungen der anthropologischen Perspektive bilden hierbei die Ausführungen von Reinhart Lempp, der Behinderung im engen Zusammenhang mit dem Menschenbild sieht. Dieses entsteht aus den Erwartungen der Mitmenschen an ein Individuum und ist daher auch gekoppelt an gesellschaftliche Deutungsprozesse und Normen (Lempp in: Neumann 1997, S. 16). Peter Radtke spricht beispielsweise auch von vorgeprägten Bildern und vorgefertigten Klischees, die er als das größte Übel bezeichnet, weil wir auf deren Hintergrund Tag für Tag unsere Umwelt betrachten. Diese vorgefertigten Bilder bringt er wiederum mit der Gesellschaft in Verbindung (Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 113). Auf diese Betrachtungsweise soll aber noch ausführlicher im Punkt 2.3. (Behinderung aus gesellschaftskritischer und konstruktivistischer Sicht) eingegangen werden.

Beim Blick in die Vergangenheit kann man zunächst einige Bestimmungsgrößen für Behinderung erkennen.

Diese bezog sich beispielsweise in der Urzeit allein auf körperliche Behinderungen. Ausgegangen wurde damals, aber dies geschieht auch heute noch häufig, von körperlichen Mängeln. (Lempp in:Neumann 1997, S. 13). Diese waren meist auf den ersten Blick erkennbar, und so wurden Menschen, die von der Norm durch ihre körperliche "Andersartigkeit" abwichen, als behindert bezeichnet.

In Sparta beispielsweise wurden erkennbar körperlich behinderte Neugeborene ausgesetzt und kamen dadurch grausam ums Leben.

Geistig behinderte Menschen wurden anders betrachtet und behandelt. Zum einen konnte ihr "Defekt" nicht so einfach - durchs bloße Ansehen - festgestellt werden. Unter anderem erhielten sie auch deshalb noch eine "Galgenfrist" und wurden nicht so schnell wie nur irgendwie möglich "beiseite geschafft".

Ein weiterer Grund dafür war neben dem Unvermögen der Zuordnung durch bloßes Ansehen auch die Tatsache, daß diese Personengruppe auch noch trotz ihrer Abweichung von der Norm für gesellschaftliche Zwecke eingesetzt werden konnte. Sie war zwar anders aber immerhin kräftig (Lempp in: Neumann 1997, S. 13).

In diesem Zusammenhang beinhaltet der Begriff "Behinderung" zum einen das nicht erwerbsfähig Sein (durch körperliche Beeinträchtigung) und zum anderen das ungenügende Erfüllen gesellschaftlicher Anforderungen, welches sich auch auf das Erbringen von Leistungen beziehen kann.

Dieses Verständnis etablierte sich, als die "Betreuung" von behinderten und alten Menschen von der Familien- zu einer Gesellschaftsaufgabe geworden war. Entsprechende - meist kirchliche - Institutionen wurden eingerichtet, weil jene Personengruppe (z. B. geistig behinderte Menschen) infolge der Industrialisierung nicht mehr für Tätigkeiten auf dem Lande gebraucht werden konnten. Die Bedeutung bzw. den Wert eines Menschen machte man an dessen Brauchbarkeit (für die Allgemeinheit) fest.

Außerdem möchte ich an dieser Stelle die Bedeutung von Religion und Kirche hervorheben. Meist waren es nämlich kirchliche Einrichtungen, die sich der Betreuung behinderter Individuen annahmen (Lempp in: Neumann 1997, S. 13; Neumann 1997, S. 27).

Dies dürfte sich meiner Ansicht nach auf den kirchlichen Auftrag gründen, sich um notleidende und gebrechliche Mitmenschen im Sinne der Nächstenliebe zu kümmern. Behinderung wurde ja auch lange Zeit als "Strafe Gottes" oder zumindest als eine Folge schwerer Sünden betrachtet. Allein aus dieser Sichtweise "mußte" sich die Kirche ja schon um ihre armen "Schäfchen" kümmern.

Daraus ergibt sich für mich auch die große Bedeutung der Kirche, welche sich im Rahmen dieses Diskurses erkennen läßt.

Behinderung wurde aber nur dann als solche gesehen, wenn sie im Kindes-

oder besten Mannes- bzw. Frauenalter auftrat (Lempp in: Neumann 1997, S. 13,14). Die natürliche altersbedingte Abnahme von Leistungsfähigkeit wurde als "normal" betrachtet.

Das Blatt wandte sich jedoch, als Behinderung durch öffentliche Institutionen zwecks Pflegegeld-, Rentenerhalt,... festgestellt werden mußte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt haben behinderte und alte Menschen eine Gemeinsamkeit - nämlich die Klassifizierung als leistungsgemindert und somit als "normwidrig" als Voraussetzung für Hilfestellungen. Aufgrund des überaus großen Pflichtbewußtseins mancher Organisationen und Institutionen kam es mitunter dazu, daß der Behinderungsgrad von alten Menschen und kurioserweise auch die Erwerbsminderung in Prozenten bei Neugeborenen mit Trisomie 21 festgestellt wurde (Lempp in: Neumann 1997, S. 14).

Mit technischem Fortschritt und zunehmender Zivilisation gewannen intellektuelle Fähigkeiten mehr und mehr an Bedeutung (Lempp in: Neumann 1997, S. 14). Körperliche "Mängel" konnten nun durch intellektuelle Leistungen kompensiert werden, und so wandte sich das Blatt zugunsten körperbehinderter Menschen.

So kommt Reinhart Lempp zu dem Schluß:

"Die gesellschaftlichen Bedingungen bewirken Behinderungen, aber sie können sie auch vermeiden." (Lempp in: Neumann 1997, S. 16)

Die Definition, wer behindert ist bzw. was als behindert gilt, wird demzufolge durch die Gesellschaft und deren Normen bestimmt. Daher unterliegt die Definition der "Behinderung" einem ständigen Wandel, worauf ich später noch näher eingehen werde.

Auch Ulrich Bleidick weist auf die Abhängigkeit der Definition von Behinderung von gesellschaftlichen Komponenten hin, indem er schreibt:

"Behinderung hängt von den jeweiligen gesellschaftlichen Minimalvorstellungen hinsichtlich körperlicher Intaktheit, unauffälligem Verhalten und einem Mindestmaß von Leistung ab. Wer von diesem wandelbaren und im interkulturellen Vergleich sehr unterschiedlichen Standards abweicht, gilt als behindert." (Bleidick 1987, S. 51 in: Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 4)

Er spricht hier einige bestimmende Merkmale für die Bezeichnung "Behinderung" an. Zum einen erwähnt er die gesellschaftliche und kulturelle Dimension, die bestimmte Minimalvorstellungen in bezug auf körperliche Intaktheit, unauffälligem Verhalten und ein Mindestmaß an Leistung vorsieht. Jene Elemente spielen auch in den weiteren Erklärungen und im Umgang mit behinderten Menschen eine wichtige Rolle.

Meines Erachtens nach gründet sich jedoch das ganze Konstrukt auf eine äußerst instabile Basis, welche durch den gesellschaftlichen Wandel verändert werden kann.

Als Konsequenz aus den vorangegangenen Erläuterungen nennt Lempp drei unterschiedliche Ausgangspunkte zur Bestimmung von Behinderung.

Den ersten stellt die objektive Feststellung von Behinderung dar.

"Sie entspringt dem Bedürfnis der Gemeinschaft des Staates, nach Gleichbehandlung seiner Mitglieder, nach Gerechtigkeit." (Lempp in: Neumann 1997, S. 19)

Wenngleich auch Lempp Bedenken anmeldet, weil die Kompensierbarkeit - besonders bei geistig behinderten Personen durch ihre körperlichen Leistungen - nicht objektiv feststellbar sind, erscheint mir dieser Zugang schlichtweg als Ironie.

Diese Definition kann sich lediglich auf körperliche bzw. geistige "MÄNGEL" beziehen, die durch Institutionen und "Rituale" objektiviert werden sollen. Man braucht eine gemeinsame Basis, auf der man in weiterer Folge wiederum auf eine Normabweichung stößt. Allerdings geht man dabei - meiner Ansicht nach - von Defekten aus, indem man die Kompetenzen von Personen total ignoriert und unter den Tisch kehrt. Dadurch ergeben sich aber ohne Zweifel keine Gemeinsamkeiten und Gerechtigkeiten, sondern viel eher das Gegenteil, nämlich Mißachtung, Ignoranz und Diskriminierung.

Zudem stelle ich mir die Fragen, wie man die Vielfalt von Personen in ein Schema pressen kann. Welche Maßnahmen zur Objektivierung werden verwendet? Welche Person bzw. Institution hat das Recht, einen Menschen, der anders ist, zu klassifizieren?

Für mich scheint jene Feststellung äußerst menschenverachtend und relativ. Eine einmalige Person wird klassifiziert und kategorisiert. Aber zu welchem Zweck?

Scheinbar aus Gründen der Gleichheit und Gerechtigkeit, jedoch sehe ich darin allein den wirtschaftlichen Gedanken.

Man braucht eine Klassifikation, eine Einstufung, um sowohl finanzielle als auch materielle Unterstützung zu erhalten. Und meiner Meinung nach werden oft nur aus diesem Grunde objektive Feststellungen von Behinderung, die oft keine Menschenwürde kennt, vorgenommen. Außerdem schreibt eine immer differenziertere Klassifizierung Menschen in ihrem Lebenslauf fest.

Diese objektive Feststellung soll aber auch noch an anderer Stelle beleuchtet werden (vgl. 2.2. Zum Begriff der Sehbehinderung aus augenärztlicher Sicht).

Als zweite Bestimmungsgröße nennt Lempp die Beziehungsstörung als Maß der Behinderung. Der Mensch wird hier als Beziehungswesen verstanden.

"Behinderung hat etwas mit der zwischenmenschlichen Beziehung zu tun, welche durch die Behinderung gestört oder beeinträchtigt werden kann." (Lempp in: Neumann 1997, S. 17)

Lempp streicht hier heraus, daß eine Behinderung zwischenmenschliche Beziehungen beeinflußt - nämlich beeinträchtigt und stört. Demzufolge ist Behinderung eine Belastung für die Umwelt.

Außerdem führt er die Beziehungsbeeinträchtigung allein auf das "Defizit" der Behinderung zurück und geht auf die Bedeutung gesellschaftlicher Faktoren nicht ein.

Weiter schreibt er:

"Behinderung ist dann eine Beeinträchtigung seiner (des behinderten Menschen M. F.) Beziehungsfähigkeit, seiner sozialen Integration." (Lempp in: Neumann 1997, S. 19)

Aber auch hier muß ich kritisch hinterfragen, ob Behinderung tatsächlich die Beziehungsfähigkeit stört und warum?

Die Ursachen für die Beeinträchtigung der Beziehung werden an dieser Stelle der Behinderung - und somit der betroffenen Person - zugeschrieben, und die Bedeutung der Umwelt wird hierbei zur Gänze außer Acht gelassen.

Tatsächlich spielt Behinderung eine Rolle in sozialen Beziehungen. Diese werden aber nicht durch die Behinderung selbst negativ beeinflußt sondern durch den inadäquaten Umgang damit (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 91).

Meines Erachtens nach ist dieser jedoch gekennzeichnet von einem defizitorientierten Menschenbild, von Vorurteilen, Unwissenheit, einer großen Distanz und Angst zwischen nicht behinderten und behinderten Menschen, welche durch die Institutionalisierung zusätzlich verschärft wurde und immer noch wird.

Wichtige Faktoren stellen meiner Ansicht nach auch der Zeitpunkt des Eintretens der Behinderung, die Ursachen dafür und die Lebensgeschichte des Betreffenden dar.

In unserer Gesellschaft wird Behinderung leider oft immer noch als etwas Fremdes betrachtet, woraus logischerweise eine Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Beziehung resultiert. Man kann hier ohne weiteres sagen, daß es sich um eine selffulfilling prophecy (=eine sich selbst erfüllende Prophezeiung) handelt. Auch darauf soll an anderer Stelle noch näher eingegangen werden.

Wenn man Behinderung allein unter dem Gesichtspunkt der Beeinträchtigung zwischenmenschlicher Beziehungen sieht, so könnte auch dissoziales und kriminelles Verhalten als Behinderung bezeichnet werden (Lempp in: Neumann 1997, S. 19).

Vor allem die nicht funktionierende soziale Integration ist meines Erachtens nach auch ein Versäumnis der Gesellschaft und nicht die Folge der Behinderung. Daraus ergeben sich dann erst die genannten Beeinträchtigungen in der zwischenmenschlichen Beziehung.

Als dritte und letzte Größe zur Bestimmung von Behinderung führt Lempp die subjektive Erfahrung des eigenen Behindertseins an.

Sie wäre für ihn die einzig gerechte Definition von Behinderung, weil sie das eigene Erleben der Andersartigkeit, Insuffizienz und das damit verbundene eigene Einbezogen- oder Ausgeschlossensein in die Gemeinschaft inkludiert.

Hier kann ich ihm noch am ehesten zustimmen, jedoch spielt wiederum der Defekt eine zentrale Rolle. Besonders der Begriff Insuffizienz (=Unvermögen, Unzulänglichkeit, unzureichende Leistungsfähigkeit nach: Bertelsmann 1990, S. 293) ist ein deutlicher Hinweis darauf. Es gibt eine Norm, der entsprochen werden soll, und die auch wiederum von der Gesellschaft festgelegt wird. Jedoch meine ich, daß das subjektive Erleben eng mit der gesellschaftlichen Sichtweise zusammenhängt.

Ein bestimmender Inhalt kann im deutschen Schwerstbehindertengesetz entdeckt werden. Dieses enthält sowohl die Regelwidrigkeit wie auch die Minderung der Erwerbsfähigkeit. Als Folge der Zugehörigkeit zur oben genannten Personengruppe wird Unterstützung gewährleistet.

Diese Definition lautet nun:

"Als Behinderung wird daher jeder regelwidrige körperliche, geistige und seelische Zustand angesehen, der nicht nur vorübergehend besteht (d. h. länger als 6 Monate M. F.) und der zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit führt." (Haas in Neumann 1997, S. 126)

Zusammenfassend ist zu sagen, daß der normierende Behinderungsbegriff von der wirtschaftlichen Verwertbarkeit menschlicher Fähigkeiten geprägt ist. Dieser Zugang erschwert oftmals das menschliche und menschengerechte Verständnis (Lempp in: Neumann 1997, S. 8).

2.2. ZUM BEGRIFF DER SEHBEHINDERUNG AUS AUGENÄRZTLICHER SICHT

"Der Begriff der Sehbehinderung wird nicht einheitlich verwendet und auch von den gesetzlichen Bestimmungen nur teilweise erfaßt." (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 141)

So verwenden zahlreiche Autoren (Momrak Haugann in: horus 1/1984, S. 1; Zeller in: Barzen 1988, S. 80; Schultes 1998, S. 11) den Begriff Sehbehinderung bzw. Sehschädigung als einen Sammelbegriff, der sowohl Früh-, Späterblindete, Vollblinde, Blinde mit geringem Sehrest wie auch hochgradig Sehbehinderte und Sehbehinderte beinhaltet. Er umfaßt also ein äußerst breites Spektrum von Personen.

Die Gemeinsamkeit bei all dieser Verschiedenheit bildet die Beeinträchtigung des Auges, das seine Aufgabe nicht (mehr) in vollem Maße erfüllen kann. Durch eine genaue Funktionsdiagnose des Sehorgans können die unterschiedlichen Schweregrade der "Schädigung" klassifiziert werden. Richtlinien dafür gab die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft 1991 heraus, welche sich besonders gut für Gutachtertätigkeiten eignen.

Hierbei bleibt jedoch unberücksichtigt, wie sich die Sehbehinderung auf die Bewältigung alltäglicher Aufgaben auswirkt, und welche Voraussetzungen für Rehabilitationsmaßnahmen gegeben sind (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 141).

Eine noch umfassendere Beschreibung der Behinderung lieferte 1980 die Weltgesundheitsorganisation (WHO), woraus auch gezielte Rehabilitationsmaßnahmen abgeleitet werden können.

Jene Klassifikation basiert auf einem Dreistufenprinzip. Unter Behinderung wird hier verstanden:

"die sich aus dem Schaden (impairment) ergebende funktionelle Einschränkung (disability) und die darauf beruhende soziale Beeinträchtigung (handicap)" (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 1984, S. 193 nach Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 141)

"In dieser Klassifikation (...) wird versucht, die (langwierigen) Auswirkungen und Folgen einer Krankheit ... zu beschreiben und zu klassifizieren."(WHO 1980 nach: Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 141)

Impairment (= 1. Stufe M.F.) umfaßt die Ebene des organisch-funktionellen "Verlustes", d. h. es handelt sich um jeglichen Verlust, jede Abnormität, der psychologischen, physiologischen, anatomischen Struktur oder Funktion (Haas in: Neumann 1997, S. 125)

Kritisch muß ich dazu anmerken, daß diese erste Stufe der Klassifikation von Behinderung schon auf einem falschen Fundament basiert. Man spricht von Verlust und Abnormität, welche meines Erachtens nach in keinem Zusammenhang mit Behinderung gebracht werden sollen bzw. können. Grundlage dafür ist wiederum das Ausrichten an einer Norm, welches zu einem komplett falschen Bild von (behinderten) Menschen führt.

Kann jemand aus welchen Gründen auch immer den "Anforderungen" nicht entsprechen, so ergibt sich für ihn die "Diagnose eines Defizites", welche im Umgang mit ihm immer dominant sein wird.

Daraus resultiert, wie bereits erwähnt, ein falsches Bild von einer Person - von einem behinderten Menschen. Er wird als hilflos und abhängig gesehen, der nicht imstande ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Kurzum, ein behinderter Mensch ist demzufolge ein passiver Leidender (vgl. Hermes 1998, S. 18), der mit seinen "Verlusten" und seiner "Abnormität" leben muß.

Welche Sichtweise von einem Menschen wird hier kreiert?

"Unter disability (= 2. Stufe M. F.) wird jede Einschränkung oder das Fehlen einer üblichen Fähigkeit oder Fertigkeit des Menschen verstanden, die aufgrund einer "Schädigung" (impairment) entstanden ist" (Haas in: Neumann 1997, S. 125).

Dies betrifft also die Minderung von Fähigkeiten oder Fertigkeiten,

"... das Verhalten und komplexe Aktivitäten des Menschen, die als grundsätzlich im Alltagsleben betrachtet werden müssen." (Haas in: Neumann 1997, S. 125)

Auch diese Klassifikation orientiert sich wiederum an einer Norm, die aufgrund einer "Schädigung" nicht erfüllt werden kann. Dabei stellen sich für mich die Fragen: Welche Fähigkeiten oder Fertigkeiten als grundsätzlich im Alltagsleben zu betrachten sind? Wird dabei von eigenständiger Lebensführung, Erwerbsfähigkeit oder anderen gleichwertigen Faktoren gesprochen?

Es ist und bleibt eine heterogene Erscheinung, die auch nicht durch noch so strenge Normen klassifiziert werden kann.

Besonders interessant erscheint mir das dritte Element der WHO-Klassifikation. Der Begriff handicap bezeichnet eine Benachteiligung oder Beeinträchtigung im gesellschaftlichen Leben, die aufgrund einer "Schädigung" (impairment) und/oder "Unfähigkeit" (disability) entstanden ist (Haas in: Neumann 1997, S. 125).

Meiner Auffassung nach kommt diese soziale Benachteiligung aufgrund von bestimmten Eigenschaften der Menschen und gewissen Normen zustande. Sie betrifft also unmittelbar die Lebens- und sozialen Bedingungen der "Normabweicher". Besonders die soziale Ebene spielt im Falle einer Behinderung eine ganz bedeutsame Rolle.

Wie wird ein behinderter Mensch von seiner Umwelt gesehen und behandelt? Entsteht nicht erst durch die negativen Verhaltensweisen der Gesellschaft Benachteiligung und "produziert" auf diese Weise erst Behinderung? Ist Behinderung die "Abweichung" an sich oder kommt es vielmehr auf den Umgang mit der "Besonderheit" einer Person an? Ist ein behinderter Mensch überhaupt etwas Besonderes, oder wird er nur zu solchem gemacht?

Auf jene Fragen möchte ich unter anderem im nachfolgenden Abschnitt (2.3. Behinderung aus gesellschaftskritischer und konstruktivistischer Sicht) näher eingehen.

An dieser Stelle möchte ich mein Augenmerk besonders auf die WHO-Klassifikation von Sehbehinderung richten und mich dabei vor allem auf die Erläuterungen von Susanne Trauzettel-Klosinski beziehen. Diese ist aber so umfassend, daß sie in der Praxis wenig Verwendung findet.

2.2.1. Die Schädigung des Sehorgans (impairment)

Die Schädigung wird auf der Organ- bzw. Funktionsebene definiert.

d. h.: Welche "Schäden" sind vorhanden?

Welche Funktionen sind beeinträchtigt?

Welche Funktionen sind vollständig "gestört"?

a) Definition von Blindheit

Laut Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung von 1983 (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 142) gelten als blind jene Behinderte, denen das Augenlicht vollständig fehlt und auch jene, die sich in einer ihnen nicht vertrauten Umgebung ohne fremde Hilfe nicht zurechtfinden können.

Im allgemeinen ist das der Fall, wenn die Sehschärfe am besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt oder eine andere Störung vorliegt, die dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzusetzen ist (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 142).

Zu dieser Klassifikation gibt es zudem noch genaue medizinische Erläuterungen, die das Vorliegen der entsprechend geringen Sehschärfe bestätigen.

Maßstab für die Definition von Blindheit sind hier zum einen das vollständige Fehlen des Augenlichtes und zum anderen das sich nicht ausreichend Zurechtfindenkönnen ohne fremde Hilfe in einem nicht vertrauten Gebiet.

Ärzte sollen also hier etwas beurteilen, was sie nicht beurteilen können, nämlich, wie sich ein Mensch in einer fremden Umgebung zurechtfindet - bzw. zurechtfinden soll (Paul 1986, S. 7).

Es geht dabei um die Möglichkeiten der Orientierung von blinden Menschen. Diese sind aber derart vielfältig, daß sie nicht so einfach beurteilt werden können - vor allem auf keinem Fall im Rahmen einer augenärztlichen Untersuchung in einer Praxis.

Aufgrund dessen scheint auch mir, daß dieser Faktor, als alleiniger Maßstab zur Beschreibung von Blindheit nicht adäquat ist und kritisch hinterfragt werden müßte.

b) Definition der Sehbehinderung

Trauzettel-Klosinski bezieht sich hierbei auf die Definition der Empfehlungen zur pädagogischen Förderung behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates 1973 (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 144).

"Als sehbehindert gilt, wer trotz Korrektur normale Sehfunktionswerte nicht erreicht."

Man unterscheidet zwischen:

  • Sehbehinderten: Sehschärfe in der Ferne und/oder Nähe auf 1/3 bis 1/20 herabgesetzt oder mit Gesichtsfeldausfall mit entsprechenden Schweregrad und

  • hochgradig Sehbehinderten: Herabsetzung der Sehschärfe der Norm auf 1/20-1/50

Auch Menschen mit schwer bzw. nicht meßbaren Beeinträchtigungen des Auges (z. B. hohe Blendungsempfindlichkeit) zählt man zum Personenkreis der Sehbehinderten.

Die genannte Einteilung von Sehbehinderten soll nur zur Orientierung bei Abgrenzungen dienen.

Für mich stellt sich aber dennoch die Frage, wie man die noch vorhandene Sehschärfe so genau feststellen kann.

Im Rahmen eines einmaligen Arztbesuches kann dies keinesfalls geschehen, auch wenn es für die Untersuchung und die Zuordnung von Ergebnissen genaue Richtlinien gibt.

Momrak Haugann erwähnt in ihrem Referat einen Aspekt, der mir in diesem Zusammenhang auch sehr wichtig erscheint.

"...andererseits fällt der Sehschwache zwischen zwei Stühle, er sieht und er sieht nicht, und es ist schwer für ihn selbst sowie auch für andere zu verstehen, warum er in der einen Situation gut funktioniert, während er in anderen Umgebungen, unter anderen Lichtverhältnissen, zu anderen Tageszeiten es überhaupt nicht schafft." (Momrak Haugann in: horus 1/1984, S. 1)

Sie bringt es auf den Punkt. Das Sehvermögen ist von zahlreichen Faktoren abhängig und beeinflußbar. Allein schon die unterschiedlichsten Lichtverhältnisse, Tageszeiten, das Wetter (z. B. bei Regen spiegelt das Wasser besonders im Dunklen; Sonne blendet,...), wie auch die psychische und physische Verfassung machen das Sehvermögen variabel.

Eine wichtige Rolle spielen auch starke Kontraste und die Bekanntheit der Umgebung.

Hier frage ich mich sehr wohl, wie all diese Faktoren durch eine oder auch mehrere Untersuchungen in einer "sterilen" Arztpraxis berücksichtigt werden sollen?

Im deutschen Bundessozialhilfegesetz § 47 Eingliederungshilfeverordnung (1975) werden sehbehinderte und hochgradig sehbehinderte als wesentliche Sehbehinderungen zusammengefaßt. Darin heißt es, daß bei körperlich wesentlich behinderten Personen infolge einer körperlichen Regelwidrigkeit die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt wird (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 144).

Auch Bleidick vertritt diese Auffassung, wenn er im Zusammenhang mit Behinderung allgemein definiert:

"Als behindert gelten Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen so weit beeinträchtigt sind, daß ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden." (Bleidick 1987, S. 52 nach: Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 4)

Die Ursache für die erschwerte Eingliederung, die Teilnahme am Leben der Gesellschaft sowie die unmittelbaren Lebensverrichtungen ist hier die Regelwidrigkeit - also wiederum die Abweichung von der Norm - der Defekt. Jedoch auf die Bedingungen in der Gesellschaft, die die Eingliederung so schwer machen, scheint man hier wohl absolut vergessen zu haben.

Zudem würde mich interessieren, welche Aufgaben oder Tätigkeiten zu den unmittelbaren Lebensverrichtungen zählen.

Auch das "Problem" hochgradige Sehbehinderung wird in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit (1983) gesondert erläutert.

Jenen Personen wird zwar noch zugestanden, sich in fremder Umgebung ohne Führung und ohne besondere Hilfe ausreichend zu bewegen, aber sie sind (leider M. F.) wirtschaftlich nicht verwertbar (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 145).

Zum einen frage ich mich hier, was unter "sich ausreichend bewegen können" zu verstehen ist. Auch ein Blinder beispielsweise könnte sich im Extremfall ohne Führung und ohne besondere Hilfe - jedoch etwas mühevoll - in einer ihm nicht bekannten Umgebung bewegen.

Dies kann also nicht die einzige Bestimmungsgröße für hochgradige Sehbehinderung sein.

Zum anderen muß ich auch an dieser Stelle mit Erschrecken feststellen, daß wiederum die wirtschaftliche Verwertbarkeit im Zentrum steht. Wann ist jemand wirtschaftlich verwertbar? In diesem Sinne kann er dies nur sein, wenn er ohne "Makel" ist.

Wie kommt man eigentlich dazu, ein hochgradig sehbehinderter - es kann aber auch auf anderen Gebieten ein gelähmter, gehörloser,... Mensch sein - wäre wirtschaftlich nicht rentabel? Dies ist ein weitverbreitetes Vorurteil, welches davon ausgeht, ein behinderter Mensch wäre nicht leistungsfähig bzw. nicht so leistungsfähig wie ein "Normaler". Dieses ist jedoch nicht begründet (Hermes 1998, S. 18).

Auch wenn eine blinde Person bestimmte Tätigkeiten auf eine andere Art und Weise durchführt, kann sie ebenso zuverlässig und leistungsfähig wie eine "sehende" Person sein. Natürlich kann sie aber aufgrund des Fehlens ihrer vollständigen visuellen Fähigkeiten gewisse Dinge kaum oder nicht ausreichend bewältigen.

Es geht - wie schon öfter erwähnt - immer wieder um die Leistung und Wirtschaftlichkeit. Spricht man hier überhaupt noch von einem Menschen? Mich läßt diese Ausdrucksweise eher an ein Tier, ein Arbeitstier oder an eine Maschine aber keinesfalls an einen Menschen denken.

Im allgemeinen ist diese erste Stufe der Klassifikation geprägt von einer Defizitorientiertheit, läßt soziale Faktoren (vgl. z. B. Eingliederungshilfeverordnung oder genannte Definition von Bleidick) total unter den Tisch fallen. Es handelt sich um eine medizinische, um eine starre Einteilung und Zuordnung, die oft keine Menschenwürde mehr kennt.

Abschließend möchte ich noch die Frage stellen, wem die genaue Diagnose der Sehbehinderung dient? Primär ist sie notwendig - so glaube ich -, um bestimmte Hilfen und Unterstützungen finanzieller wie materieller Art in Anspruch nehmen zu können.

Diese genaue Klassifizierung kann aber auch - wie bereits erwähnt - die "Karriere" des Betreffenden einschränken und seinen Werdegang festlegen, weil dieser aufgrund seiner "Schädigung" gewisse Dinge nicht kann/können darf. Die Diagnose entscheidet somit über die Zukunft der betreffenden Person und grenzt Möglichkeiten aus, die nicht zum erwarteten Bild des "Behinderten" passen.

2.2.2. Die Bedeutung der Schädigung für die Einschränkung von Fähigkeiten des Sehbehinderten (disability)

Impairment gibt die Art und das Ausmaß der Funktionsstörung an (vgl. Gutachten, Klassifikation,...).

Durch die erkannte Schädigung und Klassifizierung sollen nun die daraus resultierenden Auswirkungen für die Bewältigung der Aufgaben des täglichen Lebens (=disability) abgeleitet werden.

Trauzettel-Klosinski nennt hier zwei Hauptaufgaben des visuellen Systems:

  1. die Orientierung im freien Raum, die durch das periphere Gesichtsfeld ermöglicht wird, und

  2. die Lesefähigkeit, die durch ein intaktes zentrales Gesichtsfeld gewährleistet wird. (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 145).

Gerade an diesen beiden Punkten setzen Rehabilitationsmaßnahmen an. Jedoch sollten auch andere hier nicht genannte Aufgaben des Sehsinnes (wie z. B. das visuelle Erkennen von Personen, Gegenständen,...) berücksichtigt werden.

Durch ein Mobilitätstraining, welches unter anderem die Orientierungsfähigkeit mit Hilfe verschiedener Techniken verbessert und Übungen sowie durch den Einsatz unterschiedlicher Hilfsmittel (vergrößernde Sehhilfen wie Lupen, Brillen, Bildschirmlesegeräte, Fernrohre,...) können diese Einschränkungen zum Teil erheblich reduziert und ausgeglichen werden.

Die Einschränkung durch die Sehbehinderung wird beim Einsatz solcher Hilfsmittel und Maßnahmen zwar nicht beseitigt aber bedeutend verringert.

2.2.3. Die Beeinträchtigung durch die Behinderung (handicap)

"Diese Beeinträchtigungen beziehen sich auf die Benachteiligungen, die ein Individuum aufgrund seiner Behinderung und Unfähigkeiten erlebt. Sie beziehen sich also auf die Interaktion zwischen dem Behinderten und seinem sozialen Umfeld." (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 146)

Diese Klassifikation spricht zwar das soziale Umfeld und die Interaktion an, die Beeinträchtigung basiert aber wiederum auf der Schädigung des Individuums und nicht auf dem Umgang der Gesellschaft damit, der meiner Ansicht nach der Urheber der Benachteiligung ist. Darauf soll aber noch ausführlicher im nachfolgenden Abschnitt eingegangen werden.

Der WHO-Klassifikation von Beeinträchtigung durch Behinderung ist eine markante Aussage von Helen Keller gegenüberzustellen. Sie schreibt:

"Nicht Blindheit, sondern die Einstellung Sehender zu Blinden ist die schwerste Bürde, die zu tragen ist." (Keller nach Löwenfeld 1975, S. 242 in: Kern 1995, S. 8)

Der Auslöser für die oft schwierige Situation wird hier in der Einstellung sehender Menschen gegenüber blinden gesehen. Diese Einstellungen, Bilder, vorgefertigten und unreflektierten Klischees trüben die Beziehung zwischen jenen Personengruppen gewaltig. Schon davon kann ihre enorme Bedeutung abgeleitet werden.

Dennoch wirkt sich die Behinderung - je nach Schweregrad - im folgenden Bereichen aus (Trauzettel-Klosinski in: Neumann 1997, S. 146):

  • beruflich: Blinde und sehbehinderte Personen sind in ihrer Berufswahl eingeschränkt; vor allem, wenn die berufliche Tätigkeit gute visuelle Fähigkeiten voraussetzt, ist es dieser Personengruppe unmöglich, diese auszuüben;

Die Situation hat sich aber durch die große Anzahl elektronischer Hilfsmittel erheblich verbessert.

  • schulisch: Trauzettel-Klosinski spricht die Unterbringung in Sonderschulen an, die bei manchen - meist hochgradig sehbehinderten Schülern - angeblich unausweichlich ist. Dem kann ich ganz und gar nicht zustimmen, denn meines Erachtens nach mißt sie mit zweierlei Maßen. Im Beruf führen ihrer Meinung nach Hilfsmittel zur Erleichterung und Verbesserung der Situation. Warum sollte dies nicht genauso in der Schule funktionieren?

  • psychisch: Sie spricht von einem instabilen Selbstwertgefühl von Blinden und Sehbehinderten, das durch die Hilflosigkeit und Abhängigkeit verursacht wird. Auch dieser Aussage muß ich entschieden widersprechen, weil es sich dabei um ein Vorurteil (nach Hermes 1998, S. 18) handelt, das nicht der Realität entspricht. Hier herrscht ein falsches Bild vor - nämlich das des passiven Leidenden.

So kann dies auch auf jeden anderen Menschen - nicht ausschließlich auf blinde und sehbehinderte - übertragen werden. Außerdem möchte ich noch darauf hinweisen, daß das Bild, das sich nicht behinderte von einem behinderten Menschen machen, auch zu einer Internalisierung des Betroffenen führen kann. Es wirkt dann wieder wie eine selffulfilling prophecy.

  • Freizeit: Trauzettel-Klosinski erwähnt, daß Blinde und Sehbehinderte aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigung Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme hätten. Natürlich können sie sich nicht im vollen Maße auf ihre Augen verlassen, aber meiner Meinung und Erfahrung nach haben sie noch viele andere Möglichkeiten, um Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen.

Im Hintergrund ihrer Aussage steht ein vorgefertigtes falsches Bild von blinden und sehbehinderten Menschen, das generalisierend wirkt und nicht der Realität entspricht. Deshalb kann ich ihr in diesem Falle nicht zustimmen. Manche Freizeitangebote können jene Menschen sicherlich aufgrund ihres Sehvermögens nicht nützen, es gibt aber zahlreiche andere Aktivitäten, die sie auf ihre Weise genauso ausüben können.

Rückblickend muß auch bei der WHO-Klassifikation und den dazu gehörigen Erläuterungen festgestellt werden, daß sie eindeutig defektorientiert und biologisch determiniert ist. Behinderung an sich wird als Ursache für Beeinträchtigung und von sozialer Benachteiligung gesehen, wobei die Bedeutung der Gesellschaft weitestgehend unberücksichtigt bleibt.

Zudem ist die Diagnose rein medizinisch und starr.

Trauzettel-Klosinski geht im weiteren noch auf die Bedeutung der dreistufigen Klassifikation für die Rehabilitation ein, worauf ich aber in dieser Arbeit verzichten werde.

Als wesentlichen Inhalt des vorhin Erwähnten möchte ich nun anführen:

"Der medizinisch orientierte Behinderungsbegriff meint die Primärbehinderung, die Funktionsstörung, also z. B. den Sprachfehler, den Hörschaden oder die Sehschädigung. Eine Sekundärbehinderung ergibt sich als Folge einer Primärbehinderung durch Beeinträchtigungen, die aufgrund menschlicher und sachlicher Umweltbedingungen auftreten." (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 4)

Dieses Zitat soll also im Sinne einer Zusammenfassung des vorangegangenen verstanden werden, wobei auf die Relevanz der Umweltbedingungen bezug genommen wird.

Ich jedoch würde die Sachlage noch etwas differenzierter betrachten, denn beispielsweise das Fehlen des Augenlichtes sehe ich noch nicht als Behinderung (Primärbehinderung, impairment). Es ist ein "besonderes" Merkmal, jedoch führen erst die ungünstigen Umweltbedingungen zur Behinderung (=Sekundärbehinderung, handicap). Darauf soll nun im folgenden etwas näher eingegangen werden.

2.3. BEHINDERUNG AUS GESELLSCHAFTSKRITISCHER UND KONSTRUKTIVISTISCHER SICHT

In den vorangegangenen Abschnitten habe ich versucht, zwei Sichtweisen von Behinderung - nämlich die anthropologische und medizinische - darzustellen. Immer wieder wies ich auf die Bedeutung der Gesellschaft hin - sei es in Bezug auf Normen, die von ihr geschaffen werden oder auf die Benachteiligung, die sich aufgrund von Behinderung ergibt.

In konstruktivistischen Betrachtungsweisen spielt die Gesellschaft eine zentrale Rolle, die ich im folgenden zu erläutern versuche. Es geht hier nicht um die Darstellung von biologisch-physiologischen Auslösern, die als Behinderung gelten, sondern vielmehr soll das Augenmerk auf gesellschaftliche Vorgänge und Verhaltensweisen gerichtet werden, die bei der Konstituierung von Behinderung wirksam sind (Neumann 1997, S. 21). Neumann verweist darauf, daß die Bezeichnung, ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen sei behindert, nicht nur eine Aussage über den defizitären Zustand der oben genannten sondern ein von gesellschaftlichen Zuständen und Befindlichkeiten abhängiges Konstrukt ist.

"Sein Inhalt (von Behinderung M. F.), seine Bedeutung sind ebenso, wie die Wertung und Bewertung, dem Wechsel gesellschaftlicher Bedürfnisse und Erwartungen unterworfen ..." (Neumann 1997, S. 21)

Die Bedeutung der Gesellschaft in Bezug auf Normen streicht auch Peter Radtke heraus. Er schreibt, daß Normen nicht konstant und gleichbleibend sind, sondern sich im Laufe der Zeit verändern und von der Gesellschaft bestimmt werden. Weiter sagt er, daß "normal" nicht unbedingt das ist, was der Mehrheit entspricht, sondern das, was die Gesellschaft sehen will und was ihr bekannt ist. Fremdes führt im allgemeinen zu Angst. (Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 113)

Schon aus anthropologischer Sicht wurde darauf hingewiesen, daß das nicht erwerbsfähig Sein, das ungenügende Erfüllen gesellschaftlicher Anforderungen als "behindert" gilt (Lempp in: Neumann 1997, S. 14).

Auch Neumann selbst spricht diese Problematik an. Maßstäbe für Normalität werden festgelegt. Das Maß aller Dinge ist der (vermeintlich) "normale" Mensch, der es vermag, der Norm entsprechend zu leben.

"Wer die gesellschaftlich geforderte Leistung nicht zu erbringen im Stande ist, ist entweder krank oder behindert." (Neumann 1997, S. 29)

Allein an diesen Aussagen ist die Relativität von Normen erkennbar, welchen große Bedeutung im Zusammenhang mit Behinderung zukommt.

Sie unterliegen zum einen dem Wandel der Zeit, zum anderen den gesellschaftlichen Veränderungen, Erwartungen, Bedürfnissen, Wertungen und Bewertungen. Natürlich spielt auch die Kultur mit hinein.

Daraus ergibt sich ein Gemisch aus vielen verschiedenen Faktoren, die den Begriff "Behinderung" konstruieren. Es ist keiner, der global und zeitüberdauernd unveränderlich ist. Nein, nicht einmal innerhalb ein und desselben Kulturkreises kann man von einem einheitlichen unmißverständlichen Begriff ausgehen.

Neumann weist darauf hin, daß Behinderung oft synonym mit chronischer Krankheit verwendet wird, weil analytisch nur schwer eine Grenze zwischen den beiden gezogen werden kann. Warum dies der Fall ist, kann ich in dieser Arbeit nicht näher ausführen, weil dies sowohl den zeitlichen wie auch den inhaltlichen Rahmen sprengen würde.

Es soll nur soviel gesagt werden, daß bei Neumann die Begriffe chronisch kranke und behinderte Menschen austauschbar sind.

Behinderung, Krankheit und Gesundheit werden insofern in Verbindung miteinander gebracht bzw. gegenübergestellt, daß Krankheit und Behinderung der Gesundheit konträr gegenüberstehen. Gesunde Menschen sind leistungsfähig und entsprechen in den meisten - zumindest in den auffallendsten Bereichen - der gesellschaftlichen Norm. Behinderung und Krankheit werden als Leiden verstanden, die eine biologische oder psychologische Fehlleistung als Ursache bzw. als Wirkung haben (Neumann 1997, S. 23; Hermes 1998, S. 18).

Man könnte hiervon wiederum ableiten, daß "Behinderung" als Tatsache kausal mit den daraus resultierenden Folgen zusammenhängt, wie es aus anthropologischer und medizinischer Perspektive auch gehandhabt wird. Aus konstruktivistischer Sicht stellt sich die Situation jedoch völlig anders dar, weil der Gesellschaft eine große Bedeutung zugemessen wird.

Dennoch bleibt die Tatsache vorhanden, daß wir uns aufgrund unserer Denk- und Kulturtradition dem Phänomen Behinderung offenbar nicht sachlich und menschlich gerecht nähern können, weil wir immer von einer Norm ausgehen und Behinderung als Abweichung davon und als Unfähigkeit bezeichnen (müssen M. F.) (Neumann 1997, S. 25).

Infolgedessen wird ein behinderter Mensch immer als fremd und andersartig betrachtet. Schließlich ist er ja anders, reagiert anders und handelt anders als die Umwelt es tut. Er entspricht nicht den gesellschaftlichen Erwartungen, die auch von Illusionen geprägt sind.

Wie man es auch immer dreht und wendet, die Norm, welche von der Gesellschaft gestaltet und festgelegt wird, ist Bestimmungsgröße bei der Entscheidung über "Normalität" oder "Abnormität".

Auch Achinger erwähnt ein Faktum, das in bezug auf Behinderung eine bedeutende Rolle spielt.

"Jede Gesellschaft neigt aus soziologischer Sicht dazu, alles andersartige abzuwerten und sich davon bedroht zu fühlen." (Achinger 1972, S. 87 nach Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 6)

Behinderte Personen werden auch als Fremde, als Andersartige betrachtet. Nicht behinderte Menschen fühlen sich von ihnen bedroht und werten sie immer noch ab, denn diese gefährden die gesellschaftlichen Normen. Vor allem dann, wenn behinderte Leute selbstbestimmt und - je nach Möglichkeit - selbständig leben wollen. Sie stellen sich durch ihr nicht behindertentypisches Dasein in einer Weise auf dieselbe Stufe wie "Normale" und könnten somit die gesellschaftlichen Normen ins Wanken bringen (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 7; Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 111). Daraus folgen auch die noch immer stattfindenden Separierungsbestrebungen von behinderten Menschen, welche in spezielle Heime und Institutionen gesteckt werden. Diese Tendenz ist sowohl als Ursache als auch als Wirkung zu verstehen. "Andersartige" werden mehr oder weniger dem Blickfeld des öffentlichen Lebens entzogen (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 6), um die Bedrohung aus der Welt zu schaffen. Sie werden also abgewertet.

Die Zugehörigkeit zu der Personengruppe der Behinderten bestimmten zuvor die Familie und das Dorf, wobei allmählich der Religion eine beachtliche Bedeutung zukam. Aber seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde dies eine Angelegenheit für Experten. Sie ordneten zu, klassifizierten mit Hilfe "objektiver" Methoden und bestimmten so, wer als behindert zu gelten hat und um welchen Schweregrad es sich handelt (Neumann 1997, S. 29).

Darauf wurde bereits im Punkt 2.2. (Sehbehinderung aus augenärztlicher Sicht) eingegangen.

Auffallend merkt Neumann in diesem Zusammenhang an, daß trotz Fortschritts in der Medizin, Therapie und Eugenik die Zahl der behinderten Menschen konstant geblieben ist (Neumann 1997, S. 29).

Meines Erachtens nach ist diese Tendenz ein deutliches Zeichen dafür, daß "Behinderung" immer noch mit Normabweichung in Verbindung gebracht wird. Die Anforderungen an ein Individuum wachsen ständig, aber diesem Ideal können nicht alle nachkommen. Galt früher beispielsweise jemand als lernschwach, so könnte dieser heute vielleicht als lernbehindert bezeichnet werden.

Mir scheint, daß "Schwächen" oft gezwungenermaßen unbedingt einer Klassifikation (z. B. von Behinderung) zugeordnet werden müssen, um die "Abnormität" irgendwie doch erklären zu können.

So kann meiner Auffassung nach ein gewisses "Pensum" an Behinderten ohne große Mühe gehalten werden - und zwar vor allem durch die Hilfe von "Experten" und Institutionen. Im Extremfall - oder vielleicht ist es ja sogar der Normalfall - verläuft es so, wie Neumann es beschreibt.

"Sie alle zusammen zeigen und sagen in einem Bündel von Argumenten und Handlungen dem Individuum, was es über sich denken, wie es sich verhalten soll. Durch "wissenschaftlich" begründete Fürsorge bestimmen sie die Identität des behinderten Menschen. Sie legen fest, was das Individuum kann und was es nicht darf, weil es dieses angeblich nicht vermag. Sie sagen dem Körperbehinderten, daß er nicht Sport treiben, dem Blinden, daß er nicht Skilaufen, dem geistig Behinderten, daß er keine "normale" Arbeit machen kann." (Neumann 1997, S. 36)

Auf diese Weise wird ein behinderter Mensch kreiert und seine Person bestimmt. Schlußendlich führt diese Technik dann zu dem, wie es Peter Radtke beschreibt:

"Behinderte Menschen haben so zu sein, wie sie sich die nicht behinderte Umwelt vorstellt. Nur dann haben sie eine Chance im Leben, einigermaßen unbeschadet davonzukommen." (Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 111)

Ja, es gibt laut Ernst Klee sogar ein "ideales Musterkrüppelchen", das lieb, dankbar, ein bißchen doof und leicht zu verwalten ist (nach: Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 111).

Dieses "Idealbild" zu erfüllen, ist besonders für jene behinderten Menschen überlebensnotwendig, die auf fremde Hilfe angewiesen sind. Aber wenn man bedenkt, daß ein Großteil von geistig behinderten Individuen (Lauschmann in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 94) in Großeinrichtungen lebt - manche sprechen sogar von 90% -, und damit zu dem Kreise der von Hilfe Abhängigen gehört, betrifft dies eine sehr große Anzahl der oben genannten Personen.

Eine Ebene des Zugangs zu Behinderung ist somit jener der Experten. Die andere ist eine, die Jansen bereits 1977 so beschrieb, daß die besondere Situation von Behinderten erst in der Wechselbeziehung zwischen dem Behinderten und der Gesellschaft zum Ausdruck kommt (Jansen 1977, S. 19 nach: Neumann 1997, S. 31). Dabei spielt also die soziale Dimension - nämlich die wechselseitige Beziehung zwischen behinderten und nicht behinderten Personen - eine zentrale Rolle.

Bei den näheren Erläuterungen dieser Sichtweise werde ich mich vorwiegend auf die Ausführungen von Renate Walthes beziehen. Sie geht von der Konstruktion von Behinderung aus, welche sie am Beispiel der Tübinger Untersuchung zur Situation von Familien mit einem sehgeschädigten Kind konkretisiert und belegt.

Zu Beginn erwähnt Walthes einen fiktiven Dialog zwischen Gregory Bateson und seiner Tochter, die von ihm wissen will, was Behinderung ist. Er antwortet, es sei ein Erklärungsprinzip, und nach der Frage der Tochter, was denn dies sein solle, erwidert er - für viele wahrscheinlich zur Verwunderung:

"... Alles was man damit erklären will. Behinderung ist ein Erklärungsprinzip für Situationen, in denen die Verständigung der Personen nicht so verläuft wie gewünscht oder erwartet und dieses Mißgeschick der Verständigung (nicht nur verbale Kommunikation sondern auch Handlungen nach Walthes) einer Person ursächlich zugeschrieben wird, die vielleicht deutlich anders ist als die meisten, indem man sagt, sie sei behindert." (Walthes in: Neumann 1997, S. 89, 90)

Bateson spricht zum einen die Verständigung von Personen an, die an bestimmte Wünsche und Erwartungen gekoppelt sind. Wenn man diese aus irgendeinem Grund - weil die betreffende Person anders ist - nicht erfüllen kann, so wird das (das Anderssein) als Ursache für Verständigungsschwierigkeiten "erwählt" und das Individuum als behindert bezeichnet, weil man eine Erklärung benötigt.

Es wird klar, daß das eigentliche Problem nicht beim Verständigungsproblem (verursacht durch Behinderung) sondern bei der Suche nach Gründen, nach Ursachen dafür liegt.

Behinderung ist demnach eine willkürlich erdachte "Größe", die es vermag, alles zu erklären und die Schuld der Behinderung oder der behinderten Person zuzuweisen. Sie ist also nicht schon gegeben, sondern wird konstruiert.

Auch Erving Goffman vertritt diese Auffassung, wenn er feststellt, daß Personen bei Betrachtung anderer das entdecken, was sie sehen wollen (Goffman 1996, S. 57). Im Grunde handelt es sich dabei um eine schon vorgefertigte Vorstellung, die dann nur noch durch die Betrachtung bestätigt werden soll und als Erklärung für das bereits Erdachte dient.

Konstruktivistische Theorien sehen außerdem zwischen Erkennen und Realität eine Relation. Das Erkannte ist vom Erkennenden abhängig (v. Foerster 1988; v. Glasersfeld 1988; Varela 1992 nach: Walthes in: Neumann 1997, S. 90).

Der Bezug zur Welt wird als aktiver Gestaltungsprozeß des Individuums verstanden. Beschreibungen der Wirklichkeit sind also subjektiv, gesellschaftlich und kulturell vermittelte Konstruktionen (Walthes in: Neumann 1997, S. 90). Elemente der Wirklichkeitskonstruktion sind Beobachten, Wahrnehmen, Erkennen, Erfahren und Handeln (Walthes in: Neumann 1997, S. 90).

D. h.: Wenn man die Welt beobachtet, so selektiert man die Fülle an Reizen. Man nimmt also nicht die "objektive" Welt wahr, sondern gestaltet diese Wahrnehmung auf seine Art, welche von Kultur, der Gesellschaft, persönlichem Hintergrund und Erfahrungen "gefärbt" ist. Man kann also die Welt gar nicht "neutral" betrachten, weil man sich immer sein eigenes subjektives Bild der Welt konstruiert. Dabei werden Unterscheidungen vorgenommen und persönliche Schwerpunkte gesetzt, indem man Dinge einschließt aber gleichzeitig andere ausschließt (Walthes in: Neumann 1997, S. 90).

Luhmann geht darauf ein, daß ein Beobachter nur das sieht, auf was er sich konzentriert. Das andere, das das Beobachtungsobjekt umgibt, kann er gar nicht wahrnehmen bzw. setzt er als gegeben voraus. Er sieht das nicht, was er nicht sieht (Luhmann 1992, S. 95 nach: Walthes in: Neumann 1997, S. 90).

Demzufolge besteht eine enge Relation zwischen dem Beobachter und dem Beobachtetem. Es werden Elemente ausgeschlossen, um andere erst wahrnehmen zu können. Jedoch eine Erfassung des Ganzen wird es aufgrund der Selektion niemals geben.

Außerdem muß das, was man sieht, nicht das sein, was zu sehen ist, denn der Beobachter ist aktiver Gestalter und Konstrukteur. Übertragen auf Behinderung macht die Beschreibung "... X ist behindert" oder "X hat eine Behinderung" keine Aussage über die Person, die so gekennzeichnet wird, sondern über den Beschreiber, den Beobachter und seine Art, Unterscheidungen zu treffen." (Walthes in: Neumann 1997, S. 90)

Inhaltlich gleichzusetzen ist dem auch folgende von Georg Feuser gemachte Aussage:

"Wenn ich einem "behinderten" Menschen begegne, ihn anschaue und denke, wie er denn sein könnte, beschreibe ich mich selbst - meine Wahrnehmung des anderen. Ob ich die daraus entstehende Chance nutze, mich selbst zu erkennen, steht auf einem anderen Blatt...!" (Feuser im: bidok 1999)

In dieser Weise hat also der Betrachter eine bestimmende Funktion, die nicht nur Behinderung sondern sämtliche Erscheinungen des Lebens betrifft.

Aus konstruktivistischer Perspektive wird zum Beispiel eine blinde Person noch nicht als behindert bezeichnet. Sie bringt lediglich spezifische Bedingungen in den Kommunikationsprozeß (=Auseinandersetzungsprozeß) mit der Umwelt ein. Sicher, sie fällt auf, weil sie das Spektrum des Gewohnten überschreitet.

Dennoch ist Blindheit an sich keine Behinderung. Sie wirkt erst dann behindernd, wenn die Bedingungen aller Beteiligten nicht zueinander passen. Für einen Menschen jener Behinderungsgruppe ist seine Welt in bester Ordnung, wenn er sich z. B. in bekannter Umgebung orientieren oder Bücher - mit seiner Technik - lesen kann. Es wird dann schwierig, wenn die Bedingungen für ihn nicht adaptiert und somit inakzeptabel sind.

Behinderung entfaltet sich in der konkreten Beziehungswirklichkeit, in der sozialen Situation und ist daher als Prozeß zu sehen. Sie ist eine veränderliche Größe.

"Behinderung wird in diesem Zusammenhang nicht als Eigenschaft einer Person verstanden. Es ist nicht die Verschiedenheit einer Person, sondern der Umgang mit Verschiedenheit, der zur Benachteiligung dieser Person führt, der hier als Behinderung begriffen wird." (Walthes in: Neumann 1997, S. 91)

Als konkretes Beispiel dafür möchte ich das folgende anführen. Wenn ich mich in Gesellschaft von mir gut bekannten Menschen aufhalte, die auch von meiner Sehbehinderung wissen, wird diese in den meisten Fällen als gegeben angenommen und nicht weiter zum belastenden Thema gemacht. Mitunter werden sehr wohl Gespräche über die Auswirkungen und das Ausmaß meiner "Besonderheit" geführt, jene haben aber mehr einen informativen und keinesfalls einen negativen Charakter. Diese Personen wissen, wo ich meine "Probleme" habe, gehen aber damit ganz natürlich um und unterstützen mich in deren Bewältigung. Ich werde von ihnen als "normale" Person verstanden, die das "Merkmal Sehbehinderung" als eines von vielen anderen besitzt. Diese stellt im Umgang miteinander aber keine bzw. nur gegebenenfalls eine Schwierigkeit dar, weil in jenen Fällen die Bedingungen einfach passen.

Andererseits kommt es aber desöfteren zu "unglücklichen Mißverständnissen" und Pannen, wenn man sich im Kreise "Unwissender" aufhält. Da kann es schon zu Situationen kommen, die sich als belastend hervortun. Die Probleme entstehen dann, wenn die Bedingungen nicht gegeben sind, wenn man unter Druck seine "Besonderheit" kundtun muß, um die Dynamik der Gruppe nicht ins Wanken zu bringen.

Gleichzeitig möchte ich auch darauf hinweisen, daß bei alltäglichen Problemen die Ursache dafür nicht bei der Behinderung selbst sondern viel mehr an den nicht passenden Bedingungen liegt. Beispielsweise gibt es Hürden in Ämtern, Geschäften,..., wo die Beschriftung oft sehr schwer zu lesen ist oder keine Rampen für Rollstuhlfahrer vorhanden sind. Ähnliches gilt auch für Baustellen, wo oft ein wahrer und gefährlicher Hürdenlauf zu absolvieren ist.

Demzufolge sehe ich die ungünstigen Bedingungen des Umfeldes als einen ganz bedeutsamen Faktor, die Behinderung erst in der konkreten Situation entstehen lassen.

Auch Vorurteile, vorgefaßte Bilder und Antizipationen stellen einen erheblichen Anteil im Umgang mit Behinderung dar. Sie prägen die Wahrnehmung maßgeblich und produzieren auf diese Weise oft behindernde Bedingungen. Stellvertretend möchte ich hier eine aussagekräftige Äußerung von Walthes anführen. Sie schreibt, daß die Vorstellungen über die Wirkung eines Phänomens - in diesem Falle ist es das Phänomen Behinderung - die Kommunikation in der konkreten Situation wesentlich beeinflussen. Behinderung entsteht erst in der konkreten sozialen Situation, wobei die Bedingungen, die alle Beteiligten in die Kommunikation einbringen, wesentliche Faktoren darstellen (Walthes in: Neumann 1997, S. 92). Darauf soll aber noch ausführlicher an anderer Stelle eingegangen werden.

Neumann selbst spricht sogar von der "sozialen Ausdehnung" der Behinderung. Darunter versteht er das durch soziale Bedingungen hervorgerufene Produzieren von Behinderung (Neumann 1997, S. 35).

Walthes erklärt, daß die Kommunikation bei nicht passenden Bedingungen unmöglich bzw. beeinträchtigt wird - wiederum ein Hinweis auf die Wechselwirkung zwischen Personen, die Behinderung konstruieren.

Sie führt auch die Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit einem gehörlosen Menschen nicht auf seine Gehörlosigkeit, sondern auf das nicht vorhanden Sein einer gemeinsamen Kommunikationsmöglichkeit zurück.

Probleme werden als Wirklichkeitskonstruktionen betrachtet, woraus Schwierigkeiten entstehen und nicht - wie üblicherweise - ursächlich auf die Behinderung als Eigenschaft einer Person zurückgeführt (Walthes in: Neumann 1997, S. 92).

In medizinischer Sicht beispielsweise sind Probleme (durch Behinderung) überdauernd und möglicherweise kompensierbar (vgl. auch Walthes in: Neumann 1997, S. 92).

"Der konstruktivistische Zugang erlaubt es, Probleme nicht bei der einen oder anderen Person zu verorten, sondern auf die Kontexte zu schauen, die für die Problementwicklung förderlich zu sein scheinen." (Walthes in: Neumann 1997, S. 92,93)

Es geht bei dieser Betrachtungsweise keinesfalls darum, Schädigung herunterzuspielen oder zu leugnen. Behindernd wird sie erst in der konkreten Situation durch entsprechende Bedingungen. Es kann nicht das Ziel sein, Beeinträchtigungen zu vermeiden, zu beseitigen und zu kompensieren - auf der Ebene der "geschädigten" Person. Es müssen die dazu führenden Umstände und deren Kontexte betrachtet werden, um endlich ein menschengerechtes Bild zu erhalten (Walthes in: Neumann 1997, S. 104).

2.4. ÜBERBLICK UND EIGENES VERSTÄNDNIS VON SEHBEHINDERUNG

Im vorangegangenen Kapitel habe ich versucht, den Begriff der Behinderung aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Dabei ging ich zum einen auf die anthropologische und zum anderen auf die medizinische Sichtweise ein, welche auf einem defizitorientierten Begriff aufbauen. Sie gehen nämlich davon aus, daß Behinderung allein schon durch die "Andersartigkeit" gegeben ist. Man kann nicht sehen, hören, ... und ist deshalb als behindert zu bezeichnen. Des weiteren inkludiert jene Verwendungsweise des Begriffes eine Abweichung von der Norm und eine Nichterfüllung gesellschaftlicher Erwartungen. Es handelt sich also um Behinderung als eine Mangelerscheinung.

Wenngleich aber vereinzelt die Bedeutung der Gesellschaft - vor allem in Bezug auf Normen - angedeutet wird, kommt sie in der anthropologischen und medizinischen Perspektive doch viel zu kurz. Nach konstruktivistischem Verständnis erhält der Betrachter aktive Gestaltungsmöglichkeiten, welche eine Person als "behindert" oder "nicht behindert" erscheinen lassen. Der Betrachter entscheidet also, wie er einen Menschen wahrnimmt, mit ihm kommuniziert und handelt. Somit wird nicht der "Defekt" als solcher als Behinderung verstanden, sondern vielmehr wird dabei der Betrachter, der sich ein Bild von Behinderung in der konkreten Situation konstruiert, und die Gesellschaft berücksichtigt. Behinderung resultiert daher nicht aus einem "besonderen" Merkmal, sondern aus dem Umgang damit.

Nicht passende Bedingungen, falsche Bilder, Vorstellungen und Vorurteile sind weitere wichtige "Bausteine" für das Konstrukt "Behinderung".

Daraus ist unschwer abzuleiten, daß es keinen einheitlichen und dauerhaften Behinderungsbegriff geben kann und soll.

In meinen Ausführungen werde ich vor allem die Situation blinder und hochgradig sehbehinderter Menschen, die sich für eine Elternschaft entschieden haben, betrachten, wobei ich mich am konstruktivistischen Verständnis von Behinderung orientiere. Gleichzeitig übernehme ich auch die medizinische Klassifikation von Blindheit und hochgradiger Sehbehinderung. Diese Einteilung soll aber nur als Orientierung und zum besseren Verständnis der Situation blinder und sehbehinderter Menschen dienen, da es ja für normalsichtige Personen sehr schwierig ist, sich in die Lage der genannten Personengruppe hineinzuversetzen und sie zu verstehen.

Es sollte aber von Verallgemeinerungen und Generalisierungen Abstand gehalten werden, was bei der medizinischen Klassifizierung nicht möglich ist. Radtke weist beispielsweise auf die subjektivierte Formulierung "der Behinderte" hin (Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 110). Auch dies betrachte ich als Hinweis für Verallgemeinerungen, die man keinesfalls machen sollte. Um die Individualität Behinderter, Blinder,... zusätzlich zu betonen, und somit der Subjektivierung entgegenzuwirken, werde ich in meiner Arbeit immer von blinden Personen und Menschen mit einer Sehbehinderung aber nie von "dem Behinderten", "dem Blinden",... sprechen.

Sehbehinderung verstehe ich als ein Merkmal, das den Alltag der Betreffenden mitbestimmt. Es ist aber nur ein Faktor von vielen anderen und sollte nicht als dominanter betrachtet werden. Sie wirkt sich auch - je nach Art der Sehbehinderung, den noch verbleibenden Sehrest, der Lebensgeschichte des betroffenen Individuums und dem Zeitpunkt des Eintretens - unterschiedlich auf die Bewältigung des täglichen Lebens aus.

Außerdem möchte ich noch darauf hinweisen, daß ich der Einfachheit halber von blinden und sehbehinderten Menschen berichten werde, obwohl ich darunter - nach strenger medizinischer Auffassung - die Gruppe der blinden und hochgradig sehbehinderten Personen meine.

Zudem bevorzuge ich persönlich den Begriff der "Sehbehinderung" gegenüber "Sehschädigung" oder "Sehbeeinträchtigung", die für mich eindeutig defizitäre Formulierungen darstellen. Wenngleich es auch bei dem von mir verwendeten Begriff kritische Anmerkungen geben wird, werde ich ihn dennoch verwenden.

Neumann führt die Suche nach neuen Begriffen für Behinderung auf das Bestreben zurück, die Diskriminierung und Stigmatisierung allein schon durch den behindertenfeindlichen Begriff zu mildern (Neumann 1997, S. 28). Dennoch wird die Ausgrenzung, Benachteiligung,... nicht durch einen neuen, wertneutraleren Begriff nicht verhindert werden können, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen, Meinungen und Vorstellungen eindeutig abwertend und diskreditierend sind.

Unter den hier kurz angeführten Erklärungen möchte ich diese Arbeit als einen kleinen Schritt zur menschenwürdigeren Betrachtung und Behandlung - vor allem von behinderten Personen - verstanden wissen.

3. ZUR GESELLSCHAFTLICHEN HALTUNG GEGENÜBER DER ELTERNSCHAFT BLINDER UND SEHBEHINDERTER MENSCHEN

3.1. EINLEITUNG IN DEN THEMENBEREICH

Wenn man sich für die Elternschaft behinderter Menschen interessiert, sich darüber informieren will oder gar Forschungsarbeiten dazu lesen möchte, wird man bald feststellen, daß es äußerst schwierig ist, brauchbare Unterlagen zu finden.

Lange Zeit wurde dieser Themenbereich nämlich nicht zur Sprache gebracht, oder man tat einfach so, als gäbe es keine Eltern mit Behinderung, denn dies sollte mit allen Mitteln aus den verschiedensten Gründen verhindert werden. Die Elternschaft von behinderten Menschen existierte einfach nicht - weder in der Erziehung junger behinderter Leute noch in den Vorstellungen der Gesellschaft und auch nicht in der Wissenschaft.

Gründe dafür mag es wohl viele geben, wobei ein ganz bedeutsamer die jahrelange Ignoranz und Tabuisierung der Sexualität von behinderten Personen darstellt, denn sie wären ja dazu wegen ihren geistigen oder körperlichen "Defiziten" gar nicht imstande. Nach Volker Schönwiese handelt es sich dabei um das am meisten verdrängte und mit Vorurteilen belegte Thema, sowohl in der Sonder- als auch in der Integrationspädagogik (Schönwiese in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 103).

Außerdem wollte man sich mit dem "Problem Sexualität" nicht auch noch im Kreise behinderter Leute herumschlagen müssen, wenn sie doch schon im "normalen" gesellschaftlichen Milieu ein gern bei Seite geschobenes Thema war. Wozu brauchen behinderte Menschen überhaupt noch sexuelle Erfahrungen?

Probleme über Probleme. Daher vertritt und propagiert man schlußendlich die These, daß es sie einfach nicht gibt, denn dann sind all die damit verbundenen (Mehr)Belastungen ein für alle Male aus der Welt geschafft - dachte man (vgl. Irrelevanzregel von Goffman nach Schönwiese in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 103).

Auch in diesem Falle entscheiden wiederum nicht behinderte über behinderte Menschen, wie sie leben und glücklich sein, was sie empfinden dürfen und sollen (Lauschmann in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 93; Neumann 1997, S. 36; Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 111). Dabei muß aber festgestellt werden, daß die Sexualität behinderter Menschen nicht dazugehört.

"Viele gesellschaftliche Inszenierungen machen klar, daß behinderte Menschen keine Sexualität haben." (Schönwiese in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 103)

Somit werden sie als geschlechtslose Wesen betrachtet. Zudem kommt es noch zu einer doppelten Tabuisierung (vgl. Schönwiese in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 103) der Sexualität behinderter Personen. Zum einen stellt Behinderung selbst ein gern beiseite geschobenes Thema dar. Zum anderen verschärft sich die Lage zusätzlich, wenn es um Sexualität geht.

Eine ganz besonders schwierige Situation ergibt sich für behinderte Frauen. Sie gehören zu zwei benachteiligten Gruppen - zu der, der Behinderten (im Sinne von geschlechtsneutralen Personen) und noch zu der, der Frauen.

Auf ein weiteres typisches Phänomen weist unter vielen anderen Autoren auch Peter Radtke in bezug auf Behinderung im allgemeinen hin. Er stellt fest, daß das "Merkmal der Behinderung" über allen anderen Fähigkeiten und Qualitäten eines Menschen steht und die Aussagen über jene Person färbt, auch wenn Behinderung im entsprechenden Fall irrelevant ist (Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 110).

Das "Merkmal" Behinderung dominiert also und läßt alle anderen Komponenten in den Hintergrund treten (vgl. auch Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 65; Goffman 1996, S. 24).

So passiert es auch im Falle einer behinderten Frau. Sie wird als Behinderte, aber nicht als Frau betrachtet (Nolte in: horus 1/93 S. 1). Eine Folge davon ist auch die Aberkennung ihrer Sexualität, was zu den später noch ausführlicher erläuterten Konsequenzen führt.

Katrin Lorbeer vertritt ebenfalls diesen Ansatz, wenn sie schreibt:

"Behinderte Frauen gehören der Gruppe aller Behinderten an, und je offensichtlicher und schwerer ihre Behinderung ist, umso stärker treten für die Gesellschaft alle anderen Facetten, Rollen und Eigenschaften des Menschen in den Hintergrund." (Lorbeer in: Barzen 1988, S. 27)

Hier kommen zwei Merkmale zum Tragen, die in diesem Zusammenhang sehr bedeutsam sind. Zum einen ist es die Schwere der Behinderung, wobei man hier anmerken muß, daß es in der Unterscheidung der Gruppe behinderter Personen eine hierarchische Ordnung gibt. Je nach Art und Schwere der "Beeinträchtigung" werden "Rechte" - dies geschieht auch bei der Sexualität - zu- bzw. aberkannt.

Beispielsweise nehmen geistig behinderte Menschen meist die unterste Stufe der Pyramide ein, wenn es um Sexualität und Elternschaft geht. Körper- bzw. sinnesbehinderten Menschen wird dies noch eher "zugetraut". Bei körperbehinderten Personen ist derzeit das "Recht auf Sexualität" verbal allgemein anerkannt, jedoch entspricht diese Anerkennung nur kaum oder gar nicht der Wirklichkeit (Schönwiese in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 103).

Ein relevanter Faktor im Zugestehen oder Absprechen von Sexualität, Partnerschaft und Ehe ist demnach der, welche Position ein behinderter Mensch innerhalb der Hierarchie der Gruppe der behinderten Individuen einnimmt. Dabei ist festzustellen, daß

"... je höher sie (Lorbeer spricht hier von der behinderten Frau) in der beschriebenen Behindertenhierarchie eingestuft wird, um so eher wird die behinderte Frau als Frau angesehen und bei ihr Sexualität geduldet." (Lorbeer in: Barzen 1988, S. 37)

Zum zweiten knüpft sie die gesellschaftliche Anerkennung und Toleranz einer Behinderung an die Unauffälligkeit des Merkmals und deren Träger. In ihre Betrachtung inkludiert Lorbeer somit bereits die Visibilität (=Sichtbarkeit) eines "Defizits", welche noch im Kapitel 3.4. (Stigmatisierung) näher ausgeführt werden soll.

Es handelt sich ohne Zweifel um eine doppelte Benachteiligung behinderter Frauen, die Andrea Schatz wie folgt zusammenfaßt:

"Frauen kämpfen um ihre Gleichberechtigung - wir behinderten Frauen darüber hinaus um unsere Wahrnehmung durch die Gesellschaft als Frau überhaupt."

Weiter schreibt sie:

"Unsere Lebenssituation wird weder wahrgenommen noch berücksichtigt. Sie geht unter in der Menge behinderter und nichtbehinderter Männer, nichtbehinderter Frauen oder, geschlechtsneutral, in der anonymen Masse der Behinderten, wobei in der Regel von dem Behinderten die Rede ist. Als behinderte Frauen werden wir als Behinderte behandelt, weiblich sind wir ganz nebenbei." (Schatz in: horus 1/94, S. 7)

Ganz deutlich zu erkennen ist hier, daß "Frau" kein Thema ist - sie wird nicht als solche wahrgenommen, denn sie ist ja primär eine geschlechtsneutrale Behinderte, ein asexuelles Wesen (Lorbeer in: Barzen 1988, S. 37). Eine wahre Tragödie.

Auch wenn hier oft von behinderten Menschen/Frauen die Rede ist, glaube ich wohl, daß man diese Beschreibungen auch ohne weiteres auf die Situation blinder Personen übertragen kann. Gleichzeitig muß aber wiederum auf die hierarchische Ordnung und Einteilung der Behindertengruppe hingewiesen werden. Demzufolge stellt sich die Situation auch in puncto Elternschaft als eine sehr diskriminierende dar.

Wenn man allein schon die Haltungen der Erzieher in den Blindenschulen und -internaten des letzten Jahrhunderts als extremes Beispiel etwas genauer unter die Lupe nimmt, müssen einem die Haare zu Berge stehen. Wenn man bedenkt, daß es sich hierbei um Lehrer und Erzieher handelt, die einen bedeutsamen Einfluß auf ihre "Schützlinge" aber auch auf die Gesellschaft ausüben, wird einem schon klar, wie menschenverachtend es damals teilweise - aber auch heute noch in einer etwas modernisierten Form - zuging. Außerdem stellten Lehrer einen Repräsentanten für gesellschaftliche Haltungen dar.

Man sprach beispielsweise von "weiblichen Blinden" und "blinden Mädchen", auch wenn diese schon lange dem Mädchenalter entwachsen waren. Niemals aber war von "blinden Frauen" gesprochen worden, denn dieser Ausdruck traf nur auf Verheiratete zu (Heitkamp in: Burger 1992, S. 104).

Schon an der sprachlichen Formulierung ist unschwer zu erkennen, daß eine Frau aus blindenpädagogischer Perspektive für eine Ehe oder gar für eine Familiengründung nicht vorgesehen war. Immer wieder tritt die überdeutliche Unterscheidung von "normalen" und "behinderten" Frauen zutage. Die "Bestimmung" einer Frau war laut Beauvoir die folgende:

"In der Mutterschaft vollendet die Frau ihr physiologisches Schicksal. In ihr liegt ihre "natürliche" Berufung, da ihr ganzer Organismus auf die Fortpflanzung der Art ausgerichtet ist." (Beauvoir 1968, S. 469 nach: Born in: Burger 1992, S. 30)

Die Aufgabe der Frau war demnach die Sicherung der Nachkommenschaft, deren Pflege und Schutz. Sie wurde damit auf diesen einen Bereich "reduziert", denn sie ist schließlich schon physisch dazu bestimmt.

Diese strenge "Zuordnung" von Kinderversorgung durch die Frau etablierte sich aber erst in der Zeit der Industriealisierung, als sich die strenge Trennung von Hausarbeit und außerhäuslicher Erwerbsarbeit vollzog. Es kam zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Zur gleichen Zeit ergaben sich für behinderte Menschen negative Entwicklungen und Veränderungen, die bereits in Kapitel 2.1. (Behinderung aus anthropologischer Sicht) angesprochen wurden. Die Versorgung von behinderten Individuen wurde von einer Familien- zu einer Gesellschaftsaufgabe. In diesem Sinne wurden Sonderanstalten errichtet. Dem zugrunde liegt die Haltung, daß Leistungen und deren Nutzen für die Gesellschaft immer wichtiger wurde und somit behinderte Personen ins Abseits gerieten. All diese Aspekte sollten berücksichtigt werden, um sich in etwa ein Bild von der tristen Lage behinderter Menschen zu machen.

Der Aufgabenbereich der Kinderpflege und -versorgung sowie Haushaltsführung und Familiengründung war natürlich nur für nicht behinderte Frauen vorgesehen, wie es Wulff in seiner Einleitung zum Kapitel der Ausbildung blinder Mädchen am 3. Blindenlehrerkongreß in Berlin 1879 überdeutlich zum Ausdruck bringt. Er meint:

"Für das Mädchen gibt es ihrer natürlichen Bestimmung nach nur einen Beruf: das ist der, Hausfrau zu werden. Diesen natürlichen Beruf der Jungfrau wird aber das blinde Mädchen nie oder nur in den aller seltensten Fällen erreichen." (Wulff 1879, S. 120 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 104)

Noch deutlicher kann die Mißachtung von Behinderung und dem Dasein als Frau nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden. Benachteiligung, Diskriminierung, das Absprechen aller Werte und Wünsche ist hier tonangebend. Letztendlich bedeutet dies meines Erachtens nach auch die Infragestellung der "Berechtigung" des menschlichen Daseins. Richtlinien werden ohne die Betroffenen festgesetzt. Es scheint, daß man nicht einmal einen einzigen Gedanken an die behinderte Frau gerichtet hat. Man ignoriert ihr Menschsein und bestimmt nach eigenen Gutdünken - je nach dem, wie es einem gerade am besten und einfachsten erscheint.

Und dieses Desaster wurde auch noch von Verantwortungstragenden unterstützt und vorangetrieben! Für mich ist dies unbegreiflich und unterscheidet sich nicht wesentlich von der Ideologie des Dritten Reiches. Man spricht Menschen jegliche Rechte, Wünsche,... ab. Man beerdigt sie eigentlich schon bei lebendigem Leibe.

Welch furchtbare Tragödie!

Und das wurde auch noch als "normal", als gesellschaftlich unbedenklich, als weitverbreitete Haltung betrachtet und akzeptiert. Ein wahres Trauerspiel, das sich an vielen - um nicht zu sagen an allen - Blinden- und wahrscheinlich auch an anderen "Sonderschulen" der damaligen Zeit abspielte.

Mit dem Absprechen von Sexualität verknüpft sich auch das nicht Zuerkennen von Mutterschaft. Diese sollte für behinderte Frauen nicht existieren, denn auch die Eheschließung einer blinden Frau mit einem sehenden oder blinden Mann wurde nur äußerst ungern geduldet und sollte am besten verhindert werden.

Wenngleich man eine Ehe zwischen einem blinden Mann und einer sehenden Frau noch als erstrebenswert betrachtete, war es im umgekehrten Falle "verpönt" (Heitkamp in: Burger 1992, S. 105 ff.).

Die "Gründe" dafür waren vielfältig, jedoch basierten sie auf einer Unmenge von nicht der Realität entsprechenden Vorurteilen. Eine blinde Frau könne für einen sehenden Mann nicht als attraktiv gelten, denn sie entspricht nicht den normierten gesellschaftlichen Schönheitsvorstellungen (Krause in: Burger 1992, S. 212; Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 20; Momrak Haugann in: horus 1/1984, S. 3).

Außerdem könne sie den Haushalt nicht führen,... (Riemer 1889, S. 184 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 107). Darauf soll aber an anderer Stelle noch näher eingegangen werden.

Wenn diese Beispiele bereits aus dem letzten Jahrhundert stammen und für unsere Zeit als altertümlich und extrem gelten mögen, so glaube ich sehr wohl, daß sich "Fragmente" dieses Denkens auch noch heute entdecken lassen.

Anette Paul beispielsweise erwähnt in ihrer Arbeit einige Inhalte einer Tagung, die bereits im Jahre 1966 stattfand. Dabei ging es vor allem um Überlegungen bezüglich Elternschaft blinder Menschen. Diese wurde noch geduldet, wenn lediglich der Mann blind war, jedoch bei einer Blindheit der Frau oder beider Partner wurde dringend von Nachkommen abgeraten (Rupp 1969, ohne Seitenangabe nach: Paul 1986, S. 46). Ein Hauptgrund dafür dürfte wohl das Vererbungsrisiko gewesen sein.

Paul zitiert ein besonders negatives Beispiel von einem blinden Mann. Er ist nämlich der Ansicht, daß blinde Menschen der Gesellschaft für das Entgegenkommen und die Bemühungen um ihre Eingliederung dankbar sein müßten. Sie würde bereits Blinde dulden, und daher wäre es angebracht, sich zu revanchieren. Ein besonders angebrachtes Zeichen der Dankbarkeit - er setzt dies ja schon als selbstverständlich voraus - wäre die Kinderlosigkeit bei dem Verdacht auf Vererbung. Dies versteht er als das größte Opfer, das eine blinde Frau für die Gesellschaft bringen könnte, und deshalb müsse ihr dies auch sehr hoch angerechnet werden. Die Frau hilft ja auf diese Weise mit, Blindheit zu vermeiden, und belastet dadurch die Gesellschaft nicht noch zusätzlich (Rupp 1969, ohne Seitenangabe nach: Paul 1986, S. 47). Die Kinderlosigkeit blinder Personen ist diesen Feststellungen zufolge Voraussetzung.

Diese Äußerung finde ich schlichtweg eine bodenlose Frechheit. Zum einen bringt der genannte blinde Mann zum Ausdruck, daß blinde Menschen für die Gesellschaft eine Belastung darstellen würden, die es mit allen Mitteln zu verhindern gilt. Blinde werden in der Gesellschaft gnädigerweise geduldet, aber sie haben sich zumindest dankbar und entgegenkommend zu verhalten, indem sie ihren Kinderwunsch aus Rücksicht auf die anderen an den Nagel hängen. Diese Erwartung finde ich tragisch. Zum einen werden blinde Menschen als eine Art Zumutung für das Umfeld hingestellt. Sie sind aber meines Erachtens nach genauso wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft wie jedes andere Individuum auch. Sie sind auf ihre Weise - durch das Merkmal Blindheit - anders, aber haben ebenso das Recht, ihre Wünsche zu realisieren, wenn es in ihren Möglichkeiten steht. Dazu gehört meiner Meinung nach auch der Wunsch, eigene Kinder zu haben, sie zu versorgen und zu erziehen.

Zum anderen finde ich es viel eher eine Zumutung, von Menschen, die nicht der Norm entsprechen, zu verlangen, sich selbst aufzugeben und ihre Wünsche den Erwartungen der Masse anzupassen.

Auch wenn ein Vererbungsrisiko besteht, so trifft dieses nicht ausschließlich auf schon behinderte Menschen zu, sondern könnte bei jedem anderen auch der Fall sein. Es sollte daher im Ermessen der Betroffenen liegen, ob er sich für eine Elternschaft - auch mit dem Risiko der Vererbung - entscheidet. "Normale" dürfen schließlich auch selbst entscheiden, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Genauso sollten auch behinderte Personen betrachtet werden, denn sie sind doch auch Menschen - wie du und ich. Anmerken muß ich an dieser Stelle auch, daß Blindheit nur zu einem geringen Prozentsatz durch Vererbung bedingt ist. Sie resultiert weitaus häufiger aus Augenverletzungen, Unfällen, altersbedingten Veränderungen des Auges und einer mangelhaften Vorsorge der Bevölkerung.

Es mag für nicht behinderte Menschen schwer vorzustellen sein, wie behinderte Personen die "Aufgabe Elternschaft" mit ihren speziellen Voraussetzungen erfüllen können. Aber sie können es durch die Anwendung ihrer besonderen Techniken und den Einsatz zahlreicher elektronischer Hilfsmittel sehr gut schaffen. Zu dieser Erkenntnis kommt Heßmer bereits 1977:

"Die Führung eines Haushaltes ist bei der Unzahl technischer Erleichterungen einem blinden Menschen heutzutage ohne weiteres möglich. ... Daraus folgt, daß heute keiner mehr den blinden Frauen die Ehefähigkeit absprechen kann, weil sie keinen Haushalt führen könnte, zumal Entsprechendes wie für die allgemeine Haushaltsführung auch für die Kinderpflege gilt." (Heßmer 1977, S. 164 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 167)

Demnach dürfte es wohl keinen Zweifel mehr daran geben, daß auch blinde Frauen gut in der Lage sind, einen Haushalt zu führen und Kinder zu versorgen. Das Problem dabei ist nur, daß behinderte Männer und Frauen immer noch mit einem anderen Maß gemessen werden als gewöhnliche "normale" Menschen.

Die "Erfüllung" im Leben einer behinderten Frau kann also nicht in ihrem "natürlichen" Aufgabenbereich liegen. Nein, für behinderte Frauen sollte im Zentrum ihres Erstrebens der Beruf stehen, und auch deshalb wurde bei ihr auf den Erwerb beruflicher Kompetenzen und Fertigkeiten so viel Wert gelegt (Schultes 1998, S. 12).

Jedoch ist es für sie auch dort schwieriger als für einen behinderten Mann.

"Für behinderte Frauen ist es weit schwieriger, ihre Behinderung auszugleichen, als für Männer, die durch ihre berufliche Leistung akzeptiert werden. Frauen werden eher auf die Rolle des Sexualobjekts festgelegt, behinderte Frauen erfüllen aber die gängigen Schönheitsnormen nicht." (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 20)

Aber damit ist noch lange nicht genug, denn behinderte Menschen sind auch heute noch im beruflichen Bereich gegenüber nicht behinderten Arbeitnehmern benachteiligt. Sie wären ja weniger leistungsfähig,... (Hermes 1998, S. 18).

Gemeinsam ist diesen Vorstellungen, daß sie auf einem komplett falschen Bild von Behinderung und Blindheitbasieren. Zudem hatte und hat man enorme Erwartungen an Eltern, denen man nur schwer entsprechen kann. Wie soll dies denn dann ein armer, defizitärer Behinderter auch nur annähernd schaffen? So dachte und denkt man vielfach leider immer noch.

Man konnte und wollte behinderte Menschen nicht so betrachten, wie alle anderen auch, denn diese könnten ja die festgefahrenen gesellschaftlichen Normen ins Wanken bringen (Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 111). Dies stellt nun eine Gefahr dar, welche im Zaum gehalten werden muß.

Das gleiche trifft auch auf die Elternschaft behinderter Menschen zu. Sie wird ihnen nicht zugetraut, weil es schlichtweg unvorstellbar ist, daß sie den hohen Anforderungen, die von seiten der Gesellschaft an Mütter und Väter herangetragen werden, entsprechen könnten.

Wie sollen behinderte Menschen ihre Kinder erziehen, wenn sie geistig "beeinträchtigt" sind und nicht wissen, wie man dieser Aufgabe nachkommen kann? Wie soll eine blinde Mutter ihr Kind beaufsichtigen, das sie nicht sehen kann? Wie ist es für einen gehörlosen Vater möglich, mit seinem Kind im herkömmlichen Sinne zu kommunizieren? Fragen über Fragen, die den behinderten Eltern das Leben schwer machen (sollen), damit sie davon Abstand nehmen, aufgrund der zu erwartenden Schwierigkeiten, sich für eine Elternschaft mit etwas anderen Voraussetzungen zu entscheiden.

Es werden aber noch weitere Bedenken ins Spiel gebracht, wenn es um die Elternschaft behinderter Menschen geht. Dies ist zum einen die Befürchtung, daß die Behinderung der Eltern vererbt werden könnte (Momrak Haugann in: horus 1/1984, S. 4; Heßmer 1985, S. 233 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 169; Rupp nach: Paul 1986, S. 46 - 48; Kern 1995, S. 14). Zum anderen zweifelt man daran, daß ein behinderter/blinder Elternteil - häufiger richtet sich jenes Argument gegen die behinderte/blinde Mutter - einer so großen Verantwortung gewachsen wäre, und ob er überhaupt imstande sei, ein Kind zu versorgen und zu erziehen (Heitkamp in: Burger 1992, S. 167; Schultes 1998; S. 4 ). Man stellt ihre Eignung zur Elternschaft in Frage. Besonders davon betroffen sind wiederum behinderte Frauen, was sich meiner Ansicht nach mit dem Rollenbild einer Frau begründen läßt. Sie sollte es schließlich sein, die sich um die innerfamiliale Haus- und Beziehungsarbeit kümmert, der die Hauptverantwortung für die Kindererziehung zukommt, und sie sollte auch ihren Ehemann versorgen. Diese Anforderungen stehen jedoch im Widerspruch zu den Vorstellungen von einer behinderten Frau. Auch aus diesem Grunde kann man meiner Meinung nach von behinderten Vätern noch weniger als von behinderten Müttern lesen.

Zahlreiche Argumente werden also eingebracht, um es zur Elternschaft behinderter Menschen gar nicht kommen zu lassen oder - wenn sie bereits besteht - sie entweder diskreditierend bzw. mit großer Verwunderung und Staunen zu betrachten.

Als markanter Punkt kann hier angeführt werden, daß von behinderten und auch blinden Paaren Kinderlosigkeit erwartet bzw. vorausgesetzt wird. Ein tragischer Beweis dafür mag das Beispiel sein, das von Hans Rupp angeführt wurde (Rupp 1969, ohne Seitenangabe nach: Paul 1986, S. 47).

Auch Gisela Hermes weist auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin. Sie ist der Auffassung, daß sich Frauen dafür rechtfertigen müssen, wenn sie den gesellschaftlichen Erwartungen widersprechen und sich gegen Kinder entscheiden. Konträr dazu zeichnet sich die Situation behinderter Frauen ab, die ihren Kinderwunsch begründen und rechtfertigen müssen, da von ihnen Kinderlosigkeit erwartet wird (Hermes 1998, S. 21).

Wenn im letzten Jahrhundert blinden Menschen die Elternschaft überhaupt abgesprochen wurde, so erwähnen aber auch einige aktuelle Autorinnen, daß ihre Erziehung nicht auf ein Familienleben sondern ausschließlich berufsorientiert ausgerichtet war (Müller 1993, S. 11; Schultes 1998, S. 13).

Neben Christine Krause betont auch Beate Schultes die Konzentration auf berufliche Bildung und hebt gleichzeitig die Vernachlässigung des Erlernens praktischer Fertigkeiten hervor (Krause in: Burger 1992, S. 210). Sie erwähnt die Tatsache, daß es auch in der familialen Erziehung Unterschiede zwischen nicht behinderten und behinderten Kindern gibt. Was nicht behinderte selbstverständlich von ihren Eltern lernen, bekommen blinde Kinder nur sehr selten oder gar nicht gezeigt (Schultes 1998, S. 12).

Andrea Zeller nimmt die schulische Erziehung genauer unter die Lupe und muß dabei feststellen, daß wohl die familialen "Erziehungsdefizite" zum Teil nachgeholt werden konnten, aber dies dennoch kein Grund zur Freude ist. In Blindeninstitutionen wird zwar gelehrt, wie ein Mädchen stricken, nähen und kochen kann, aber es erfährt weiters nicht viel über praktische haushalterische Fähigkeiten. Auch das Erlernen dieser wird in den entsprechenden Einrichtungen vernachlässigt (Zeller in: Barzen 1988, S. 83).

Daraus kann wiederum das nicht zur Sprache Bringen und das nicht in die Erziehung Einbeziehen der Vorbereitung auf ein Leben als Elternteil gefolgert werden.

Schultes berichtet von ihren eigenen Erfahrungen und bemerkt, daß sie während ihrer gesamten Schulzeit nie etwas über Partnerschaft oder Familie gehört hat.

"Während meiner Schulzeit habe ich kein einziges Wort über eine eventuelle Partnerschaft oder Familie gehört, dagegen viel über Beruf und darüber, was ich alles können muß. So ist es verständlich, daß viele sehgeschädigte Paare es sich nicht zutrauen, eine Familie zu gründen." (Schultes 1998, S. 13)

Jedoch die Einwände gegenüber der Elternschaft blinder Menschen beziehen sich nicht nur auf die "Unfähigkeit" des Vaters/der Mutter, sondern es werden auch negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder befürchtet. Das Kind habe nichts von seiner Kindheit, weil es ja ständig für seine Eltern da sein müsse. Es hätte für sie die Rolle des "Ersatzauges" oder zumindest die einer billigen Hilfskraft zu übernehmen und wäre dadurch schon in seiner Kindheit extrem belastet und überfordert (Ruland 1986, S. 14; Zeller in: Barzen 1988, S. 95; Heßmer 1985, S. 232 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 169; Kern 1995, S. 14).

Die gesellschaftliche Position gegenüber Elternschaft behinderter Menschen mag sich ja bis in unsere aufgeklärte und tolerante Zeit geändert und gemäßigt haben. Es wird wohl kaum mehr in der Weise des letzten Jahrhunderts argumentiert werden. Heutzutage stehen andere Bedenken im Vordergrund. Gedanken der Bioethik kommen auf, das Risiko der Vererbbarkeit einer Behinderung ist also aktueller denn je zuvor.

Meiner Auffassung nach wird die Elternschaft behinderter Menschen vor allem durch die feindliche Haltung der Gesellschaft, die hohen oft unerfüllbaren Ansprüche, zahlreiche Vorurteile, menschenverachtende Vorstellungen, Stigmatisierung und behindertenfeindliche Voraussetzungen erheblich erschwert.

Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, hört man auch in letzter Zeit immer öfter von Eltern mit Behinderung. Auch in der Wissenschaft wird sie seit den 80er Jahren auch im Falle von geistig behinderten Menschen thematisiert (Pixa-Kettner 1996, S. 2). Es muß sich aber noch so manches ändern, damit behinderte Eltern nicht mehr als außergewöhnliche Randerscheinung in unseren Breiten betrachtet werden, sondern zur Normalität gehören.

Gisela Hermes faßt diesen Aspekt wie folgt zusammen:

"Trotz vieler Barrieren und Vorurteile haben sich in den letzten Jahren in Deutschland immer mehr behinderte Eltern dazu entschlossen, ein Kind zu bekommen. Doch weil mit einer Elternschaft von behinderten Menschen nicht gerechnet wird, sind alle Bereiche, die mit dem Kindergebären, und auch der Erziehung/Freizeitgestaltung mit Kindern zu tun haben, nicht auf unsere Bedürfnisse eingerichtet." (Hermes 1996, S. 47 nach Schultes 1998, S. 7)

Sie spricht hier also nochmals die Zunahme an Elternschaft behinderter Menschen in Deutschland an - dies kann sicherlich auch in Österreich festgestellt werden -, die sich trotz vieler Hindernisse und Hürden vollzieht.

Im folgenden soll aber noch auf einige gesellschaftliche Haltungen eingegangen werden, die gegenüber Behinderung bzw. behinderten Eltern vorherrschen und die deren Leben und das ihrer Kinder enorm behindern.

3.1.1. Die Frage nach dem Kinderwunsch

Wie bereits öfter erwähnt, werden behinderte - und somit auch blinde und sehbehinderte Menschen - anders als nicht behinderte Personen betrachtet. Dies wirkt sich auch auf die Frage nach dem Kinderwunsch aus, welcher ihnen in älterer Literatur durchwegs abgesprochen wurde (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 12). Auf einige Gründe möchte ich hier nur kurz eingehen, aber nachfolgend noch genauer ausführen.

Bei geistig behinderten Menschen sprach man lange Zeit davon, sie verfügten über ein wenig differenziertes Gefühlsleben, daß sie eine so tiefgreifende Erfahrung - wie eine Elternschaft - gar nicht wahrnehmen könnten oder diese bei ihnen nicht nachwirken würde (Pixa-Kettner 1996, S. 3).

Andererseits werden die Themen "Sexualität" und "Kinder" (vgl. 3.1.) aus der Erziehung behinderter Kinder ausgeklammert (Hermes 1998, S. 26).

Die Einwände umfassen ein breites Spektrum und reichen von der Unfähigkeit der Kindererziehung, Kinderpflege, mangelnder Verantwortung bis hin zum Risiko der Vererbung. Tatsächlich glaube ich aber, daß dies oft nur unbegründete Einwände und Ausdruck von Angst, nicht Zutrauen und Ablehnung sind.

Behinderte Menschen selbst stehen zu dem Themenbereich in zweierlei Weise. Die eine Gruppe übernimmt die an sie herangetragenen Bedenken und entscheidet sich gegen Kinder. Die andere Gruppe jedoch läßt sich dadurch nicht beeinflussen und entscheidet sich für eine Elternschaft.

Übrigens setzen sich die meisten behinderten Personen schon im Vorfeld einer Schwangerschaft mit ihrem Kinderwunsch auseinander (Hermes 1998, S. 25).

Andere wiederum verbinden mit Kindern den Wunsch nach Normalität (Schultes 1998, S. 87).

Grundsätzlich, so glaube ich, sollte man den Weg gehen, den Anette Paul vorschlägt:

"Ich meine, daß wir erreichen müssen, in unserer Gesellschaft nichts Besonderes mehr zu sein, sondern Menschen wie alle anderen auch, und daß auch wir ein Recht haben, so zu leben, wie andere es dürfen." (Paul in: horus 3/1990 , S. 84)

Demnach sollte nach meiner Ansicht auch die Frage nach dem Kinderwunsch betrachtet und vor allem aber die Entscheidung darüber den Betroffenen überlassen werden.

3.1.2. Das Risiko der Vererbung

Neben zahlreichen Einwänden, die gegen blinde und sehbehinderte Menschen als Elternteil in der Vergangenheit im ausgeprägten Maße vorherrschten, wurde und wird auch heute noch ein ganz markanter Faktor eingebracht. Meines Erachtens nach waren es früher eher die Zweifel daran, ob und wie es ein blinder/sehbehinderter Mensch schaffen würde, die praktischen Aufgaben (kochen, wickeln, Pflege,...) des Elternseins zu bewältigen, so gehen die heutigen Bedenken in eine andere Richtung. Man stellt sich die Fragen, ob die Kinder nicht zu belastet wären, ob man ihnen einen behinderten Elternteil zumuten könnte und vor allem auch, wie es mit dem Vererbungsrisiko aussieht. Schlagworte wie Bioethik, humangenetische Beratungen und pränatale Diagnostik würde ich mit dieser letztgenannten Tendenz in Verbindung bringen.

Das Risiko der Vererbung soll so weit wie möglich abgeklärt und minimiert, das Kind bereits während der Schwangerschaft genauestens untersucht, mit seinen besonderen "Mängeln" bestimmt und als letzte Konsequenz Behinderung und erblich bedingte "Defekte" vermieden werden.

So sprechen einige Autoren davon, daß im Vorfeld oder bei einer bereits bestehenden Schwangerschaft allein wegen der Behinderung zu zusätzlichen Vorsorgeuntersuchungen oder auch zum Abbruch der Schwangerschaft geraten wird (Pixa-Kettner 1996, S. 53, 177; Schultes 1998, S. 7).

Man geht dabei wohl davon aus, daß viele Augenerkrankungen vererbbar sind (Paul 1986, S. 44). Aus diesem Grunde verzichten auch einige sehbehinderte Menschen auf leibliche Nachkommen (Zeller in:Barzen 1988, S. 95).

Benesch weitet jenes Denken noch aus, indem er folgende Forderung aufstellt:

"Wünscht ein sehgeschädigter Mensch eine Ehe zu schließen, so sollte vorher unbedingt eine humangenetische Untersuchung und Beratung durchgeführt werden. Ergibt eine solche, daß die Weitergabe der Erkrankung an die nachfolgende Generation groß ist, so sollte freiwillig auf Nachwuchs verzichtet werden." (Benesch 1977, S. 155 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 170)

Dazu kann ich nur feststellen, daß diesem Denken das Bestreben zugrunde liegt, Sehbehinderung und Blindheit - oder Behinderung ganz allgemein - zu vermeiden. Es wäre schließlich nicht vertretbar, ein so "schweres Gebrechen" an andere weiterzugeben und sie damit zu belasten (Schultes 1998, S. 13).

Diese Haltung schätze ich als äußerst gefährlich ein, denn sie betrachtet Sehbehinderung/Blindheit als Last für andere und den Betroffenen selbst, was ich nicht bestätigen kann. Ich unterstützte damit auch die Auffassung von Hermes, welche zum Ausdruck bringt, daß man auch mit einer Behinderung ein schönes und erfülltes Leben führen kann (Hermes 1998, S. 28).

Auch meiner Auffassung nach wird eine "Andersartigkeit" erst durch das Umfeld zur Behinderung - und somit zur Last - gemacht und resultiert damit nicht schon aus dem "Defekt" an sich. Wenn er zu einem solchen wird, muß die Gesellschaft im allgemeinen und die betreffende Person mit ihrer individuellen Lebensgeschichte, ihren Persönlichkeitsmerkmalen,... miteinbezogen werden.

Wächst beispielsweise ein blindes Individuum in einer Familie oder in einem Umfeld auf, die ihm ständig - bewußt oder unbewußt, direkt oder indirekt - vermittelt, es habe so viele Mängel, könne dies und jenes nicht und wäre deshalb eine Last für sie, so besteht eine große Wahrscheinlichkeit, daß der Betreffende die an ihn herangetragenen Haltungen übernimmt und sie somit internalisiert und danach lebt. Dann wird er es auch seinen Kindern nicht zumuten können, möglicherweise dasselbe Schicksal erleiden zu müssen. Deshalb solle er dann auch - nach Benesch - "freiwillig" auf Kinder verzichten. Er erlaubt sich aber noch eine ebenso gefährliche Äußerung, wenn er weiter schreibt:

"Leider muß man in der Praxis konstatieren, daß dieser Grundsatz sehr häufig nicht beachtet wird - und man kann dann ... in der Blindenschule zweiten Generationen (oder sogar dritten!) begegnen." (Benesch 1977, S. 155 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 170)

Damit setzt er eigentlich voraus, daß bei einem Vererbungsrisiko auf Kinder verzichtet wird. Den prinzipiellen Verzicht auf Kinder bezeichnet Abu El-Gyab-Wiesmayr als das tiefgreifenste und einschneidenste Vorurteil (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 24).

Dies muß ich ebenso als große Enttäuschung herausstreichen, wenn er jene Forderung aufstellt, denn

"Die Entscheidung, ob jemand das Risiko eingehen will, gegebenfalls sehgeschädigte Kinder in die Welt zu setzen, muß jeder Betroffene für sich fällen. Doch sollte sich eine solche Entscheidung auf möglichst exakte Informationen stützen." (Heßmer 1985, S. 233 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 169)

Mit geringen Einschränkungen kann ich mich hinter diese Aussage stellen, weil sie deutlich das "Recht" auf die eigene Entscheidung für/gegen Kinder betont. Jeder "normale" Mensch darf diese Entscheidung treffen, und deshalb sollte dies auch "behinderten" Personen gestattet sein. Man sollte den Betreffenden die Möglichkeit der eigenen Entscheidung geben und diese in weiterer Folge aber auch akzeptieren. Schließlich handelt es sich um erwachsene Personen, die zwar blind oder sehbehindert, aber deshalb trotzdem erwachsene Menschen sind.

Wenn Heßmer nun von bestmöglichen und exakten Informationen bezüglich Vererbung bei einem Wunsch nach Kindern ausgeht und somit wie viele andere Autoren (Momrak Haugann in: horus 1/1984, S. 4; Zeller in: Barzen 1988, S. 97; Kern 1995, S. 14) humangenetische Untersuchungen unterstützt, so sollten diese - meiner Auffassung nach - nicht zwingend vorgeschrieben sein oder erwartet werden. Diese Entscheidung sollte ebenfalls im Ermessen jedes Einzelnen liegen.

Auch die moderne pränatale Diagnostik bietet viele Möglichkeiten, zu erwartende "Schäden" des Kindes zu erkennen. Gleichzeitig übt sie aber auch enormen Druck auf die Eltern aus (Neumann 1997, S. 28; Hermes 1998, S. 61). Schultes spricht sogar von einem Leistungsdruck, der auf den Schultern der Eltern lastet (Schultes 1998, S. 87). Es wird erwartet, gesunde, nicht behinderte Kinder zur Welt zu bringen und bei möglichen Risiken, von vornherein darauf zu verzichten bzw. sie nicht zu gebären.

Eltern müssen entscheiden, was und wieviel sie über ihr zu erwartendes Kind wissen wollen. Gleichzeitig aber wird von ihnen erwartet, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Man kann meiner Meinung nach auch von der "Ideologie des Machbaren" - nämlich eines nicht behinderten Kindes - sprechen. Ohne Zweifel steigt die Belastung für nicht behinderte und vor allem für behinderte Eltern, welche auch die Schwangerschaft und deren Verlauf beeinflußt.

Aber auch durch die pränatale Diagnostik kann keine 100%ige Sicherheit gegeben werden, und das kann ich nur als gut bezeichnen. Das menschliche Leben wäre ansonsten ein Produkt aus technischen Überlegungen und Voruntersuchungen.

Auch wenn man glaubt, durch möglichst genaue medizinische Untersuchungen alle Gefahren aus der Welt schaffen und zum Beispiel Sehbehinderung und Blindheit dadurch vermeiden zu können, so muß ich feststellen, daß dies ein Trugschluß ist. Vieles kann auch in unserer modernen Zeit zum Glück nicht berechnet und vorausgesagt werden. Außerdem möchte ich nochmals darauf hinweisen, daß Vererbung nur einen sehr geringen Anteil bei Erblindung und Sehbehinderung darstellt (Schultes 1998, S. 11). Dennoch glaube ich sehr wohl, daß bei den Überlegungen für oder gegen eine Elternschaft blinder und sehbehinderter Personen das "Problem der Vererbung" eine bedeutsame Rolle spielt.

3.2. STEREOTYPISIERUNG

Im folgenden möchte ich einige gesellschaftliche Haltungen skizzieren, mit denen behinderte - und im speziellen blinde - Menschen konfrontiert werden. Dabei gehe ich davon aus, daß gewisse Vorstellungen und Bilder von blinden Personen existieren, die sich in Form von Stereotypen zeigen. Jene bilden die Grundlage für Vorurteile, Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung. Es handelt sich dabei um eine Vielzahl von Faktoren, die nicht linear geordnet werden können, sondern sich wechselseitig beeinflussen, auf die genannte Personengruppe einwirken und deren Alltag mitgestalten.

Beginnen möchte ich mit der Stereotypisierung, wobei es sich dabei nach Analyse der Literatur meiner Ansicht nach darum handelt, sich von einer Person mit "besonderen" Merkmalen ein einseitiges Bild - ein Klischee - zu konstruieren. Goffman beispielsweise weist ausdrücklich darauf hin, daß Stereotype uns fremden Personen entgegengebracht werden (Goffman 1996, S. 68).

Im Falle des Blinden sieht dieses soziale Stereotyp nach den Aussagen von Thimm, der Ergebnisse einer Befragung darstellt, so aus:

"Blindheit ist unter allen körperlichen Gebrechen das schlimmste Übel. Blinde neigen in ihrer stillen, ernsten, gehemmten und zurückhaltenden Art zur Verinnerlichung. Sie sind extrem schutz- und hilfebedürftig, und ihnen gebührt vollstes Mitleid. Sowohl im emotionalen Bereich als auch im Leistungsbereich sind die normalen Normen nicht auf sie anwendbar." (Thimm 1972, S. 253 nach: Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 7,8)

Blindheit nimmt in der Hierarchie der Behinderungen eine Sonderstellung ein. Sie wurde zwar größtenteils negativ bewertet, gleichzeitig ordnete man ihr aber auch einige "edle" Attribute zu. So spricht man beispielsweise auch vom "blinden Seher" (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 7). Die Haltung gegenüber Blindheit ist demzufolge ambivalent.

Jedoch in der genannten Befragung werden blinde Menschen eindeutig negativ charakterisiert. Sie gehören schließlich zu den Trägern des "schlimmsten Übels" und sind still, ernst,... .

Man geht dabei von einem Defizit aus, welches ein schweres - das schlimmste - Gebrechen darstellt. Spricht man hier überhaupt noch von Menschen?

Meiner Meinung nach ordnet man hier blinde Personen einer Kategorie zu, die bei der Interpretation dieser Formulierungen irgendwo zwischen dem Status des Tieres und dem des Menschen anzusiedeln wäre. Allein schon der Ausdruck "das schlimmste Übel" klingt sehr defizitär und menschenentwürdigend.

Jene Äußerungen machen ebenfalls klar, daß weder im emotionalen noch im Leistungsbereich normale Normen auf blinde Personen anwendbar sind. Somit werden ihnen Emotionen und Leistungen ab- und gleichzeitig etwas, vielleicht Tierhaftes, zugesprochen. Leistungen wären im erweiterten Sinne von ihnen auch nicht zu erwarten. So stehen blinde "Menschen" jeglichen Normen konträr gegenüber.

Außerdem läßt mich das Verdacht schöpfen, wenn Thimm als Ergebnis dieser Befragung von "normalen Normen" spricht. Gibt es noch außergewöhnliche, abnormale, eigene, blindenspezifische Normen?

Damit kommt die Relativität von Normen wiederum zum Ausdruck. Auch wenn Thimm durch eine Verdoppelung die Bedeutung der Norm zu unterstreichen beabsichtigt, stellt er eigentlich klar, daß etwas an der Sache oder zumindest an der Formulierung "faul sein" muß.

Des weiteren glaubt man - den Inhalten der Befragung zufolge - zu wissen, wie blinde Menschen sind - nämlich still, hilflos, ernst,... und unseres vollen Mitleids bedürftig. Da frage ich mich, woher jene Informationen bezogen wurden? Ist man jemals einer blinden Person begegnet und hat man diese als Menschen - und nicht als irgendein defizitäres, hilfloses, normwidriges Wesen - gesehen? Das wage ich nämlich zu bezweifeln!

Auch wenn Thimm hier nur die Ergebnisse einer Umfrage aufzeichnet, die auch nicht mehr die aktuellste ist, lassen sich doch auch noch für die heutige Zeit einige leider nicht so erfreuliche Gemeinsamkeiten herausarbeiten.

Allerdings muß ich hierbei anmerken, daß es sich auch bei der Stereotypisierung um ein soziales Wechselspiel handelt. Einerseits konstruiert die Umwelt Klischees von (stereotypisierten) Personen. Andererseits aber fügen sich die Betreffenden sehr wohl den an sie herangetragenen Bildern, welche sich in weiterer Folge als eine "sich-selbst-erfüllende Prophezeiung" manifestieren.

Stereotype - wie auch falsche Vorstellungen und Vorurteile - entstehen jedenfalls aus einem Defizit an Wissen, welches aus Kontaktarmut resultiert. Dieses ergibt sich daraus, weil es einerseits viel weniger blinde und sehbehinderte als "normalsichtige" Menschen gibt (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 8). Andererseits wurden und werden diese isoliert, in Heime und Internate gesteckt und aus der Öffentlichkeit entfernt.

Die Folge dessen ist Unsicherheit und Hilflosigkeit, von Seiten der nicht behinderten Umwelt. Man weiß ja schließlich nicht, wie man dem "Fremden" begegnen und mit ihm umgehen soll.

Zahlreiche Autoren weisen deshalb darauf hin, daß die blindentypischen Stereotype - aber auch Vorstellungen und Vorurteile - durch Kontakte mit den Betroffenen entschärft werden und ins Wanken geraten (Zeller in: Barzen 1988, S. 109; Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 8 und 67; Goffman 1996, S. 69). Außerdem ist, meines Erachtens nach, das oft auch gut gemeinte und im Sinne von Mitfühlen gezeigte Mitleid ein Zeichen der Hilflosigkeit, sollte aber nicht prinzipiell negativ bewertet werden.

Wiederum muß ich darauf aufmerksam machen, daß Frauen mehr Stereotype entgegengebracht werden (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S 16; Lorbeer in: Barzen 1988, S. 18 und 39). Man spricht dabei von Rollenstereotypen, die sich hauptsächlich auf die "natürlichen Aufgaben" der Frau - Sexualität, Haushalt und Familie - beziehen.

Besonders betroffen davon sind ebenfalls behinderte Frauen (Lorbeer in: Barzen 1988, S. 43 und 45), an die starre Anforderungen - und die gleichzeitige Annahme des nicht erfüllen Könnens dieser Aufgabe - geknüpft sind. Das Klischee einer behinderten Hausfrau ist deshalb unsicher, zurückhaltend und wenig kontaktfreudig und kann - die Hausarbeit wird hier gemeint - Isolation zur Folge haben (Lorbeer in: Barzen 1988, S. 45).

Gleichzeitig wird angenommen, daß eine behinderte (Haus)Frau die Erwartungen an eine "gewöhnliche" Frau nicht erfüllen kann, was sich beispielsweise auch daran zeigt, daß werdende behinderte Mütter häufiger negativen Reaktionen der Umwelt ausgesetzt sind als Frauen im allgemeinen und behinderte Väter (Hermes 1998, S. 55).

Das Phänomen der doppelten Benachteiligung kann in vielen Bereichen - wie auch hier - beobachtet werden. Darauf will ich aber noch in einem anderen Zusammenhang verweisen.

Der Kern der Stereotypisierung besteht aber darin, daß nicht behinderte behinderten Personen absprechen, ein vollwertiger Mensch zu sein (Zeller in: Barzen 1988, S. 105). Auch Jürgen Hohmeier hat bereits darauf hingewiesen, daß es Stigmatisierten unmöglich ist oder zumindest schwer fällt, als vollwertiger Interaktionspartner anerkannt zu werden (Hohmeier 1975, S. 6). Daraus resultieren dann auch die bereits skizzierten und später noch ausführlicher behandelten Haltungen und Reaktionen.

3.3. VORURTEILE

Wie bereits vorhin erwähnt, spielt die gesellschaftliche Haltung gegenüber behinderten Menschen auch in puncto Elternschaft eine relevante Rolle. Diese Haltung ist aber leider oft negativ geprägt und manifestiert sich unter anderem auch in den Vorstellungen, den Bildern und daraus folgend in den Vorurteilen, die behinderten Menschen entgegengebracht werden. Es gibt eine Unmenge davon, und diese bestimmen den Umgang mit behinderten - und natürlich auch mit blinden - Menschen ganz wesentlich. Renate Walthes schreibt dazu:

"Diese Vorstellungen über die Wirkung von Phänomenen (hier handelt es sich um Behinderung M. F.) bestimmen die Kommunikation in der konkreten Situation wesentlich mit und sind daher selbstverständlich entscheidende Faktoren." (Walthes in: Neumann 1997, S. 92)

Als Vertreterin einer konstruktivistischen Sichtweise geht Walthes davon aus, daß nicht Behinderung an sich sondern eben die eingebrachten Vorstellungen über Behinderung und deren Träger die Kommunikation, den Umgang und das Handeln stören und somit erst Behinderung entsteht. Sie gründen sich auf vorurteilsgeleitete Antizipationen. Diese Vorstellungen resultieren - im Sinne der traditionellen Vorurteilsforschung - aus Vorannahmen, Sichtweisen und subjektiven Theorien, die man sich von (behinderten) Menschen zusammenreimt. Man kreiert ein Bild, das aber oft nicht der Realität entspricht. Gisela Hermes macht dies deutlich, wenn sie von den gängigen gesellschaftlichen Bildern (=Stereotypen) von behinderten Personen spricht. Sie seien hilflos, abhängig, entscheidungsunfähig und zudem noch leistungsgemindert, was auf einem medizinischen Verständnis von Behinderung als Defizit basiert (Hermes 1998, S. 18).

Diese Vorstellungen dienen als Grundlage zur Konstruktion falscher Bilder. Aus jenem Gemenge etabliert sich eine Vielfalt an Vorurteilen. Diese sind nach Abu El-Gyab-Wiesmayr das Resultat innerer Unsicherheit (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 7; vgl. auch Goffman 1996, S. 23, 24).

Meines Erachtens nach entsteht diese innere Unsicherheit aus Unwissenheit, welche die Folge der Kontaktarmut zwischen nicht behinderten und behinderten Menschen ist. Jene "Normabweicher" wurden vielfach in Heime gesteckt und verwahrt. Dort sollten sie eine "angemessene" und auf sie abgestimmte Beschulung erhalten, jedoch verschwanden sie dadurch aus der Öffentlichkeit. Behinderte Kinder, die aufgrund der großen Distanz zwischen ihrem Heimatort und einer ihren speziellen Bedürfnissen entsprechenden Einrichtung den Großteil ihrer Schulpflicht in dieser Sonderschule mit angeschlossenem Internat verbrachten, lebten in ihrer eigenen in sich geschlossenen Welt. Sie kamen nur noch an bestimmten Wochenenden, Feiertagen oder Ferien nach Hause und verloren mit der Zeit immer mehr den intensiven Kontakt und Austausch mit ihren Familien und der Umwelt. Sie mußten sich ihre eigene Welt innerhalb der Sondereinrichtung aufbauen und konnten sich somit auch nicht in Austauschprozesse mit der "Außenwelt" einlassen. Aufgrund der sporadischen Besuche nahmen sie diese immer nur ausschnittsweise wahr, und so blieb sie für die "Heiminsassen" immer mehr oder weniger fremd.

Gleichzeitig war es der nicht behinderten Umwelt unmöglich, intensive Kontakte mit den behinderten Menschen aufzunehmen. Sie kannten diese nur aus der Distanz. Dadurch entstanden falsche Vorstellungen von den im Internat untergebrachten Schülern. Man kannte sie nicht, wußte nicht, wie man mit ihnen umgehen sollte und "produzierte" - aus diesem Defizit an Wissen heraus - Vorurteile.

Jedoch muß ich fairerweise hier auch anmerken, daß sich in letzter Zeit einiges an der strengen Internatsunterbringung und den sporadischen Wochenendbesuchen der Familie geändert hat.

Die vorhin genannte Distanz zwischen jenen beiden Lagern wurde immer größer, denn es existierten auch Ängste, das gleiche Schicksal erleiden zu können, Schuldgefühle und Verdrängung gegenüber Behinderung und deren Träger. Diese stellen ja bestehende Normen - vor allem Leistungsnormen - in Frage (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 7; Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 111).

Die Reaktion darauf war und ist massive Unsicherheit. Auf diese Weise entstehen Barrieren, Vorstellungen und Vorurteile, die nicht hinterfragt sondern unreflektiert übernommen und weitergegeben werden. Neumann spricht sogar von der "Vererbung" der Vorurteile von einer Generation an die nächste (Neumann 1997, S. 26). Andererseits unterliegen jene Haltungen auch einem gesellschaftlichen Wandel.

Den entgegengebrachten Vorurteilen kommt eine enorme Bedeutung zu, denn diese bestimmen den Alltag blinder und sehbehinderter - aber auch anderer behinderter - Personen und vor allem den der weiblichen Mitglieder der genannten Behindertengruppe wesentlich (Zeller in: Barzen 1988, S. 79). Auch Gudrun Abu El-Gyab-Wiesmayr weist auf die besondere Betroffenheit behinderter Frauen hin (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 16). Dies mag auffallend sein, läßt sich aber erklären. Die Frau wird in erster Linie auf die Bereiche Kinder, Familie, Haushalt und Sexualität festgelegt, und diese Denkweise zieht sich durch sämtliche Epochen vom antiken Rom bis zum Nationalsozialismus (Lorbeer in: Barzen 1988, S. 17).

Wohl wird es heute aufgrund emanzipatorischer Bewegungen nicht mehr so extrem gehandhabt werden, dennoch gehören aber die genannten Bereiche zu einer Bestimmungsgröße in den Rollenerwartungen an eine Frau. Und gerade jene "Aufgaben" werden besonders einer behinderten Frau abgesprochen und nicht zugetraut. Die gesellschaftlichen Vorstellungen von einer Frau stehen jenen von einer behinderten konträr gegenüber (Hermes 1998, S. 19). Dies zeigt sich an den vielfältigen Vorstellungen und Vorurteilen, die einer behinderten Frau entgegengebracht werden, und die nun am Beispiel blinder und sehbehinderter Frauen näher ausgeführt werden sollen.

Im allgemeinen basieren diese Vorstellungen und Vorurteile - wie bereits öfters erwähnt - auf einem komplett falschen Bild von blinden und sehbehinderten Menschen (Zeller in: Barzen 1988, S. 79; Hermes 1998, S. 18).

Zu Beginn möchte ich mich der Partnerschaft von blinden und sehbehinderten Menschen widmen. Auffallend dabei ist, daß blinde Männer häufiger verheiratet waren und sind als blinde Frauen (Zeller in: Barzen 1988, S. 79; Heitkamp in: Burger 1992, S. 105 und 165). Daraus ergibt sich für mich die Schlußfolgerung, daß blinde Männer eher die Möglichkeit haben, die an sie herangetragenen gesellschaftlichen Erwartungen (Beruf, Arbeit,...) trotz des "Defektes" zu erfüllen. Sie sollten die Geldverdiener der späteren Familie sein, und dieser Anforderung können auch blinde Männer ohne weiteres nachkommen.

Gleichzeitig wurde auch erwähnt, daß sich die "natürliche" Aufopferung, mütterliche Fürsorge und Hilfsbereitschaft einer sehenden Frau auch günstig auf eine Partnerschaft mit einem blinden Mann auswirken werde (Heitkamp in: Burger 1992, S. 165; Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 11).

Zeller treibt dies auf die Spitze, wenn sie anführt, daß manche sehenden Frauen ihren blinden Männern alles (Brot streichen, Fleisch schneiden, Kleidung vorbereiten,...) aus der Hand nehmen (Zeller in: Barzen 1988, S. 79).

Dies betrachte ich schon als extrem und ebenso als Vorurteil, die sie gegenüber manchen Ehen von einer sehenden Frau und einem blinden Mann hegt. Dasselbe könnte beispielsweise in modifizierter Form auch in einer ganz "normalen" Partnerschaft auftreten und muß nicht durch die Blindheit bedingt sein.

Außerdem bin ich der Ansicht, daß sich Zellers Extrembeispiel wohl auf eine Beschreibung der Verhältnisse des letzten Jahrhunderts beziehen muß. Frauen sehen sich heute nicht mehr als ausschließliche "Dienstmagd" ihres Partners und der Kinder, sondern beziehen diese auch in Haushaltstätigkeiten ein, vor allem auch, wenn sie berufstätig sind. Zusätzlich meine ich, daß sich auch die Haltung der Männer verändert hat. Es gibt keine so rigide Aufgabentrennung mehr, denn diese ist viel flexibler geworden. Einige kochen, backen,... selbst gerne, beteiligen sich im Haushalt und lassen dies nicht nur die alleinige Aufgabe der Frau sein. Ich kann mir problemlos vorstellen, daß dies auch auf Haushalte mit einem blinden Mann zutrifft.

Damit ist die Kritik jedoch noch nicht beendet. Das erwähnte Abnehmen aller Aufgaben beinhaltet wiederum ein falsches Bild von einem blinden Menschen. Demzufolge ist dieser hilflos und passiv, was aber auf keinem Fall der Wirklichkeit entspricht. Es muß eine Demütigung speziell für blinde Männer und auch Frauen sein, wenn ihnen jeder Handgriff von anderen erledigt und jede Aufgabe abgenommen wird.

Diese entspricht auch so absolut gar nicht meinen Erfahrungen, die ich mit blinden Menschen, (Ehe)Männern und (Ehe)Frauen machte. Wenngleich sie - aber ich schließe mich selbst mit ein - nicht alle Aufgaben ohne fremde Hilfe bewältigen können, wissen sie sehr genau, wann und ob sie sich in ihrem Vorhaben unterstützen lassen (müssen). Dies sollte aber dem Betreffenden überlassen werden, und vor allem sollte man Verallgemeinerungen und Klischees vermeiden. Grundsätzlich möchte ich feststellen, daß eine blinde Person ein Individuum wie jedes andere auch ist, wenngleich sie etwas andere Voraussetzungen hat. Man sollte sie deshalb auch wie einen "normalen" Menschen sehen und sie dementsprechend behandeln.

Anmerken möchte ich dazu noch, daß es auch einen großen Einfluß auf den späteren Lebensverlauf, auf die Partnerschaft und auf die Selbständigkeit hat, wie ein blinder Mensch aufgewachsen ist. Wird ihm aus Mitleid, Gutmütigkeit, Schuldgefühl oder Zeitersparnis jede Aufgabe aus der Hand genommen und keine Möglichkeit geboten, eigene Erfahrungen zu sammeln, so wird sich dies als "Altlast" auch auf sein späteres Leben auswirken. Man muß auch behinderten Menschen Verantwortung und Aufgaben übertragen - auch auf die Gefahr hin, daß irgend etwas schieflaufen oder mehr Zeit beanspruchen könnte. Aber nur auf diese Weise werden ihnen dieselben Entwicklungsmöglichkeiten geboten wie nicht behinderten Menschen auch.

Nach diesem kleinen Exkurs will ich nun wieder zu den konkreten Vorstellungen bezüglich einer Partnerschaft mit einer blinden Frau eingehen.

Diese wurde im Gegensatz zu einer erwünschten Ehe eines blinden Mannes mit einer sehenden Frau im letzten Jahrhundert verachtet (Büttner 1888, S. 49 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 106). Als "Gründe" dafür wurden unter anderem angeführt, daß es eine blinde Frau nicht verstehen würde, die Aufmerksamkeit eines Mannes für längere Zeit auf sich zu lenken. Sie müsse ein sehr hohes Maß an Einfühlungsvermögen aufbringen können, um sich für den Beruf und die Arbeit ihres Gatten zu interessieren. Problematisch dabei ist, daß eine blinde Frau von Jugend an daran gewöhnt sei, zu empfangen, aber nichts für andere zu geben, für andere zu leben und sich für sie aufzuopfern (Büttner 1888, S. 51 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 106).

Daraus resultierte dann auch der Glaube, ein sehender Mann würde eine blinde Frau sowieso nur aus Mitleid, aber nicht aus Liebe zu seiner Partnerin erwählen (Heitkamp in: Burger 1992, S. 167).

Wenn man sich allein schon dieses Denken vor Augen führt, kann man sich das Schicksal blinder Frauen ausmalen. Die Ehe bzw. Partnerschaft war für sie ein absoluter "Ausnahmezustand".

Gleichzeitig sind Büttners Aussagen ein Spiegel dessen, was aus einer Heimunterbringung resultiert. Dies sind nämlich Isolation, Introvertiertheit und blindenstereotypes Verhalten.

Zudem zeigt jenes Beispiel auch - für moderne Menschen - im übertriebenen Ausmaß die Vorstellungen über eine (blinde) Frau. Diese sollte sich für ihren Mann, falls sie einen "ergattern" konnte, aufopfern.

Neben diesen vielleicht etwas "altertümlichen" Einwänden und Vorstellungen streicht unter anderem Else Momrak Haugann heraus, daß es für blinde - speziell für früherblindete - Frauen besonders schwierig ist, einen Partner zu finden (Momrak Haugann in: horus 1984, S. 3).

Meiner Ansicht nach ist dies eine Folge der jahrelangen Heimunterbringung, die zur Isolation führt. Andererseits hebt sie auch die Bedeutung der Attraktivität der Frau hervor. Gleicher Meinung ist auch Katrin Lorbeer, die die Wichtigkeit der äußeren Erscheinung für die Frau betont (Lorbeer in : Barzen 1988, S. 18; vgl. auch Heßmer 1977, S. 162 nach: Heitkamp in: Burger 1992, S. 168).

Einige Aspekte wurden bereits angesprochen, und als treffende Stellungnahme und Erweiterung möchte ich die folgende anführen:

"Männer legen großen Wert auf die äußere Attraktivität ihrer Frau, denn sie werden daran gemessen und gewinnen durch die Schönheit der Frau Ansehen. Im Gegensatz dazu erlangt die Frau Ansehen durch den sozialen Rang des Mannes." (Krause in: Burger 1992, S. 212)

In der gleichen Weise bringt auch Else Momrak Haugann diesen Aspekt zur Sprache. Sie schreibt:

"In der traditionellen Frauenrolle wird viel Wert auf das Aussehen gelegt. Für eine Frau ist es wichtig, schön zu sein. Um anziehend und wertvoll als Partnerin zu erscheinen, soll die Frau gut aussehen, während der Mann tüchtig und erfolgreich im Beruf sein muß." (Momrak Haugann in: horus 1/1984, S. 3)

Weiter schreibt sie, daß Blindheit jedoch eine stark negative Wirkung auf das Bild der "schönen Frau" hat.

An diesen Beispielen kann man wiederum die unterschiedlichen Rollenerwartungen an Männer und Frauen klar erkennen. Während von Frauen erwartet wird, daß sie dem gängigen gesellschaftlichen Schönheitsideal entsprechen, verlangt man von Männern Leistungen und Erfolg im Beruf. Dies kann auch noch auf die heutige Zeit in gemäßigter Form übertragen werden.

Zudem wird Schönheit und Attraktivität in Verbindung mit Sexualität gebracht, was wiederum zu negativen Auswirkungen für die behinderte/blinde Frau führt. Diese entsprechen aber nicht den ästhetischen und Leistungsnormen der Gesellschaft (Lorbeer in: Barzen 1988, S. 28).

Hier frage ich mich, was unter schön zu verstehen ist? Das Schönheitsideal ist gesellschaftlich geprägt und unterliegt daher einem Wandel. Sie ist demnach ein sehr variabler Faktor.

Außerdem bleibt mir ein Rätsel, warum eine blinde Frau nicht als attraktiv gelten kann. Sie ist doch genauso, wie jede andere Frau auch, dazu in der Lage, sich beispielsweise geschmackvoll und schön zu kleiden oder zu schminken. Warum sollte sie sich nur aufgrund ihres herabgesetzten Sehvermögens wie ein Bettler kleiden?

Es mag wohl für manche blinde und sehbehinderte Frauen schwieriger sein, zu modischen oder ihrem Geschmack entsprechenden Kleidern zu kommen, jedoch sollte dies das "Problem" der Betreffenden sein, welches sich aber auch auf verschiedenste Art und Weise lösen läßt.

Übrigens bin ich der Auffassung, daß allein schon das Wissen, ein schönes Kleid aus einem feinen und angenehmen Stoff zu tragen, auch einer blinden Frau viel Spaß und Freude bereitet. In Wirklichkeit aber kommt wahre Schönheit und Attraktivität von innen - verbunden mit einer Herzlichkeit und Fröhlichkeit. Sie hat somit viel mit der Ausstrahlung einer Person zu tun. Ausschlaggebend ist die Qualität und sollte nicht an Äußerlichkeiten aufgehängt werden, wenngleich natürlich der erste Eindruck über einen Menschen "normalerweise" durch den Blick zustande kommt.

Abu El-Gyab-Wiesmayr fährt fort und faßt gleichzeitig zusammen, indem sie feststellt, daß eine blinde Frau nicht eine ideale Partnerin repräsentiert (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 20). Wie bereits erwähnt, steht die Behinderung im Vordergrund, und alle anderen Merkmale (Frausein, Partnerin) rücken in den Hintergrund. Die Behinderung stellt also das dominante Merkmal dar, was übrigens nicht nur bei der Betrachtung behinderter Frauen, sondern auch bei behinderten Männern, der Fall ist (Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 110; Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 6 und 25; Goffman 1996, S. 24).

Wenn eine Partnerschaft oder eine Ehe einer körperbehinderten Frau noch geduldet wird, so ist der Wunsch nach einem eigenen Kind unfaßbar (Läseke in: Barzen 1988, S. 75). Es kommt sogar so weit, daß ihnen der Wunsch nach Kindern abgesprochen wird, was Abu El-Gyab-Wiesmayr als das tiefgreifendste Vorurteil bezeichnet (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 24).

Nicht behinderte Menschen können es sich vielfach nicht vorstellen, daß behinderte Personen eine zentrale Funktion innerhalb einer Familie einzunehmen imstande sind (Hermes 1998, S. 11).

Wie soll dies funktionieren? Nach weitverbreiteter Anschauung haben ja behinderte und auch blinde Menschen Probleme, für sich selbst zu sorgen und ihren eigenen Haushalt zu führen (Zeller in: Barzen 1988, S. 80; Heitkamp in: Burger 1992, S. 167). Es wird einfach vorausgesetzt, daß verantwortliche Elternschaft blinder Menschen ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Die unterschiedlichsten Gedanken treten hier zu Tage und reichen von der Unfähigkeit der Kindererziehung (Zeller in: Barzen 1988, S. 95) bis zur Befürchtung, blinde Menschen wären der Verantwortung für ein Kind nicht gewachsen (Paul 1986, S. 2).

Bedenken treten immer wieder in den Vordergrund, diese werden aber bei Kontakt mit behinderten Eltern (meist) revidiert und wanken (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 8). Diesen Ansatz vertritt auch Zeller, die die Relevanz des praktischen Vorlebens betont (Zeller in: Barzen 1988, S. 109).

Einen wichtigen Schritt schlägt Elisabeth Wacker vor. Sie appelliert an Selbsthilfeorganisationen und Politik, einen Schritt in Richtung mehr Information und Aufklärung zu tun. Zum einen meint sie die Information der behinderten Menschen selbst, zum anderen aber die Gesellschaft. Dadurch sollen falsche Vorstellungen modifiziert und Vorurteile abgebaut werden (Wacker in: Neumann 1997, S. 83). Zusätzlich sollte der Kontakt zwischen nicht behinderten und behinderten Menschen verbessert und damit die Schwellenängste, Unwissenheit und Unsicherheit reduziert werden, was auch durch die Integrationsbewegung unterstützt wird. Somit könnte man die schwierige Situation behinderter Eltern wesentlich angenehmer gestalten.

Trotz der vielen gesellschaftlichen Vorurteile nimmt die Zahl behinderter Eltern immer mehr zu (Hermes 1998, S. 11). Ist dies ein Zeichen dafür, daß sich die Aufklärung und Information behinderter Menschen durch die Erzieher verbessert hat? Oder bestätigt dies die Tatsache, daß sich immer mehr Betroffene in die Öffentlichkeit wagen und sich nicht mehr länger in ihre eigenen vier Wände zurückziehen.

3.4. STIGMATISIERUNG

Die Situation behinderter Menschen stellt - wie bereits vorhin ausgeführt - eine recht schwierige dar. Sie sind Stereotypisierungen und Vorurteilen ausgesetzt, welche sie an der vollständigen gesellschaftlichen Teilhabe hindern (Hohmeier 1975, S. 5; Wacker in: Neumann 1997, S. 79). Bilder werden entworfen, die behinderten Menschen feindlich gegenüberstehen und deren Alltag erheblich erschweren. Dabei kommt der Gesellschaft eine enorme Bedeutung zu.

Ein weiteres Phänomen, dem unter anderem auch behinderte Menschen ausgeliefert sind, stellt die Stigmatisierung dar, auf welche ich nachstehend mein Augenmerk richten werde. Sie führt nämlich zu Diskriminierung und Ausgrenzung - also dazu, daß eine stigmatisierte Person nicht vollwertig akzeptiert wird (Hohmeier 1975, S. 6; Goffman 1996, S. 7).

Wie bereits an anderer Stelle erwähnt (2.3. Behinderung aus gesellschaftskritischer und konstruktivistischer Sicht) spielt auch hier die Gesellschaft eine wichtige Rolle. Sie bestimmt, was als "normal" und was als "Normabweichung" gilt. Und gerade dies kann auch auf die Stigmatisierung übertragen werden.

Einleitend möchte ich ein Beispiel anführen, das den Einstieg ins Thema etwas vereinfachen soll.

Eine Person spaziert hastig durch die Straßen einer Stadt, und in ihrer Eile kommt ihr ein Mann entgegen, der sich anders als die üblichen Passanten mit einem weißen Stock in der Hand fortbewegt. Es ist offensichtlich, daß es sich dabei um einen blinden Mitmenschen handeln muß.

Diese gestreßte Person sieht hier jemanden, der sich durch ein Merkmal von der Allgemeinheit deutlich unterscheidet, was durch sein Hilfsmittel, dem weißen Stock, signalisiert wird. Dieser Mann hat also eine Eigenschaft, die ihn von den "Normalen" differenziert, aber für manche von einer weniger wünschenswerten Art ist (Goffman 1996, S. 10).

Stigmatisierung baut also auf der Beobachtung von Eigenschaften und Verhaltensweisen auf, die nicht der Mehrheit entsprechen. Der Träger dieser Eigenschaften wird als deviant (=abweichend, andersartig) wahrgenommen, was wiederum in enger Relation mit der Gesellschaft zu betrachten wäre. Sie ist es nämlich, die Normalität definiert (Hohmeier 1975, S. 1), aber jene unterliegt auch - wie im Abschnitt 2.1. (Behinderung aus anthropologischer Sicht) angeführt - gesellschaftlichen Veränderungen.

Man nimmt also ein Merkmal, eine Eigenschaft, ein Verhalten wahr und definiert diese/s als negativ (Hohmeier 1975, S. 2). Dadurch erhält der Träger ein Stigma und ist aufgrund der negativen Definition von der vollwertigen gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen und dazu determiniert, ein schwereres Leben führen zu müssen (Tilmann Moser in: Goffman 1996, Klappentext; Hohmeier 1975, S. 2; Wacker in: Neumann 1997, S. 79).

Auffallend dabei ist, daß grundsätzlich jede Eigenschaft, jedes Merkmal und jede Verhaltensweise positiv oder negativ bewertet und damit - bei letzterem - als deviant definiert werden kann (Hohmeier 1975, S. 2).

Goffman schreibt dazu:

"Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend." (Goffman 1996, S. 11)

Daraus folgt, daß nicht das Merkmal oder die Eigenschaft als deviant, und somit als Stigma gelten kann, sondern daß Stigmatisierung erst durch die negative Definition des Merkmals der Gesellschaft zustande kommt (vgl. auch Hohmeier 1975, S. 1). Ein Devianter ist nach Howard S. Becker eine Person, der ein Etikett erfolgreich zugeschrieben wurde (Becker 1963, S. 9 nach Hohmeier 1975, S. 1).

An dieser Stelle möchte ich nochmals darauf verweisen, wie bereits in Punkt 2.3. (Behinderung aus gesellschaftskritischer und konstruktivistischer Sicht) erwähnt, daß nicht das "Merkmal Behinderung" zu Schwierigkeiten im alltäglichen Leben führt, sondern die Ursache dafür eindeutig in der negativen gesellschaftlichen Bewertung von Behinderung begründet liegt.

Daraus läßt sich folgern, daß Stigmatisierung beim Erkennen eines Merkmals oder einer Eigenschaft beginnt, die im unerwünschten Maße von der Norm abweicht und deshalb eine negative Bewertung erfährt.

"Der Begriff Stigma ... bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch eine Eigenschaft, die ihren Träger diskreditiert (bedeutet: in Verruf bringen). (Goffman 1974, S. 9 nach: Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 12) Durch diese Eigenschaft erfährt die Person eine Abwertung, sie ist stigmatisiert."

Ein ganz bedeutsamer Faktor bei der Stigmatisierung ist also ein Merkmal, welches von anderen gesehen wird (Goffman 1996, S. 64; Lorbeer in: Barzen 1988, S. 27). Man nimmt dieses wahr, und sofort setzen Antizipationen über den Anderen ein. Man spricht vom "antizipierten Anderen" (Goffman 1996, S. 10). Diese Annahmen werden aber oft hingenommen und nicht weiter hinterfragt (Hohmeier 1975, S. 2; Goffman 1996, S. 10; Neumann 1997, S. 32).

Dabei kann man von zwei Gruppen von Stigmatisierung Bedrohten sprechen. Die eine ist die, der Diskreditierten. Diese nehmen an, daß ihre Andersartigkeit bekannt oder unmittelbar evident ist (Goffman 1996, S. 12 und 56). Zu dieser Gruppe kann man zum Beispiel einen blinden Menschen, einen Rollstuhlfahrer, einen torkelnden Alkoholiker, einen Schwarzen oder einen Pater in seiner Kutte zählen.

Ihnen sieht man ihre Zugehörigkeit meist auf dem ersten Blick an, weil sie Symbole (Goffman 1996, S. 58) tragen, die entsprechende soziale Informationen vermitteln. Diese Symbole sind bei den genannten Personen der weiße Stock, eine Schleife, ein Blindenführhund, ein Rollstuhl, das Torkeln und die Alkoholfahne, die dunkle Haut des Schwarzen sowie die Kutte des Paters. Man spricht dabei von der Visibilität (=Sichtbarkeit M. F.) des Stigmasymbols (Müller 1993, S. 15).

Gleichzeitig muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß die Zuverlässigkeit von Symbolen nicht immer gegeben ist. Ein und dasselbe Zeichen kann von der einen Gruppe positiv, von der anderen jedoch negativ definiert (Goffman 1996, S. 62) und somit nicht eindeutig zugeordnet werden (Goffman 1996, S. 63). Wenn nun beispielsweise jemand schwankend den Gehsteig entlang spaziert, kann dieses Verhalten unterschiedlich begründet sein. Er kann möglicherweise Probleme mit dem Kreislauf haben, an einer Krankheit leiden oder auch nur wieder zu tief ins Glas geschaut haben.

Die zweite Gruppe stellt die der Diskreditierbaren dar, welche annehmen, daß ihre Andersartigkeit weder unmittelbar offensichtlich noch bekannt ist. Diese Personen können aber auch nur annehmen, daß ihre "Besonderheit" unentdeckt ist. Man spricht hierbei von der Gruppe der bereits oben Genannten. Dazu zählen beispielsweise sehbehinderte Menschen, die ohne Kennzeichnung unterwegs sind und sich ganz "normal" bewegen, Homosexuelle, Diabetiker oder auch Entlassene aus der Strafanstalt. Diese Personen tragen kein offensichtliches Symbol, an dem man ihre wahre Identität erkennen könnte.

Für Diskreditierbare ergibt sich jedoch das folgende Problem:

"Das entscheidende Problem ist es nicht, mit der Spannung, die während sozialer Kontakte erzeugt wird, fertig zu werden, sondern eher dies, die Information über ihren Fehler zu steuern." (Goffman 1996, S. 56)

Das Schwierige dabei ist also, ob der Diskreditierbare sein Geheimnis preis geben, wem er es sagen, wann, wie und wieviel er davon offenbaren soll. Tut er es, so ist er der Mißachtung und Diskriminierung der Umwelt ausgesetzt. Tut er es aber nicht, so muß er ständig mit der Angst leben, irgendwann doch entdeckt zu werden (Tilmann Moser in: Goffman 1996, Klappentext). So muß sich der Diskreditierbare darüber im Klaren sein, wie er mit der Information umgeht. Man spricht hier auch vom sogenannten "Stigmamanagement" (Hohmeier 1975, S. 6; Goffman 1996, S. 57 und 107). Oft entschließt er sich dann auch dazu, das Geheimnis für sich zu behalten, um sich selbst zu schützen und andere mit der Mitteilung der Wahrheit zu verschonen (Tilmann Moser in: Goffman 1996, Klappentext). Er muß aber auf alle Fälle die Balance zwischen Sagen und nicht Sagen halten können. Es geht dabei um das Problem der Steuerung von sozialer Information.

"Eröffnen oder nicht eröffnen; sagen oder nicht sagen; rauslassen oder nicht rauslassen; lügen oder nicht lügen; und in jedem Fall, wem, wie, wann und wo." (Goffman 1996, S. 56)

Diese Situation bringt den Betroffenen in erhebliche Konflikte mit sich selbst. Goffman spricht demnach auch von den Techniken der Bewältigung einer beschädigten Identität. Diese sind sehr vielseitig und reichen von der Täuschung bis hin zur Anpassung, welche eine Möglichkeit ist, seine eigene Person zu schützen. Maßnahmen werden ergriffen, um so "normal" wie möglich zu erscheinen, damit auf keinem Falle Verdacht geschöpft werden kann. Diese Last der Anpassung wird in Kauf genommen, um im positiven Glanz zu erscheinen und die "Normalen" zu schützen (Tilman Moser in: Goffman 1996, Klappentext).

Diese Tendenz kann auch sehr gut an einigen sehbehinderten Personen festgestellt werden. Man liest immer wieder (Zeller in: Barzen 1988, S. 85; Hermes 1998, S. 12), daß blinde und vor allem sehbehinderte Personen bemüht sind, nicht aufzufallen. Sie versuchen, sich so gut wie möglich der Allgemeinheit anzupassen und machen auf ihre speziellen Bedürfnisse nicht aufmerksam. Es mag wohl für eine sehbehinderte Person möglich sein, sich weitestgehend der "Normalität" anzugleichen, jedoch irgendwann kommt man auch ihr auf die Schliche.

Dabei kann ich grundsätzlich nichts Negatives feststellen, denn wer will schon überall als "Besonderheit" gelten. Man kommt schließlich auch bald in Verruf, ein Außenseiter zu sein. Man will nicht, daß andere ständig auf einen Rücksicht nehmen müssen, denn man möchte schließlich nicht zur Last fallen. So überlegt man sich sehr wohl, wem und wann man jemanden seine "Besonderheit" kund tut.

Einen wesentlichen Grund für diese Verhaltensweise sehe ich eben in der gesellschaftlichen Abwertung von Behinderung. Die Umwelt ist vielfach hilflos, wenn es darum geht, behinderten Menschen neutral zu begegnen. Sie weiß, daß ihr Gegenüber von der Norm abweicht und sieht diese Tatsache als dominantes Merkmal (Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 110). Dieses überlagert alle anderen und wird oft auch als Erklärung für Mißerfolge der Person herangezogen.

"Zur gleichen Zeit können - ... - kleinere Fehler oder zufällige Fehlleistungen als ein direkter Ausdruck seiner stigmatisierten Andersartigkeit interpretiert werden." (Goffman 1996, S. 25)

Andererseits verwenden Stigmatisierte selbst ihr Merkmal (z. B. Blindheit, Gehörlosigkeit,...) dafür, Fehler zu entschuldigen und einen sekundären Gewinn aus ihrer Situation zu ziehen (Goffman 1996, S. 20). Oft jedoch steht das Merkmal in keinem Zusammenhang mit dem zu erklärenden Sachverhalt.

Jedoch kann man auch mit Erstaunen feststellen, daß bei Stigmatisierten ansonsten ganz "normale" Tätigkeiten als besondere Leistungen verstanden werden (Goffman 1996, S. 25). Dies begründet sich damit, daß es bei Stigmatisierung zur Typifikation kommt. Eine Eigenschaft wird bei einer Person entdeckt, als negativ definiert und im gleichen Moment auf die ganze Person übertragen, die folglich auch mit vielen negativen Merkmalen wahrgenommen wird (Hohmeier 1975, S. 2). Das eine Merkmal dominiert alle anderen und färbt diese im negativen Sinne (Lorbeer in: Barzen 1988, S. 27; Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 6 und 25; Radtke in: Fetka-Einsiedler/Förster 1994, S. 110; Goffman 1996, S. 24). Demzufolge wird die gesamte Person mehr oder weniger negativ bestimmt.

So kann es auch vorkommen, daß mit Verwunderung festgestellt wird, daß auch eine blinde Frau sauber putzen, kochen, mit Kindern gut umgehen,... kann. Es entspricht zwar nicht der gesellschaftlichen Norm und wird deshalb auch oft skeptisch betrachtet.

Auf einen weiteren und auch schon von mir mehrfach angeführten Aspekt weist Goffman hin:

"Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet." (Goffman 1996, S. 9,10)

Wiederum möchte ich darauf aufmerksam machen, daß der Gesellschaft eine wichtige Bedeutung bei der Stigmatisierung zukommt. Sie schafft Kategorien, steckt den Rahmen, in dem sich ihre Mitglieder bewegen dürfen, stellt normative Erwartungen, denen entsprochen werden soll. Wenn aber jemand durch eine Eigenschaft, ein Merkmal oder ein Verhalten von den Standards in negativer Weise abweicht und dadurch den Erwartungen nicht entsprechen kann, steht er in Gefahr, ein Stigmatisierter zu werden. Die Entscheidung, ob etwas als positiv oder negativ interpretiert wird, liegt wiederum im Ermessen der Gesellschaft und ihren Mitgliedern. Es ist also eine Sache der Definition und folglich äußerst relativ.

Schon beim ersten Betrachten einer Person werden ihre besonderen Merkmale entdeckt, sofern sie offensichtlich erkennbar sind, und sogleich werden Vorstellungen über das Gegenüber eingebracht. Daraus zieht Goffman den Schluß:

"In unserer Vorstellung wird sie so von einer ganzen und gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigten herabgemindert. Ein solches Attribut ist ein Stigma,..." (Goffman 1996, S. 10,11)

Diese Person erhält also einen Stempel aufgedrückt, der den Beobachter dazu verleitet, sein Gegenüber in einem anderen Licht zu betrachten. Der "Makel" tritt immer wieder in den Vordergrund und beeinflußt dadurch die Betrachtung des Beobachters. Das negative Merkmal, das offensichtlich oder auch verborgen ist, wirkt dominant und bleibt ständig im Bewußtsein manifest.

Auch am Beispiel blinder und sehbehinderter Menschen wird dies deutlich. Man nimmt diese Personen durch ihr Merkmal als besondere wahr. Vorstellungen setzen ein, in deren Fokus aber immer wieder die Blindheit bzw. Sehbehinderung ist. Dazu kommt noch, daß sich aus Vorurteilen und Stereotypen ein Klischee eines blinden bzw. sehbehinderten Menschen etabliert. Dieser wird nicht mehr individuell wahrgenommen sondern als substantivierter und generalisierter Blinder bzw. Sehbehinderter in den Vorstellungen der Mitmenschen existent. Zu schnell passiert es, wenn man zum Beispiel einem ruhigen, blinden Individuum zum ersten Mal begegnet, daß man daraus den Schluß zieht, alle blinden Leute wären ruhig, introvertiert,... Darauf wurde bereits im Abschnitt 3.2. (Stereotypisierung) eingegangen.

Dadurch wird ein stigmatisierter Blinder bzw. Sehbehinderter immer mehr zu einem Fremden. Die Person wird von einem Moment auf den anderen von einer "gewöhnlichen" zu einer "besonderen". Dabei spielt - wie bereits gesagt - das visuelle Erkennen des Merkmals eine beachtliche Rolle. Dadurch wird der Betroffene mit anderen Maßstäben gemessen, sobald er das Stigma erhält, welches immer wieder überdeutlich betont wird. Was eigentlich "normal" wäre, ist bei ihm etwas Besonderes. Man überträgt ein schon vorgefertigtes Bild des Anderen auf den Stigmatisierten und bringt dieses - bewußt oder unwillkürlich - ständig in die Kommunikation mit ein. Gleichzeitig werden bei Stigmatisierten außergewöhnliche Interpretationsschemata angewandt. Seine "normalen" Fähigkeiten werden als besondere betrachtet (Goffman 1996, S. 24).

Ein weiterer interessanter Aspekt besteht darin, daß zum Beispiel bei der Stigmatisierung von blinden Menschen auch ihre anderen Kompetenzen angezweifelt werden, die mit dem die Stigmatisierung auslösenden Merkmal in keinem Zusammenhang stehen. So kann es auch passieren, daß blinde Personen angebrüllt werden, als wären diese taub (Goffman 1996, S. 14). Des weiteren wendet man sich bei Fragen an die Begleitperson, obwohl doch das Individuum "nur" blind nicht aber gehörlos, stumm oder geisteskrank ist.

Es kommt also zu einer Überlagerung der verschiedensten Bereiche, die aber in keinem Zusammenhang miteinander stehen.

Stigmatisierung geht also davon aus, daß nach dem Entdecken einer Andersartigkeit diese negativ beurteilt wird und zu falschen Vorstellungen, Stereotypen und daraus resultierend zu Diskriminierung, Absprechen eines vollwertigen menschlichen Daseins, Ausgrenzung und dem nicht vollständigen teilhaben Lassen am gesellschaftlichen Leben führt.

Auch blinde und sehbehinderte Menschen sind - wie gesagt - von diesem Vorgang nicht verschont, und auch deshalb müssen sie so manches Mal blindenfeindliche Reaktionen und Verhaltensweisen über sich ergehen lassen. Besonders betroffen sind davon auch Paare, in denen ein behinderter/blinder oder sehbehinderter Partner "mit im Bunde" ist. Zum einen sollte dieser "Normabweicher" sein Leben entweder in einem Heim fristen oder zumindest in einer für seine Behinderungsgruppe typische Weise verbringen. Vorausgesetzt wird dabei, daß er allein bleibt und keine Partnerschaft eingeht. Wenngleich auch blinden Personen da und dort gegenüber geistig behinderten Individuen Zugeständnisse gemacht werden, leiden sie dennoch an den scheinbar oft auf Diskriminierung drängende Bedingungen.

Blinde Partner fallen in doppelter Weise aus ihrer zugedachten Rolle: zum einen durch ihr nicht sehen Können und zum anderen durch ihren Partner- und/oder Kinderwunsch. Diese Tatsachen springen dem "Normalen" ins Auge, und Stigmatisierung setzt ein. Sogleich gesellen sich Vorstellungen hinzu, die eine Elternschaft blinder oder sehbehinderter Paare für unmöglich erscheinen lassen.

Die Folgen der Stigmatisierung sind für den Betroffenen vielfältig und schließen Mißachtung, Abwertung und Diskriminierung mit ein. Hohmeier gliedert die Konsequenzen in drei Ebenen:

"Die Folgen sind auf der Ebene der Teilhabe des Individuums an der Gesellschaft, auf der Ebene der Interaktionen mit Nicht-Stigmatisierten und schließlich auf der Ebene der Veränderung der Person in ihrer Identität zu betrachten." (Hohmeier 1975, S. 5)

Eine weitere Möglichkeit, Bedenken gegenüber der Elternschaft behinderter Personen zu äußern, sind Mitleidsbekundungen und Bewunderung. Auch jene "Überbringer" haben ein falsches Bild von Blindheit und Sehbehinderung vor Augen und können die "abweichenden" Personen nicht als "gewöhnliche" Menschen betrachten. Ihre Äußerungen und Reaktionen sind jedenfalls nicht ausschließlich von negativen Gedanken geleitet, sondern enthalten auch des öfteren ein Quentchen an positiven Haltungen. Dennoch erschweren sie den Alltag blinder und sehbehinderter Eltern und den ihrer Kinder.

Jedoch muß auch positiv angemerkt und anerkannt werden, daß doch ein großes Entgegenkommen, Toleranz und Hilfsbereitschaft von vielen Menschen aufgebracht wird, wenn diese über die Belange blinder und sehbehinderter Personen informiert sind und ihnen Möglichkeiten und Mittel zur Hilfestellung angeboten werden. Eine weitere wichtige Voraussetzung wäre eine offene und weniger vorurteilsgeleitete Begegnung zwischen sehenden und blinden/sehbehinderten Menschen.

Dies ist aber aufgrund mangelnder Kontaktmöglichkeiten schwierig, denn daraus resultiert Unsicherheit, welche sich jedoch nach dem Überwinden der "Schwellenangst" und beim besseren Kennenlernen rasch legt. Oft steht bei Unbeholfenheit auch die Angst im Zentrum, möglicherweise etwas falsch zu machen. Auch diese kann überwunden werden, wenn man einen blinden oder sehbehinderten Mitbürger auch als Mensch mit seinen Qualitäten sieht, der viele unterschiedliche Merkmale hat, von denen eines das ist, daß er nicht oder nicht vollständig sehen kann.

Bei Stigmatisierung wird dem Erläuterten zufolge aus einigen wenigen Indikatoren ein Höchstmaß von Vermutungen über eine Person bezogen (Lofland 1969, S. 142 f. nach: Hohmeier 1975, S. 4). Dem liegt ein Bedürfnis zur Einordnung des Anderen zugrunde. Stigmatisierung kann je nach Ausgangsposition als Projektion, Strategie zur Stützung seiner eigenen Identität, Systemstabilisierung oder als Herrschaftsfunktion verstanden werden (Hohmeier 1975, S. 4,5). Stigmatisierte haben eine Aufgabe, denn ohne sie wäre es nicht von Vorteil, normal zu sein (Bergler 1966, S. 97 nach: Hohmeier 1975, S. 5).

Neben all diesen negativ orientierten Funktionen der Stigmatisierung erwähnt Hohmeier auch jene der Orientierungshilfe in sozialen Interaktionen (Hohmeier 1975, S. 4). Er schreibt weiter, daß Stigmatisierung Situationen im Voraus strukturiert, dadurch Unsicherheit verringert wird und als Entscheidungshilfe dient.

Teilweise hat der Autor sicherlich recht. Zweifellos kann man sich aufgrund bestimmter Merkmale und Verhaltensweisen einen ersten Eindruck von der betreffenden Person machen. Gleichzeitig wird aber dieser Eindruck oft zu schnell konzipiert und ist vielfach nicht mehr aus dem Hinterkopf zu verdrängen. Er wird auch selten bzw. schwerfällig adaptiert und modifiziert und bleibt eine starre, kaum veränderbare, generalisierte Vorannahme vom Gegenüber.

Stigmatisierung wird aber nicht nur durch das Erkennen von oder das Wissen über ein Merkmal bzw. eine Verhaltensweise in Gang gesetzt. Sie tritt auch auf, wenn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe des Anderen oder ein "Verbrechen" aus der Vergangenheit bekannt wird. Es geht immer wieder darum, etwas "Fremdes" am Gegenüber zu entdecken, dieses negativ zu definieren und dementsprechend zu reglementieren. Auf jeden Fall ist Stigmatisierung das Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses.

3.5. ÜBERBLICK

Auch der Alltag blinder und sehbehinderter Menschen wird beeinflußt durch Stereotypisierung, Vorurteile und Stigmatisierung, die ihnen von Seiten der Gesellschaft entgegengebracht werden.

Jenen liegt oft ein einseitiges, falsches und vor allem defizitorientiertes Bild von blinden und sehbehinderten Personen zugrunde, welches meiner Meinung nach hauptsächlich durch die geringen Kontakte zwischen den beiden Gruppen zustande kommt. Folglich kennt das Umfeld blinde und sehbehinderte Leute nur aus der Distanz, hat keine Vorstellung von deren tatsächlichen Leben und nimmt diese dann als Fremde wahr.

Jene negativen gesellschaftlichen Haltungen bestimmen aber den Alltag blinder und sehbehinderter Individuen/Eltern und den ihrer Kinder ganz wesentlich.

Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, fand die Elternschaft behinderter Menschen sowohl in der Wissenschaft als auch im Denken der Gesellschaft mehr und mehr Beachtung. Zum einen werden diese Überlegungen geprägt von Skepsis, Bedenken und Zweifeln, zum anderen aber von Staunen, Anerkennung und Akzeptanz.

Nach der Analyse des Behinderungsbegriffes und der Auseinandersetzung mit den meist negativen gesellschaftlichen Haltungen gegenüber blinden und sehbehinderten Menschen/Eltern in den Kapiteln 2 und 3 möchte ich mich nun dem Leben der Betroffenen selbst widmen. Dabei werde ich mich einigen Bereichen zuwenden, die mir aufgrund meiner Literaturrecherchen und den anschließenden darauf aufbauenden Interviews mit sehbehinderten Eltern als besonders interessant erschienen.

Vorher richte ich aber meine Aufmerksamkeit noch kurz auf die von mir verwendete Forschungsmethode, die nachstehend noch ein wenig erläutert werden soll.

4. METHODISCHE ERLÄUTERUNGEN

Inhaltsverzeichnis

Im Zentrum meiner Arbeit sollen blinde und sehbehinderte Eltern mit ihrer "speziellen" Situation, ihren Problemen, Erfahrungen, Einstellungen und Haltungen stehen. Um diesen Bereich besser zu erschließen, stütze ich mich zum einen auf die mir zur Verfügung stehende Literatur, mit deren Hilfe ich Theorien auf diesen Fachbereich übertragen und Schwerpunkte setzen konnte. Zum anderen betrachte ich die Informationen der Betroffenen - also aus erster Hand - als einen ganz wesentlichen Faktor, um zu brauchbaren Ergebnissen zu gelangen. So verstehe ich nun die folgenden Kapitel als ein Resultat, das sich in Kombination und im Austausch zwischen den beiden genannten Elementen entwickelte.

Um zu brauchbaren "Daten" für diesen Schwerpunkt zu gelangen, erachte ich qualitative Verfahren als sinnvoll. Schließlich möchte ich Aussagen über den genannten Personenkreis machen und kann dies - meiner Ansicht nach - nur durch den direkten Kontakt mit den Personen und ihren reflektierten subjektiven Äußerungen erreichen. Da dies für mich keinesfalls mit Fragebögen, Statistik, Zuordnungen in vorgefertigte Tabellen oder sonstigen quantitativen Forschungsmethoden erreichbar ist, entschied ich mich von Anfang an für ein qualitatives Verfahren. Dabei erschien mir die Nähe zum Subjekt, die Offenheit bezüglich der beforschten Personen und deren Inhalte als besonders bedeutsam (Hopf 1979, S. 13; Mayring 1996, S. 16).

Gleichzeitig sehe ich diese Forschung als ein Wechselspiel, einen Austauschprozeß, zwischen Informanten und Forscher. In der Auseinandersetzung mit dem "Gegenstand" wird das Vorverständnis des Forschers ständig verändert und modifiziert (Mayring 1996, S. 18).

Dabei betrachte ich die zu untersuchenden Personen als Experten und Theoretiker ihrer selbst (Schütze 1983, S. 285 nach: Pixa-Kettner 1996, S. 24; Spöhring 1995, S. 168).

Das Verfahren, für das ich mich letztlich entschieden habe, ist das des narrativen Interviews.

Meine Absicht war es, Erzählungen der Betroffenen zu hören, die subjektive Erfahrungen, Haltungen und Einstellungen durch die inzwischen verstrichene Zeit reflektiert an mich weitergaben. Es handelt sich dabei also um ein Gespräch, das an die alltägliche Erzählung angelehnt ist, indem ein erzählerischer Spannungsbogen entwickelt und aufrecht erhalten wird (Pixa-Kettner 1996, S. 24). Auf diese vergleichbar natürliche Weise gelangt der Forscher zu äußerst spannenden und relevanten Inhalten, welche mit einer anderen Forschungsmethode kaum oder nur schwer zu erfassen sind.

Mit der Hilfe des narrativen Interviews und einem nicht standardisierten Leitfadens ließ ich mich auf das "Experiment" ein. Somit war es mir auch möglich, die Fragen an die individuelle Situation meines Gegenübers anzupassen, wobei der Leitfaden im wesentlichen in allen Gesprächen derselbe blieb.

Die Gespräche selbst hatten keine Frage-Antwort-Struktur, welche den Erzählfluß definitiv unterbrochen und zunichte gemacht hätten. Der Leitfaden selbst sollte als grober Rahmen verstanden werden, der als solcher aus der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Literatur resultierte.

Zwei meiner drei sehbehinderten Mütter wollten den Leitfaden vor meinem Besuch bei ihnen zu Hause in Händen halten, um sich in etwa ein Bild von dem auf sie Zukommenden machen zu können. Bei den Gesprächen selbst war dieser aber nirgends vorhanden.

Die Gespräche dauerten jeweils rund eine Stunde und wurden zwecks genauerer Nachbearbeitung, besserer Konzentration auf das Interview und natürlich mit dem Einverständnis der Betroffenen zunächst auf ein Tonband aufgenommen und anschließend wortwörtlich transkribiert.

Die einzelnen Interviews gingen problemlos vonstatten, weil alle Partnerinnen sehr erzählfreudig, entgegenkommend, aufgeschlossen und optimistisch waren. Meines Erachtens nach stellte der Faktor, daß ich selbst auch sehbehindert bin, eine wichtige gemeinsame Basis dar. Ich glaube, daß das Gespräch dadurch um vieles einfacher zu führen war und für alle Beteiligten als Chance des Austausches, der nochmaligen Reflexion und Bereicherung darstellte.

Zunächst hatte ich große Bedenken, passende Interviewpartnerinnen zu finden, jedoch erwiesen sich diese bald als unbegründet. Mit Hilfe eines Vereines kam ich schließlich zu meinen drei rein zufällig ausgewählten Gesprächspartnerinnen, wovon ich eine davon schon vor dem Interview kennenlernen durfte.

Die Ergebnisse der Arbeit dürfen aber keinesfalls repräsentativ betrachtet werden, was im übrigen auch nicht meine Intention war. Aus einer Mischung von Theorie (Literatur) und Praxis (Interviews, eigene Überlegungen) wurden bestimmte Schwerpunkte gesetzt. Damit versuchte ich, ein vielfältiges und annähernd realitätsgetreues Abbild der Wirklichkeit darzustellen.

Ich werde in den nachfolgenden Kapiteln auch Interviewstellen zitieren bzw. einen Verweis auf die entsprechende Passage des Interviews machen. Dabei werde ich immer das jeweilige Interview mit der Zahl anführen (I. Zahl des Interviews). Die Seitenzahlen bzw. Zeilennummern werden mit S. und Z. abgekürzt.

4.1. INTERVIEWPERSONEN

Um einen Eindruck von den von mir interviewten Personen zu bekommen, möchte ich diese kurz vorstellen.

Die erste Mutter (38 Jahre alt) ist mit einem sehenden Mann verheiratet. Sie haben zwei Söhne im Alter von 15 und 10 Jahren. Beide sind normalsichtig. Die Mutter hat ihre Sehbehinderung seit ihrer Kindheit, und diese verschlechtert sich seit dem kontinuierlich. Sie besuchte eine Regelschule, danach eine Höhere Technische Lehranstalt und machte anschließend eine Ausbildung als Heilmasseurin. Seit der Geburt des ersten Sohnes ist sie Hausfrau. Ihr war es nicht wichtig, den Leitfaden vor unserem Interview zu kennen.

Die zweite Mutter (34 Jahre alt) ist ebenfalls mit einem sehenden Mann verheiratet: Sie haben einen 12jährigen Sohn und eine 11jährige Tochter. Beide Kinder sind sehend. Die Sehbehinderung besitzt diese Frau seit ihrer Kindheit, sie scheint aber relativ gleichbleibend zu sein. Nach dem Besuch der Regelschule machte diese Interviewpartnerin eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete anschließend bis zur Geburt ihres Sohnes als Telefonistin. Seit dem ist sie Hausfrau.

Die dritte Mutter (41 Jahre alt) ist mit einem sehbehinderten Mann verheiratet, welcher sich im Laufe unseres Gespräches für kurze Zeit zu uns gesellte. Er besitzt einen größeren Sehrest als seine Frau. Sie haben eine 20jährige Tochter und einen 19jährigen Sohn. Beide Kinder sind vollsehend. Auch diese Mutter hat ihre Sehbehinderung seit ihrer Kindheit und scheint mir, recht konstant zu sein. Beide Elternteile besuchten eine Blinden- und Sehbehindertenschule. Die Frau machte eine Ausbildung als Telefonistin und ist seit der Geburt ihrer Tochter Hausfrau.

Alle drei Interviewpartnerinnen machten mir einen sehr positiven Eindruck und nahmen ihre Rolle als Elternteil ernst. Sie waren während des Gespräches aufgeschlossen, informativ und sehr entgegenkommend. An dieser Stelle möchte ich mich nochmals herzlich bei ihnen für ihre Bereitschaft zum Interview, die Hilfe und ihre Gastfreundschaft bedanken.

5. DER ALLTAG SEHBEHINDERTER ELTERN

5.1. DIE VORBEREITUNGEN AUF DAS KIND

Wenn Eltern ein Kind erwarten, bereiten sie sich in der Regel auf verschiedenste Weise darauf vor. Gleichermaßen war dies auch bei meinen drei sehbehinderten Müttern der Fall, wobei ich aber der Ansicht bin, daß hier der Vorbereitung auf ein Kind noch eine zusätzliche Bedeutung in mehrerer Hinsicht zukommt. Zum einen wird im Vorfeld einer Schwangerschaft meist das Thema der Vererbung der Sehbehinderung in Betracht gezogen. Zum anderen ergeben sich bei jenem Personenkreis gewisse Fragen und Bedenken, die sich aufgrund der Sehbehinderung ergeben (könnten).

Meine zweite Interviewpartnerin drückt dies treffend aus:

"Aber irgendwie macht man sich seine Gedanken und fragt sich, wie man das einmal angeht. Und wenn es dann da ist, irgendwie geht es. Oft weiß man selber gar nicht wie." (I. 2. S. 3, Z. 41-43)

Eltern setzen sich mit der auf sie zukommenden Situation auseinander und machen sich ihre Gedanken. Beate Schultes greift diese Tendenz in Bezug auf den fehlenden Blickkontakt sehbehinderter Eltern auf und schreibt, daß sie sich zu viel den Kopf darüber zerbrechen und sich die tatsächlichen "Probleme" erst später ergeben (Schultes 1998, S. 15).

Anmerken möchte ich hier aber dennoch, daß sich meine Gesprächspartnerinnen sehr intensiv mit diesem Sachverhalt auseinandersetzten, was meiner Meinung nach ein Hinweis darauf ist, daß diese Personen ihre Verantwortung und Rolle als Elternteil sehr ernst nehmen.

In bezug auf Vorbereitungen beinhalteten zwei meiner Gespräche (Interview 2 und 3) eine Tatsache, die auch ich als sehr wichtig erachte. Beide dieser Mütter lasen sich in den Themenbereich Kind ein (I. 2, S. 4, Z. 9-16; I. 3, S. 3, Z. 13-16), was sicher auch eine beruhigende Wirkung auf die werdenden Mütter ausübte. Zum anderen waren aber diese beiden Frauen hinsichtlich ihrer Mutterschaft wenig besorgt, weil sie bereits im Vorfeld ihrer Schwangerschaft zahlreiche Erfahrungen im Umgang mit und der Pflege von Kindern sammeln konnten.

Daher muß ich in diesem Punkt bezug nehmend auf meine zwei genannten Mütter der Aussage von Schultes klar widersprechen, wenn sie andeutet, daß blinde/sehbehinderte Mädchen kaum oder nur schwer praktische Fähigkeiten von ihren Eltern beigebracht bekommen (Schultes 1998, S. 12).

Meine beiden sehbehinderten Frauen hatten zum einen in der eigenen Familie Aufgaben und Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister zu übernehmen. Zum anderen durfte meine dritte Interviewpartnerin bei Freunden ihr "Trockentraining" absolvieren. Demnach hatten sie bereits wertvolle Erfahrungen beim Wickeln, Füttern, Baden, Spazierengehen,... gemacht und konnten sich mit einer gewissen Ruhe und Gelassenheit in das "Abenteuer Mutterschaft" stürzen.

In meinem ersten Interview kam dieser Themenbereich nicht zur Sprache, und deshalb kann ich dazu auch keine Aussagen treffen.

Aber auch nach dem Sammeln von Erfahrungen bei anderen Kindern, dem Einlesen und dem Fassen von Beschlüssen und Vorstellungen stellt die tatsächliche Situation wiederum etwas andere Anforderungen an die Betroffenen.

Als wichtige Aussage möchte ich die Erläuterungen einer meiner Gesprächspartnerinnen anführen:

"Aber das hat mir gar nichts genützt, ich bin eines besseren belehrt worden.

Und ja, es war ziemlich nervig die erste Zeit eigentlich." (I. 3, S. 5, Z. 23,24)

Dabei wird nochmals zum Ausdruck gebracht, daß bei eventuellen Überlegungen und Vorkehrungen bezüglich Kinder vor deren Geburt die entstehende Situation wiederum eine andere ist.

5.2. DIE FRAGE NACH DER VERERBBARKEIT DER SEHBEHINDERUNG

Neben den allgemeinen Überlegungen sehbehinderter Menschen bezüglich Kinder und die möglicherweise auf sie zukommenden Schwierigkeiten spielt das Thema der Vererbung ihrer Behinderung eine relevante Rolle, welches in allen meinen drei geführten Interviews angesprochen wurde.

Wenn die gesellschaftliche Haltung in die Richtung geht, daß ein relevanter Grund behinderter Menschen für Kinder durch das möglichst gering zu haltende Risiko zur Vererbung gegeben wäre, so haben die Aussagen der betroffenen Eltern einen anderen Inhalt.

Das Thema war bei allen Frauen präsent, jedoch sind dabei auch Unterschiede festzustellen.

Eine meiner Partnerinnen machte ihre Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft primär von der Höhe der Wahrscheinlichkeit der Vererbung abhängig.

"Das Thema war von vornherein einmal schon das, ob ich schwanger werden soll." (I. 2, S. 3, Z. 23,24)

Sie fährt dann fort:

"...Und es war eigentlich wirklich das Argument, ich habe mehrere Ärzte aufgesucht. Also, ich war zuerst bei der Augenärztin, wo ich immer war, dann auch in der Klinik beim Vorstand. Und ich habe dann wirklich die Garantie bekommen, daß die Krankheit ein Kind von mir nicht bekommen kann." (I. 2, S. 3, Z. 32-36)

Für sie stellte es also eine große Bedeutung dar. Als Begründung dafür gibt sie an, daß sie das einem Kind nicht zumuten wollte, was sie mitgemacht hat. Damit meint sie die Neckereien mancher ihrer Mitschüler. Von den Eltern und Lehrern aber bekam sie immer Unterstützung und Rückhalt.

Zudem wollte sie die Strapazen für die Eltern, die sie mit einem sehbehinderten Kind haben würden, ausschalten.

Meine beiden anderen Mütter machten ihre Schwangerschaft nicht von Vererbung abhängig. Bei ihnen stellte sich zwar schon auch dieselbe Frage, jedoch nahm sie nicht so einen enormen Stellenwert ein. Beide hofften aber und waren froh, daß ihre Kinder von der Sehbehinderung nicht betroffen waren (I. 1, S. 1, Z. 20; I. 3, S. 10; Z. 3).

Es gab sicherlich gewisse Ängste, jedoch finde ich die Worte einer meiner Gesprächspartnerinnen sehr beeindruckend.

"Aber gut, ich habe es eigentlich sowieso gewußt bei meinen Kindern gleich einmal, daß sie sehen. Ja schon wie sie reagiert haben." (I. 3, S. 10, Z.11,12)

Sie war aber dann sehr beruhigt, als sie am Verhalten der Kinder schon früh merkte, daß sie normal sehen.

Einen weiteren sehr interessanten Aspekt stellen zum einen die Vorwürfe der Leute bei eventueller Sehbehinderung des Kindes und die ständigen "Tests" der Passanten dar. Sie wollen herausfinden, ob das Kind ebenfalls eine Sehbehinderung hat (I. 3, S. 10, Z. 9-11).

So ist festzustellen, daß wenn die betroffenen Mütter selbst die Vererbung nicht in den Vordergrund stellten, dies von Außenstehenden getan wird. Eine meiner Gesprächspartnerinnen berichtet davon, daß ihr Kind aus anscheinend gesundheitlichen Gründen eines Tages nicht ins Zimmer des Krankenhauses gebracht wurde. Die Mutter selbst jedoch nimmt eine gründliche augenärztliche Untersuchung des Säuglings in der Zeit der Abwesenheit als wahrscheinlicher an (I. 3, S. 4, Z. 32-35).

Von einem weiteren sehr negativen, aber zum Glück dem einzigen derartigen Erlebnis, berichtet mir meine erste Interviewpartnerin. Sie war bei einer Nachuntersuchung ihres zweiten Sohnes. Nachdem der Arzt erfährt, daß die Mutter sehbehindert ist, stellt er die Frage, warum sie dann noch ein zweites Kind bekommen habe (I. 1, S.10, Z. 29-37).

Mit dieser unverschämten Äußerung des Arztes kann er sowohl das Vererbungsrisiko als auch die bereits in Kapitel 3 ausgeführten Vorwürfe und Irrmeinungen der Gesellschaft bezüglich sehbehinderten Eltern meinen.

Begründeterweise ärgert sich meine interviewte Mutter maßlos darüber und stellt sich die nicht an den Haaren herbeigezogene Frage,

"Also, . da hab` ich mir schon auch gedacht, mußt du dich für alles irgendwo rechtfertigen, was du tust in deinem Leben, nur weil du das Handicap hast?" (I. 1, S. 10, Z. 42,43)

Diese Worte erinnern mich sehr stark an die Aussage von Gisela Hermes, die folgende Behauptung aufstellt: "Normale" Frauen müßten ihre Kinderlosigkeit rechtfertigen, währenddessen behinderte Frauen ihren Kinderwunsch plausibel begründen müssen (Hermes 1998, S. 21).

In der gleichen Weise könnte man dies auch auf andere Lebensbereiche und das angeführte Beispiel einer meiner Interviewpartnerinnen übertragen.

Schlußendlich kann man aber feststellen, daß die Frage nach der Vererbung speziell auch bei sehbehinderten Menschen entweder von ihnen selbst oder von Außenstehenden an sie herangetragen wird.

Wie jedoch die Entscheidung um ein Kind ausfällt, wird meines Erachtens nach auch von dem Maße der Akzeptanz der Behinderung der Betroffenen wesentlich mitbestimmt.

5.3. SCHWIERIGE SITUATIONEN

Neben den Vorbereitungen und Überlegungen in bezug auf Kinder werden auch die eventuellen Gefahren für die Kleinen in Betracht gezogen. Dabei kann festgestellt werden, daß es für eine sehbehinderte Mutter und ihr Kind um einiges schwieriger ist, solange die Kinder klein sind und noch nicht reden können.

Eine meiner befragten Mütter gibt beispielsweise an, daß man in jener Zeit nicht genau weiß, was die Kinder belastet, ob sie Bauchweh oder Hunger haben. Gleichzeitig räumt sie aber sehr wohl die Differenziertheit in der Art des Weinens ein, auf dessen Grundlage sie ihre Aktionen setzen kann (I. 3, S. 9, Z. 32-35). Dennoch stellt die Zeit zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr einige Herausforderungen an Mutter und Kind.

Jedoch wissen die Betroffenen sehr wohl, wo es für ihre Schützlinge und sie selbst problematisch werden könnte und treffen dementsprechend vorbeugende Maßnahmen.

Generell ist aber zu sagen, daß es im großen und ganzen im Haushalt einer sehbehinderten Mutter ebenso schwierig oder leicht wie für eine normalsichtige ist (Schultes in: Hermes 1998, S. 110).

Dies bestätigten auch alle meine drei Interviewpartnerinnen, wobei eine die Gefahren eher im Haus - wegen der Hyperaktivität ihres Sohnes - sieht. Die beiden anderen betrachten auch außerhäusliche Situationen als gefährlich. Eine meiner befragten Mütter gibt an, daß sie vor allem beim Überqueren der Straße mit ihren Kindern aus Angst vor irgendwelchen Zwischenfällen Panik hatte (I. 1, S. 7, Z. 47 - S. 8, Z. 6). Damit spricht sie wohl einen Bereich an, der sich als etwas problematisch herausstellt. Es ergibt sich aus der größeren Angst um die Kinder, aus der zerrissenen Aufmerksamkeit im Verkehr durch ihre Schützlinge und vor allem aus den ungünstigen Straßenbedingungen für die sehbehinderte Mutter eine schwierige Situation. Sei es nun der Lärm an sich, unvorhergesehene Baustellen und Hindernisse oder auch die Tatsache, daß man die Signale der Ampeln nicht sehen und beispielsweise Straßenbeschriftungen nicht lesen kann.

Daraus ergibt sich ein breites Spektrum an Gefahren im Straßenverkehr - vor allem, wenn man die Umgebung nicht kennt. Gleichzeitig soll aber auch herausgestrichen werden, daß das Gehör ein wichtiges Element für sehbehinderte Menschen darstellt, um beispielsweise herannahende Fahrzeuge wahrzunehmen.

Eine weitere brenzlige Situation besteht in der Befürchtung, die Kinder könnten einem abhanden kommen. Dies ist wohl etwas problematisch, weil es aufgrund der herabgesetzten Sehfähigkeit nicht so einfach ist, die Kinder wiederzufinden. Meine drei Interviewpartnerinnen erwähnen diesen Sachverhalt, wobei aber nie eine wirklich tragische Begebenheit eintrat. Bei größeren Unternehmungen mit ihren Kindern begleitete sie entweder ihr sehender Ehemann oder auch eine andere vollsichtige Person.

Auch beim Schwimmen ist die Aufmerksamkeit sehbehinderter Eltern sehr gefordert, was sich zum einen aus der großen Anzahl von Leuten im Schwimmbad oder auch wegen der Reflektion des Wassers ergibt. Daraus resultiert eine enorme Anspannung, die sich aber durch bestimmte Abmachungen mit den Kindern und erhöhte Aufmerksamkeit der Eltern in den Griff bekommen läßt. Dabei spielt auch das Alter des Kindes eine bedeutsame Rolle.

Im zweiten Interview traf die sehbehinderte Mutter eine amüsante aber schlagkräftige Aussage. Ihrer Erfahrung nach macht sie immer wieder Zeiten mit ihren Kindern aus, wo sie wiederum zu ihr zurückkommen müssen, damit sie über deren Anwesenheit Bescheid weiß. Zum anderen verläßt sie sich auf das "natürliche" Verhalten der Kinder, nach einer bestimmten Zeit zwecks verschiedenster Wünsche (Eis, etwas zum Essen, Trinken) zu ihrer Mutter zurückzukehren (I. 2, S. 7, Z. 38-44).

Auch bei anderen Freizeitaktivitäten bestehen gewisse Regeln, um die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten. Freunde übernehmen auch manchmal die Aufsicht, sodaß die Kinder auch ihren Spaß haben können. Im Falle des dritten Interviews betont die Mutter, daß außerfamiliäre Organisationen (Schule, Vereine) gewisse "Aufgaben der Eltern" übernehmen, sodaß die Kinder dort Radfahren, Tennis- oder Fußballspielen lernen und praktizieren können.

Im allgemeinen wurde von allen befragten Elternteilen versucht, die Kinder auf irgendwelche Weise an jenen sie interessierenden Freizeitaktivitäten teilhaben zu lassen. Am Spielplatz kam es zu keinen weiteren Problemen. Die sehbehinderten Elternteile schenkten ihren Kindern die volle Aufmerksamkeit, waren in ihrer Nähe oder trafen andere Vereinbarungen mit ihren auf Entdeckung gehenden Kindern. Eine Mutter kommentiert dies folgendermaßen:

"Das schon, ja, also, wie wir auf den Spielplatz gegangen sind, oder was. So alle drei Minuten haben sie müssen in Erscheinung treten, weil, wenn der fünf Meter weg ist, ich seh` ihn nicht mehr." (I. 1, S. 5, Z. 28-30)

Natürlich gab es keine starre Regelung, aber eine unausgesprochene Vereinbarung war sehr wohl vorhanden, an die sich die Kinder stets halten mußten.

Ein weiterer interessanter Aspekt betrifft die Möglichkeit, am Spielplatz etwas (wie z. B. Sand) zu schlucken. Hierbei gibt unter anderem eine Interviewpartnerin an:

"Und ich denke mir, ja mein Gott, was sie oft am Spielplatz vielleicht gegessen haben, weiß ich nicht (ich frage sie, ob etwas passiert wäre)

Nein. Sie sind immer recht gesund gewesen, also, also Sand und so haben sie schon gegessen, das weiß ich, weil halt auch immer. Und Schnee haben sie gegessen, ach nein. Dann habe ich ihnen gesagt, sie dürfen keinen Schnee essen, aber das haben sie nicht befolgt." (I. 3, S. 13, Z. 23-32)

Somit bringt sie zum Ausdruck, daß ihr die Tücken ihrer Kleinen bewußt waren. Gleichzeitig trifft sie aber auch die Aussage, daß dies keinesfalls nur ein Problem einer sehbehinderten Mutter war.

"Aber das ist auch, das glaube ich, für mich das Problem, weil ich es nicht gesehen habe. Aber das sind auch Probleme, die auch anderen Müttern passieren mit sehenden Kindern." (I. 2, S. 5, Z. 43-44)

An einer anderen Stelle macht sie eine ebenso wichtige Feststellung:

"Und im Spielplatz drinnen sowieso nicht. Der ist hinter der Hauptschule, der ist abgetrennt, da können sie eigentlich auch nicht hinunter auf die Straße oder so - überhaupt nicht. . Da könnte sich ein Kind halt nur mit Dummheiten machen verletzen. Aber ich meine, das ist überall,.., das ist kein Thema, das da noch hereingehört." (I. 2, S. 7, Z. 13-17)

Neben den genannten möglichen Problemfeldern, die auch normalsichtige Eltern betreffen können, gibt es noch andere, welche speziell sehbehinderten Eltern zu schaffen machen.

Das erste stellt zwar noch eines dar, das nicht eindeutig in den Problemkreis meiner Untersuchungspersonen zuzuordnen ist, nämlich das in den Mund stecken verschiedenster Gegenstände. Dies betrifft vor allem kleine Dinge - wie schon erwähnt - (Sand,...) aber auch vieles andere mehr. Dieser Sachverhalt wurde von allen meinen drei Interviewpartnerinnen angesprochen, die auch praktische Begebenheiten in dieser Richtung miterleben mußten.

Hierbei lautet die Devise, Vermeiden von möglichen Gefahrensituationen durch Verräumen dieser Gegenstände und schnelles, kontrolliertes aber nicht panikartiges Einschreiten der Mutter. In allen mir berichteten Zwischenfällen kam es zum Glück zu keinen weiteren Problemen.

Ein weiterer schwieriger Bereich für sehbehinderte Eltern liegt beim Erkennen ihrer Kinder. Eine Mutter beschreibt auf amüsante Weise jene Angst im Extremfall so:

"...was ich mir in der Klinik und auch im Spital immer gedacht habe. Ich habe mir immer gedacht, hoffentlich geben mir die auch das richtige Kind, weil dukennst, also ich hätte also ich hätte das nicht gekannt vom Anschauen her, ob das das meine ist oder nicht. Aber ich denke schon daß das meine Kinder sind, die ich jetzt habe." (I. 3, S. 4, Z. 12-16)

Eine andere Mutter weiß um diesen Bereich auch Bescheid, obwohl sie es eher aus einer anderen Perspektive betrachtet. Sie hat Schwierigkeiten, wenn sie das Kind von der Schule abholt und ist auf dessen Initiative angewiesen, um es wiederzuerkennen.

Auch bei Freizeitaktivitäten stellt dies eine gewisse Anspannung dar, die jedoch durch das Anziehen leicht erkennbarer Kleidung (grelle Badehose, Hut) als Orientierungshilfe dient (I. 1, S. 14, Z. 44,45; I. 3, S. 2, Z. 33-34).

Aus diesem sehbehindertenspezifischen "Mangel" ergeben sich auch im Umgang mit wenig bekannten Leuten die von der Tatsache nichts wissen, Probleme und Mißverständnisse.

Ein weiterer Aspekt liegt im Erkennen der Mimik von anderen. Meine Interviewpartnerinnen geben dies als einen markanten Nachteil an. Sie wissen dadurch nicht, wie sie ihr Kind oder dessen Verhalten einschätzen und verstehen sollen. Meine dritte Gesprächspartnerin zieht sogar in Erwägung, daß sie ihre Kinder dadurch möglicherweise manchmal ungerecht behandelt hat (I. 3, S. 7, Z. 4-7).

Dann möchte ich auch noch die Schwierigkeiten beim Erkennen und Beschreiben von Bildern oder Gegenständen erwähnen. Hier müssen sehbehinderte Eltern entweder auf eine für sie adäquate Distanz an die Dinge herangehen oder aber mit Hilfe eines ausgeklügelten Zwiegespräches mit ihren Kindern Schritt für Schritt versuchen, das unbekannte Gemälde zu erschließen.

Auch die Kontrolle der Hausaufgaben stellte in allen drei Interviews eine Herausforderung dar. Ein wesentlich größerer Einsatz und Zeitaufwand der Mütter sowie ein gewisses Maß an Akzeptanz und Verständnis von seiten der Kinder wird hier gefordert.

Jedoch bringen der Einsatz von vergrößernden Hilfsmitteln eine wesentliche Erleichterung.

Zu allerletzt sollen im Kreise der speziellen Schwierigkeiten sehbehinderter Eltern der Vollständigkeit halber noch eventuelle kleinere Probleme (wie z. B. Fingernägel schneiden, das Kontrollieren bestimmter Handarbeiten,...) angeführt werden.

Wenn nun auch dieser Komplex ein recht umfangreicher ist, so nur deshalb, weil ich die Vielfalt etwas erörtern und wichtige Aussagen der Betroffenen einfügen wollte. Als wesentliches Fazit aus jenen Erläuterungen soll aber betont werden, daß es sicherlich Probleme geben wird, die aber nicht grundsätzlich nur auf sehbehinderte Eltern zutreffen. Außerdem gibt es auch für jedes Problem eine Lösung, die es zu suchen gilt.

5.4. SICHERHEITSVORKEHRUNGEN

Im vorhergehenden Abschnitt richtete ich mein Augenmerk auf jene Bereiche, die für sehbehinderte Menschen schwierig sind bzw. sein könnten. Nun möchte ich mich der Frage nach den Sicherheitsvorkehrungen zuwenden. Hierbei wird es einige sehbehindertenspezifische aber auch ganz normale Maßnahmen geben, die von den Betroffenen ergriffen werden.

In meinem dritten Gespräch wurde mir davon berichtet, daß die Mutter ihre Kinder prinzipiell am Boden wickelte, um das Herunterfallen auszuschalten. Dies ist aber generell kein Problem, denn alle von mir befragten Frauen gaben an, stets vorsichtig an diese Dinge heranzugehen, um Gefahren vorbeugend auszuklammern.

Des weiteren wurde mir von der bereits genannten Interviewpartnerin mitgeteilt, sie hätte ihre Kinder relativ oft gewaschen und umgezogen, um die Sicherheit - diese spielt sich jetzt aber in einem anderen Bereich ab - der Sauberkeit ihrer Kinder zu haben.

Schließlich führt diese Frau noch an, sie würde heute ein Netz über den Kinderwagen spannen, um ihre Kleinen vor Insekten zu schützen (I. 3, S. 1, Z. 33-44).

An dieser Stelle möchte ich kurz eine Haltung von Margit Kern erwähnen, die ich als etwas übertrieben erachte. Nach ihrer Auffassung wäre es besonders für blinde und sehbehinderte Mütter ratsam, ihre Aufmerksamkeit auf Unfallverhütung zu richten (Kern 1995, S. 42). Anschließend führt sie in ihrer Arbeit zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen in und außer Haus an (Kern 1995, S. 43-45), die sie generell auch allen anderen Eltern empfehlen würde.

Diese betreffen die sichere Verwahrung von Messern, Scheren, Putzmitteln,...

Um die Aussagen meiner Befragten dem gegenüberzustellen, waren alle einheitlich der Meinung, sie hätten ganz "normale" Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Sie sprechen vom Schutz bei Steckdosen, Gattern bei Stiegen, der sorgfältigen Verwahrung von Messern, Scheren und Nadeln sowie dem sorgfältigen Umgang mit Elektrogeräten und gefährlichen Kanten. Sie wissen sehr genau, wo die kritischen Punkte im Haushalt, auf der Straße, am Spielplatz, im Schwimmbad,... sind und geben an, daß sie stets vorbeugende Maßnahmen ergriffen haben, um ihre Kinder zu schützen.

"Ja aber ich glaube, man muß halt einfach lernen von Anfang an einfach vorsichtiger mit dem allen umzugehen." (I. 2, S. 6, Z. 4-6)

In der gleichen Weise artikuliert sich meine erste befragte Mutter.

"Ja, man ist, glaube ich, wesentlich vor . also auf, wie sagt man da, vorsichtiger, vorbauend, nicht, daß man vielleicht Gefahren ausgeschalten sind von vornherein, als wie Leute, die das nicht haben, nicht." (I. 1, S. 7, Z. 6-8)

Gleichermaßen erinnert sich auch meine dritte Gesprächspartnerin.

"Wir haben nur, also in den Steckdosen haben wir die Schutzvorrichtungen drinnen gehabt. Aber sonst nichts. . Nein nichts, wir haben nichts anderes gehabt eigentlich. Halt außer aufgepaßt auch und dazugeschaut." (I. 3, S. 8, Z. 43-45)

Als Schlußfolgerung aus all dem kann gesagt werden, daß sehbehinderte Eltern nicht unbedingt spezielle Sicherheitsmaßnahmen anwenden. Alle meine Interviewpartnerinnen machten mir klar, daß sie sich an die üblichen Richtlinien hielten und zudem noch - meiner Ansicht nach - im größeren Maße vorbeugend aktiv wurden und umfassender (auch mit dem Gehör) zum Schutze ihrer Kinder tätig waren.

5.5. DIE BEAUFSICHTIGUNG DER KINDER

An den erwähnten Beispielen kann man die verschiedensten bereits in Kapitel 3 angesprochenen gesellschaftlichen Einwände gegenüber sehbehinderten Eltern wegen ihres Mangels an Fähigkeiten und Verantwortung zum Beaufsichtigen sehender Kinder als nicht haltbar bezeichnen.

Die Vielfalt der eingesetzten Hilfsmittel, Techniken und der Gebrauch von anderen Sinnesorganen bilden einen wichtigen Grundsatz zur erfolgreichen Bewältigung der "Aufgabe und Herausforderung Elternschaft". Hier möchte ich nochmals auf einige relevante Verhaltensweisen der befragten sehbehinderten Mütter zurückkommen.

Ein wesentlicher Baustein zur Beaufsichtigung von Kindern ist das bereits erwähnte Ergreifen präventiver Maßnahmen (I. 1, S. 7; I. 2, S. 6).

Ein weiterer wichtiger - fast blinden- und sehbehindertentypischer - Punkt stellt der vermehrte Einsatz anderer Sinnesorgane dar. Das Gehör wird aktiv, um beispielsweise herannahende Autos zu orten, Aktivitäten des Kindes abzuschätzen oder auch die unterschiedlichen Schreie der Kinder richtig zu interpretieren. Stellvertretend sollen nun die Aussagen einer befragten Mutter angeführt werden.

"Die Richtung, aha, das, da hörst du was und so, du hast müssen rundum immer radarmäßig sagen, ja, die Richtung war`s, wo sie sind" (I. 1, S. 6, Z. 18,19)

Auf die gleichen Inhalte kommen auch meine beiden anderen Interviewpartnerinnen (I. 2, S. 7, Z. 10-12; I. 3, S. 7, Z. 38,39).

Speziell im dritten Interview betont die Mutter den Einsatz des Geschmacks- und Geruchsinns, der beispielsweise das Erkennen des Krankseins eines Kindes unterstützt (I. 3, S. 3, Z. 29-32). Außerdem spielt der Tastsinn unter anderem zum Finden bestimmter Gegenstände aber auch beim Feststellen von Ausschlägen eine relevante Rolle (I. 3, S. 8, Z. 25-27).

Des weiteren ist eine vermehrte Beobachtung und die daraus resultierende Interpretation der kindlichen Verhaltensweisen ein zentrales Thema (I. 3, S. 3, Z. 28-32).

Bei der Auswahl der Spiele und dem Basteln kommt dem Tastsinn ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu (I. 3, S. 12, Z. 30).

Prinzipiell sind die Betroffenen bei zahlreichen Aktivitäten ihrer Kinder anwesend, hören ihnen beim Musizieren, Lesen,... zu und schenken ihnen somit viel Aufmerksamkeit (I. 3, S. 16, Z. 40,41).

5.6. AUFGABENTEILUNG ZWISCHEN DEN PARTNERN

Auch in den Ehen mit einem sehbehinderten Partner kommt es zu einer an sich normalen Aufgabenteilung. Beispielsweise gibt eine von mir befragten Mütter an, daß sie die primäre Bezugsperson für ihre Kinder war, solange diese noch klein waren, währenddessen sich nun der Mann eher um die Belange des älteren Sohnes kümmert (I. 1, S. 4, Z. 43,44).

Zum anderen kommt es in der Elternschaft sehbehinderter Menschen zusätzlich noch zu einer anderen Art von Aufgabenteilung, vor allem, wenn sie mit einem voll sehenden Partner verheiratet sind. Dieser wird sich dann in der Regel auch jener Bereiche annehmen, in denen der sehbehinderte Partner überfordert ist. So wird dieser natürlicherweise auch bei der Kontrolle gewisser Hausübungen (I. 2, S. 9, Z. 22,23), Aufpaßtätigkeiten und anderen Dingen seine Partnerin unterstützen (I. 1, S. 5, Z. 36,37; I. 2, S. 11, Z. 36-41). Jeder hat dann seine Bereiche und ergänzt sich dadurch gegenseitig (I. 1, S. 5, Z. 16,17).

Dabei kommt es - wie in anderen Beziehungen auch - darauf an, wie gut man mit dem Partner zusammenspielen kann (I. 2, S. 9, Z. 30-32).

Im dritten Interview gibt die Mutter an, daß ihr Mann die Aufgabe des Zeichnens mit den Kindern übernommen hat und ihr somit eine große Hilfe war (I. 3, S. 8, Z. 1,2; I. 3, S. 12, Z. 30-32).

Die Tätigkeiten werden also nach den Möglichkeiten der Partner aufgeteilt und beruhen auf einer starken Gegenseitigkeit.

5.7. DIE INTERAKTION VON MUTTER UND KIND

Nun möchte ich mich einigen wenigen Aspekten der Mutter-Kind-Beziehung und ihrer Dynamik zuwenden.

Die Mutter ist speziell in den ersten Lebensjahren die primäre Bezugsperson des Kindes. Aus diesem Grunde entwickelt sich auch eine besondere Dynamik zwischen den beiden, wo sich der eine auf den anderen abstimmt und aufeinander einstellt (Paul 1986, S. 103).

In der gleichen Weise geschieht dies bei sehbehinderten Müttern und ihren Kindern. Dabei sprang mir immer wieder das sehr frühe aufeinander abgestimmt Sein sowie die dynamische Interaktion der beiden ins Auge.

Die Kinder reagieren bereits sehr früh - um das sechste Lebensmonat - auf die "speziellen" Verhaltensweisen der sehbehinderten Mutter.

Neben zahlreichen derartigen Hinweisen in der Literatur bestätigten meine befragten Mütter ebenfalls diese Tatsache.

Dabei beeindruckte mich besonders ein Erlebnis, als die sehbehinderte Mutter mit ihrer zehnmonatigen Tochter ihre ersten Schuhe kaufte und anschließend im stolzen Besitze dieser mit dem Kinderwagen spazieren fuhr. Dabei sprach die Kleine immer wieder von dem Schuh, worauf die Mutter deren Schönheit lobte, ihn näher beschrieb und sich darüber mit ihr unterhielt. Immer wieder kam die Tochter auf ihren Schuh zu sprechen, wonach sich die Mutter nach ihm bücken wollte. Da bemerkte diese, warum dieses Wort von ihrer Kleinen immer wieder erwähnt wurde. Sie hatte ihn nämlich verloren und wollte dies ihrer sehbehinderten Mutter mitteilen (I. 3, S. 6, Z. 4-17).

Des weiteren wurde mir von Abmachungen zwischen Mutter und Kind erzählt, welche einerseits als Kontrolle (ob Kinder noch hier sind) oder aber auch als Sicherheitsmaßnahmen dienten. So sollten sich die Schützlinge immer wieder bei ihrer Mutter am Spielplatz oder im Schwimmbad melden, damit diese deren Anwesenheit überprüfen konnte (I. 1, S. 5, Z. 28-30; I. 2, S. 7, Z. 38-40).

Auch das Verhalten von Mutter und Kind beim Überqueren einer Kreuzung ist von jener Interaktion geprägt, die beiden Sicherheit gab.

Das Erlebnis einer Mutter zeugt von der besonderen Aufmerksamkeit der Tochter. Diese hegte die Überlegung, von ihrem Marsch in den Kindergarten nochmals nach Hause zurückzukehren, um ihrer Mutter von der Gefahr des offenen Kanaldeckels zu berichten und deren Sicherheit beim Abholen der Kleinen zu gewährleisten (I. 3, S. 16, Z. 13-18).

Dieses Verhalten des Kindes beruht - wohlgemerkt - auf deren eigenen Interesse und nicht auf dem "Auftrag" der Eltern. Gleichzeitig äußert diese Mutter aber auch Bedenken, ob die Kinder durch die Sehbehinderung der Eltern manchmal nicht auch zu großen Verantwortungen ausgesetzt gewesen wären.

Außerdem berichten meine Interviewpartnerinnen davon, daß ihre Kinder ihnen bei bestimmten Dingen freiwillig geholfen haben. Dies betrifft zum Beispiel das Vorlesen von Tafeln, Speisekarten, Preisen, das Ausfüllen von Formularen, das Suchen sowohl von Produkten im Geschäft als auch verlorengegangener Nadeln oder das Tandem fahren.

Hier könnte der Vorwurf des schon erläuterten "Ersatzauges" erhoben werden, welchem ich aufgrund meiner Interviewergebnisse klar widersprechen kann. Zum einen machte keine der sehr auf das Wohl ihrer Kinder bedachten von mir befragten Mütter eine derartige Aussage.

Zum anderen betonten alle mehrmals, daß bei jenen Hilfeleistungen stets die Initiative vom Kind ausging und eindeutig im Interesse ihrer Schützlinge war. Die Mütter hatten sie somit nicht darum gebeten. Es war meist eine Aktion der Kinder, welchen diese Aufgaben Freude und Spaß bereiteten und - so denke ich - auch ein gewisses Gefühl an "erwachsen Sein" verlieh.

Weiters finde ich wichtig festzustellen, daß hierbei - sei es das Interesse des Kindes oder die kindorientierte Haltung der Eltern - keinesfalls Verallgemeinerungen gemacht werden können, denn es muß in solchen Fällen immer individuell und situationsbezogen entschieden werden.

Ein weiterer Aspekt, der damit zusammenhängt, besteht in der Frage, ob Kinder die Sehbehinderung ihrer Eltern ausnützen würden. Im wesentlichen ging darauf nur meine dritte befragte Mutter ein. Sie glaubt, es sei logisch, daß Kinder die Sehbehinderung in gewisser Weise ausnützen, sie bekämen das "Manko" ihrer Eltern schließlich mit. Diese Mutter berichtet von Erlebnissen, wo ihr der Sohn davonlief, und sich darüber amüsierte, wenn ihm die Mutter hinterhereilte und suchte. Ich aber glaube, daß dies nicht nur bei sehbehinderten sondern bei allen Eltern vorkommt.

Jedoch bei anderen Erlebnissen kann ich ihr sehr wohl zustimmen. Ihr Sohn meldete sich beim Rufen der Eltern zum ins Haus Kommen nicht, weil es ihm einfach noch zu früh war. Auch hierbei kann man eine gewisse "Normalität" erkennen, wobei der Spielraum von Kindern sehbehinderter Eltern in manchen Bereichen größer zu sein scheint. Sie testen - wie andere Kinder auch - wie weit sie gehen können und versuchen mitunter auch, die Sehbehinderung der Mutter/Eltern zu ihren Gunsten zu benutzen.

Damit bin ich bei meinem nächsten Teilgebiet angekommen, nämlich der Wichtigkeit von sinnvollen und konsequenten Regeln.

5.8. REGELN

Generell spielen im Zusammenleben von Menschen Regeln eine wichtige Rolle. Diese sollen gewisse Richtlinien darstellen, Sicherheit bieten und Handlungsspielräume definieren.

An anderen Stellen wurden bereits bestimmte Ordnungssysteme im Bereich der Erziehung durch sehbehinderte Eltern angesprochen.

Hierbei möchte ich die Haltung einer von mir befragten Mutter erwähnen, welche im wesentlichen sehr konsequent in bezug auf Regeln handelte. Die Kinder mußten sich daran halten und beispielsweise beim Einkaufen immer in ihrer Nähe bleiben, durften nicht im Geschäft herumtoben oder andere Leute anbetteln. Zum einen begründet sich dies durch die fehlende Möglichkeit der visuellen Kontrolle, zum anderen auf dem schlichten Wunsch, den Kindern positive Verhaltensweisen beizubringen.

Andererseits wird von Vereinbarungen berichtet, um die Sicherheit des Kindes zu gewährleisten. Eine Mutter erzählt, sie hätte ihre Kinder so früh wie möglich dazu ermutigt, sich an die Regeln im Straßenverkehr (vor dem Überqueren links, rechts, links schauen) zu halten. Zusätzlich eigneten sie sich an, immer zu fragen, ob man die Straße schon überqueren könne (I. 1, S. 7, Z. 47-51). Die Mutter war nämlich unter gewissen Bedingungen (schlechte Lichtverhältnisse) nicht in der Lage, die Signale der Ampel zu sehen. Somit war jene Maßnahme ein wichtiger Sicherheitsfaktor und für die Kinder ganz normal und selbstverständlich.

Auch bei diversen Unternehmungen (Schwimmen, Spielplatzbesuch, Urlaub) gab es Richtlinien, deren Einhaltung dringend notwendig war. Jene dienten aber keinesfalls als Einschränkung oder willkürliche Belastung der Kinder von seiten der Eltern, sondern hatten stets die Absicht, diese zu schützen.

5.9. KRITIK VON SEITEN DER ELTERN

Im Rahmen meiner Gespräche mit den sehbehinderten Müttern erwähnten diese sehr unterschiedliche Aspekte und Erlebnisse ihres Elterndaseins. Sie führten mir die Normalität ihres Alltags vor Augen, informierten mich aber auch über etwas schwierigere Bereiche in ihrem Leben mit Kindern. Sie wissen, daß es nicht immer einfach ist - weder für sie selbst, noch für ihre Kinder.

Schließlich wiederholt eine Mutter die für sie prägnante Aussage eines achtjährigen blinden Jungen, der berichtete:

"Man ist nicht behindert. Man wird behindert." (I. 1, S. 12, Z. 3)

Sie führt jene Äußerung mit den Problemen im Straßenverkehr, den (seh)behindertenunfreundlichen Bedingungen in der Schule, beim Einkaufen,... noch näher aus. Gleichzeitig bringt sie die Relativität von Normen ins Spiel und kommt zu dem Schluß, daß man erst durch derartige Gegebenheiten in so vielen Dingen des Lebens behindert wird. Damit gesellt sie sich gedanklich zu Georg Feuser, Johannes Neumann, Renate Walthes und übt damit Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen. Nach ihrer Anschauung, die ich kritiklos unterstützen kann, ist so vieles - auch das Zwischenmenschliche - auf visuelle Fähigkeiten ausgerichtet (I. 1, S. 16, Z. 37,38) und erschweren somit den Alltag.

Meine andere Interviewpartnerin übt ebenfalls Kritik, wenn auch auf einer anderen Ebene. Zum einen spricht sie die ungünstigen Bedingungen in der Klinik an, die ihr und ihrem Säugling einige Probleme bereiteten (I. 3, S. 4, Z. 20-24).

Des weiteren kritisiert sie die Konzeption des Schulsystems, welches zu gewissen Schwierigkeiten und Mehrbelastungen für sehbehinderte Eltern führen könnte. Hierbei vertritt sie die Auffassung, daß diverse Bereiche zur Aufgabe der Eltern wurden, obwohl sie eigentlich zur Tätigkeit des Lehrers zählen würden (I. 3, S. 15, Z. 15-17).

Sie berichtet in diesem Zusammenhang von einer ihrer blinden Bekannten, deren Aufgabe es anscheinend gewesen wäre, ihrem Kind beizubringen, wie man schreibt und in welcher Hand man den Stift hält (I. 3, S. 15, Z. 32-37). Dieses hielt ihn nämlich mit beiden Händen.

Im Zentrum dieser Kritik steht meines Erachtens nach der Gedanke, daß die oft ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen speziell auch für Eltern - und somit ebenso für sehbehinderte Eltern - Schwierigkeiten aufwerfen. Damit wird auch von den Betroffenen selbst die von mir bereits unter anderem in Kapitel 2.3. ausgeführte gesellschaftskritische und konstruktivistische Perspektive unterstrichen und bestätigt.

5.10. HABEN ES SEHBEHINDERTE ELTERN SCHWERER?

Die Antworten auf diese Frage sind sehr vielseitig und differenziert ausgefallen. Generell waren aber alle Elternteile davon überzeugt, daß ihre Situation nicht unbedingt schwierig wäre. Sie würden es als belastender empfinden, wenn beide Eltern hochgradig sehbehindert wären. Die einzige von mir befragte Familie, die davon betroffen war, gab hingegen an, daß es bei blinden oder auch tauben Eltern sehr wohl problematisch sein könnte.

Außerdem wurde die letztgenannte Variante auch von meinen anderen befragten Müttern in Erwägung gezogen. Diese betrachteten die Tatsache, einen voll sehenden Partner zu haben, als große Erleichterung.

Damit wäre nach Meinung einer Interviewpartnerin auch die Erfüllung einer voll sehendgerechten Erziehung realisierbar. Diese vertrat ebenso die Ansicht, bei einem sehbehinderten Vater wäre es auch nicht unbedingt schwieriger.

Jene Frage wäre ebenso interessant zu klären, da es dazu fast keine Forschungsarbeiten gibt.

Meine erste interviewte Mutter räumt aber wohl die gehäufteren Schwierigkeiten in der Bewältigung außerhäuslicher Aufgaben und in der etwas schwierigeren Kontaktaufnahme - vor allem bei spontanen Bekanntschaften - ein.

Der sehbehinderte Vater, der sich kurz in meinem dritten Interview einbrachte, stellt die schwierigere Kontrolle der Hausaufgaben sowie die Einschränkung in der Mobilität in bezug auf Freizeitgestaltung fest.

Seine Gattin hingegen vertritt den Standpunkt, daß auch der Begriff "schwierig" bzw. "schwer", den ich in meiner Fragestellung verwendete, relativ und von der jeweiligen Person und deren Ansprüchen abhängig ist.

Sie versteht ihre Situation normalsichtigen Eltern gegenüber keinesfalls als schwieriger. Gleichzeitig macht sie klar, daß sehbehinderte Eltern genauso gute Eltern sein können wie andere auch.

Ein Punkt jedoch, auf den alle drei Mütter in verschiedenster Weise eingehen, sind eventuelle Probleme und Mißverständnisse von seiten der Umwelt. Dies kann zum einen daran liegen, daß sie von der Sehbehinderung der Betroffenen nichts wissen. Zum anderen geben zwei meiner Interviewpartnerinnen an, daß sie manchmal die Feststellung machen mußten oder das Gefühl hatten, in bestimmten Situationen von ihrem Umfeld kritisch beobachtet zu werden (I. 3, S. 13, Z. 45-48). Dieses nimmt eine schwierige Situation wahr und faßt schon den Entschluß, daß dies sowieso für sehbehinderte Eltern bzw. deren Kinder logisch wäre.

Eine andere Mutter äußert sich diesbezüglich, ihr käme es mitunter vor, daß sich behinderte Menschen für alles im Leben rechtfertigen müßten und bei eventuellen Zwischenfällen eher zur Verantwortung gezogen werden (I. 1, S. 16, Z. 41-43; I. 1, S. 15, Z. 2-4). Als Beispiel dafür erwähnt sie die vorwurfsvolle Bemerkung des Arztes in der Klinik, der nicht verstehen konnte, warum sie trotz ihrer Sehbehinderung noch ein zweites Kind bekommen hat (I. 1, S. 10, Z. 29-37). Damit wird nochmals die schon mehrfach angeführte Bedeutung des Umfeldes in bezug auf Behinderung und deren Entstehung betont. Diesen Aspekt erachte ich - und auch die Betroffenen selbst - als einen sehr wichtigen, wenn es um die Situation (seh)behinderter Menschen/Eltern geht. Aus diesem Grunde bevorzugt speziell meine erste Gesprächspartnerin, ihre Behinderung nicht generell sondern nur in gewissen, ausgewählten Situationen kundzutun. Auf diese Weise will sie negative Auswirkungen für sie selbst und vor allem die Diskriminierung ihrer Kinder ausschalten bzw. vermindern (I. 1, S. 11, Z. 18-20).

6. DIE SITUATION DER KINDER

Im letzten Kapitel meiner Arbeit möchte ich noch auf die Situation von Kindern blinder/sehbehinderter Eltern eingehen. Dieser Schwerpunkt stellt wiederum einen noch wenig thematisierten dar. Da und dort findet man wohl Abschnitte und Artikel dazu, jedoch als spezielle Arbeit ist mir ausschließlich jene von Martina Müller bekannt.

Natürlich sind auch hier wieder keine generellen Aussagen zu treffen, obwohl schon eine gewisse Tendenz in entsprechenden Arbeiten entdeckt werden kann.

Vielfach wird von der früheren und größeren Selbständigkeit der Kinder in mehrerer Hinsicht gesprochen (Ruland 1986, S. 10; Müller 1993, S. 96; Schultes 1998, S. 30). Müller bringt diese Euphorie jedoch wieder ins Lot, indem sie auf die nicht zwangsläufige Gegebenheit hinweist (Müller 1993, S. 99).

Andere berichten von einer wechselseitigeren und gleichberechtigteren Mutter-Kind-Beziehung (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 59) und von einem Blick für den anderen (Müller 1993, S. 104).

Außerdem ist von einer großen Chance für die Kinder zu lesen, welche die Behinderung ihrer Eltern durch den persönlichen Kontakt in der Beziehung kennenlernen und dadurch nicht vordergründig von feindlichen gesellschaftlichen Haltungen beeinflußt werden (Hermes 1998, S. 238). Dem kann ich mich sehr wohl bedenkenlos anschließen.

Andererseits werden auch negative Auswirkungen durch die Behinderung der Eltern für die Kinder befürchtet. Häufig werden ungünstige Konsequenzen aufgrund des fehlenden oder nicht ausreichenden Blickkontaktes erwähnt. Befürchtungen, daß Kinder nichts von ihrer Kindheit hätten, daß sie überfordert wären und als "Ersatzauge" fungieren müßten werden ebenso eingebracht (Ruland 1986, S. 14; Zeller in: Barzen 1988, S. 110; Heitkamp in: Burger 1992, S. 169; Kern 1995, S. 14).

Natürlich beeinflußt die Sehbehinderung der Eltern die Situation der Kinder, jedoch nicht in einer negativen Weise (Müller 1993, S. 97 und 112; Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 68). Die Qualität der Beziehung sowie das Thematisieren der Behinderung sind relevante Faktoren, die Kindern (seh)behinderter Eltern große Chancen bieten können.

Auch in meinen Interviews wurde die Situation der Kinder zum Thema, wobei eine Mutter klar ausdrückte, daß sie nicht wisse, wie ihre Kinder die Situation empfinden (I. 1, S. 5, Z. 21,22).

In einem anderen Fall wird mir erzählt, daß es für Kinder behinderter Eltern sicher nicht leicht ist, weil sie aus der Norm fallen. Speziell in der Zeit der Pubertät stellt dies auch bei Kindern sehbehinderter Eltern für beide eine schwierige Situation dar (I. 3, S. 11, Z. 17-22).

6.1. DIE NORMALITÄT DER SEHBEHINDERUNG

Die Sehbehinderung eines Elternteils spielt im Familienleben eine Rolle und beeinflußt es in gewisser Weise, jedoch nicht im negativen Sinne (Abu El-Gyab-Wiesmayr 1994, S. 68). Wenngleich sich in gewissen Situationen für Kinder aufgrund der Sehbehinderung der Eltern Unterschiede zu anderen Familien ergeben (umständlichere Kontrolle der Hausaufgaben, bestimmte Einschränkungen in der Freizeitgestaltung,...) wird mir von meinen Interviewpartnerinnen ein großes Maß an Akzeptanz ihrer Sehbehinderung von seiten der Kinder berichtet. Diese betrachten die "Andersartigkeit" ihrer Mütter als normal.

Sicherlich spielt in diesem Zusammenhang der Zeitpunkt des Eintretens der Sehbehinderung auch eine Rolle. Da alle meine Befragten seit ihrer Kindheit sehbehindert sind, wuchsen ihre Kinder schon damit auf und kennen somit gar keine andere Situation. Sie betrachten sehbehindertenspezifische Verhaltensweisen als nichts Besonderes und lernen auch schon sehr früh, darauf "Rücksicht" zu nehmen.

Eine Mutter erzählt mir von der Akzeptanz der Kinder, wenn sie ihnen im zuge von Arztbesuchen im Warteraum keine Geschichten vorlesen konnte (I. 1, S. 9, Z. 13-15). Ebenso hebt sie die Normalität der manchmal etwas komplizierteren Hausaufgabenkontrolle mit dem Lesegerät für die Kinder hervor.

"Aber wenn man dann, . die Kinder dann irgendwo so darauf einspielt, das geht dann schon, das ist zumindestens normal." (I. 1, S. 3, Z. 15-17)

Zudem betont sie die Tatsache, von den Freunden ihrer Kinder ganz normal behandelt zu werden (I. 1, S. 16, Z. 7-9). Gleichermaßen berichtet sie mir davon, daß es eigentlich von ihren Kindern keine Fragen in bezug auf ihre Sehbehinderung gegeben hätte, die sich als negativ herausstellten. Als sie ihren Kindern von meinem Besuch und Vorhaben erzählte, fragte der Kleine ganz verwundert, ob sie denn sehkrank wäre (I. 1, S. 10, Z. 10,11).

Für mich ist das wiederum ein "Beweis" dafür, daß er seine Mutter so akzeptiert, wie sie ist.

Am meisten aber wundert sie sich darüber, daß es nie negative Äußerungen ihrer Kinder in bezug auf Sehbehinderung gegeben hat und sie sie - auch bei Auseinandersetzungen - immer noch als Respektperson akzeptieren (I. 1, S. 13, Z. 21-25).

Die Kinder betrachten sie in erster Linie als ihre Mutter, die unter anderem eine Sehbehinderung hat. Im Vordergrund steht jedoch die Bezugsperson und die Qualität der Beziehung.

Meine beiden anderen Gesprächspartnerinnen machen ebenso Aussagen mit dem gleichen Inhalt. Sie werden von ihren Kindern als Mutter akzeptiert und respektiert und in ihrem Verhalten als normal betrachtet. Kinder wissen wohl, daß ihre Eltern in mancher Hinsicht anders sind, dennoch stehen sie hinter ihnen.

Als besonders beeindruckende Aussage möchte ich hier jene einer Tochter anführen:

"Du brauchst gar nicht traurig sein Mama. Auch wenn du das nicht siehst, ich habe dich ja trotzdem gern." (I. 2, S. 16, Z. 2,3)

Kinder können oft sehr einfühlsam sein und wissen auch über die Nöte ihrer behinderten Eltern Bescheid.

Ebenso bürgern sich in Familien mit einem (seh)behinderten Elternteil routinemäßig bestimmte Verhaltensweisen und Hilfestellungen auch von seiten der Kinder ein (z. B. sich am Spielplatz von Zeit zu Zeit bei der Mutter melden, beim Lesen oder Ausfüllen helfen, "Rituale" beim Überqueren der Straße einhalten,...), welche als selbstverständliche, freiwillige und gewöhnliche Dinge betrachtet werden.

Auch dies ist meiner Ansicht nach ein "Indiz" dafür, daß die Sehbehinderung der Eltern für die Kinder als normal erscheint. Sehr bedeutsam sind dabei auch der richtige Umgang mit dem "Besonderen", die Einstellung des betroffenen Elternteils sowie des Partners und das offene Gespräch innerhalb der Familie darüber.

Sehr großen Wert wird dabei auf das verständliche altersgemäße Erklären der für Kinder mitunter nicht leicht zu begreifenden "Besonderheit" gelegt.

6.2. POSITIVE AUSWIRKUNGEN

Die Frage nach positiven Auswirkungen der elterlichen Sehbehinderung auf die Entwicklung der Kinder stellt wiederum eine interessante dar.

Die Lage ist sicherlich von Situation zu Situation unterschiedlich, hängt von vielen verschiedenen Faktoren und unter anderem vom Charakter des Kindes ab (I. 2, S. 12, Z. 48,49).

Als einige zentrale Punkte erwiesen sich die folgenden, die auch in der Literatur aufscheinen.

Eigentlich geben alle Mütter an, ihre Kinder waren in gewissen Bereichen (Hausübung machen,...) selbständiger und konnten sich nicht immer auf die Unterstützung der sehbehinderten Mutter verlassen (I. 1, S. 3, Z. 31,32; I. 3, S. 11, Z. 23-27).

Eine Mutter meint, daß ihre Kinder auch im Straßenverkehr vorsichtiger wären, weil sie diese Verhaltensweise an ihr gesehen und selbst angewandt haben (I. 1, S. 8, Z. 29-33).

Andererseits fällt den betroffenen Eltern eine große Hilfsbereitschaft ihrer Kinder auf. Somit hätten sie den Blick für andere, wie es Martina Müller bezeichnet (Müller 1993, S. 104). Sie lesen beispielsweise Schilder und Beschriftungen aus Eigeninitiative vor (I. 1, S. 15, Z. 19-21; I. 3, S. 12, Z. 1-5).

Auch der dritten Mutter fällt an ihrer Tochter die selbstverständliche Hilfsbereitschaft ihr und anderen gegenüber auf (I. 2, S. 13, Z. 1-3).

Dabei wird von den Befragten aber auch angeführt, daß diese Verhaltensweise nicht auf alle ihre Kinder zutrifft, sondern individuell verschieden ist.

Als letzten positiven von einer befragten Mutter eingebrachten Aspekt möchte ich den möglicherweise verstärkten Einsatz anderer Sinne (hören, tasten) von Kindern betonen. Sie lernen von ihren Eltern und praktizieren es gleichermaßen in ihrem Leben. Sie sind daher - nach Meinung einer Tochter - nicht ausschließlich auf ihre visuellen Fähigkeiten angewiesen, sondern aktivieren ebenfalls ihre restlichen Sinne (I. 3, S. 17, Z. 36-40).

Meiner Meinung nach bietet auch die Sehbehinderung der Eltern für ihre Kinder bestimmte Chancen. Als einen sehr interessanten Aspekt betrachte ich den neutraleren Kontakt der Kinder zur Behinderung. Sie lernen diese in der Familie in einer ganz anderen - bei idealen Voraussetzungen - im positiven Licht anhand des direkten und wenig beeinflußten Kontakt mit ihrem Elternteil kennen. Somit haben sie einen ganz anderen Zugang zur Behinderung, der nicht durch negative gesellschaftliche Vorurteile belastet wird und dadurch ausgewogener ist (Hermes 1998, S. 238).

6.3. MÖGLICHE BELASTUNGEN

Neben positiven Auswirkungen einer elterlichen Sehbehinderung soll der Vollständigkeit halber nun auch von eventuellen Belastungen die Rede sein, welche ein gern verwendetes Argument für die vorausgesetzte Kinderlosigkeit der genannten Personengruppe darstellte.

Wie bereits mehrfach erwähnt wirkt sich die Sehbehinderung auf die Familie aus und schränkt Kinder in manchen Aspekten ein.

Zum einen wird von den Eltern ein vorübergehendes Defizit der Kinder in bezug auf das Kennen und Benennen von Pflanzen und Tieren festgestellt. Die Vermittlung dieses Wissens ist für sehbehinderte Eltern aufgrund ihrer nicht ausreichenden visuellen Fähigkeiten schwieriger, läßt sich aber im Laufe der Zeit durch die Erziehungsberechtigten selbst, die Schule oder andere Institutionen "aufholen" (I. 1, S. 14, Z. 27-31; I. 3, S. 12; Z. 17-21). Dies betrifft auch den Bereich des Bilderbeschreibens.

Zudem wird berichtet, daß die Kinder in manchen Bereichen mehr auf sich selbst gestellt sind, selbständiger werden, gewisse Dinge (Reisen, Urlaub,... bei zwei sehbehinderten Elternteilen) nicht mit ihren Eltern sondern mit der Schule erleben müssen (I. 3, S. 11, Z. 23,24; I. 3, S. 16, Z. 29-33; I. 3, S. 16, Z. 37,38; I. 3, S. 17, Z. 15, 16).

Eine von mir befragte Mutter zieht in Erwägung, ihre Sehbehinderung könnte eine Einschränkung für die Kinder gewesen sein, weil sich speziell die Tochter sehr für ihre Eltern verantwortlich fühlte (I. 3, S. 16, Z. 22-24).

Die Möglichkeit, ihre Kinder manchmal ungerecht behandelt zu haben, weil sie die Mimik nicht wahrnehmen konnte, würde diese Mutter als Belastung für die Kinder betrachten (I. 3, S. 7, Z. 5-7). Ungerecht behandelt - so meint sie - werden aber auch andere Kinder von ihren Eltern. Damit wäre dieser Aspekt relativiert.

In bezug auf die Erledigung von zusätzlichen Arbeiten äußern sich zwei der Befragten negativ, denn - ihrer Meinung zufolge - müßten ihre Kinder aufgrund der Sehbehinderung nicht mehr tun und drücken sich, wie andere auch, ganz gern vor aufgetragenen Aufgaben (I. 2, S. 8, Z. 38-40; I. 3, S. 11, Z. 32,33).

Somit ist auch die Liste der möglicherweise "negativen" Einflüsse recht vielseitig. Jedoch glaube ich nicht, daß die Sehbehinderung eines Elternteils für Kinder prinzipiell eine unbedingt zu vermeidende Belastung darstellt.

Ein Punkt hingegen, den eine von mir befragte Mutter anführt, wird ganz sicher zutreffen und in manchen Bereichen zu Schwierigkeiten führen. Sie sagt:

"Und da habe ich also schon das Gefühl, aber ich weiß nicht, ob das jetzt unbedingt ist, aber es ist natürlich sicher . für Kinder auch nicht leicht, . ja, behinderte Eltern zu haben. Weil sie halt dadurch aus der Norm fallen, ..." (I. 3, S. 11, Z. 20-22)

7. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN

In der vorliegenden Arbeit habe ich mein Augenmerk speziell auf die Situation sehbehinderter Eltern gerichtet und unter dem Aspekt gesellschaftlicher Einflüsse betrachtet.

Ihnen werden von verschiedensten Seiten Vorurteile, Vorwürfe und vorgefaßte Meinungen entgegengebracht, die oft nicht der Realität entsprechen, sondern meiner Auffassung nach aus einem Defizit an Wissen - verursacht von Kontaktarmut mit den Betroffenen - resultieren.

Unterschiedliche Einwände können eingebracht werden, um den Kinderwunsch sehbehinderter Menschen in Frage zu stellen und deren Fähigkeiten zur Elternschaft anzuzweifeln. Diese reichen von dem Vererbungsrisiko über Unselbständigkeit bis hin zur Unfähigkeit, die Verantwortung für Kinder übernehmen und deren Sicherheit gewährleisten zu können.

Im Rahmen meiner Arbeit ging ich diesen Haltungen auf den Grund und konnte deren Unhaltbarkeit herausstreichen. Im Laufe der Zeit stellte ich mir selbst auch die Frage, ob es denn überhaupt einer speziellen Arbeit zum Thema sehbehinderter Elternschaft bedarf.

Wenngleich die "spezielle" Situation das Familienleben sicherlich beeinflußt, kann generell nicht von Belastungen zu Lasten der Kinder gesprochen werden. Man muß immer die entsprechende Situation mit ihren Bedingungen berücksichtigen und klar differenzieren. Dabei spielen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Qualität der innerfamilialen Beziehungen eine enorme Rolle. Zum letztgenannten meint eine behinderte Mutter:

"Wenn du behindert bist, liebst du nicht anders, und die Kinder wissen das." (Hermes 1998, S. 31)

Damit gibt diese Mutter eine wichtige Gemeinsamkeit mit anderen Eltern an, die sich aber noch in vielen weiteren Bereichen zeigt. Häufig finden sich keine wesentlichen Unterschiede zu "normalen" Familien. Auch dort kann es passieren, daß ein Kind von seinen Eltern bei einem Einkauf aus den Augen verloren wird, einen Gegenstand verschluckt oder versucht, seine Erzieher auszuspielen.

Es gibt zahlreiche Gemeinsamkeiten und auch manche Unterschiede, die durch die Sehbehinderung verursacht werden. Deshalb bin ich auch der Auffassung, daß man sie als Eltern mit ihren unterschiedlichen Stärken und Schwächen betrachten und nicht primär die Sehbehinderung betonen sollte. Außerdem meine ich, daß es absolut keinen Grund gibt, sehbehinderten Eltern den Wunsch nach eigenen Kindern abzusprechen, wenn sie selbst sich dafür entscheiden.

Die Voraussetzung dafür muß sein, (seh)behinderte Personen als Menschen wie alle anderen auch zu behandeln, ihre "Andersartigkeit" zu akzeptieren und zu respektieren anstatt sie als Defizit oder Belastung zu empfinden.

Diese Arbeit soll nur als Impuls zur näheren Betrachtung der Situation (seh)behinderter Eltern verstanden werden, wo es noch viele weitere Fragen zu beantworten gäbe. Interessant zu untersuchen wäre auch die Situation sehbehinderter Väter, wozu es bis jetzt kaum Arbeiten gibt. Dies begründet sich meiner Meinung nach zum Teil sicherlich damit, daß die Mutter immer noch die primäre Bezugsperson der Kinder und Hauptverantwortliche im Haushalt ist.

Andererseits würde ich es ebenso wichtig finden, die Situation der Eltern in verschiedensten Altersstufen der Kinder näher zu betrachten. Ich erwähnte zwar, daß das Alter der Kinder eine enorme Rolle in diversen Bereichen spielt, aber wie sich dies konkret zeigt, war mir in der vorliegenden Arbeit nicht möglich zu erläutern.

Gleichzeitig könnte ebenso die Situation der Kinder noch mehr hinterfragt und die Auswirkungen der "Besonderheit" (seh)behinderter Eltern auf deren Lebenslauf untersucht werden.

Abschließend möchte ich noch eine Aussage von Anette Paul anführen, die ich als Ausganspunkt und gleichzeitig als Resultat meiner Arbeit betrachte:

"Ich meine, daß wir erreichen müssen, in unserer Gesellschaft nichts Besonderes mehr zu sein, sondern Menschen wie alle anderen auch, und daß auch wir ein Recht haben, so zu leben wie andere es dürfen." (Paul in: horus 3/1990, S. 84)

8. LITERATURLISTE

ALBRICH-WARGER, Silvia: Ertastete Liebe; in: Die Tirolerin, Dezember 1994/Jänner 1995, S. 22-25

ABU EL-GYAB-WIESMAYR, Gudrun: Lebensbedingungen blinder alleinerziehender Mütter in Deutschland; Diplomarbeit, Universität Hamburg 1994

BARZEN, Karin (Hg.): Behinderte Frauen in unserer Gesellschaft. Lebensbedingungen und Probleme einer wenig beachteten Minderheit; Reha-Verlag, Bonn - Bad Godesberg 1988

BAYRISCHER BLINDENBUND: Tips für blinde und sehbehinderte Eltern; München 10/1998

BURGER, Christine (Hg.): Du mußt Dich halt behaupten. Die gesellschaftliche Situation behinderter Frauen; Edition Bentheim, Würzburg 1992

CONRAD, Wiebke: Überlegungen und Anregungen zum Rehabilitationsunterricht mit blinden und sehbehinderten Eltern; Examensarbeit, Marburg/L. 1990

FETKA-EINSIEDLER, Gerhard/FÖRSTER, Gerfried (Hg.): Diskriminiert? Zur Situation der Behinderten in unserer Gesellschaft; Leykam, Graz 1994

FEUSER, Georg: Zum Verhältnis von Menschenbild und Integration - "Geistigbehinderte gibt es nicht!"; Vortrag im Parlament, Wien 1996

GLINKA, Hans-Jürgen: Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen; Juventa Verlag, Weinheim München 1998

GOFFMAN, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität; Original: 1963, aus dem Amerikanischen von Frigga Haug; 12. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996

HERMES, Gisela: Krücken, Babys und Barrieren. Zur Situation behinderter Eltern in der Bundesrepublik; bifos Schriftenreihe, Kassel 1998

HOHMEIER, Jürgen: Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß; in: Brusten, Manfred/Hohmeier, Jürgen (Hg.): Stigmatisierung 1+2. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen; Darmstadt 1975

HOPF, Christel/WEINGARTEN, Elmar (Hg.): Qualitative Sozialforschung; 1. Auflage, Klett-Cotta. Stuttgart 1979

KERN, Margit: Blind - und Mutter? Diplomarbeit, Hochschullehrgang für Lehrkräfte in den Gesundheitsberufen, Universität Innsbruck 1995

LAMNEK, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Band 1 Methodologie; 2. Auflage, Psychologie Verlags Union, Weinheim 1993

MATISOWITSCH, Heidi: Erfahrungsbericht blinder Eltern; in: Gegenwart 10/1997, S. 19,20

MAYRING, Philipp: Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken; 3. Auflage, Psychologie Verlags Union, Weinheim 1996

MOMRAK HAUGANN, Else: Mit einem blinden oder sehschwachen Partner leben; in: horus 1/1984, S. 1-6

MÜLLER, Martina: Kinder blinder Eltern. Ergebnisse einer Befragung zu ausgewählten psychologischen Aspekten, Examensarbeit, Universität Hamburg 1993

NEUMANN, Johannes (Hg.): "Behinderung". Von der Vielfalt eines Begriffes und dem Umgang damit; Attempto-Verlag, Tübingen 1997

NOLTE, Barbara: Behinderte Frauen - doppelt benachteiligt? Problemaufriß und Ergebnisse eines Werkstattgesprächs; in: horus 1/1993, S. 1-5

PAUL, Anette: Zur Situation früherblindeter Mütter in der Bundesrepublik Deutschland; Diplomarbeit, Fachhochschule Wiesbaden 1986

PAUL, Anette: Mutter sein unter dem Aspekt der Blindheit; in: horus 3/1990, S. 83-88

PIXA-KETTNER, Ursula: "Dann waren sie sauer auf mich, daß ich das Kind haben wollte...". Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistig behinderter Menschen mit Kindern in der BRD; Nomos-Verlag, Baden-Baden 1996

RULAND, Dieta: Blinde Mütter, Väter, Eltern - sehende Kinder; Examensarbeit, Marburg/L. 1986

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SEUSS, Christian: Elternarbeit - ein wichtiger Pfeiler in der Tätigkeit der Blinden- und Sehbehinderten - Selbsthilfe; in: Gegenwart 9/1993, S. 18,19

SEUSS, Christian: Meine Erfahrungen als blinder Vater - ein Zwischenbericht; in: horus 4/1997, S. 123-126

SPÖHRING, Walter: Qualitative Sozialforschung; Teubner, Stuttgart 1995

VEREIN ZUR FÖRDERUNG DER BLINDENBILDUNG: Erfahrungsbericht blinder Eltern; in: Blind - Sehbehindert 3/1998, S. 151-157

ANHANG

Inhaltsverzeichnis

Interviewleitfaden

1. Fragen zur interviewten Person:

Überblick über den eigenen Lebenslauf (Schule, Ausbildung,...)

2. Fragen zu den Kindern:

Anzahl und Alter der Kinder

Wie bereiteten sie sich auf ihr Kind vor?

Hatten Sie spezielle Bedenken wegen ihrer Sehbehinderung?

Trafen Sie spezielle Sicherheitsvorkehrungen, welche?

Wo hatten Sie wegen Ihrer Sehbehinderung Probleme, und wie lösten Sie diese?

Wie gestalteten Sie die Freizeit Ihrer Kinder?

3. Fragen über die Auswirkungen der Sehbehinderung auf die Kinder:

Glauben Sie, daß Kinder sehbehinderter Eltern einen Gewinn

aus ihrer "besonderen" Situation ziehen können?

4. Fragen zur allgemeinen Situation sehbehinderter Eltern:

Welche Bereiche betrachten Sie für sehbehinderte Eltern als schwierig?

Glauben Sie, daß es sehbehinderte Eltern schwieriger als normalsichtige haben, inwiefern?

5. besondere Erlebnisse:

Können Sie sich noch an besondere Erlebnisse mit Ihren Kindern in bezug auf Ihre Sehbehinderung erinnern?

Lebenslauf

Ich, Manuela Finding, wurde am 8. Jänner 1975 in Villach als erstes von vier Kindern geboren. Mein Vater ist Musikschullehrer und meine Mutter Hausfrau.

Von 1981 bis 1985 besuchte ich die Volksschule und von 1985 bis 1989 die Hauptschule in Wörgl. Das darauffolgende Schuljahr verbrachte ich in der Blinden- und Sehbehindertenschule in Innsbruck. Anschließen besuchte ich von 1990 bis 1994 das Bundesoberstufenrealgymnasium mit dem Schwerpunkt Musik in Innsbruck, welches ich im Juni 1994 mit der Matura abschloß. Im Oktober 1994 inskribierte ich mich für Pädagogik und Fächerbündel (Psychologie und Soziologie) an der Universität in Innsbruck.

Quelle:

Manuela Finding: Zur Lebenssituation sehbehinderter Eltern unter besonderer Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedingungen

Diplomarbeit an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold - Franzens - Universität Innsbruck, Oktober 1999

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 20.06.2005

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