"Die Würde des Menschen ist antastbar"

Autor:in - Georg Feuser
Schlagwörter: Gesetz, Bildung, Recht, Gewalt
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag anläßlich der 10-Jahresfeier der Arbeitsgemeinschaft Integration in Heidenheim am 10.05.98
Copyright: © Georg Feuser 1998

Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir finden uns hier zusammen, um heute das 10-jährige Bestehen und Wirken der Arbeitsgemeinschaft Integration Heidenheim e.V. zu feiern und zu würdigen. Indem ich diese schlichte Aussage mache, greife ich schon tief in das hinein, wozu zu sprechen ich gebeten wurde - zur "Würde" des Menschen und ihre Antastbarkeit. Es ist ein ungewöhnliches Thema für eine Arbeitsgemeinschaft, die sich der Integration verschrieben hat, wenn hier Überlegungen dazu angestellt werden sollen, daß die Würde des Menschen antastbar ist. Die Thematik erscheint wie eine Verdrehung der Verhältnisse, denn das GG der BRD besagt im Abs. 1, Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Diese Aussage wird wie folgt fortgesetzt: "Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Wie kann es dann geschehen, so drängt sich die Frage auf, daß sie doch antastbar ist, was letztlich heißt, sie zu verletzen? Die Betrachtungen dazu möchte ich auf folgende Zusammenhänge beziehen: Auf Gesetz und Würde, Gewalt und Würde, Wert und Würde und Bildung und Würde.

1. Gesetz und Würde

Im Artikel 2 des GG - und gleich wieder im ersten Absatz desselben - wird festgestellt: "Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Der Art. 3, Abs. 3, Satz 2 des Grundgesetzes verbietet auf dem Hintergrund, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind (Art. 3, Abs. 1) eine Benachteiligung oder Bevorzugung eines Menschen wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen und wegen des Vorliegens einer Behinderung. Gerade in jüngster Zeit hat uns dieses auf die Behinderung eines Menschen bezogene Benachteiligungsverbot sehr beschäftigt (Feuser 1988). Mit ihm waren viele Hoffnungen verknüpft, daß der schwierige Prozeß der Durchsetzung einer gemeinsamen Erziehung und des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen leichter werden würde und sich ihre Realisierung erheblich beschleunigen lassen könnte. Aber diese Hoffnungen wurden durch das vom BVerfG am 08. Okt. 1997 ergangene Urteil, das Integration unter einen Finanzierungsvorbehalt stellt, erst einmal zutiefst enttäuscht.

Wie kann es angehen, so möchte man sich fragen, daß in Anbetracht solcher Aussagen von verfassungsmäßigem Rang, wenn man sie aufeinander bezieht und miteinander verknüpft sieht, stehen sie doch am Beginn ein und derselben Verfassung, Kindern mit Behinderungen noch immer der Besuch der Regelschulen versagt bleiben kann? Verstößt ein behindertes Kind etwa gegen Rechte anderer, verletzt es die verfassungsmäßige Ordnung oder verstößt es gegen das Sittengesetz, daß ihm »die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit«, wenn seine Eltern und das Kind selbst diese durch den Besuch einer Regelschule gewährleistet sehen und nicht durch eine Sonderschule, verwehrt bleiben kann? Wir meinen, nein. Wenn wir aber mit "nein" antworten, müssen wir uns die Frage stellen, was dann diesem Menschen mit einer Behinderung und seiner Familie hinsichtlich seiner Würde widerfährt, wenn er sie nicht mehr gewährleistet sieht, weil er zwangsweise in einen Zweig unseres Bildungssystems hinein ausgegrenzt wird, der nicht der seiner Wahl ist, während alle anderen, nichtbehinderten Kinder und Jugendlichen zur Realisierung ihrer Förderung die Wahl eines vielfältig gegliederten Schulsystems haben. Tastet es die Würde an? Zumindest, so erlaube ich mir anzumerken, scheint es das mit Abs.1 und 2 des Art. 2 des GG garantierte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person zu begrenzen.

Spannen wir den Bogen noch etwas weiter. Im gleichen Paragraphen ist auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit eines jeden garantiert. Wenn eine Abtreibung im Falle einer sog. Embryopathie, also aufgrund des Merkmales Behinderung, im Kontext der Indikationslösung bei Erfüllung des sozialmedizinischen Tatbestandes noch zu einem Zeitpunkt vorgenommen werden kann, in dem diese bei Vorliegen der kriminologischen und der Notlageindikation, die in gleicher Weise den sozialmedizinischen Tatbestand erfüllen, nicht mehr erfolgen darf, dann ist die Chance auf ein Weiterleben für ein behindertes oder von Behinderung bedrohtes Ungeborne wohl ungleich schlechter. Damit wird nicht nur das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, sondern wohl auch das Benachteiligungsverbot in schwerster Weise mißachtet, von der Unantastbarkeit der Würde ganz zu schweigen. Oder hat man diese erst, wenn man sie sich durch Wohlverhalten und Leistungsfähigkeit verdient hat?

Wir sehen uns heute auch damit konfrontiert, daß die sog. Bioethikkonvention der EU, die fremdnützige Forschung und die Entnahme regenerierbaren Gewebes an nicht einwilligungsfähigen Menschen vorsieht, trotz unseres GG auch von Deutschland unterzeichnet werden könnte. Wie steht es dann mit der Würde schwer beeinträchtigter Menschen? Die Diskussion dazu ist in vollem Gange. Das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken hat sich bereits dafür ausgesprochen. Dies im Vertrauen darauf, daß die fremdnützigen Eingriffe nur mit minimalen Belastungen verbunden sein dürfen. Kann eine Begründung noch naiver sein, als diese? Auch wenn auf die Artikel 6 und 17 der Konvention verwiesen und davon ausgegangen wird, daß der Deutsche Standard durch die Unterzeichnung nicht abgesenkt wird, so ist das für die katholische Kirche, die in Sorge schwebt, daß man sich durch eine totale Blockade aus der ganzen Diskussion ausblenden könnte, folgt man der Stellungnahme von Herrn Dr. Bayerlein, Vizepräsident des Zentralkomittees der Deutschen Katholiken, doch ein ausgesprochenes Armutszeugnis an Argumentation.

Die Debatte um den "Lebenswert" schwer beeinträchtigter Menschen und um die sog. "Neue Euthanasie" hat deutlich gezeigt, daß hier massive Verletzungen der Menschenwürde nicht erst angedacht, sondern in ihrer z.T. schon bestehenden Praxis zuerst ethisch und dann auch rechtlich legitimiert werden sollen. Wer tritt z.B. für Tausende jährlich liegengelassene schwerstbehinderte Säuglinge in der BRD ein, für ihre Behandlung, für ihre Würde als Mensch? Würden wir nur ebensoviele Menschen unter uns wegen eines auf sie zutreffenden Merkmales verfolgen, gefangennehmen und erschießen, alle Welt würde davon sprechen, daß in Deutschland Rassismus und Bürgerkrieg herrsche. Hilflose Neugeborene finden solche Stimmen nicht, wenngleich ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, ihr Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit aufs Gröbste verletzt wird und ihre Benachteiligung aufgrund ihrer Behinderung für sie die Regel ist. In der Folge ist die Verletzung ihrer Menschenwürde das Kontinuum ihres Lebens, bis sie zu Tode kommen. Oder sind sie keine Menschen?

Das GG spricht von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, nicht der Person. Auf diese erfolgt bereits der Zugriff durch utilitaristische und präferenzutilitaristische Modelle ethischer Begründung der Moral, wenn sie ihrem impliziten Verständnis von Behinderung nach vorgeben, daß schwer beeinträchtigte Menschen (und hier werden schon solche mit Down-Syndrom genannt)

  • nicht (oder nicht mehr) in der Lage sind, sich selbst als distinkte Entität zu empfinden,

  • kein Empfindungsvermögen haben, welches, wie Anstötz (1990) schreibt, "das nicht bewußte Leben vom bewußten und selbstbewußten Leben unterscheidet" (S. 113),

  • keine oder nur eine geringe Fähigkeit zu sinnvollen Beziehungen mit anderen haben,

  • sich selbst nicht als in der Zeit existierend begreifen können,

  • kein auf die Zukunft gerichtetes Bewußtsein haben und

  • keine Präferenzen auf ein zukünftiges Leben entwickeln können,

weshalb sie keine Person seien. (Singer) Ferner wird behauptet, daß sich Personalität und Selbstbewußtsein auch in der regelhaften Entwicklung eines Säuglings erst im ersten Lebensjahr herausbilden, weshalb auch gesund geborene Säuglinge, wenn sie unseren Vorstellungen nicht entsprechen, noch getötet werden könnten. Damit könnte, was die Pränatale Diagnostik noch nicht an als lebensunwert bewerteten Merkmalen aufdecken kann, nachträglich korrigiert werden - durch Tötung. Dies dann nicht nur ethisch gerechtfertigt, sondern gar als moralisch geboten, weil Behinderung mit Leid gleichgesetzt und die Tötung als Erlösung verkauft wird. Singer (1984) schreibt: "Betrachtet man neugeborene Kinder als ersetzbar, wie wir jetzt Föten als ersetzbar betrachten, so hätte das gegenüber der Amniozentese mit nachfolgender Abtreibung beträchtliche Vorteile. Die Amniozentese kann nur einige wenige Abnormitäten aufdecken, und nicht unbedingt die schlimmsten." "Würde man behinderte Neugeborene bis zu etwa einer Woche oder zu einem Monat nach der Geburt nicht als Wesen betrachten, die ein Recht auf Leben haben, dann könnten wir unsere Entscheidung auf der Grundlage eines weit umfassenderen Wissens über den Zustand des Kindes treffen, als das vor der Geburt möglich ist." (S. 186/ 187)

In das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und in die Freiheit der Person darf laut GG nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. (Art 2, Abs. 2) Ob zur Realisierung der aufgezeigten Eingriffe trotz des auf der Würde des »Menschen« und nicht auf dem Personbegriff fußenden Grundgesetzes in Deutschland die gesetzliche Grundlage geschaffen wird, dürfte sich, wie angenommen werden kann, in nicht all' zu weiter Ferne zeigen, zumal damit auch die sehr komplexen Zusammenhänge von Hirntod und Organentnahme oder, wie angedeutet, die fremdnützige Forschung an nicht Einwilligungsfähigen berührt sind - neben vielen anderen sehr grundlegenden Fragen.

Ein Schritt in diese Richtung scheint die Bewertung der "nachbarliche Duldungspflicht bei ungewöhnlichen Lautäußerungen geistig behinderter Menschen" sein, wie das mit dem Urteil des OLG Köln vom 08.01.98 (Az: 7 U 83/96) zum Ausdruck kommt. Zwischen dem 1. April und dem 31. Okt., so das Urteil, gilt es, durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, daß von den auf einem Grundstück des Landschaftsverbandes Rheinland untergebrachten geistig behinderten Personen Lärmeinwirkungen wie Schreien, Stöhnen, Kreischen und sonstige unartikulierte Laute auf das Grundstück des Klägers dringen, und zwar an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen ab 12:30 Uhr, Mittwochs und Samstags ab 15:30 Uhr und an den übrigen Werktagen ab 18:30 Uhr. Man könnte zu diesem Stand der Information noch von einem unliebsamen Maulkorb für Menschen mit geistiger Behinderung sprechen. Aber spätestens, wenn man genauer hinschaut, wird man eine solche Einschätzung sehr schnell aufgeben. Der Senat kommt nämlich zu folgender Bewertung: "Im Vordergrund der Beurteilung steht dabei weniger die Dauer und die Lautstärke als vielmehr die Art der Geräusche, denen der Kläger ausgesetzt ist."

Da ausschlaggebend die Lästigkeit des Lärms und nicht unbedingt dessen Intensität ist, fährt das Gericht fort: "Bei den Lauten, die geistig schwerbehinderte Heimbewohner von sich geben, ist der "Lästigkeitsfaktor" besonders hoch." So empfinde nicht nur der vorurteilsbehaftete Bürger, stellt das Gericht fest, sondern auch der Bürger und Nachbar, dessen Haltung gegenüber Behinderten nicht von falschem Wertigkeitsdenken, sondern von Mitmenschlichkeit und Toleranz geprägt sei. Welch eine Mitmenschlichkeit und Toleranz! Man mag, in gewisser Weise auch berechtigt, über Lärm ärgerlich sein und ihn eindämmen wollen. Aber Menschen die Art und Weise der ihnen zukommenden und möglichen Lautäußerung zu untersagen und damit ihre Möglichkeiten zu kommunizieren wie den Lärm eines Rasenmähers auf bestimmte Tageszeiten einzugrenzen, tritt nicht nur das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, sondern in besonderer Weise die Unantastbarkeit menschlicher Würde mit Füßen.

Wo dies in unserer Gesellschaft höchst richterlich, geschehen kann, fühlt man sich an Unrechtsurteile ähnlicher Art, wie z.B. die richterlich zugestandene Schmälerung des Urlaubsgenusses, wenn Behinderte anwesend sind. Daß es geschehen kann. Liegt daran, daß wir es geschehen lassen und einen Protest bis zur vollständigen Zurücknahme solcher Urteile nicht durchhalten. Dem gegenüber erscheinen die Untaten junger Menschen gegenüber Behinderten, Asylbewerbern und ausländischen Mitbürgern noch leichter nachvollziehbar. Ohne Perspektive und Sinn für das eigene Leben, ideologisch und politisch mißbraucht, beziehen sie ihr Selbstwertgefühl aus der Gewalt und ihrer Wirkung gegenüber denen, die noch schwächer sind als sie selbst. Aber auch ihnen gegenüber haben wir keine anderen Mittel zur Verfügung, als mit dem Finger auf sie zu zeigen und, was längst System und Struktur hat, sie als abzuurteilende Einzelfälle zu bewerten. Derweil weist der ausgestreckte Finger auf uns selbst zurück, auf die Gesellschaft, die wir nach 1945 aufgebaut und geschaffen haben und in der die Jugendlichen von heute zu dem gesellschaftlichen ICH geworden sind, dessen Du wir ihnen waren.

Von den Ursachen der Misere ist nicht die Rede und nicht von dem Quell', aus dem diese Flut sprißt und nicht von dem Boden, auf dem der Samen menschenverachtender Einstellungen und Haltungen immer wieder aufgehen kann. Unsere Selbstgerechtigkeit und Selbstherrlichkeit ist schon viel zu groß geworden, als daß wir noch sensibel wären, für das, was wir denen, die nach uns kommen, überlassen. Untaten müssen verfolgt, aufgeklärt, die Täter verurteilt werden; das ist unbenommen. Es wurden in der Deutschen Geschichte schon viel zu oft die Täter zu den eigentlichen Opfern gemacht. Nur, wer in diesem Sinne Täter wird, war meist zuvor schon Opfer inhumaner Gewalt. Deshalb sollten wir eher die Richter zur Verantwortung für derartige Urteile heranziehen, als auf die Jugendlichen zeigen, die in ihrem Leben Sinn, für ihren Geist und ihre Hände Arbeit und für ihr Leben eine Perspektive brauchen, die wir ihnen nicht gewährt haben oder gewähren.

Während uns das vorgenannte Urteil erreichte, lenkte ein anderes vom 26.01.98 in Niedersachsen die Aufmerksamkeit darauf, daß wir im Rahmen der sich über jede Menschenwürde hinwegsetzenden Sparpolitik nun auch noch zu befürchten ist, daß der Personenkreis, dem bislang Eingliederungshilfe nach dem BSHG gewährt wurde, in den Bereich der Hilfe zur Pflege abgedrängt wird. Noch wehrte das OVG Niedersachsen die Umetikettierung der Behindertenhilfe in Hilfe zur Pflege ab. Das Abschieben Behinderter in den Bereich der Pflegeversicherung, würde sie einer neuen Form kostensparender bildungs- und eingliederungslosen Verelendung aussetzen. Der Topf der Pflegeversicherung droht mittelfristig zum Schmelztiegel - man könnte auch sagen - zur zentralen Integrationsstelle aller derer zu werden, von denen man nichts mehr erwartet und denen man, weil ohne Wert, keine Würde mehr zuspricht. Daß es in Zukunft bei einer klaren Abgrenzung der »Eingliederungshilfe für Behinderte« von der »Hilfe zur Pflege« bleiben wird, ist eher unwahrscheinlich. Vermutlich wird von vornherein schon auf Pflege erkannt und die Schwelle zum Erhalt einer Eingliederungshilfe sehr hoch gesetzt werden. Von freier Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne des GG dürfte dann für Behinderte bald kaum noch die Rede sein.

Für keine Entwicklung der Gegenwart ist die unmittelbar auf Fragen der Behinderung übertragbare Aussage von BASAGLIA bedeutender sein, als für die Integration. Er schreibt: "Wenn der Kranke (Behinderte; G.F.) tatsächlich die einzige Realität ist, mit der wir uns zu befassen haben, so müssen wir uns allerdings mit beiden Gesichtern dieser Realität auseinandersetzen:

  1. Mit der Tatsache, daß wir einen kranken (behinderten; G.F.) Menschen vor uns haben, der psychopathologische Probleme aufwirft (die dialektisch und nicht ideologisch zu verstehen sind), und

  2. mit der Tatsache, daß wir einen Ausgeschlossen, einen gesellschaftlich Geächteten vor uns haben" (1978, 151)

Die Entwicklungstendenzen, die heute in der Integration aufscheinen, künden nicht davon, daß die Dialektik der für einen behinderten Menschen bestehenden Wirklichkeit von der Mehrzahl derer, die sie betreiben, begriffen worden wäre.

2. Gewalt und Würde

Wenngleich wir die vorangegangenen Betrachtungen unter dem Aspekt von Gesetz und Würde anstellten, wurde doch zunehmend deutlich, daß es die Gewalt ist, die Menschen mit Behinderungen angetan wird, die die ihre Menschenwürde zutiefst verletzt. Die in herrschaftlicher Weise gegen Behinderte gerichtete Macht der Nichtbehinderten ist die eigentliche Kraft, aus der die Zerstörung ihrer Menschenwürde resultiert. Gegen sie werden wir mit Integration anzutreten haben - und mit Bildung.

Ich möchte Ihnen von einem knapp 5 Jahre alten Jungen berichten, der einen integrativen Kindergarten besuchte. Er war dem MitarbeiterInnen-Team und auch uns seitens der wissenschaftlichen Begleitung dadurch aufgefallen, daß er sich an verschiedenen Tagen derart nicht nur »rowdyhaft«, sondern aggressiv-tätlich gegen seine Spielkameradinnen und -kameraden verhielt, daß er diese umrannte, verletzte und schlug, um ein Spielzeug zu erhalten oder deren Spiele zu stören, ohne daß dem auch nur ein Versuch der Verständigung vorausging. Alles was schwach und störbar war, belästigte und zerstörte er.

An anderen Tagen war er geradezu »lammfromm«, war er eines der hilfsbereitesten Kinder, um behinderte wie nichtbehinderte KameradInnen in gleicher Weise sanft und fürsorglich bemüht. Die beobachtbaren Verhaltensweisen waren derart extrem unterschiedlich, daß wir das erst einmal nur kopfschüttelnd registrieren konnten.

Wir nahmen uns des Jungen an und im Rahmen einer kleinen, mit ihm im Kindergarten und selbstverständlich auch in der Gruppe inszenierten spielpädagogischen und -therapeutischen Vorgehen auf psychoanalytisch fundierter Basis, die Deutungen seitens des Therapeuten zuläßt und erfordert, die aber nicht mitgeteilt werden, sondern durch lenkende Eingriffe in den Spielzusammenhang, der mit einfachsten Medien gestaltet war, transportiert werden, konnte schnell herausgefunden werden, daß der Junge aus dem Fundus zweier hoch differenziert entfalteter Ich-Strukturen heraus handelte, zwischen denen er scheinbar beliebig umschalten und so seine Identität wechseln konnte. Die eine war gekennzeichnet durch eine in gleicher Weise übersteigerte, oft regressiv, d.h. die eigene kindliche Ohnmacht und Verlassenheit überlagernde, soziale Angepaßtheit, wie die andere durch eine fürwahr »asoziale«, also ausschließlich egozentrisch fundierte Allmachtvorstellung, die allen anderen nicht nur Kompetenzen, sondern auch die Fähigkeit zu empfinden und zu leiden absprach, gespeist war.

Wenn ich gleich auf das Ergebnis unserer Bemühungen im integrativ-pädagogischen Kontext kommen darf, so war der äußere Auslöser des Identitäts- und damit Verhaltenswechseln eine in der Hosentasche sorgfältig verwahrte, z.T. aber auch in der Hand mitgeführte kleine Hi-man-Figur, mit der er sich total identifizierte. War sie im KTH mit dabei, kannte er keine Rücksicht, nicht einmal gegen sich selbst, wenn er sich in seiner zerstörenden Manier auf den Boden oder gegen Sachen warf, durch die er sich selbst verletzte. War sie nicht dabei, war er der liebe Junge, als solcher aber, wie Sie sich denken können, genau so auffällig wie in der anderen Identität. Diese Spielfiguren entstammen der Phantasie Erwachsener, in der die eigene Kindheit und die Erinnerung an die eigene Verletzbarkeit längst ausgetilgt sind und sie werden als gutes Geschäft auf den Markt geworfen. Sie haben zwar alle Fähigkeiten eines Menschen, können greifen, sehen, klettern u.v.a. m., aber derart überzeichnet, daß sie bereits wieder »unmenschlich« sind. In Kombination mit einer virtuellen Bilderwelt nachmittage-, abende- und nächtelangen Fernsehens, die Gewalt-Schokker und Sex-Pornos der Eltern eingeschlossen, waren "seine Welt", in der er, im sozialen Milieu seines Zuhauses, Liebe und Geborgenheit suchte, aber Gewalt fand.

Die Familie selbst war durch die Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern verarmt. Die resultierende Wut und gleichzeitige Ohnmacht der Eltern, gegen ihre Verarmung und ihren sozialen wie kulturellen Abstieg - das eigene Haus mußte verkauft werden und schon drohte zu dieser Zeit der Familie die Obdachlosigkeit - nicht wirksam protestieren und ihn gewerkschaftlich und politisch nicht wirksam bekämpfen zu können, wurde in Alkohol und Fernsehkonsum ertränkt. Eine in gleicher Weise virtuelle wie irreale Welt dominierte tagaus tagein das Alltagsleben von früh bis spät. So holte man sich eine Welt, in der alle tüchtig sind, in der den Tüchtigen alles klappt, das Gute siegt und das Leben überwiegend schön ist, ins eigene Wohn- und Schlafzimmer - und, ist es nicht wie erhofft, erträumt oder erwünscht, kann alles über den Haufen geschossen oder in den Flammen von Flammenwerfern und Laserkanonen in Minutenbruchteilen aufgelöst werden. In dieser Welt voller Gewalt schuf der Junge seine Welt und in dieser, von erträumter Geborgenheit bis hin zu vernichtender Bedrohung fluktuierenden Welt, sein Ich und seine Identät.

Im multiprofessionellen Feld des Personals eines integrativen KTH und in Kooperation mit den im Stadteil angesiedelten Sozial- und Gesundheitsdiensten konnten wir damals noch eine konstruktive Lösung der aufgezeigten Problematik erreichen. Heute sind die dafür erforderlichen Strukturen in den Stadtteilen abgebaut, der Sparpolitik zum Opfer gefallen, die über Generationen hinweg ein exponentiell anwachsendes Vielfaches an Kosten verursachen wird, als in den wohl in diesen Bereichen kaum von 12 Uhr bis Mittag zum Denken fähigen Politikergehirnen, die das zu verantworten haben, unter dem Strich als »eingespart« verbucht werden kann.

Ich möchte es bei diesem Beispiel belassen, wenngleich ich leider von vielen schwerster Verletzung der Menschenwürde von Kindern durch die Gewalt, die einzelne Erwachsene aber auch die Strukturen der Gesellschaft ihnen zufügen, sprechen könnte.

Ein Beispiel solcher "struktureller Gewalt", Barbarisierung und Entmenschlichung unserer Welt kommt mit der sog. "Qualitätsdiskussion" der Dienstleistungen von Trägern gegenüber Behinderten zum Ausdruck, in der es um den Aufbau eines Qualitätsmanagement-Systems (die Abkürzung QMS steht auch schon bereit) - und darin eingeschlossen um deutsche und europäische Din-Normen geht (ISO = Internationale Standard Organisation). Als "Lieferant" stellt der Anbieter dem behinderten Menschen Produkte bereit (z.B. einen Platz in der WfB), die er als Kunde (Endverbraucher oder Anwender) nützt. Begreifen wir Sprache als etwas zutiefst und einzigartig Menschliches, wie ich das schon in bezug auf das Kölner Urteil angedeutet habe, so dürfte klar sein, daß es nicht egal ist, wie wir etwas benennen, auch wenn es "gut" (gemeint) sein mag.

Die Ökonomisierung und damit die Rationalisierung des "Betriebs" der Behindertenfürsorge und ihre Regulation nach Kosten-Nutzen-Analysen ist schon so weit (und eben bis in den Sprachgebrauch hinein) fortgeschritten, daß man aus der Sicht der "Integration" den Eindruck gewinnt, einem abgefahrenen Zug nachzulaufen. Darüber können auch andere gescheit klingende Worthülsen, die heute in der Fachliteratur Urstände feiern, nicht hinwegtäuschen. Hier neue Qualitätsstandards, dort Empowerment - letztlich dient das dem Geist einer neuen Vermarktung menschlicher Grundbedürfnisse, wenn wir uns dabei nur wohl und mächtig, agil und dynamisch fühlen; wie sich dabei der betroffene behinderte, kranke und schwer beeinträchtigte Mensch fühlt, der unter unserer Obhut in Altenheimen seinen letzten Tagen entgegendämmert oder im Koma, längst aufgegeben und als Organressource bewertet, in Angst leben muß, wann man beginnt, ihn verhungern zu lassen, die Behandlung einstellt oder die Apparate abschaltet, das scheint uns immer weniger zu kümmern und die, die es noch kümmert, scheinen weniger zu werden. Daß in Anbetracht solcher Entwicklungen LehrerInnen noch immer meinen, die Arbeit mit behinderten Kindern in Regelschulen ablehnen zu können, wenn nicht alle wünschenswerten und letztlich auch nötigen Voraussetzungen gewährt werden, und gerade darin scheinbar fürsorgliche Rückendeckung von seiten der Schulverwaltungen und Ministerien annehmen, die an der Vorenthaltung der Bedingungen zentral beteiligt sind, ist das eine skandalöse, ahistorische Einstellung.

Alles das ragt in den Reigen der Bilder hinein, die wir mit dem Begriff einer neuen 'Behindertenfeindlichkeit' vor Augen haben, bis hin zu den schon erwähnten Angriffen auf Würde und Leben ausländischer MitbürgerInnen. Seitens der Täter wird eine Struktur transparent, die sie in der Art eines kleinsten gemeinsamen Nenners kennzeichnet - ich habe es schon betont: Sie alle, die in der einen oder anderen Weise Täter wurden, waren zuvor ihrerseits Opfer z.T. rigidester Ausgrenzung, weil sie als Menschen als solche und in ihrem Denken und Handeln keinen Wert repräsentieren, den diese Gesellschaft würdigt und anerkennt, ja zur Voraussetzung dafür macht, geachtet zu werden. Das verweist uns auf den Zusammenhang von Wert und Würde.

3. Wert und Würde

Die Würde von Menschen, das zeigen die bisherigen Ausführungen schon sehr deutlich, wird immer dort angetastet, wo wir meinen, uns einen Menschen »verfügbar« machen zu können. Gerade die Pädagogik ist - mag man ihr auch die beste Absicht unterstellen - in ihrer Praxis wohl der Lebenszusammenhang schlechthin, in dem wir in besonderer Weise in der Gefahr sind, uns Menschen verfügbar zu machen. Jene, die wir erziehen und bilden, unterrichten und fördern, sind in der Regel, allein schon aufgrund ihres Status und ihrer Rolle als Kinder, hochgradig von uns abhängig - und wenn sie Beeinträchtigungen haben, die sie auf unsere Intervention und Hilfe angewiesen machen, dann sind sie dies in besonderer Weise.

Den Begriff der Behinderung könnte man schlechthin als die Kategorie bezeichnen, die wir jener Gruppe als sie klassifizierendes Etikett verleihen, über die wir als einzelne Personen wie als Gesellschaft in besonderer Weise »verfügen« - wie aufgezeigt, bis hin, sie zu töten. Ihre Ausgrenzung in Sonderinstitutionen ist wohl der sichtbarste Ausdruck dieses Verfügens über den anderen. Wir verfügen, wo, wann und wie sie ihre Bedürfnisse nach Gesundheit, Erziehung und Bildung eingelöst bekommen - und je nach unserer Einschätzung ihrer Behinderung, in welchem Umfang das geschieht: Ob sie lesen lernen dürfen oder den Neckermann-Katalog auszuschneiden haben! Wir verfügen aber auch darüber, ob ein Neugeborenes mit schweren Beeinträchtigungen "liegengelassen", ob ein schwer hirnverletzter Mensch reanimiert wird oder ob wir einem Menschen im Koma die sogenannte künstliche Beatmung abschalten oder seine Ernährung und Behandlung einstellen.

Würde aber gibt es erst dort, wo wir bereit sind, auf die Befriedigung unserer Belange durch die Verfügung über andere Menschen zu verzichten, sei es, um persönliche Mühen oder gesellschaftliche Kosten einzusparen oder uns dadurch von Angst zu befreien, daß wir ein Leben beenden, das uns als eines erscheint, das wir uns selbst nicht wünschen. Solches Leben erachten wir als leidvoll und nicht lebenswert und sein Ende erleben wir in eschatologischer Weise als Erlösung, mithin - last not least - seine Tötung als ethisch rechtfertigbar. Im Begriff des Lebens-"Wertes" taucht der andere Begriff auf, der zwar etymologisch mit dem der Würde eine gemeinsame Wurzel hat, aber längst eine andere Bedeutung, nämlich der "Wert". Spätestens seit KANT sind »Wertschätzung« und »Achtung« zu unterscheiden. In seiner "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" schreibt er:

"Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde." (1996, S. 68)

Bei aller Kritik an dem auch bei KANT deutlich aufscheinenden menschenverachtendem Gedankengut, vermag seine Analyse einen fundamentalen Zusammenhang aufzuzeigen, den es heute in neuer Weise zu diskutieren gilt. In der Autonomie des Einzelnen - wie viel Hilfe, sie zu realisieren er auch benötigen mag - erkennt er den Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur. Wie tief z.B. die "Praktische Ethik" SINGERs unter diese Bedeutungszumessung der Begriffe Wert und Würde gesunken ist, wird allein aus der sog. "Ersetzbarkeitsregel" deutlich, die besagt, daß die Tötung eines behinderten Kindes gerechtfertigt ist, wenn die Eltern sich in Folge entschließen, ein anderes Kind zu haben. Zum einen gibt es wohl keine Garantie, daß das der Tötung eines behinderten Kindes nachfolgende Kind nicht beeinträchtigt sein und als behindert klassifiziert werden könnte und zum anderen wird überdeutlich, wie wir heute Menschenwürde mit dem Wert eines Menschen verwechseln, den es an sich nicht gibt.

Er wird erst als Relation der Verfügbarkeit eines Menschen für unsere Interessen und in der Regel mit dem Äquivalent des Preises, den wir dafür zu bezahlen oder einzusparen bereits sind, konstituiert - denken sie z.B. nur an die Entlohnung für Arbeits- oder Dienstleistungen oder an die gegenwärtige radikale Sparpolitik in bezug auf die Bereiche Gesundheit, Soziales und Bildung. Was z.B. die Stichworte »Sparpolitik«, »Sozialabbau« und - das 1997 gekürte Unwort des Jahres - »Rentnerschwemme« zum Ausdruck bringen, verdeutlich in gleicher Weise die strukturelle Gewalt in der Sprache wie den den Betroffenen zugemessenen Unwert als Griff nach ihrer Würde. Worin könnte das deutlicher zum Ausdruck kommen, als im Finanzierungsvorbehalt des Urteils des BVerfG in Sachen Integration - oder wenn heute, als Folge der ersten Protestwelle, die Bioethik-Konvention ohne inhaltlichen Änderungen in "Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin" umbenannt wurde?

4. Bildung und Würde

"Bilden ist sich bilden" (S. 39), schreibt V. HENTIG in seinem 1996 erschienenen Werk, dem er den Titel "Bildung" gibt. »Bildung« hält er für ein nützliches Wort für einen schwer faßbaren, aber identischen Vorgang, der für ihn in allgemeinster Form bedeutet, einer Materie oder einem Ding eine Form zu geben. Für den Menschen geht es ihm dabei um »Anregung« und nicht um Eingriff, mechanische Übertragung oder gar Zwang. Alle (nicht nur die geistigen) Kräfte sollen sich entfalten, was durch die Aneignung von Welt geschieht und ihr Ziel ist, wie er schreibt, "die sich selbst bestimmende Individualität - aber nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie als solche die Menschheit bereichert." (S. 41).

Das kennzeichnet »Bildung« als eine in gleicher Weise individuelle, wie soziale und kulturelle Kategorie. Dieses Buch enstand aus Erschrecken darüber, wie leicht man gewillt war, unter Bezug auf sein vorausgegangenes Buch "Die Schule neu denken" (1993²) die Sache der Bildung aufzugeben. Bildung verbindet V. HENTIG (1996) mit »Übersicht«, mit der »Wahrnehmung des historischen und systematischen Zusammenhangs«, mit der »Verfeinerung und Verfügbarkeit der Verständigungs- und Erkenntnismittel«, mit der »philosophischen Prüfung des Denkens und Handelns«. Das verdeutlicht, daß dort, wo nur Lehrbares und Meßbares in den Bildungseinrichtungen im Vordergrund steht, kaum noch etwas anderes zum Zuge kommt, denn "aus den hier in der Mathematik, da im Geschichtsunterricht, dort im Sport erbrachten Leistungen entsteht die gebildete, sich bildende Person nicht, jedenfalls nicht von allein und nicht leicht." (S. 99/100).

Jede Art und Weise reduktionistischer Verengung von Erziehung und Bildung hinsichtlich des inhaltlichen Angebotes, seiner sozialen Einbettung im Prozeß kooperativer Aneignung und hinsichtlich der kulturellen Bedeutung negieren nicht nur das seit der Aufklärung in der Pädagogik durchgängige Bemühen um ein gleiches Recht auf Bildung aller Menschen, sondern nimmt auch bewußt die Spaltung der menschlichen Solidargemeinschaft und die kognitiv-mentale wie emotiv-soziale Begrenzung der menschlichen Persönlichkeit in Kauf. Das aber ist die gängige Praxis der Bildung in Sonderinstitutionen. Mithin kann es heute, wie schon bei COMENIUS (1592-1670) ausgedrückt, um nichts anderes gehen als um die Entwicklung einer Allgemeinen Pädagogik. Sie ist ist insofern

- demokratisch, als alle Kinder/SchülerInnen alles lernen dürfen und insofern

  • human, als dies unter Zurverfügungstellung aller erforderlichen materiellen und personellen Hilfen und ohne sozialen Ausschluß erfolgen kann.

Das macht, didaktisch gesehen, im Unterricht

  • eine »Inneren Differenzierung« durch eine (entwicklungsbezogene) »Individualisierung« und

  • die »Kooperative Tätigkeit« (aller Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft mit dem Ziel der Realisierung der Qualitäten eines Kollektivs) an einem »Gemeinsamen Gegenstand« erforderlich.

Insofern ist Integration eine Reformpädagogik. Wo sie diesen Anspruch nicht aufrechterhält und nach Maßgabe des aufgezeigten didaktischen Fundamentums zu realisieren versucht, wird sie letztlich das Geschäft der Segregation betreiben und über die Vorenthaltung von Bildung auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Würde des Menschen verletzten.

Die Zukunft eines humanen und demokratischen Erziehungs- Unterrichts- und Bildungssystems liegt nicht in der Pluralität selektierender und segregierender Erziehungs- und Unterrichtssysteme, sondern in der Einheit eines die nahezu unendliche Vielfalt menschlicher Entwicklungs- und Seinsmöglichkeiten fördernden Erziehungs- und Schulsystems.

Was heute Integration genannt wird, steht in Theorie und Praxis noch überwiegend auf der Seite der Selektion und Segregation. Nur solange wir und jede und jeder einzelne von uns Behinderte, Invalide, Alte, Kranke, Sieche u. a. Minderheiten ausschließen, haben jene, die Würde des Menschen antastenden und verletzenden Momente einen Ansatzpunkt. Erziehung, verstanden als die Ausbildung des Bedürfnisses des Menschen nach dem Menschen und Bildung, verstanden als das Gesamt der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenz eines Menschen, die er aktiv selbst hervorbringt und seine Biographie konstituieren, realsiert in der ungeteilten sozialen Einheit der Lernenden und durch ihre Kooperation, dürfte für alle unsere Kinder und SchülerInnen die Basis dafür sein, ob der Verlust an Menschenwürde oder deren Schutz unsere zukünftige Kultur kennzeichnen wird. Mit der Integration ist ein erster und sehr zentraler Weg in die richtige Richtung gegangen worden, der Menschheit ein humanes und demokratisches Angesicht zu erhalten.

5. Schlußbemerkung

Im Prozeß der Geschichte Ihrer Arbeitsgemeinschaft, die sich nun schon seit 10 Jahren in einer immer stärker separierenden Welt, deren tödlicher Zeitgeist schon als bedrohend empfunden werden muß, um Integration bemüht, haben wir in dieser Stunde innegehalten, uns umgesehen - umgesehen um umsichtig den weiteren Weg unserer Arbeit zu planen. Wir müssen erkennen, daß die Würde des Menschen antastbar ist, verletzbar. Wir können aber auch sehen, daß dies nur der Fall sein kann, wenn keine Gegenkraft sie schützt. Sie zu schützen und für uns selbst wie für jeden Menschen zu wahren, ist eine der bedeutendsten Aufgaben unseres Gemeinwesens gerade auch im erzieherischen und unterrichtlichen Handeln. Dieses gilt es, auf das Niveau der anskizzierten Allgemeinen Pädagogik zu entfalten, die eine conditio sine qua non für die Integration ist. Haben wir sie entwickelt, werden wir erkennen, daß Integration selbst nur ein Artefakt eines selektierenden und segregierenden Bildungssystems ist, das zwingend zu überwinden sein wird. Solange wir von Integration reden müssen, weil Menschen wegen einem jedem Menschen möglichen Merkmale ausgegrenzt werden, haben wir die nächste Sprosse auf der Leiter zu einer die Würde des Menschen nicht antastenden Gesellschaft noch nicht erreicht.

Ich wünsche Ihnen die Kraft, den Mut und den Kampfesgeist, durch Integration eines der höchsten Güter zu verteidigen, das wir haben, nämlich die Wahrung der Würde des Menschen.

Literatur

Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. In: Weischedel, W. (Hg.): Werkausgabe Band VII. Frankfurt/Main: Suhrkamp 199613, S. 11-102

MARGALIT, A.: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Berlin 1997²

Quelle:

Georg Feuser: "Die Würde des Menschen ist antastbar"

Vortrag anläßlich der 10-Jahresfeier der Arbeitsgemeinschaft Integration in Heidenheim am 10.05.98

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.07.2005

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