"Therapie" und "Integration" durch Musizieren? - Eine kritische Betrachtung

Autor:in - Georg Feuser
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: erziehung heute 2/1994; Österr. Studien-Verlag; Innsbruck
Copyright: © Georg Feuser 1994

1. Eine Begriffsklärung: "Therapie" und "Integration"

Ich bin der Auffassung, daß wir heute in den verschiedensten Zusammenhängen behindertenpädagogischer Wissenschaft, Theorie und Praxis nicht mehr daran vorbeikommen, über »Integration« zu sprechen - ob uns dies lieb ist oder nicht. Der Begriff der Integration ist heute aber schon zu einer schwammigen Bezeichnung geworden, die inflationär gebraucht wird. Vor allem in der Integrationspraxis wird oft extrem mißbräuchlich mit dem umgegangen, was der Begriff beschreibt, so daß ich ihn am liebsten nicht mehr hören und gebrauchen möchte. Weil es "in" ist, daß man integriert, nimmt jeder für sich in Anspruch, es zu tun, auch wenn er nachweislich das Gegenteil bewirkt.

Wenn ich im Erziehungs- und Bildungsbereich von »Integration« rede, dann spreche ich von der »gemeinsamen Erziehung, Unterrichtung, Bildung und Ausbildung bzw. vom gemeinsamen Spielen, Lernen und Arbeiten von behinderten und nichtbehinderten Menschen - solange wir es überhaupt für nötig halten, diese Klassifikationen zu treffen. Das ist das eine ...

Ein aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang ähnlich verwässerter Begriff ist der der »Therapie«. Ich möchte das einmal sehr kurz und drastisch verbildlichen: Ich warte nur noch darauf, bis jemand auf die Idee kommt, daß es sinnvoll ist, mit einem behinderten Menschen in eine Kneipe zu gehen und ein Bier zu trinken ... und daß dann ein Artikel darüber veröffentlicht wird, der den Titel haben könnte: "Integrative Biertrink-Therapie mit Behinderten!"

Das heißt: Ich sehe hinsichtlich der Bereiche "Therapie" und "Integration" eine derart starke Tendenz der Verwässerung der damit verbundenen Anliegen, daß einfach nicht mehr sichtbar wird, was das damit verbundene Ziel ist, was die damit verbundene Arbeit ausmacht, wenn dies nicht sehr dezidiert analysiert wird. Eine zentrale Frage ist dabei die nach den heute dominierenden Erziehungs-, Bildungs- und Ausbildungssystemen und natürlich auch die nach den therapeutischen Systemen. Wo sind diese zu kritisieren und wie können diese Konzepte weiterentwickelt werden, welche neuen Konzepte sind zu entwickeln, damit wir Verhältnisse und Verfahrensweisen, die wir kritisieren müssen, in Zukunft überwinden und sie zu praktizieren vermeiden können? - Das wären zu stellende Fragen.

2. Das Dilemma - eine "defektorientierte Sichtweise" des behinderten Menschen

Damit ist auch die Kritik an den traditionellen heil- u. sonderpädagogischen und therapeutischen Konzepten insofern angesprochen, als wir feststellen müssen, daß sie nicht geleistet haben, was sie zu leisten vorgaben bzw. was man sich von ihnen erhofft hatte. Wäre das erreicht worden, hätten wir keinen Grund, diese Diskussion zu führen und völlig neue Wege zu gehen. Das schließt nicht aus, daß sie für den einen oder anderen Menschen Positives erbracht haben, und mindert nicht die Leistung derer, die das ermöglichten. Sie haben aber - und das ist sehr zentral - die permanente Auslese, den permanenten durch diese Auslese bedingten Aus- und Einschluß von Menschen in bestimmte Systeme nicht überwunden. Vor allem hat man übersehen, daß solche Aus- und Einschlußkonzepte von Menschen, die nach unseren normativen Vorstellungen darüber, wie sie denn zu sein und sich zu verhalten haben, permanent wieder Gruppen und Untergruppen von solchen hervorbringen, die eben diese fiktive Norm nicht erfüllen. Meines Erachtens ist gerade der Integrationsbegriff wesentlich auch einer der »Normenkritik«, der Kritik an einem Menschenbild, das Behinderung und psychische Krankheit defektologisch und als Devianz bestimmt, aufgrund dessen ausgelesen wird und die Ausgelesenen in Gruppen scheinbar vergleichbar "Defizitärer" zusammengefaßt werden.

Damit geht eine ganzheitliche Sicht und begriffliche Fassung menschlicher Wahrnehmung, menschlichen Denkens und Handelns verloren. Menschen werden auf das reduziert, was uns an ihnen auffällt. In der Folge verbringen wir sie in Institutionen, in denen sie in den Bereichen, in denen wir sie für defekt halten, »repariert« werden sollen. Die Frage, die wir uns konsequent stellen müssen, ist, ob im Laufe der Geschichte die entfalteten Ansätze, diesen Menschen Hilfen zur Selbsthilfe und zu ihrer Eingliederung zu leisten, nicht eben genau das Gegenteil der damit verbundenen Absicht bewirkt haben, nämlich, sie fortgesetzt neu zu verbesondern. Vor solchen Mechanismen und Wirkungen sind auch Ansätze, die sich integrativ nennen, nicht prinzipiell geschützt! Nur durch exakte Analysen wird klar zu bestimmen sein, was Grundlage, Ziel, Methode und Weg dessen ist, was wir »Integration« nennen und so bezeichnen möchten und was schlußendlich der Effekt dessen ist. (Das gilt übertragen auch für die Therapie.) Konzepte und Vorgehensweisen, die dieser Kritik standhalten, dürfen wir dann vielleicht legitim als einen Schritt vorwärt im Bemühen um "Integration" betrachten.

Zur "Therapie" in Anbetracht der Kürze dieses Beitrags ein vielleicht schockierender, aber auch notwendiger Satz: Solange es Menschen gibt, die der Psychotherapie bedürfen, stimmt in unserer Gesellschaft etwas nicht. Denn mit der Tatsache, daß wir Menschen für psychotherapiebedürftig erachten, gestehen wir ein, daß es in unserer Gesellschaft vielfältige Mechanismen gibt, die Menschen psychisch derart belasten und deformieren, daß sie dieser spezifischen Formen der Hilfe bedürfen, um mit diesen Deformationen besser leben zu können oder sie zu überwinden. Wenn die vorhandenen pädagogischen Konzepte, (behinderte wie nichtbehinderte) Menschen zu fördern, auszubilden und in unsere Kultur einzuführen, diesbezüglich wenig hilfreich oder gar kontraproduktiv sind, so daß wir nach den Therapeuten rufen müssen, dann kann kaum bestritten werden, daß im Verlaufe der Entwicklung dieser Menschen Katastrophen eingetreten sind, die Anzeichen dafür sind und darauf verweisen, daß insgesamt und auf basalen Ebenen im Umgang mit ihnen etwas nicht stimmt.

Insofern stehen sich Integration und Therapie nicht entgegen, sondern sind heute einander ergänzende Notwendigkeiten einer dringend gebotenen Humanisierung, wobei aber jedes System konsequent dahingehend überprüft werden muß, was es leistet und was es nicht leistet bzw. worin es bezogen auf das vorgegebene Ziel kontraproduktiv ist. Diesbezüglich spielt auch die »Musiktherapie« keine besondere Rolle, sie ist keine Ausnahme. Es wird aber nicht anzunehmen sein, daß nur eine musiktherapeutische Vorgehensweise dieser Überprüfung standhält und nur eine integrativ wirksam sei und allen anderen eine therapeutische und integrative Effizienz pauschal abzusprechen sei, wie das bei SCHORKMAYR und WITZANY (1989) wiederholt in bezug auf ihre Konzeption einer "Integrativen Musiktherapie" mittels des "No Problem Orchestra" (NPO) anklingt.

3. "Integrative Musiktherapie" ?!

Ich finde, das NPO ist eine sehr gute Idee. Sie ist längst überfällig und es ist bedauerlich, daß es nicht schon eher in vergleichbarer Weise möglich war, daß sich junge Menschen, seien sie nun (geistig-) behindert oder nicht, als Ausdruck ihrer Enkulturation und der gegenwärtigen Musikkultur in Jazz- Bands zusammentun und diese aktiv mitgestalten und daß dafür die nötigen Voraussetzungen geschaffen und Hilfen gewährt worden wären. So weit, so gut.

Ich würde aber unter Verweis auf das Buch "Integrative Musiktherapie" von SCHÖRKMAYR und WITZANY (1989) - was noch weiter auszuführen und zu begründen wäre - sagen, daß die Autoren und Vertreter dieser Richtung gut beraten wären, sehr ernsthaft darüber nachzudenken, welchen »Behinderungsbegriff« sie nutzen und welchem Verständnis von Behinderung sie damit Ausdruck verleihen. So ist z.B., obgleich das Buch in seinem Verlauf die integrative Wirkung des NPO nachweisen möchte - zu Beginn der Arbeit von "geistig und geistig/körperlich Schwerbehinderten" (S. 8) die Rede, mit Beginn des Therapie-Kapitels wird (zwar in Parenthese gesetzt) von "Patienten" gesprochen (S. 47) und ab S. 50 von "Musiktherapiepatienten" und "absolut Schwerstbehinderten" (S. 56). In dem Maße, wie wohl nachgewiesen werden soll, daß mit dem NPO etwas ganz Normales vor sich geht, wird die begriffliche Bezeichnung der am NPO beteiligten (behinderten) Menschen immer psychiatrischer und radikaler in Richtung auf ihre begriffliche Verbesonderung, anstatt daß ihre Verbesonderung auch begrifflich überwunden wird. Das allein ist - im wahrsten Sinn des Wortes - ein bedenkliches Moment.

Ferner wären die Vertreter dieser Richtung auch gut beraten, ihr Konzept nicht wissenschaftlich, nicht therapeutisch und nicht integrativ zu nennen!

Auf S. 67 wird zwar betont: "Es wurde die wissenschaftstheoretische Grundlegung dargestellt ... ", aber eine solche findet sich unter Zugrundelegung dessen, was unter Wissenschaftstheorie verstanden wird[1], nicht. So ist es auch schwer, Sinn in folgende Aussagen zu bringen: "Unsere Beurteilung traditioneller Musiktherapiekonzepte basiert ja nicht auf wissenschaftlichen Kriterien, sondern und das betonen wir in dem Buch wiederholt - auf wissenschaftstheoretischen Kriterien." (S. 93) Im Curriculum für die musiktherapeutische Zusatzqualifikation wird auf "die Vermittlung und Praktikabilitätsprüfung dieser neuen wissenschaftstheoretischen Kriterien" verwiesen, denn: "Empirische oder rationalistische Kriterien der Wissenschaftlichkeit von Forschung und deren Interpretation sind rational nicht begründbar" (S. 74). Völlig widersprüchlich zu den eigenen Vorgaben ist schließlich die Aussage zum NPO-Therapiekonzept: "Es handelt sich dabei um kein theoretisches Konzept, das erst in der Praxis Anwendung finden müßte, sondern um praktizierte Musiktherapie, die erst nachträglich theoretisch interpretiert wurde." (S. 12)

Berücksicht man die zitierten Aussagen, so bleibt - ohne das zynisch zu meinen - nur die Feststellung, daß es sich in bezug auf die sog. "Integrative Musiktherapie" weder um eine wissenschaftlich fundierte Schrift und Darlegung des Inhaltes handelt, noch um eine wissenschaftstheoretische Fundierung der für wissenschaftlich ausgegebenen inhaltlichen Aspekte. Mithin ist dieses Buch nicht nur auf der Ebene eines oberflächlichen Eindrucks eine Art Darstellung des NPO und Werbeschrift für dessen Anliegen, aber keine wissenschaftliche Begründung für die behauptete therapeutische und integrative Wirkung des NPO für seine behinderten Mitglieder.

Im Zusammenhang mit Vorstellungen über eine integrative Erziehungs- und Unterrichtspraxis habe ich oft folgendes erfahren: Viele Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrerinnen und Lehrer meinen, wenn sie z.B. ihren bisherigen Unterricht besonders gut machen und curricular, didaktisch, methodisch, medial usw. nach allen Regeln der Kunst gestalten und nun noch behinderte Schüler hinzunehmen, dann sei das Integration. Mir scheint, daß SCHÖRKMAYR und WITZANY annehmen, wenn sie eine besonders gute, nach musikwissenschaftlichen Kriterien orientierte Musik machen und Geistigbehinderte mit den entsprechenden Hilfen im NPO fachgerecht und kompetent mit- und zusammenspielen, dann sei das Musiktherapie. Aber Musik nach allen musikalischen Gesetzmäßigkeiten ausgeführt, macht sie nicht per se therapeutisch. Ebenso bedarf es in der Musik-Therapie keiner werkgerechten Wiedergabe der verwendeten Musikstücke noch einer professionellen Beherrschung der verwendeten Instrumente durch die Klienten, damit sie therapeutisch effizient sein kann.



[1] "Der Begriff "Wissenschaftstheorie" bezeichnet entweder die allgemeine philosophisch orientierte bzw. begründete Theorie der Wissenschaft oder Bereichstheorien über einzelne Wissenschaften." (Siehe MOCEK, R.: Wissenschaftstheorie. In: Sandkühler, H.J. (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften; Bd. 4. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1990, S. 952. Mit Wissenschaftstheorie geht es folglich - bildlich gesprochen - um die Wissenschaft über die Wissenschaft und nicht um das, was SCHÖRKMAYR/WITZANY (1989) damit auszudrücken scheinen.

4. Zum Verhältnis von Pädagogik und Therapie im Sinne der "Integration"

Psycho-Therapie - um solche handelt es sich hier im allgemeinsten Sinne hat es meines Erachtens immer mit Menschen zu tun, deren Persönlichkeitsentwicklung blockiert und deren Kommunikations- und Austauschmöglichkeiten in der Folge schwer beeinträchtigt sind, d.h. diese Menschen sind im Grunde hochgradig isoliert. In der Arbeit mit ihnen geht es darum, sie unter Aktivierung sozialer Interaktionsmöglichkeiten zwischen Therapeut und Klient, in ihren Dialog- und Kommunikationsmöglichkeiten zu rehistorisieren; dies vermittelt über ein Drittes, ein Medium, über das sich Dialog, Interaktion und Kommunikation i.S. eines "gemeinsamen Gegenstandes" vergegenständlichen können. Insofern ist für den Musik-Therapeuten Musik nicht primär ein musikwissenschaftlicher Gegenstand, sondern ein Werkzeug der Vermittlung, ein Medium, über das Dialog und Kommunikation konstituiert werden können. Daraufhin ist Musiktherapie zu überprüfen. Ist diese Vermittlung und Rehistorisierung erfolgt, wird im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wieder die pädagogische Arbeit zur weiteren Rehabilitation und Eingliederung an Dominaz gewinnen.

Damit sind wir auf eine pädagogische Konzeption verwiesen, die im Sinne der oben skizzierten Zielvorgaben einer therapeutischen Theorie und Praxis in pädagogischen und anderen regulären Lern- und Lebensfeldern integrativ sein muß; dies im allgemeinsten Sinne der Konstituierung des interpersonellen Dialoges bis hin zur gesellschaftlichen Integration zu allen Altersstufen und in allen Lebensbereichen. Dafür ist, wie ich das in unseren Projekten herausgearbeitet habe, die "Kooperation am gemeinsamen Gegenstand" in gleicher Weise wie für eine effiziente Therapie auch für eine tragfähige Integration konstitutiv. Das meint, um es noch einmal zu betonen, daß Menschen zusammen an einer Sache arbeiten, die einerseits allen zugänglich gemacht wird und von der niemand (z.B. wegen Art oder Schwere seiner Behinderung/psychischen Krankheit) ausgeschlossen wird und an der andererseits auch jede beteiligte Person nach Maßgabe ihrer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen mitarbeiten darf, die sie zum jeweiligen Zeitpunkt ins gemeinsame Tun einbringen kann.

Es geht also nicht primär um eine normative Wertigkeit und Leistungsskala; dies weder hinsichtlich des Tuns noch der Produkte und damit nicht um die Einlösung von Gütekriterien bzw. Qualitätsstandards einer professionellen Ausführung. So fängt für mich Musik in gleicher Weise wie Sprache schon dort an, wo der Säugling Laute produziert und sich selbst in Lallmonologen oder echolalierend wiederholt und diese Laute von seiner Umgebung als Signale verstanden und bewertet werden, ihnen also Bedeutung beigemessen wird und die in der Folge Handlungen der Bezugspersonen auf das Kind hin nach sich ziehen, so daß sie beim Kind nicht nur funktional, sondern kommunikativ subjektiven Sinn ausbilden. Sinn- und Bedeutungskonstitution sind pädagogisch wie therapeutisch die zentralen Momente der Persönlichkeitsentwicklung[2].

Von den Geräuschproduktionen und Lallmonologen des Säuglings bis hin zu den großen Werken der klassischen und modernen Musikliteratur, mit welchen Namen sie sich auch verbinden mögen, besteht für mich entwicklungspsychologisch gesehen eine Kontinuität quantitativ-qualitativer Höherentwicklung im Bezugsfeld einer kulturhistorischen Tradition. Hier für die Bereiche Therapie Normierungen anzulegen, wie dies bei SCHÖRKMAYR und WITZANY der Fall ist, verweist auf die Professionalisierung von Ausbildung und Musizieren, aber nicht auf Therapie.

Eine zweite Achse ist neben der für Therapie und Integration gemeinsamen "Kooperation am gemeinsamen Gegenstand" die der "Inneren Differenzierung durch Individualisierung". Das heißt, Maßstab für das Tun und die zu gewährenden Hilfen sind im kooperativen Prozeß primär die momentane Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenz eines Menschen und nicht z.B. die musikwissenschaftlichen Kriterien, nach denen ein Instrument zu bedienen oder ein Stück zu spielen ist. Es ist durchaus legitim und geboten, Hilfen dadurch zu gewähren, daß z.B. Tasten eines Instrumentes markiert werden, damit sie beim Musizieren in der richtigen Reihenfolge gedrückt werden, was die Qualität des Musizierens zu verbessern vermag, wie dies in vielen Lern- und Arbeitsbereichen für behinderte Menschen vergleichbar geleistet wird. Auch besteht meinerseits kein Zweifel daran, daß z.B. die Neunte Sinfonie von Beethoven keine andere dadurch wird, daß sie von behinderten Musikern gespielt wird.

Der herausgearbeitete Unterschied besteht darin, ob ich eine möglichst perfekte Interpretation eines Musikstückes in der Öffentlichkeit durch ein Orchester anstrebe, in dem behinderte Musiker auftreten oder ausschließlich musizieren, oder ob ich mittels des Musizierens (möglicherweise auch im Zusammenhang mit öffentlichen Auftritten) Therapie für behinderte Menschen realisieren möchte. Dabei ist eine strikte Trennung beider Aspekte weder in jedem Fall möglich noch sinnvoll. Allerdings bietet aber die "Integrative Musiktherapie" im von SCHORKMAYR und WITZANY dargestellten Sinne - außer der bekundeten Absicht, Therapie zu realisieren - auch in den schriftlichen Arbeiten - keine Begründungen und Nachweise für dieses Postulat, sondern vielmehr Hinweise für die Ausbildung und den Einsatz von behinderten Musikern für das professionelle Spiel in einer Jazz-Band.

Nach den von SCHÖRKMAYR und WITZANY aufgestellten Kriterien wäre nur ein nach musikwissenschaftlichen Kriterien professionelles Musizieren und öffentliches Auftreten Therapie und Integration; mithin alle anderen Bemühungen, mit behinderten und psychisch kranken Menschen unter dem Primat therapeutischer Zielstellungen - wie oben kurz dargestellt - zu musizieren, nur Ausdruck von Unfug, Dilettantismus und berufsständischen Egoismen zu Lasten der Behinderten. Was aber ist dann mit schwerstbehinderten Menschen, die aufgrund der Schwere ihrer Beeinträchtigung auch mit noch so ausgeklügelten Hilfen nicht den von SCHÖRKMAYR und WITZANY aufgebrachten Qualitätsstandards des Musizierens gerecht werden können, den für zentral gehalten "Groove" nicht erreichen und für die öffentlicher Auftritte nicht möglich sind?

Sie wären in der Folge weder zu therapieren noch zu integrieren! Durch die von SCHÖRKMAYR und WITZANY dogmatische Normierung ihrer "Integrativen Musiktherapie", erweist sich ihre Konzeption des Musizierens wohl für die Mehrzahl aller schwer und schwerst behinderten und psychisch kranken Menschen als eine des Ausschlusses. Sie ist mithin segregierend und nicht integrierend; dies mit der Folge des verbleibenden Einschlusses der betroffenen Menschen in ihre informationell und sozial extrem ausgedünnten Lebensbereiche.

Gleichzeitig wären die nach den SCHÖRKMAYR/WITZANY'schen Kriterien nicht im NPO einsetzbaren Behinderten und psychisch Kranken als nicht therapierbar bzw. als therapieresistent zu beurteilen und in der Folge als bildungsunfähig, wenn es nicht gelingt, sie mittels dieses Konzeptes zu fördern. Das aber kommt dem Wiederaufgreifen der klassischen Dogmen der Erziehungs- und Bildungsunfähigkeit der betroffenen Menschen gleich und muß - unter Heranziehung der Wirkung dieser Attributierung in der Geschichte - unter den gegenwärtigen Bedingungen als Form extremer Ausgrenzung begriffen werden[3].

Wenngleich auf der Erscheinungsebene der vehementen Kritik von SCHÖRKMAYR und WITZANY an den Bereichen Therapie im allgemeinen und Musiktherapie im Besonderen und auch ihrer Kritik an Berufsauffassungen und Berufspraxen von Pädagogen, Psychologen und Therapeuten zugestimmt werden kann, so entbehrt sie doch in gleicher Weise einer differenzierten Begründung und Analyse und kann substantiell nicht mehr geteilt werden. Auch ich kritisiere Pädagogen und Therapeuten und Therapiekonzepte rational nicht mehr nachvollziehbarer esotherischer und mystizistischer Art, die eher Glaubensfrage sind als wissenschaftlich zu begründen und in ihren Vorgaben zu überprüfen. Schließlich erscheint es auch als selbstverständlich, daß jeder Musiktherapeut viel von Musik verstehen muß, unabhängig davon, mit welchem Klientel er musiktherapeutisch arbeitet und welcher qualitative Grad des Musizierens dabei erreicht werden kann!

Der Erfolg der postulierten therapeutischen und integrativen Wirkung für die behinderten Mitglieder des NPO kann, wie dies SCHÖRKMAYR und WITZANY immer wieder ausweisen, weder an der Publizität und der Anzahl der öffentlichen Auftritte des NPO gemessen werden, noch daran, daß es den behinderten NPO-Musikern große Freude bereitet, in dieser Band zu spielen. Wenn sie schreiben: "Die Erfolgsquoten entscheiden dann über die Effektivität einer Therapie und der dahinterstehenden Theorie" (S. 12), dann bleibt - unabhängig von der Plattheit einer solchen pragmatistischen Wissenschaftslogik, die heute selbst im klassischen Behaviorismus problematisiert wird - auch hier die Frage offen, auf was sich, was Erfolg genannt wird, bezieht. Es bleibt aus meiner Sicht unstrittig, daß jede kooperativ geleistete Arbeit - wie hier das gemeinsame öffentliche Musizieren geistigbehinderter Menschen im NPO - allgemein das Selbstbewußtsein der (behinderten) Musiker sehr stärken kann, vor allem, wenn Betroffene viele Jahre ihrer Kindheit und Jugend ohne angemessene pädagogische und therapeutische Förderung in isolierten Institutionen zubringen mußten. Daß dies in bezug auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung einen therapeutischen Effekt haben kann, ist in bezug auf die Arbeit von SCHÖRKMAYR und WITZANY ( 1989, z.B. S. 48/49) ebenfalls nicht zu bestreiten. Aber die Arbeit im und mit dem NPO ist deswegen, wie schon aufgezeigt, noch lange keine integrative (Musik-) Therapie.

Und wenn, wie berichtet, ein autistisch behindertes Mitglied des NPO aufgrund der öffentlichen Auftritte eine Lehre als Klavierbauer absolvieren kann, so ist dies in diesem Falle und für diese Person ein Effekt im Sinne der Integration, aber das Musizieren im NPO ist deshalb noch lange nicht per se Integration und die Konzeption des NPO nicht automatisch eine integrative. Auch wenn die NPO-Musiker ihre Auftritte vor einer großen Öffentlichkeit als ein Glück empfinden und für die Dauer des Auftrittes berechtigt das Gefühl haben, im Mittelpunkt zu stehen, was ich aus vielen anderen Praxiszusammenhängen kenne und ebenfalls für unstrittig halte, so bleibt doch die Frage offen, wo und wie die behinderten NPO-Musiker nach ihren Proben, Auftritten und Tourneen leben, wie hochgradig isoliert sie dann sind.

Darüber geben weder Berichte noch Schriften Auskunft. Und es bleibt die Frage offen, ob die den behinderten Mitgliedern des NPO begeistert zuklatschende Öffentlichkeit, wenn sie keinen guten Sound mehr produzieren oder produzieren könnten, jenseits der Konzertbühne im Lebensalltag zugewandte und verständnisvolle Mitmenschen bleiben würden oder wären; von Schwerstbehinderten ganz zu schweigen. Auch dazu gibt es keine Berichte und Untersuchungen. Schließlich verweisen viele biographische Berichte in der Öffentlichkeit gefeierter Menschen z.B. aus Politik, Wissenschaft und Kunst darauf, daß Zuklatschen und Zujubeln das Gefühl großer Einsamkeit und Fremdheit oft nur für die Dauer der Auftritte selbst verdrängen können und am Ende doch ein hoher Grad an Isolation bestehen bleibt; oft sogar während des ‚Bades in der Menge' selbst.

Die Anzahl der Auftritte des NPO und die Masse derer, die Konzerte des NPO besuchen, wie das Verlesen, Sammeln und Nachdrucken von Presseberichten und Anerkennungsschreiben sind weder in bezug auf die von SCHÖRKMAYR und WITZANY postulierte Wissenschaftlichkeit ihrer Konzeption ein Wahrheitsbeweis noch hinsichtlich der postulierten therapeutischen und integrativen Relevanz und Effizienz der "Integrativen Musiktherapie" eine Erfolgskontrolle, von Kriterien, die sich mit Fragen von Validität, Reliabilität und Objektivität des Verfahrens befassen, ganz zu schweigen.

Die Auffassung, daß "Schwerbehinderte zum Teil rhythmisch hochbegabt sind" (Schörkmayr/Witzany 1989, S. 13) ist weit verbreitet. Da in dieser Arbeit - wie allerdings in den meisten sich damit befassenden Publikationen - weder neurophysiologische noch neuropsychologische Aspekte dessen berücksichtigt werden, was als Hintergrund des Bedürfnisses behinderter Menschen nach rhythmischen Strukturen angesehen werden kann, dominiert nach wie vor die Begabungshypothese. Was aber, so wäre zu fragen, ist mit den Menschen, die eine solche vermeintliche Begabung nicht erkennen lassen? Sie bedürfen musikalisch-rhythmischer Strukturen existentiell in hochgradiger Weise, werden aber wohl gerade von musiktherapeutischen Ansätzen, die eine solche "Begabung" voraussetzen, eher vernachlässigt als gefördert[4].

In diesem Zusammenhang wäre auch zu sehen, daß das NPO diesen seinen Namen dem Umstand verdankt, daß Behinderte "beim vorbereitenden Proben wie bei öffentlichen Auftritten weniger problematische Situationen erzeugen, als Bands, die aus Nicht-Behinderten bestehen" (S. 14) (Reaktionen auf Streß, Alkoholprobleme). Was aber dann, wenn solche Reaktionen auch bei behinderten Musikern auftreten würden? Würde dann nicht wieder die in der Geistigbehindertenpädagogik so überstrapazierte "Anstelligkeit" der Behinderten zum Selektionskriterium für ihre Teilnahmemöglichkeit als Musiker in diesem Orchester? Wenn ja, dann wäre das der äußerste Ausdruck dessen, daß hier Therapie und Integration zu betreiben nur vorgegeben wird, denn gerade in der Befähigung des in unseren Augen problematischen Behinderten würde sich Therapie und in seiner uneingeschränkten Annahme und sozialen Eingliederung in alle Lebensbereiche, auch ohne den üblichen Leistungsstandards zu entsprechen, Integration erweisen.

Das NPO ist eine gute Idee für behinderte Menschen, die gerne professionelle Musik in einer Band machen und öffentlich auftreten wollen! Sie sollte gefördert werden und vielerorts Nachahmung finden. Nur - wie schon gesagt: Man sollte diese Konzeption nicht als wissenschaftlich fundiert und nicht als Therapie und Integration ausgeben. Dann wäre das eine ehrliche und gute Sache, die den Vertretern traditioneller therapeutischer Praxis (die oft unter isolierten und isolierenden Bedingungen und jenseits der Bedürfnisse der Klienten, die in ihrem Lebensalltag zu verorten sind, eher zur Befriedigung ihrer eigenen Wünsche therapieren, als im Sinne der Emanzipation der Klienten) möglicherweise erforderliche Anstöße zur längst überfälligen Revision ihrer therapeutischen Praxis und ihres Rollenverständnisses geben könnte. Die Art und Weise, in der SCHÖRKMAYR und WITZANY mit dieser Problematik in ihren Schriften umgehen, wird solches verhindern und die zu überwindenden Strukturen eher fixieren als überwinden.

Quelle:

Georg Feuser: "Therapie" und "Integration" durch Musizieren? - Eine kritische Betrachtung

Erschienen in: erziehung heute 2/1994; Österr. Studien-Verlag; Innsbruck

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 09.03.2006



[2] Diese Zusammenhänge habe ich v.a. auch unter den Aspekten Therapie und Integration in folgender Arbeit grundlegend abgehandelt: FEUSER, G.: Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. In: Z. Behindertenpädagogik 28(1989)1, 4-48; besonders Punkt 3.3, S. 33-39

[3] Siehe hierzu FEUSER, G.: "Zum Verhältnis von Geistigbehindertenpädagogik und Psychiatrie" und "Thesen zu den Stichworten »Pädagogik, Heil- und Sonderpädagogik und Psychiatrie«". In: Dreher, W., Hofmann, Tb. u. Bradl, Ohr.: Geistigbehinderte zwischen Pädagogik und Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag 1987, S. 74-92 u. 93-106; siehe ferner FEUSER, G.: Wider die Unvernunft der Etuthanasie. Grundlagen einer Ethik in der Heil- und Sonderpädagogik. Luzern: Edition SZH 1992

[4] Siehe hierzu FEUSER, G.: Grundlegende Aspekte eines Verständnisses des kindlichen Autismus. In: Musiktherapeutische Umschau 9(1989)1, 29-54

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