Lebenslanges Lernen für Menschen mit geistiger Behinderung

- Selbstbestimmung und Integration

Autor:in - Georg Feuser
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag am 11.06.98 anläßlich der bundesweiten Tagung "Dialoge" mit der Thematik "Menschen mit Behin-derungen in der Erwachsenenbildung", veranstaltet vom Martinsclub Bremen e.V. im Rahmen der Aktion Grundgesetz vom 11.-13.06.1998 in Bremen
Copyright: © Georg Feuser 1998

1. "Lebenslanges Lernen" ....

"Lebenslanges Lernen?" - Nein! Entschieden Nein! - so höre ich Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Behinderungen sagen, wenn ich sie danach frage, ob sie Angebote der Weiterbildung oder Erwachsenenbildung wahrnehmen. Sie wollen in Ruhe gelassen werden. Sie wollen nach einer langen Schulzeit nichts mehr in sich hineinpfropfen lassen, über sich selbst bestimmen, frei sein. Frage ich weiter, so muß ich zur Kenntnis nehmen, daß Lernen und Schule ihnen in hohem Maße das Gefühl von Unmündigkeit und Bevormundung vermittelt hat, daß sie nicht gefragt wurden, was sie beschäftigt, was sie vertieft kennenlernen und wissen wollten, welche Fragen und Probleme ihnen aus ihrer Bezugswelt entstanden sind - und welche sie zu und über sich selbst hatten.

Andererseits sehen sie schon, daß sie heute Interessen haben und vor Fragen stehen, die sich ihnen während der Schulzeit noch nicht stellten. Eine Fortsetzung oder Wiederaufnahme »organisierten Lernens«, wie es schon von 1970 an durch den Deutschen Bildungsrat mit "Weiterbildung" verbunden wurde, könnte doch hilfreich sein, auf viele dieser Fragen Antworten zu finden. Interesse besteht auch dahingehend, Neues zu erlernen, das es zur Schulzeit noch nicht oder für die Betroffenen nicht gab; z.B. mit einem Computer umgehen zu können. Die Teilnahme an Angeboten oder Kursen, wie sie im Rahmen der "Erwachsenenbildung" angeboten werden, sind zudem freiwillig. Sie unterlaufen die Fähigkeit und Möglichkeit zur Selbstbestimmung nicht. Dort finden sich auch Leute zusammen, die ähnliche Fragen oder Interessen haben. Weil es keinen verordneten Lehrplan gibt, arbeiten die TeilnehmerInnen und die ErwachsenenbildnerInnen weitaus partnerschaftlicher zusammen, als dies zwischen Schülern und Lehrer der Fall ist. Das hört sich für die jungen Menschen schon besser an. Haben sie dann erst einmal in diesem Sinne auch positive Erfahrungen gemacht, ändern sich ihre Einstellungen. Es findet eine Art 'Versöhnung' mit Lernen statt - mit »lebenslangem Lernen«. Es ist jetzt nicht mehr, wie meist in der Fachliteratur, ein Begriff, der Erfordernisse und Maßnahmen der Weiterbildung und Erwachsenenbildung etwas hilflos umschreibt und zu gewichten versucht. Er wird für den einzelnen Menschen selbst in ganz spezifischer Weise bedeutend.

2. ... für "Menschen mit geistiger Behinderung"

In bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung dominiert noch immer die Annahme, daß gerade sie lebenslanger »Unterweisung« bedürfen. Der Hintergrund für diese Auffassungen bildet das Verständnis von geistiger Behinderung, das wir mit uns herumtragen. Aus der Sicht des Nichtbehinderten wird ein Mensch, dem wir eine geistige Behinderung zuschreiben, noch immer überwiegend als defizitär, als in seinem Menschsein minderbemittelt, als begrenzt begriffen. Wer sich nicht oder nicht so leicht und flüssig ausdrücken kann, wie wir das erwarten, gilt als unmündig. Wer für das Erlernen einer Aufgabe unsere Zeit länger beansprucht als wir dafür gewähren wollen, gilt als dumm. Wer für die Ausführung einer Arbeit länger als andere braucht, gilt als ungeschickt, ja möglicherweise sogar als faul. So füllt sich der Begriff der »geistigen Behinderung« mit einer Fülle an Problemen, dir wir mit den Menschen haben, die wir als geistigbehindert bezeichnen. Und dadurch haben diese Menschen Probleme - mit uns! Dies nicht, weil sie länger Zeit brauchen, um etwas Neues zu erlernen, mehr Mühe haben, sich auszudrücken oder mehr Anstrengung investieren müssen, eine Arbeit zu erledigen, sondern weil wir sie drängeln, überkorrigieren, sie nicht als gleichberechtigte und gleichwertige Partner akzeptieren, sondern sie zwingen, so sein zu müssen, wie wir meinen, daß sie sind.

Das zeigt, welche Funktion der Begriff der "Geistigen Behinderung" hat. Er ist ein wirres Gemisch aus unseren wahrnehmungsmäßigen Eindrücken und Erfahrungen mit schwerer beeinträchtigten Menschen, die mit ihrer Wirklichkeit und Lebensrealität nur wenig bis nichts zu tun haben. Dadurch, daß wir diesen Begriff benutzen, haben wir schon alles gesagt. Er erspart uns, sich auf den anderen zu besinnen, uns ihm anzunähern, einen Dialog mit ihm zu führen, von ihm zu lernen, mit ihm zu leben. Oh, ja, von außen betrachtet leben wir Fachleute geradezu für Behinderte. Wir gehen in ihre Kindergärten und Schulen, wir gehen in ihre Wohnheime und Werkstätten, die wir für sie errichtet haben, weil wir meinen, daß sie diese benötigen. Aber wir tun uns noch heute schwer damit, sie in regulären Kindergärten und Schulen zu erziehen und zu unterrichten, in normalen Betrieben mit ihnen zusammenzuarbeiten und mit ihnen zusam-menzuwohnen. Würden wir das erschwerte Lernen und die Mühe würdigen, die sich die Betroffenen machen, um sich die von uns Nichtbehinderten geschaffene Welt anzueignen, müßten wir von ihrer besonderen kognitiven Fähigkeiten, ihrem Geschick und Können sprechen und nicht von geistiger Behinderung.

Die Praxis der Integration in den Bereichen Erziehung, Bildung, Wohnen, Freizeit und Arbeit zeigt, daß Menschen mit geistiger Behinderung keine Sondereinrichtungen benötigen. Die Existenz dieser Sondereinrichtungen begründet sich aus den gesellschaftlichen Prozessen der Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie sind ein Artefakt unserer gesellschaftlichen Strukturen und keine aus einer Beeinträchtigung resultierende Notwendigkeit. Sie sind auch mit ursächlich dafür, daß aus einer Beeinträchtigung eine Behinderung entsteht. Durch den Verweis in Sonder-institutionen berauben wir die Betroffenen nicht nur einer Fülle sozialer Kontakte, die in regulären Lebens-, Lern- und Arbeitsfeldern möglich wären, sondern verweisen wir sie auch auf ausgedünnte Lern- und Arbeitsangebote und entziehen ihnen so die Aneignung und Teilhabe zentraler Momente unserer Kultur. Was letztlich für das Erlernen der ihnen zugestandenen Minima erforderlich wird, müssen wir zu großen Teilen als »Therapie« in die Sonderinstitutionen hineinholen oder dort entwickeln.

Wir gehen z.B. reiten, weil es uns Freude macht, alle damit verbundenen Eindrücke zu erfahren, die unserem Körper gut tun, die das Gleichgewicht schulen, unsere Bewegungsfähigkeit, unsere Reaktionsschnelligkeit, unsere Geschicklichkeit - aber auch unseren Geist in der Interaktion mit dem Tier und in der Verarbeitung der Eindrücke aus der Landschaft, die wir durchqueren: die wir sehen, riechen, fühlen, wenn uns Äste streifen u.v.m. Der Mensch mit einer geistigen Behinderung erhält Hippotherapie, weil er als behindert gilt. Anders gesagt: Wir schulen uns in den selben Bereichen, um unsere Kompetenzen weiter zu entfalten, und unser Selbstbewußtsein zu stärken, was uns Stolz sein und Freude empfinden läßt. Wer als behindert gilt, hat seine sogenannten Defizite zu verbessern, sich ständigen Anweisungen und Korrekturen zu unterziehen - und dazu zu schweigen. Während der stundenplanmäßig angeordneten Reittherapie zieht man dann seine Kreise durch das immer wiederkehrende Gelände der Behinderteneinrichtung, die, wie von Adalgisa Conti (1979) beschrieben, schließlich zur Welt schlechthin wird. Diese Welt teilen wir nicht wirklich. Als Profis suchen wir sie zur Ableistung unseres Dienstes auf - und verlassen sie dann wieder, weil wir letztlich für uns menschlich verabscheuen, was wir für andere Menschen fordern, schaffen und erhalten.

Warum nicht so? Stellen wir uns ein auf einen längeren Zeitraum angelegtes Projekt "Reiten" vor, organisiert zwischen Institutionen der Erwachsenenbildung und Reitervereinen, durchgeführt mit Menschen mit und ohne Behinderungen und im Teamwork von Erwachsenenbildnern und in Hippotherapie ausgebildeten und erfahren Personen. Das würde allen Teilnehmern viele Erfahrun-gen, viel neues Wissen und neues Können in Theorie und Praxis ermöglichen, allen für eine gesundheitliche Vorsorge dienlich sein und für einen Menschen mit geistiger Behinderung nichts von dem vermissen lassen, was die Sonderinstitutionen zu bieten haben; im Gegenteil!

3. "Behinderung" ist eine normale menschliche Kompetenz

Alle Nichtbehinderten haben gründlich umzulernen. Wir haben heute fundierte und wissenschaftlich gut begründete Argumente dafür, daß jedes Leben, gerade auch menschliches, zu jedem Zeitpunkt im Lebensverlauf und auf jedem Entwicklungsniveau, das wir durchlaufen, ein komplettes Leben ist, dem nichts an sich mangelt, wohl aber an dem, was wir ihm vorenthalten. Was wir als Behinderung wahrnehmen, ist Ausdruck der Kompetenz eines Menschen. Es ist die Kompetenz, alle Erfahrungen, die er in der tätigen Auseinandersetzung mit der Welt macht, von Beginn seines Lebens an, in seine Lebensprozesse zu integrieren. Das können alle Menschen ausnahmslos nur mit den Mitteln, die sie dafür zur Verfügung haben und in der Qualität, die diese im Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen. Diese Mittel, Welt und sich selbst wahrzunehmen, zu denken und zu handeln, sind aber nicht ein für allemal gegeben, sondern sie unterliegen selbst ständiger Veränderung. Dies je nach dem, was ein Mensch in seinem Leben erfährt - wir könnten auch sagen, was ihm zu lernen angeboten und ermöglicht wird. Darin sind wir uns gleich - trotz der gerade dadurch entstehenden Verschiedenheit eines jeden gegenüber einem anderen. Darin begründet sich auch die Notwendigkeit lebenslangen Lernens für alle Menschen, unabhängig in welchem Teil der Welt und in welcher Kultur sie leben und mit welchem Tempo sich diese wandelt.

Diese hier nur kurz angedeuteten Zusammenhänge zwingen, den Begriff der "geistigen Behinderung" als ausgrenzende Kategorie zu ächten und abzuschaffen - und die Orte der Ausgrenzung als Lebens- und Lernwelten zu überwinden. Deshalb kommen dem Bemühen der Enthospitalisierung und der Integration der von uns als geistigbehindert deklarierten Menschen eine große Bedeutung zu. Allein ihre Ausgliederung aus der psychiatrischen Krankenhausversorgung in heil- und sonderpädagogisch organisierte Heime, hat aber noch wenig mit Integration zu tun. Heime für Menschen mit geistiger Behinderung sind Sonderinstitutionen. Wie Quecksilber, wenn es zu Boden fällt und in viele kleine Kügelchen zerstiebt, in jedem kleinsten Teil giftig bleibt, kann Enthospitalisierung in neue Räume der Ausgrenzung hinein, kaum mehr als ein Etikettenschwindel sein; vor allem, wenn es bei den alten Denkweisen über Menschen mit Behinderungen bleibt und bei den alten Praxen des sozialen Verkehrs, der durch Drinnen und Draußen und von Abhängigkeit, Macht und Herrschaft der Betreuer gegenüber den Betreuten charakterisiert ist. Schritte zur Integration sind wichtig, wenn sie als solche verstanden werden; sie sind noch nicht das Ziel.

Mit gewichtigen Worten blasen wir heute oft die Beibehaltung ausgrenzender Praxis zu Reformen auf, die für die Betroffenen in Wirklichkeit keine sind. Sie bleiben Praxen struktureller Gewalt. Das kommt z.B. mit der sog. »Qualitätsdiskussion« der Dienstleistungen von Trägern gegenüber Menschen mit Behinderungen zum Ausdruck, in der es um den Aufbau eines Qualitäts-management-Systems (QMS) geht. Als "Lieferant" stellt der Anbieter den Menschen mit Behinderungen Produkte bereit (z.B. einen Platz in der WfB), die sie als sogenannte Kunden, Endverbraucher oder Anwender nützen. Dahinter steckt aber eine nur in neuer Weise kaschierte Regulation der Behindertenfürsorge nach Kosten-Nutzen-Kalkülen. Bestenfalls stellt es eine neue Strategie der Vermarktung menschlicher Grundbedürfnisse Behinderter zu unserem Nutzen dar.

Oder: Heute ist viel von "Empowerment" im Sinne von Ermächtigung, Selbst-Bemächtigung die Rede. Damit sollen Menschen mit geistiger Behinderung aus der Entmündigung, Abhängigkeit und Hilflosigkeit, aus der Fremdbestimmung wie aus ihrem institutionellen Sonderdasein heraus-gebracht werden, in der die Erziehungsträger und ihre Betreuer sie halten. Dies dadurch, daß Menschen mit geistiger Behinderung in die Lage versetzt werden, wie THEUNISSEN (1996) schreibt, "ihre Interessen selbst durchzusetzen, sich zu organisieren, ihre Lebensverhältnisse individuell und gemeinsam zu kontrollieren sowie eigenständig-selbstverantwortlich zu bewältigen." (S. 84) Wer anders, als eben die Erziehungsträger und Betreuer, die genau diese Entwicklungen in und durch die Sonderinstitutionen verhindern, sollten sie dazu befähigen? Solche Prozesse haben ihren unbedingten Ausgangspunkt in unserer Veränderung, in unserem Umdenken und in der Änderung der Verhältnisse, die das Leben der Menschen mit geistiger Behinderung regulieren. Es ist - mit anderen Worten gesagt und das einmal sehr deutlich - doch zynisch, Menschen mit geistiger Behinderung zu einer Befreiung von unserer Über-Macht über sie aufzurufen, anstatt unsere Macht über sie entschieden aufzugeben und ihnen, wie allen Menschen, eine freie Entwicklung in Selbstbestimmung und Integration auf der Basis gleichberechtigter Kooperation miteinander zu ermöglichen. Welch ein Anachronismus, welch eine Lüge steckt doch darin, Behinderte gegen das zu emanzipieren, was wir Nichtbehinderte ihnen zufügen!

Es dürfte deutlich geworden sein, daß es mit den heute angestrebten Veränderungen um einen sowohl Behinderte wie Nichtbehinderte betreffenden Prozeß geht. Menschen mit geistiger Behinderung können nur aus Entmündigung, Ohnmacht und Abhängigkeit herauskommen, wenn Nichtbehinderte darauf verzichten, sie auszugrenzen, Herrschaft und Gewalt über sie auszuüben. Das bedeutet für beide Seiten, sich auf große Veränderungen einzulassen, die nicht einfach zu haben sind und die der eine dem anderen nicht abringen oder gewähren kann. Ich sehe kein geeigneteres Feld, damit zu beginnen, als das einer Bildung für alle. Diese verbunden mit dem Ziel, in jedem von uns das Bedürfnis nach dem anderen Menschen zu kultivieren, nach seinem Wohlergehen, nach seiner Autonomie. Verbunden aber auch mit dem Ziel, in einer immer komplexer werdenden Welt kompetent entscheiden und handeln, sie mitgestalten zu können. Das sind aus meiner Sicht die beiden Seiten bildender Prozesse, die wir auch als Erziehung und Bildung betrachten können, die unlösbar miteinander verbunden sind. Die angestrebten reformpädagogischen Ziele der »Humanisierung« und »Demokratisierung« unserer gesamten Lebenswelt, können nur erreicht werden, wenn wir die erforderlichen Bildungsprozesse als gemeinsames Lernen, als gemeinsame Erfahrungsbildung von Menschen mit und ohne Behinderung anlegen. Das haben wir pädagogisch und didaktisch als "Kooperation am Gemeinsamen Gegenstand" und als "Innere Differenzierung durch entwicklungsniveaubezogene Individualisierung" beschrieben und über viele Jahre in Kindergärten und Schulen praktiziert (Feuser/Meyer 1987, Feuser 1987, 1995). Es ist in gleicher Weise als didaktisches Modell integrierender Erwachsenenbildung geeignet, wenngleich es seitens der Erwachsenenbildung noch nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Zusammenfassend geht es also um

4. Bildung für alle - in Selbstbestimmung und Integration

"Bilden ist sich bilden" (S. 39), schreibt V. HENTIG in seinem 1996 erschienenen Werk, dem er den Titel "Bildung" gibt. »Bildung« bedeutet in allgemeinster Form, einer Materie oder einem Ding eine Form zu geben. Für den Menschen geht es ihm dabei um »Anregung« und nicht um Eingriff, mechanische Übertragung oder gar Zwang. Alle Kräfte (nicht nur die geistigen) sollen sich entfalten, was durch die Aneignung von Welt geschieht. Ihr Ziel ist, wie er schreibt, "die sich selbst bestimmende Individualität - aber nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie als solche die Menschheit bereichert." (S. 41).

KLAFKI (1991) verweist in seiner neuen Allgemeinbildungskonzeption darauf, daß Bildungsfragen Gesellschaftsfragen sind und es darum geht, sich auf die "epochaltypischen Schlüsselprobleme" unserer Zeit einzulassen und sie curricular ins Zentrum von Bildung für alle zu stellen. Im Kontext der Erfahrung der zahlreichen Widersprüche moderner Gesellschaften entstehen Deutungs- und Handlungsspielräume, durch die der einzelne als potentiell denkfähige, mitbe-stimmungs- und handlungsfähige Person entdeckt wird, was ermöglicht, in gleichberechtigter Kooperation mit anderen, seine Möglichkeiten zu entfalten und praktisch zu verwirklichen.

PAOLO FREIRE (1973) versteht Bildung als »Praxis der Freiheit«. Betrachten wir alle drei Auffassungen von Bildung als eine Einheit, ist wunderbar beschrieben, was eine integrierende Erwachsenenbildung für Menschen ohne und mit geistige Behinderung ausmacht.

Sie kennzeichnen »Bildung« als eine in gleicher Weise individuelle, wie soziale und kulturelle Kategorie.

  • Auf der Ebene des Individuellen geht es aber nicht nur und ausschließlich um Selbstbestimmung, sondern in gleicher Weise um die Entfaltung von Mitbestimmung- und Solidaritätsfähigkeit. Die Einheit dieser drei Momente anzustreben, hebt individuelle Bildung auf das Niveau einer sozialen und politischen Bildung. Mit diesen drei Begriffen kann in neuer Weise beschrieben werden, was früher in der Erziehungswissenschaft mit »Autonomie« und »Emanzipation« verbunden wurde.

  • Auf die Ebene des Kulturellen dringen wir aber erst vor, wenn ein Zweifaches zur Einheit wird:

In Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen haben wir als Fachleute uns den heute möglichen Erkenntnisstand des Faches der Behindertenpädagogik in Theorie und Praxis fundamental anzueignen. Dies sowohl in bezug auf ein neues Menschen- und Behinderungsbild als auch in bezug auf die Integration (Feuser 1989, 1991, 1994, 1995), was heißt, unsere Einstellungen und Werthaltungen zu verändern und unsere fachliche Kompetenz anzuheben. Völlig falsch, wird hohe Professionalität als gegen eine Humanisierung und Demokratisierung der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung gerichtet, angesehen. Wenn wir uns z.B. in der Annäherung, Kommunikation und Arbeit mit Menschen mit schwerer geistiger Behinderung oder ausagierenden Handlungen gegen sich selbst, andere oder Sachen ratlos und ohnmächtig fühlen, setzen wir an Stelle von Verstehen und konstruktivem Handeln, Behandlungen, die Restriktion, Gewalt, Fixierung und weitere Ausgrenzung in die Psychiatrie zur Folge haben. Unsere eigene, uneingestandene Ohnmacht ist das Einfallstor repressiver und restriktiver Behandlung von Menschen mit Behinderungen. Auf diese Weise kompensieren und verdrängen wir unsere Ohnmacht auf dem Rücken der Menschen, die ein Recht darauf haben, daß auf dem höchst entfalteten fachlichen Niveau mit ihnen gearbeitet wird.

Auch Menschen mit geistiger Behinderung werden sich im gewalt- und restriktionsfreien Feld integrierender Erwachsenenbildung, in Bereichen der Fort- und Weiterbildung, aber auch der arbeits- und beruflichen Bildung, wie wir weiter-qualifizieren müssen. Das kann z.B. heißen, Bedürfnisse und Wünsche bekannt zu machen, die eigenen Interessen zu wahren, Hilfe einzufordern, um Rat zu fragen, u.v.m. Das beengt Autonomie nicht, sondern macht sie erst möglich.

Ein deutliches Zeichen für eine neue, gemeinsame Kultur von Menschen ohne und auch mit schwersten Formen der geistigen Behinderung dürfte der Wandel von der »Betreuung« zur "Assistenz" sein. D.h. mit dem anderen Menschen zu handeln, nicht an und nicht für ihn. Freiheit, Selbstbestimmung und Integration können wir einem Menschen nicht geben, wohl aber grundlegend verhindern, daß er sie entwickelt, wie wir gesehen haben. Sie sind in kooperativen Prozessen von jedem von uns selbst anzueignen und zu entfalten. D.h. für die Seite der Fachleute, unter Einsatz professionellen und wissenschaftlichen Rüstzeuges, sich die Lebensgeschichte des anderen zu erarbeiten, die Lage des anderen zu erfassen und zu erspüren, sich ihn aus seiner Binnenperspektive heraus denken können, seine Bedürfnisse zu antizipieren, seiner Logik folgen und - auch dort, wo umfassende Hilfe, Schutz und therapeutisches Handeln unabdingbar und lebenssichernd für einen schwerstbeeinträchtigten Menschen sind - ihn nicht aus der führenden Rolle der Interaktion zu drängen. Wir müssen lernen, ihm zu folgen, auch dort, wo geleitet, angeleitet werden muß.

Assistenz als Grundlage der Schaffung einer gemeinsamen, integrierenden Kultur erfordert die Herausarbeitung neuer Wege im Verhältnis von Selbstbestimmung und advokatorischer Position und stellvertretender Deutung; erfordert die Überwindung behandelnder Manipulationen. Vorstrukturierungen und Vorgaben in Lebens-, Lern- und Handlungsfeldern stehen dazu nicht im Widerspruch. Nur in Bereichen, die ich überschauen kann, kann ich mich frei bewegen, nur das, was mir wahrnehmbar ist, auswählen, nur dem mich zuwenden, was mir nicht Angst macht. Das Zentrum der Integration ist, Ausschluß zu vermeiden. Erst dann ist "Begegnung" im Sinne MARTIN BUBER's (1962, 1965, 1975) möglich und erst in der Begegnung und durch sie der "Dialog".

Eine Schlußbemerkung: Daß sich die Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung bei den Trägern und in den Institutionen der Behindertenhilfe etabliert hat, ist mit ihrer Entwicklungsgeschichte verbunden, aber auch mit den Interessen der Träger, ihren Totalitätsanspruch in der Behindertenfürsorge zu sichern und auszuweiten. Andererseits haben sich die Erwachsenenbildner für Menschen ohne Behinderungen mit dem Argument, für Menschen mit geistiger Behinderung nicht ausgebildet und kompetent zu sein, vornehm davon distanziert, ihre eigenen Prämissen zu hinterfragen und sich für alle Gruppen zu öffnen. Hinzu kommt, daß die Zielgruppenorientierung der Erwachsenenbildung, die ursprünglich vor allem Menschen in Randgruppen mit kompensatorischen Bildungsprogrammen erreichen sollte, sich mehr und mehr im Sinne eines bildungsmäßigen Separatismus hinsichtlich ihrer Klientel entwickelt hat. Damit entsteht eine übergeordnete Aufgabe, nämlich die Integration der Erwachsenenbildung selbst. Das heißt vor allem für die Seite der Träger der Behindertenhilfe, loszulassen, heißt, ihr Wissen und ihre Erfahrungen, aber auch ihre Institutionen in einem ersten Schritt mittels Kooperationsverträgen mit denen der allgemeinen Erwachsenenbildung zu verzahnen und sich schließlich in diese hinein zu integrieren, was eine neue Qualität in der Erwachsenenbildung auf einem höheren kulturellen Niveau ermöglicht.

Lassen wir uns von GEORG PAULMICHL, (1994) einem Dichter, einem Menschen mit geistiger Behinderung, der in einer Werkstatt in Südtirol arbeitet, mit seinem Gedicht "Lebenshilfe", stellvertretend für alle Institutionen der Behindertenhilfe, einen Spiegel vorhalten und uns zum Nachdenken anregen. Er schreibt:

"Die Lebenshilfe feiert heuer das vieljährige Beistandsjubiläum.

Das Komitee zur Erhaltung der Ämter hat die Lebenshilfe gegründet.

Die Lebenshilfe hilft und rettet aus tiefsten Nöten.

Alle Behinderten dürfen nicht selbständige Wege bahnen.

Ohne Hilfe kommt keiner in den Himmel.

Ausflüge und Grillpartys bringen den Menschen die Umsorgung nahe.

Die Politiker tragen den Grundsatz zur Lebenshilfe bei.

Die Lebenshilfe ist eine Reinerlösungsorganisation für die Behindertenwerkstätten.

Auf der Jahresversammlung werden die Spendengelder von den Mitgliedern gesteigert.

Die Gelder sorgen dafür, daß den Behinderten das Mittagessen gratis schmeckt.

Der Präsident muß die Beiträge steuern.

Manchmal besucht die Lebenshilfe einen Kurs zur Erhöhung der Denkweise.

Die Lebenshilfe ist auch für Behinderte da.

Manche Behinderte kommen immer zu spät zum Bus.

In Südtirol gibt es die Lebenshilfe, die stille Hilfe, die Sterbehilfe und die Unfallhilfe." (S. 48)

Literaturhinweise

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ders.: Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. In: Behindertenpädagogik 28 (1989)1, 4-48

ders.: Entwicklungspsychologische Grundlagen und Abweichungen in der Entwicklung - Zur Revision des Verständnisses von Behinderung, Pädagogik und Therapie In: Z. Heilpäd. 42(1991)7, 425-441 [siehe dazu auch die von Holtz und Feuser geführte Diskussion. In: Z. Heilpäd. 43(1992)2, 114-131]

ders.: Wider die Unvernunft der Euthanasie. Grundlagen einer Ethik in der Heil- und Sonderpädagogik. Luzern 1997²

ders.: Vom Weltbild zum Menschenbild. Aspekte eines Verständnisses von Behinderung und einer Ethik wider die "Neue Euthanasie". In: Merz, H.-P. u. Frei, E.X. (Hrsg.): Behinderung - verhindertes Menschenbild? Luzern: Edition SZH 1994, 93-174

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Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Georg Feuser

Universität Bremen, FB 12

Stg. Behindertenpädagogik

Postfach 330 440

28334 Bremen

Quelle:

Georg Feuser: Lebenslanges Lernen für Menschen mit geistiger Behinderung - Selbstbestimmung und Integration

Vortrag am 11.06.98 anläßlich der bundesweiten Tagung "Dialoge" mit der Thematik "Menschen mit Behin-derungen in der Erwachsenenbildung", veranstaltet vom Martinsclub Bremen e.V. im Rahmen der Aktion Grundgesetz vom 11.-13.06.1998 in Bremen

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Stand: 03.10.2005

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