Thesen und Aufruf zum "Erzwungenen Halten"

Autor:in - Georg Feuser
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: Erschienen in: Behindertenpädagogik, 27. Jg., Heft 2/1988, Seite 222 - 224
Copyright: © Georg Feuser 1988

Thesen und Aufruf zum "Erzwungenen Halten"

1. Die sogenannte "Haltetherapie" ist weder als "Halt" noch als "Therapie" zu erkennen. Sie wirft die Frage auf: Für wen "Halt" und für wen "Therapie"?

2. Das "erzwungene Halten" ist eine "Behandlungsform" von Menschen, die sich solcher Elemente des Umganges mit Menschen bedient, die generell wirksam sind; d.h. u.a. auch weitgehend unabhängig von der Art einer Behinderung und dem Lebensalter der betroffenen Personen. "Erzwungenes Halten" ist weder eine "behinderungsspezifische" Behandlungsform noch aus der Tatsache des Vorliegens einer Behinderung bzw. aus deren Verständnis heraus als spezielle Therapie ableitbar. Es ist auch nicht möglich, das "erzwungene Halten" vom "kindlichen Autismus" her und aus den Erziehungs- und Bildungsbedürfnissen autistischer Kinder und Jugendlicher heraus zu begründen und zu vertreten. Diese Behandlungsform kann nur auf dem Hintergrund menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens schlechthin und damit auf der Basis menschlicher Interaktion, Kommunikation und Kooperation, d.h. menschlicher Sozialbedürftigkeit und -fähigkeit verstanden und beurteilt werden.

3. Die vorliegenden Begründungen des "erzwungenen Haltens"

  • entbehren weitgehend nachvollziehbarer und in wissenschaftlichen Begriffen faßbarer Begründungen und fußen auf irrationalen Annahmen, die mit der "Logik des Herzens" begründet werden und mit hoch individuellen persönlichen Erfahrungen ihrer Vertreter verbunden sind, die auf behinderte Kinder, besonders auf extrem verhaltensauffällige unterschiedlicher Behinderungsarten und Schwergrade projeziert und als Erfahrungen unzulässig generalisiert werden und

  • stellen selbst keine schlüssige therapeutische Konzeption dar, sondern fußen auf einem Konglomerat ethologischer, humanbiologischer, neuropsychologischer, entwicklungspsychologischer und tiefenpsychologischer Konstrukte und Versatzstücke. Aus diesen Theorien selbst wird von ihren Begründern und Vertretern in keinem Fall eine "Haltetherapie" zwingend logisch abgeleitet und gefordert, noch kann aus den Arbeiten auch nur eines Verfassers der herangezogenen Theorien von seiten der Vertreter des "erzwungenen Haltens" dieses Verfahren schlüssig hergeleitet werden; nicht einmal aus den Arbeiten von TINBERGEN/ TINBERGEN (1984).

4. Unterzieht man Begründungen und Verfahren des "erzwungenen Haltens" einer wissenschaftlichen Analyse und bezieht man den heute vorliegenden Forschungsstand z.B. zum kindlichen Autismus mit ein, zeigt sich, daß

  • das "erzwungene Halten" keine der Entwicklungs-, Lern- und Sozialproblematik autistischer Kinder angemessene Behandlung ist,

  • dieses Verfahren nur wirkt, weil es die jeweils unter spezifischen Entwicklungsbedingungen zustande gekommene psychische Struktur und die korrespondierenden integrativen psychischen Funktionen der Betroffenen zerstört und sie in dieser Zerstörung zu einer Anpassung an die durch das "erzwungene Halten" bedingten, einzig verbleibenden Austauschmöglichkeiten zwingt und

  • bezogen auf das autistische Kind, dieses die ihm unter dem Zwang des Haltens einzig erbleibende Möglichkeit des Blickkontaktes und einer Person-Person-Kontaktaufnahme als neues Stereotyp in seine (autistische) psychische Struktur integriert, um unter der existentiellen Bedrohung des "erzwungenen Haltens" und der Blockierung jedweder alternativen Handlungsmöglichkeiten nach der Maßgabe der aufgebauten Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen seine psychische Organisation aufrechterhalten zu können.

5. Das erzwungene Halten

  • resultiert folglich in keiner Heilung des Autismus (Tinbergen u.a.) und keiner Verbesserung oder Änderung der (autistischen) Persönlichkeitsstruktur der betroffenen Kinder und Jugendlichen, sondern

  • nutzt die hochgradige Störanfälligkeit und psychische Verletzbarkeit der (autistischen) Kinder, auf die es angewendet wird und zwingt sie so unter Mißachtung ihres momentanen Entwicklungs-, Denk- und Handlungsniveaus zur Ausbildung eines von außen als "Erfolg" der Behandlung angesehenen neuen Stereotyps. Damit ist dieses Verfahren weder pädagogisch noch therapeutisch zu nennen; es muß über den momentanen verhaltensmäßig in Erscheinung tretenden Effekt hinaus als möglicherweise die weitere Persönlichkeitsentwicklung (in Richtung Psychose) gefährdend angesehen und aus ethisch-humanen Gründen, zumal es alle Elemente einer "Folter" in sich vereint, abgelehnt und seine Praxis eingestellt werden.

6. Das "erzwungene Halten" ist (auch in seinen Modifikationen)

  • "Halt" für ohnmächtige Helfer und für Menschen, die mechanistisch und technokratisch an anderen Menschen und den ihnen anvertrauten Kindern mit Gewalt das zu verändern suchen, was und wie sie selbst nicht sein wollen,

  • "Therapie" für die Helfer (sie sollen sich dabei wohlfühlen ..., Zaslow; finden darin Sicherheit, Laing) in ihrer ohnmächtigen Situation, weil man Macht spürt und etwas erreichen kann, wo man zuvor ohnmächtig war und sich nur versagend erlebte - auf Kosten der Zerstörung der Psyche der Kinder und

  • "Trost" für den, der bewußt oder unbewußt Gewalt über Kinder verübt, die ihm hilflos und durch Zwangmittel (Haltegürtel) gebeugt ausgeliefert sind, um sich sagen zu können, daß gut sei, was man tut und um die verbliebenen Skrupel unter dem Mantel zu helfen, endgültig zu ersticken.

7. Das "erzwungene Halten" wirkt

  • durch Schaffung extrem negativer Emotionen und

  • Brechung des Willens,

  • über den Weg des Aufbaues von (angstdominierten) Vermeidungsstrategien und

  • strafender Unterdrückung

  • mit den Mitteln von Interaktions- und Kommunikationsstrukturen der "Mystifizierung" und des "Double-Bind" und es vereinigt in sich alle Attribute der Folter durch Kombination von

  • extremer Deprivation (Auseinandersetzung ohne Gegenstände und Inhalte, Blockierung der Bewegungs- und damit Handlungsmöglichkeit),

  • Reizüberflutung (Provokation des Widerstandes durch Kitzeln etc.) und

  • Trost (in dem die Double-bind-Situation etabliert wird) mit dem Ergebnis des Zusammenbruches der psychischen Organisation (als Entspannung fehlinterpretiert) und der Zerstörung des ICH.

VERANTWORTLICHE - BEENDET DAS ERZWUNGENE HALTEN!

8. Wir werden lernen müssen,

  • die Komplexität und Differenziertheit menschlicher Entwicklung und Psyche zu achten und - seien sie auch noch so extrem verhaltensauffällig

  • mit den Kindern zu handeln, anstatt sie zu be-handeln,

  • zu gewähren, anstattvorzuenthalten und

  • unser (pädagogisch-therapeutisches) Handeln zu spezifizieren und zu differenzieren, anstatt Kinder - in Anbetracht ihrer hochgradigen Abhängigkeit von uns - im Zwang erdrückender Übermacht zu besondern.

Kontaktadresse

Univ.-Prof. Dr. Georg Feuser

Universität Bremen, FB 12

Stg. Behindertenpädagogik

Postfach 330 440

D-28334 Bremen

Email: mailto:Georg.Feuser@t-online.de

Quelle:

Georg Feuser: Thesen und Aufruf zum "Erzwungenen Halten"

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet (oder Erstveröffentlichung)

Stand: 07.03.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation