„Barrieren in den Köpfen“ abbauen!

UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet zum Barriereabbau

Autor:in - Judith Feige
Themenbereiche: Recht
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen als: Positionen Nr. 6 der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention
Copyright: © Deutsches Institut für Menschenrechte 2012

Abbildungsverzeichnis

    Vorbemerkung

    Diesen Text in Leichter Sprache finden Sie unter: http://bidok.uibk.ac.at/library/feige-positionen8-l.html

    Das Deutsche Institut für Menschenrechte: Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben des Instituts gehören Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Information und Dokumentation, angewandte Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen. Das Institut verfügt über eine öffentliche Fachbibliothek.

    Die Monitoring-Stelle: Die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention begleitet die Umsetzung der Konvention in Deutschland. Sie setzt sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein und macht diese in Deutschland weiter bekannt. Die Monitoring-Stelle berät Politikerinnen und Politiker, leistet angewandte Forschung und organisiert Veranstaltungen zu Themen der Konvention. Sie wurde im Mai 2009 im Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtet und wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.

    Der Autorin: Judith Feige ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Menschenrechtsbildung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Inklusion und Menschenrechtsbildung.

    Die „Barrieren in den Köpfen“

    Menschen mit Behinderungen werden immer noch eher als „Objekte der Fürsorge“ statt als selbstbestimmt lebende Subjekte angesehen; Menschen mit Behinderungen werden auf ihre Behinderung festgelegt anstatt als Menschen wahrgenommen zu werden, die erst in der Wechselwirkung mit den vielfältigen Hindernissen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld eine Behinderung erfahren, wie die Stigmaforschung bestätigt. All diese Barrieren in den Köpfen verhindern, sie als Teil der Gesellschaft anzuerkennen und die Hindernisse zu beseitigen, die der vollen Nutzung ihrer Rechte im Wege stehen.

    Menschen mit Behinderungen werden in unserer Gesellschaft immer noch häufig ausgegrenzt und ihre Rechte müssen im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen oft zu Unrecht zurückstehen. Ursache dafür sind die „Barrieren in den Köpfen“. Die wünschenswerte gesellschaftliche Begegnung auf Augenhöhe funktioniert häufig nicht. Das erschwert eine vorurteilsfreie Interaktion.

    Abbildung 1. Abbildung 1

    Fotographie eines Klassenzimmers mit einigen Schülern und einer
Lehrperson.

    Martin Park ist blind. Er arbeitet als Lehrer am Schlossgymnasium Kirchheim.

    Die erfolgreiche Umsetzung der UN-BRK erfordert positive Bilder von Menschen mit Behinderungen. Diese leiten die gesellschaftlichen wie individuellen Lern- und Veränderungsprozesse. Lern- und Veränderungsprozesse bilden die Voraussetzung für eine volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft, gleichberechtigt mit anderen.

    Die UN-BRK verpflichtet die Staaten deshalb in diesem Kontext zu bewusstseinsbildenden Maßnahmen, die unterschiedliche Gruppen und Bereiche in den Blick nehmen:

    1. Staatliche Stellen in Bund und Ländern, die als Verantwortungs- und Entscheidungsträger Politik vorbereiten und gestalten,

    2. Akteure der Zivilgesellschaft, deren Zutun für eine praktische Umsetzung notwendig ist und

    3. Menschen mit Behinderungen selbst, die im Bewusstsein ihrer Würde und ihrer Rechte, im Vertrauen auf ihre Fähigkeiten und in ihrem Willen gestärkt werden sollen, ihre individuellen Möglichkeiten auszuweiten und zu nutzen.

    Staatliche Stellen sind durch die UN-BRK verpflichtet, während nichtstaatliche Akteure eine menschenrechtliche Verantwortung tragen. Menschen mit Behinderungen dagegen sind die Trägerinnen und Träger von Rechten. Ohne das Wissen über die Verteilung von Rechten und Verpflichtungen und ohne die Ausübung der damit jeweils verbundenen Rollen und Kompetenzen, bleibt die UN-BRK ohne Wirkung.

    Bewusstseinsbildung für staatliche Verwaltung, Behörden und Justiz

    Ausgangspunkt für die Bestimmung der staatlichen Verpflichtungen ist die Umsetzungsklausel der UN-BRK. Danach sind „geeignete Maßnahmen“ einschließlich zur Bewusstseinsbildung zu ergreifen (siehe Artikel 4 Absatz 1). Damit stehen weitere Bestimmungen in Verbindung, die die staatlichen Verpflichtungen genauer darlegen.

    Beispielsweise verpflichtet die UN-BRK den Staat dazu, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Verwaltung und Gerichten über die UN-BRK in Kenntnis zu setzen, damit diese die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Sinne der UN-BRK angemessen in ihrer Arbeit berücksichtigen. Hierzu besteht in Deutschland auf allen Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen noch großer Handlungsbedarf.

    Die Vertragsstaaten sind außerdem dazu verpflichtet „sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen“, um „Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen (…) in allen Lebensbereichen“, und damit auch im staatlichen Bereich, „zu bekämpfen“, um damit das „Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen zu fördern“ (Artikel 8 Abs. 1 b UN-BRK).

    Auch in anderen Artikeln der UN-BRK werden konkrete Maßnahmen verlangt, zum Beispiel Schulungen für die im Justizwesen tätigen Personen, einschließlich des Personals von Polizei und Strafvollzug (Artikel 13 Abs. 2), Schulungen in Mobilitätsfertigkeiten (Artikel 20 Abs. 1 c), Schulungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf allen Ebenen des Bildungswesens (Artikel 24 Abs. 4) oder die Förderung von Entwicklung der Aus- und Fortbildung für Fachkräfte in Habilitations- und Rehabilitationsdiensten (Artikel 26 Abs. 2).

    Bewusstseinsbildung für nichtstaatliche Organisationen und Unternehmen

    Für die Ausrichtung der bewusstseinsbildenden Maßnahmen für den gesellschaftlichen Bereich ist die Verpflichtung zentral, „alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung aufgrund von Behinderung durch Personen, Organisationen oder private Unternehmen zu ergreifen“ (Artikel 4 Abs. 1 e) UN-BRK). Deshalb sollen Fachkräfte und Personal, das mit Menschen mit Behinderungen arbeitet, zur Verbesserung ihrer Unterstützungen und Dienste geschult werden.

    Wie können etwa Betreuerinnen, Betreuer und Fachkräfte in sozialen Handlungsfeldern gestärkt werden, um in allen Fällen Menschen mit Behinderungen so zu unterstützen, dass diese in rechtlichen Angelegenheiten selbst handeln und selbst entscheiden können? Eine entsprechend gute Praxis setzt auch ein notwendiges Bewusstsein und damit Aufklärung voraus.

    Für die Schärfung des Bewusstseins in Bezug auf Menschen mit Behinderungen fordert die UN-BRK die Durchführung geeigneter Schulungsprogramme, die Inklusion fördern und die Wahrnehmung vermeintlicher Defizite („Anders-Sein“) abbauen. Schulungen sollen an den Hindernissen ansetzen, die Inklusion entgegenstehen, und das Ziel verfolgen, Hindernisse vollständig abzubauen.

    Die Konvention benennt als geeignete Maßnahmen ausdrücklich die „Einleitung und dauerhafte Durchführung“ wirksamer Kampagnen zur „Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit“ mit dem Ziel „die Aufgeschlossenheit und positive Wahrnehmung gegenüber Menschen mit Behinderungen zu erhöhen“ und „ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein ihnen gegenüber zu fördern“ (Artikel 8 UN-BRK).

    Das bezieht sich etwa direkt auf die Kampagnen der Bundesregierung „behindern ist heilbar“ sowie des Bundesbehindertenbeauftragten „Deutschland wird inklusiv“. Diese fördern die individuelle Auseinandersetzung mit dem veränderten Behinderungsbegriff der UN-BRK und mit der Herausforderung der gesellschaftlichen Inklusion. Kampagnen allein reichen jedoch nicht aus: flächendeckende und zielgruppenspezifische Schulungsangebote sind nötig, damit Inklusion gelingen kann. Diese Schulungsangebote für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in nichtstaatlichen Organisationen und Unternehmen muss der Staat fördern; er kann sie selbst durchführen oder den Rahmen hierfür setzen, etwa durch Ausbildung von Schulungspersonal, Entwicklung von Schulungsmaterial und Fortbildungsplänen oder durch Zulassungsvoraussetzungen für die Betätigung in dem Feld. Nichtstaatliche Organisationen und Unternehmen sind gehalten, solche Schulungen zu ermöglichen oder selbst anzubieten. Dabei sollte die Expertise von Menschen mit Behinderungen in die Planung und Durchführung aktiv einbezogen werden.

    Bewusstseinsbildung für Menschen mit Behinderungen

    Die UN-BRK gibt vor, dass staatliche Bildungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen das Ziel verfolgen sollen, „die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken“ (Artikel 24 Abs. 1 a) UN-BRK). Menschen mit Behinderungen sollen in die Lage versetzt werden, in allen Lebenslagen ihr Leben selbstbestimmt zu führen und auch in rechtlichen Angelegenheiten eigene Entscheidungen zu treffen

    Menschenrechtsbildung als inhaltlicher Auftrag staatlicher Bewusstseinsbildung

    Die Bewusstseinsbildung im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen, zu der der Staat verpflichtet ist, kann er gut durch Menschenrechtsbildung erreichen. Hierfür bedarf es neben der Kenntnis über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und über die entsprechenden staatlichen Pflichten einer Anerkennung von Behinderung als Bestandteil der menschlichen Vielfalt (Art. 3 d UN-BRK) und der Erkenntnis Barrieren in den Köpfen durch Reflexion der eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen. Nur so können die positiven Bilder von Menschen mit Behinderungen entstehen, die für die Umsetzung der UN-BRK erforderlich sind. Durch Menschenrechtsbildung erwerben Menschen „Kenntnisse, Fähigkeiten und Verständnis“ und entwickeln zugleich Einstellungen und Verhaltensweisen, „mit denen sie zum Aufbau und zur Förderung einer universellen Kultur der Menschenrechte beitragen können (Empowerment)“ so Artikel 2 der UN-Erklärung über Menschenrechtsbildung und -training (EMRBT) aus dem Jahr 2011.

    Der Menschenrechtsbildung kommt daher eine wichtige Rolle für die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland zu. Die Menschenrechtsbildung umfasst das Lernen über Menschenrechte, durch Menschenrechte und für Menschenrechte (Artikel 2 EMRBT):

    • Lernen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bezieht sich auf sachliche Inhalte, wie zum Beispiel die Inhalte und die Entstehung der UN-BRK und das Verständnis von Behinderung als normalem Bestandteil der menschlichen Vielfalt unter Einbeziehung der Entwicklung sozialer Bewegungen, wie z.B. der Behindertenrechtsbewegung.

    • Lernen durch und für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zielt auf die Förderung von Gleichheit und der Schutz vor jeglicher Form von Diskriminierung. Diese gehören zu den zentralen Themen und Werten der Menschenrechtsbildung. Diese werden durch die Prinzipien der Inklusion und damit der Barrierefreiheit von Bildungsangeboten erweitert. Dies wirkt sich insgesamt auf Lernprozesse und Lehrpersonal aus.

    Menschenrechtsbildung informiert, schafft Bewusstsein, verändert Verhalten. Sie kann Inklusion in Bildung und Gesellschaft auch dadurch verankern helfen, indem sie verschiedenste Akteure miteinander vernetzt. Die UN-BRK verlangt, dass Behinderung überall als Querschnittsthema mitbehandelt wird – also auch in der inklusiv ausgerichteten Menschenrechtsbildung die zur Bewusstseinsbildung beiträgt (Disability Mainstreaming). Gezielte, von staatlicher Seite, etablierte Maßnahmen zur Umsetzung der UNBRK durch menschenrechtsbasierte Bewusstseinsbildung, sind daher ernsthaft voran zu bringen.

    Menschenrechtsbasierte Schulungsprogramme müssen an die verschiedenen Berufsfelder und Arbeitsbereiche angepasst und sollten in Bildungs-, Aus- und Fortbildungszielen festgeschrieben werden.

    Sie müssen die Perspektive und Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen in Konzeption und Durchführung aktiv einbeziehen. Dies ist Aufgabe des Staates und Verantwortlichkeit privater Bildungsakteure. Rechte von Menschen mit Behinderungen können nur umgesetzt werden, wenn sie auch bekannt sind und verstanden werden. Auch die Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen ist Teil einer jeden menschenrechtsbasierten Bewusstseinsbildung, unabhängig, ob diese Räume der Begegnung in den Bereichen der Bildung, Arbeit oder Freizeit bestehen.

    Menschenrechtsbasierte Bewusstseinsbildung baut die Barrieren in den Köpfen ab und fördert die Verwirklichung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen.

    Quelle

    Judith Feige: Barrieren in den Köpfen“ abbauen! UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet zum Barriereabbau. Erschienen als: Positionen Nr. 6 der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention

    Original verfügbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/_migrated/tx_commerce/Positionen_Nr_8_Barrieren_in_den_Koepfen_abbauen_Bewusstseinsbildung_als_Verpflichtung.pdf

    bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

    Stand: 04.07.2016

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