Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung

Autor:in - Karsten Exner
Themenbereiche: Geschlechterdifferenz
Textsorte: Buch
Releaseinfo: Erschienen in: WARZECHA, Birgit: Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik: Forschung - Praxis - Perspektiven. Hamburg: Lit Verlag 1997, S. 67-87.
Copyright: © Lit Verlag, 1997

1. Verhinderte Identität bei behinderten Männern

Wieviele Geschlechter gibt es? Natürlich gibt es - wie jedeR weiß - drei Geschlechter. Es gibt Männer, Frauen und Behinderte: Dieses wird z.B. deutlich, wenn man sich in neueren öffentlichen Gebäuden die Anordnung der öffentlichen WC's ansieht. Sofern dort überhaupt für behinderte Personen Toiletten vorhanden sind, findet man hier drei verschiedene Toiletten - eine für Frauen, eine für Männer und eine für Behinderte. Das WC für Behinderte ist dabei mit einem Symbol, das eine geschlechtsneutrale Person darstellt, gekennzeichnet. Da gebaute Architektur auch immer ein Stück materialisiertes zeitgenössisches Bewußtsein darstellt, zeigt z.B. die Anordnung von Toiletten für Männer, Frauen und Behinderte, wie die geschlechtsspezifische Rolle von behinderten Menschen im allgemeinen Bewußtsein eingeordnet wird. In der Regel werden sie als geschlechtslose Neutren betrachtet; geschlechterspezifische Rollen - wie z.B. Liebhaber/Liebhaberin oder Vater/Mutter - kommen dabei für behinderte Menschen nicht in Betracht.

So kann es auch nicht verwundern, wenn JüRGEN HOBRECHT in seinem 1981 veröffentlichten Buch "Du kannst mir nicht in die Augen sehen" für sich feststellt:

"Ich find's so komisch, wenn eine Frau mich 'Mann' nennt. Ich kann's nicht glauben, ein Mann zu sein, weil sich Männlichkeit durch Stärke und sexuelle Potenz definiert. - Ich bedarf der Hilfe anderer Menschen, und Männer sind nicht bedürftig. Vielleicht ist der Rollstuhl ein Mittel, um den Männlichkeitswahn zu entlarven. Aber den verrückten Komplex meines Vaters, alles zu können, alles zu wissen und jedem überlegen zu sein, den Drang nach Perfektion in der Darstellung meiner Person, den hab' ich auch."[1]

JüRGEN HOBRECHT schildert hier eine der Grundverunsicherungen behinderter Männer, die u.a. auf der Grundlage einer "typischen Behindertensozialisation" beruhen.

1.1 "Wer behindert ist, ist ein Behinderter"

Allgemein ist "das Geschlecht eine der ersten und zweifellos eine der grundlegenden biosozialen Differenzierungskategorien"[2] und "die Person [wird - K.E.] aufgrund ihrer sichtbaren körperlichen Geschlechtsmerkmale in geschlechtstypisch differentielle Lebensverhältnisse eingeführt."[3] Doch bei vielen behinderten Männern wurde das Einordnungskriterium Geschlecht durch das Merkmal Behinderung ersetzt. In dem Augenblick, in dem das soziale Umfeld von der Schädigung Kenntnis bekommen hat, wurde bzw. wird die betroffene Person nur noch auf der Grundlage dieses einen Merkmals bewertet und behandelt. Jede weitere Lebenslaufsplanung und -gestaltung wurde bzw. wird dem Behindertsein als grundlegendes Persönlichkeitsmerkmal untergeordnet.

In der Regel wurde bzw. wird von Jungen, die im Sinne eines traditionellen Männerbildes erzogen werden und dieses (später) auch verkörpern, gefordert, daß sie "Leistungsstärke, Funktionstüchtigkeit, Anpassungsfähigkeit, psychische und gesundheitliche Stabilität, Belastungsfähigkeit" zeigen.[4] Jungen, die heute dagegen eine Sozialisation abseits des traditionellen Männerbildes erfahren, müssen - wie SIGRID METZ-GöCKEL meint - widersprechende Eigenschaften verkörpern.

"Der starke und durchsetzungsfähige Junge, der auch zurückstecken kann; der Junge, der cool bleiben, aber auch Gefühle zeigen kann; der Junge, der im intellektuellen und beruflichen Wettbewerb erfolgreich ist, aber diesen auch nobel zurückhalten kann, um anderen den Vortritt zu lassen; der Mann, der sich mit seinesgleichen verbündet, aber andere nicht ausschließt, sind Vorstellungen, die ein in sich widersprüchliches Anforderungsprofil (männlicher und weiblicher Bezugsgruppen) ergeben, das von den einzelnen Jungen integriert werden muß."[5]

Seit Geburt behinderte Männer hingegen haben in der Regel weder die eine noch die andere Sozialisationserfahrung gemacht. Anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, eine Beziehung zur eigenen Geschlechterrolle entwickeln zu können wurde ihnen beigebracht, daß sie keine Männer sondern "Behinderte" sind. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Mannrolle wird zudem dadurch erschwert, daß sie als "Behinderte" gleichzeitig sowohl im privaten - z.B. Familie und Freunde - als auch im öffentlichen Bereich - z.B. Medien und Straßensituationen - gezeigt bekommen, wie "richtige" Männer zu sein haben, ohne daß die entsprechenden Anforderung von der sozialen Umwelt auf sie selber angewendet werden. Diese frühe Erfahrung, die sich im Laufe ihres Lebens immer wieder wiederholt, hat für behinderte Männer eine gravierende Bedeutung für ihre Identitätsbildung; häufig haben sie ihre Behinderung - wie es von ihnen verlangt wird - als das alleinige Merkmal akzeptiert, das ihre Persönlichkeit bestimmt.

1.2 Der enteignete Körper

Eine andere wichtige Erfahrung, die behinderte Männer in ihrer Kindheit gemacht haben und heute noch machen, ist die Enteignung des eigenen Körpers durch ein defektorientiertes, medizinisches und therapeutisches Denken und Handeln von Krankenhäusern, Sondereinrichtungen und auch durch die Eltern.[6] Die Folge ist:

"Körperliche Äußerungsformen - Handlungen, Gesten, Bewegungen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Wünsche - werden danach sortiert, ob sie noch als gesund oder schon als pathologisch einzustufen sind."[7]

Dieses "medizinische Denken zerlegt den Menschen in seine Funktionen und be- und verurteilt ihn nach statistischen Standardnormen"[8] und trennt den Körper aus der Gesamtpersönlichkeit, die eine Einheit von Körper, Geist und Seele ist, heraus.

Dabei bleibt - wie ERNST KLEE ausführt -

"der enteignete Körper ... nicht mehr in meiner Verantwortung. Andere bestimmen über ihn, bestimmen, welche Empfindungen, Bedürfnisse, Ansprüche ich haben oder nicht haben darf. Was geschieht, wie es geschieht, wo und wann etwas geschieht, bestimmen andere: Klinik, Heim, Schule, Therapie, Sozialverwaltungen oder Wohlfahrtsverbände."[9]

"Wo Kliniken, Heime oder die Eltern die Verantwortung für den Körper übernommen haben, bedeuten Betreuung und Pflege Anpassung an ein künstliches Milieu"[10], in dem keine positive Geschlechtsrollenidentität entwickelt werden kann.

1.3 "Defekte" in der Sonderpädagogik

Die Erfahrung, als "kaputter" Mensch eingeordnet zu werden, der hauptsächlich über seine Behinderung definiert wird, setzte bzw. setzt sich für behinderte Jungen auch in der Schule fort. Hier fallen sie in der Regen in den Zuständigkeitsbereich der Sonderpädagogik, die nach HANS EBERWEIN immer noch zur "defektorientierten" und "medizinischen" Sichtweise neigt.[11] Welche Ausmaße hierbei die Therapeutisierung bekommt, beschreibt HANS EBERWEIN wie folgt:

"Die Therapeutisierung sonderpädagogischen Handelns ging und geht oftmals so weit, daß das einfache Spielen von Kindern zur Spieltherapie, das bildnerische Gestalten zur Kunsttherapie, die Freude an Musik und Bewegung zur Musiktherapie und der Umgang mit Lernmaterialien zur Beschäftigungstherapie hochstilisiert wird. Die Sonderpädagogik unterlag diesbezüglich dem medizinischen Anspruch, unerwünschte Verhaltensweisen 'wegzutherapieren', statt die Normalität und Autonomie der sogenannten Behinderten und das Entwickeln einer eigenen Identität zu unterstützen."[12]

Dabei betrachten Sonderpädagogen bzw. Sonderpädagoginnen "ihr Gegenüber häufig nicht als ein Subjekt mit eigener Geschichte und spezifischen Potentialen, sondern reduzieren es auf die behinderungsspezifischen Defizite"[13] und meinen zu wissen was es braucht. So machen sie die betroffenen Personen "zu verfügbaren Objekten"[14], deren Identitätsbewußtsein sich weiterhin hauptsächlich auf ihre Behinderung bezieht.

Angesichts dieser reduktionistischen Betrachtungsweise erscheint es nur konsequent, daß die Sonderpädagogik bis heute für Jungen keine überzeugenden Konzepte vorweisen kann[15], die ihren geschlechtsspezifischen Belangen gerecht werden, um sie so zu unterstützen, gleichberechtigte und selbstbewußte Männer zu werden.

So mußte auch AIHA ZEMP als Beobachterin der 31. Arbeitstagung der Dozentinnen und Dozenten für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern, die vom 29.-2.10.1994 in Zürich stattfand, feststellen, daß "die Sonderpädagogik nach wie vor kein Bewusststein [sic!] hat von Geschlechterspezifik" und sie - mit einer Ausnahme - "nie etwas von Mädchen und Knaben mit Behinderung oder von Frauen und Männer mit Behinderung, sondern nur von Behinderten"[16] erfahren hat.

Es ist auch nicht zu erwarten, daß sich die hier dargestellte Situation in der Sonderpädagogik wesendlich verändern wird, solange sich nicht die Erkenntnis durchsetzt, daß "Behinderung niemals geschlechtsneutral" in Erscheinung tritt und es wichtig ist,

"ob diejenige Person, die [z.B. - K.E.] im Rollstuhl sitzt, männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Die sozialen Ressourcen verteilen sich auf die Geschlechter in unterschiedlicher Weise. Das gilt auch und gerade für behinderte Frauen und Männer, Mädchen und Jungen."[17]

1.4 "Wer arbeitet ist integriert"

Doch auch wenn behinderte Jugendliche bzw. Männer die Schule verlassen haben bzw. sich nicht mehr im Einflußbereich der Sonderpädagogik befinden, werden sie von der sozialen Umwelt nicht in ihrer Geschlechtsrolle wahrgenommen und anerkannt. Vielmehr wird das Gelingen der Integration betroffener Personen jetzt davon abhängig gemacht, ob es gelingt "den Behinderten" in die Erwerbsarbeitswelt einzugliedern. Auch hier werden Menschen wiederum nur als "Behinderte" und nicht als Mann oder Frau betrachtet. Ist die behinderte Person in den Erwerbsarbeitsprozeß eingegliedert, so wird sie allgemein als in die Gesellschaft integriert betrachtet. Geschlechtsspezifische Belange dieser Personengruppe stehen damit überhaupt nicht zur Diskussion. Grund für diesen Sachverhalt sind die von ROLF HEINZE u.a. beschriebenen Zusammenhänge: Da

"der Arbeitsmarkt diejenige gesellschaftliche Instanz darstellt, die die für moderne Gesellschaften zentralen Güter verteilt, hängt es daher vom Erfolg einer an beruflicher Integration orientierten Politik ab, ob die Lebenschancen von Behinderten entscheidend modifiziert werden können oder nicht. Alle weiteren behindertenpolitischen Teilziele, wie etwa die Überwindung der sozialen Isolation, Abbau von Vorurteilen, Schaffung von behindertengerechten sozialen Infrastruktureinrichtungen etc., entfalten ihr Wirkungspotential letztlich nur in Kombination mit einer erfolgreichen beruflichen Integrationspolitik - dies gilt jedenfalls in der nach wie vor bestehenden Arbeitsgesellschaft."[18]

Die Folge daraus ist, daß behinderte Männer (und Frauen), die wie alle Menschen in den verschiedensten öffentlichen und privaten Lebensbereichen unterschiedliche Rollen einnehmen, zu allererst auf ihre Behinderung reduziert und somit nur als "der Behinderte" wahrgenommen werden.[19] So müssen behinderte Männer z.B. erleben, das nichtbehinderte Männer und Frauen das Thema "Partnerschaft" unter verschiedensten Aspekten diskutieren und "auskämpfen", während sie aus dieser Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und häufig auch im Privaten ausgeschlossen werden und ihnen eine entsprechende Rolle nicht zugestanden wird. Daß das Thema "Partnerschaft" bzw. das Verhältnis zum anderen Geschlecht für behinderte Männer[20] und Frauen[21] genauso wichtig ist, wie für alle anderen Menschen auch, wird dabei ignoriert oder sogar in Abrede gestellt.

Aber auch andere soziale Rollen werden behinderten Menschen nicht zugestanden: So machen behinderte Männer u.a. die Erfahrung, daß sie von nichtbehinderten Männern weder als Verbündete oder Kollegen und schon gar nicht als Konkurrenten um soziale Stellungen oder bei der Suche nach einer Partnerin bzw. eines Partners ernst genommen werden. Mit einem ähnlichen Rollenbild treten auch nichtbehinderte Frauen behinderten Männern entgegen. So werden behinderte Männer z.B. in der Auseinandersetzung um die Frauenemanzipation von nichtbehinderten Frauen als Mittäter "eines Systems der Männermacht, das ihnen übelwill"[22] nicht einbezogen. Nicht das es für Männer erstrebenswert wäre als "Täter" bezeichnet zu werden, doch die Anerkennung, daß auch behinderte Männer diese Rolle verkörpern (können), wäre eine - wenn auch unrühmliche - Anerkennung des Mannseins. Statt dessen ist

"in den Publikationen nichtbehinderter Feministinnen ... Behinderung überwiegend mit trostlosem Leid und Belastung insbesondere für die Mütter assoziiert"[23].

Auch in diesem Zusammenhang werden betroffene Personen hauptsächlich über ihre Behinderung wahrgenommen und dem entsprechend behandelt. Dabei wird Behindertsein in die Nähe des ewig Kindbleibens gerückt. Dies passiert z.B., wenn von seiten des Feminismus Behindertsein mit lebenslangem Kindsein assoziiert wird.[24] Damit wird gleichzeitig vernachlässigt, daß Behindertsein und Kindsein nicht eins ist. Denn behinderte Kinder sind wie alle Kinder immer in erster Linie Jungen oder Mädchen, die als Söhne oder Töchter mit zunehmenden Alter ihr eigenes Leben - in das u.U. die Mutter wie CORNELIA FILTER beschreibt als zentrale Person einbezogen bleibt[25] - leben wollen und deren Verhältnis zu den Eltern sich nicht alleine aus der Behinderung ableiten lassen sollte.

An dieser Stelle soll nicht der Eindruck erweckt werden, als seien es in erster Linie nichtbehinderte Feministinnen, die behinderte Männer und Frauen zu ewigen Kindern erklären; vielmehr ist dieses ein allgemeines Phänomen. Denn anstatt daß behinderte Männer - wie auch Frauen - in ihren vielschichtigen sozialen Rollen anerkannt und wahrgenommen werden, werden sie - obwohl erwachsen - in Abhängigkeit von ihrer Behinderungsart bzw. -erscheinung immer wieder in den unterschiedlichsten Lebenssituationen als Kinder betrachtet und dementsprechend behandelt. Dieses Bild von behinderten Menschen ist dabei keineswegs nur bei "Unwissenden" zu finden, sondern zeigt sich auch - wie KARLHEINZ JETTER beschreibt - beim Personal von Behinderteneinrichtungen[26]. Die Liste von Zurückweisungen und Diskriminierungen, die behinderte Männer alltäglich durch nichtbehinderte Personen erfahren, ließe sich noch um zahlreiche Beispiele - u.a. aus den Bereichen Sexualität, Partnerschaft, Arbeitswelt, Kultur, Politik - erweitern. Diese Bereiche alle ausführlich an dieser Stelle darzustellen, würde den Rahmen dieser Ausführungen überschreiten. Hier kommt es hauptsächlich darauf an, zu erkennen, daß ein behinderter Mann durch seine Alltagserfahrungen permanent Kränkungen erfährt, und sich "im nominiert-normierenden Blick der Behindernden in der Gefahr seine Souveränität zu verlieren"[27] befindet bzw. diese gar nicht erst gewinnt.



[1] HOBRECHT 1981, S. 262.

[2] BAUR 1988, S. 153.

[3] BAUR 1988, S. 154.

[4] ENGELMANN 1995, S. 37.

[5] METZ-GÖCKEL 1993, S. 94.

[6] Vgl. KLEE 1987, S. 22 f. Entsprechende Erfahrungen schildert auch JüRGEN HOBRECHT (1981). Vgl. zum Thema "Therapie" auch SIERCK 1989, S. 18 ff.

[7] RÖSNER 1994, S. 152.

[8] WUNDER 1982, S. 74.

[9] KLEE 1987, S. 22.

[10] KLEE 1987, S. 23.

[11] EBERWEIN 1994, S. 294.

[12] EBERWEIN 1994, S. 297.

[13] SCHLEY 1995, S. 65.

[14] EBERWEIN 1994, S. 298.

[15] Vgl. RAUTENBERG-TAUBER / SOHN 1994, S. 297.

[16] ZEMP 1995, S. 354.

[17] SCHLEY 1995, S. 68 f.

[18] HEINZE / HINRICHS / OLK 1982, S. 80.

[19] Vgl. RADTKE 1994, S. 110.

[20] Vgl. z.B. HOBRECHT 1981; RADTKE 1985.

[21] Vgl. z.B. EWINKEL u.a. 1986.

[22] KAPPELER 1989 S. 28.

[23] DEGENER 1992, S. 84.

[24] Vgl. z.B. FILTER 1994, S. 72.

[25] Vgl. FILTER 1994, S. 72.

[26] Vgl. JETTER 1986, S. 130 f.

[27] RÖSNER 1994, S. 154.

2. "Spitzenleistung macht normal"

Um mit der bis hierher geschilderten Situation umzugehen und zu beweisen, daß er - der behinderte Mann - doch normal ist, setzen sich die betroffenen Personen häufig unter einen enormen Leistungsdruck.

"Oft wird die Kompensation der eigenen Idealabweichung durch die besondere Ausbildung anderer Ideale zu erreichen versucht."[28]

Ein für diese Zwecke gut geeignetes Mittel ist der Behindertensport. Hier kann man(n) besonders gut beweisen, daß man(n) hervorragende Leistungen bringt und somit ja gar nicht zu den "echten Behinderten" gehört. Damit ist auch gleichzeitig "beweisbar", daß man(n) ja zu "den Normalen" gehört.[29] Für derartigen Kompensationen ist auch die Intelektuelle Leistungsfähigkeit hervorragend geeignet. Auch auf diesem Gebiet kann man(n) den Beweis der eigenen "Normalität" ausgezeichnet erbringen. So schreibt z.B. JüRGEN HOBRECHT:

"Ich weiß, daß ich in dieser Gesellschaft nur etwas wert bin, wenn ich meine Behinderung durch geistige Leistungen überdecke."[30]

In diesem Zusammenhang könnte eingewendet werden, daß es sich hier um kein Verhalten handelt, das sich aus dem Behindertenstatus ergibt, sondern daß es ein allgemeines Phänomen bei Männern ist, sich über besondere Leistungen zu beweisen und auch Streß zu kompensieren. Denn z.B. JöRG ENGELMANN beschreibt die Reaktion von Männer auf Streß folgendermaßen:

"Was macht Mann mit einer solchen Lage? In der Regel stürzt er sich in noch mehr Streß: noch mehr Arbeit, noch mehr Erfolgsdruck, noch mehr Suche nach äußerer Bestätigung. Die rastlose Suche des einsamen Wolfes nach dem verlorenen Paradies, sie kann ein ganzes Männerleben lang daueren - bis der Körper HALT sagt."[31]

Doch m.E. ist der dauernde Versuch, besondere (geistige) Leistungen zu zeigen, bei behinderten Männern eng an das Behindertsein geknüpft, denn auch behinderte Frauen berichten, daß - anders als bei nichtbehinderten Frauen - in ihrem Lebenslauf das Erbringen von außergewöhnlich guten (geistigen) Fähigkeiten, die im allgemeinen als nicht mädchen- bzw. frauentypisch gelten, eine wichtige Rolle zur Kompensation der Behinderung spielte[32].

Ein derartiger Hang zu "Spitzenleistungen" führt gleichzeitig zur permanenten Selbstüberforderung, deren Wurzeln wiederum in der frühsten Kindheit liegen[33] bzw. bei Männern, deren Behinderung in einer späteren Lebenphase eingetreten ist, mit dem Eintrittszeitpunkt verbunden sind. Immer wieder wurden und werden betroffne Personen durch andauernde "Förderung" und Sätze wie z.B. "Das kannst Du doch alleine" und/oder "Um eine Chance zu haben, mußt Du immer besser sein als Nichtbehinderte" zu hohen Leistungen gedrängt; dabei wurde z.B. auf die "kindliche und jugendliche Faulheit" keinerlei Rücksicht genommen. Diese tiefsitzenden Kompensationsmechanismen gehen auch immer mit einem - wie oben schon angedeutet - fragwürdigen Verlangen einher, die Anerkennung von nichtbehinderten Menschen zu erringen. LOTHAR SANDFORT erinnert sich:

"Die Anerkennung Nichtbehinderter und ihre Freundschaft bedeutete auch mir noch ungemein fiel. Sie wertete mich vor mir selbst und vor der sozialen Umwelt auf. Die Anerkennung der sich solidarisierenden Nichtbehinderten bekam ich aber besonders dann, wenn ich mich als stark und selbstbewußt produzierte. In ihrer Anwesenheit hätte ich meine Schwächen nicht preisgegeben."[34]

Zu welchen gravierenden Auswirkungen dieses Verhalten führen kann, schildert JüRGEN HOBRECHT ebenfalls aus eigener Erfahrung:

"Oft saß ich unter Schmerzen bei Zusammenkünften, völlig unfähig, mich auf das Geschehen zu konzentrieren, nur um dabeizusein, nur um den Anschein eines normales Lebens vorzutäuschen. Man darf nicht schwach oder kränklich sein, sonst ist man draußen. Ich vernachlässige meinen Körper, weil ich nicht eingestehen will, daß ich behindert, anders bin. Leben nach der 'Was mich nicht kaputt macht, macht mich nur noch härter.' Verleugnung eines besonderen, einmaligen, unwiederbringlichen Lebens zugunsten der Einheitsnorm des 'Kraftmeiers'."[35]



[28] SANDFORT 1993, S. 49.

[29] Vgl. SANDFORT 1993, S. 49 f.

[30] HOBRECHT 1981, S. 116.

[31] ENGELMANN 1995, S. 38.

[32] Vgl. z.B. EWINKEL u.a. 1986, S. 29 ff.

[33] Vgl. BORN 1992, S. 49.

[34] SANDFORT 1993, S. 73.

[35] HOBRECHT 1981, S. 60.

3. Emanzipation statt Integration

Um den allgemeinen und geschlechtsspezifischen Interessen behinderten Menschen gerecht zu werden, bedarf es im gesamten "Behindertenbereich" eines Paradigmenwechsels vom Ziel der Integration hin zur Emanzipation. Denn: Integration setzt immer ein soziales System voraus, in das hinein integriert wird. Dabei wird das bestehende System, als richtig und mit den richtigen Werten ausgestattet betrachtet. Zudem ist dieses System gerade auch in Bezug auf behinderte Menschen mit den entsprechenden Machtinstrumenten versehen, die es in der Regel Nichtbetroffenen erlaubt, darüber zu befinden, wer unter welchen Umständen mit welchen Mitteln integrationswürdig ist und wer nicht. Dabei wird behinderten Personen eine passive Rolle zugewiesen - ob sie überhaupt und wie sie integriert werden wollen steht hier nicht mehr zur Diskussion. Zwangsläufig ergibt sich hierbei ein Machtgefälle zwischen Integrierenden und Zuintegrierenden zu Ungunsten der zweit genannten Gruppe.

Für die heutige Situation gilt grundsätzlich die von ALFRED SANDER gemachte Feststellung:

"Integration ist ein vieldiskutiertes Thema unter Theoretikerinnen und Theoretikern wie unter Praktikerinnen und Praktikern geblieben."[36]

Allerdings muß hier ergänzt werden, daß die eigentlich betroffenen Personen die Art und Weise wie und wo sie integriert werden sollen nicht selbst bestimmen. Denn:

"Alle existierenden Integrationsmodelle wurden gemacht, und zwar von nichtbehinderten Eltern, LehrerInnen, Fachleuten. Sie bestimmen, welche behinderten Kinder oder Erwachsenen wann, wo, warum oder überhaupt integriert werden; sie sind es selbstverständlich auch, die beurteilen, ob diese Versuche als gelungen oder fehlgeschlagen gelten. Das Normalitätsdenken, der ständige Konfliktbereich zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen, fällt in den Beurteilungen und Überlegungen unter den Tisch."[37]

Dabei wird auch vergessen:

"Soziale Integration als Norm kann Zwänge auslösen und desintegrative Wirkungen hervorrufen."[38]

Behinderte Menschen werden somit im Rahmen der von außen an sie herangetragene Integrationsdiskussionen, wie sie z.B. in der Sonderpädagogik, die in der Regel immer noch an "defektorientierten" und "medizinischen"[39] Denk- und Handlungsmustern festhält, geführt werden und an den Belangen behinderter Menschen vorbei geht zu Fachobjekten gemacht. Dadurch werden sie - wie in anderen Bereichen auch - durch nichtbehinderte Fachleute, die "über die Köpfe der Betroffenen hinweg planen und machen" entmündigt.[40]

Dabei ist das Verständnis von Integration immer in erster Linie auf das alles dominierende Merkmal Behinderung ausgerichtet, so daß alle anderen persönlichkeitsprägenden Merkmale ausgeblendet werden. So finden auch die jeweiligen Integrationsziele und -inhalte bezogen auf betroffene Personen letztendlich nur durch den Faktor Behinderung ihre Rechtfertigung. Wie zentral die Bedeutung des Vorhandenseins von Behinderung für die Integrationsdiskussion ist, zeigt hier z.B. die Tatsache, daß in dieser langjährigen sonderpädagogischen Auseinandersetzung die Frage nach den Belangen behinderter Frauen noch in den Anfängen steckt und für behinderte Männer noch gar nicht gestellt wird, während in der allgemeinen Pädagogik geschlechtsspezifische Themen - besonders in Bezug auf Mädchen - schon seit längerem an der Tagesordnung sind. Wäre der Faktor Behinderung nicht existent, so wäre die gesamte Integrationsdiskussion sinnlos bzw. sie hätte keine höhere Bedeutung als bei allen anderen Menschen auch, wenn diese sich in ein bestimmtes soziales Umfeld integrieren müssen/wollen. Kurz gesagt: Integration, die sich an Menschen mit einer Behinderung richtet, braucht die Existenz von Behinderung.

Damit geht einher, daß auch die Integrierenden das Kriterium Behinderung brauchen, um überhaupt als Integrierende auftreten zu können. Allerdings zeigt es sich, daß das hierin enthaltene ungleiche Machtverhältnis zwischen Integrierenden und Zuintegrierenden - also zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen - allgemein keine Thematisierung findet. So gelangt z.B. AIHA ZEMP als Beobachterin der o.g. Arbeitstagung in Zürich zu der Feststellung:

"Über die Definitionsmacht, wer denn überhaupt wen als schwer, sehr schwer oder leicht behindert einstuft oder einstufen kann wurde in diesen Tagen leider nicht laut nachgedacht. Überhaupt war das Thema: Sonderpädagogik und Macht keines. Die Heilpädagogik scheint zwar Menschen mit Behinderung als Kunden entdeckt zu haben, nach deren Bedürfnisse sie sich zu richten habe. Die Tatsache aber, dass kein Wort darüber verloren wurde woher die SonderpädagogInnen etwas über dies Bedürfnisse wissen, lässt befürchten, dass sie sich anmassen, diese ohnehin schon zu kennen, so wie sie bis jetzt ja auch wussten, wer, wie und wo mit was zu fördern sei."[41]

Wie sehr sich die Sonderpädagogik in "ihrer eigenen Welt" bewegt, ohne daß dabei die Ziele "der Behindertenbewegung" - wie sie z.B. von OTTMAR MILES-PAUL beschrieben werden[42] - Berücksichtigung finden, wird wiederum an der Kritik von AIHA ZEMP auf der o.g. Arbeitstagung deutlich:

"Nach diesen Tagen hier bin ich wirklich erschüttert über das Auseinanderklaffen der Heilpädagogik und der Behindertenbewegung. Nach all dem, was ich gehört habe, muss ich annehmen, dass die Sonderpädagogik noch nie etwas von der Behindertenbewegung gehört hat, oder sie verhält sich ihr gegenüber wie ein Regenmantel zum Regen. Vor zwanzig Jahren haben wir uns für die Integration eingesetzt. Und jetzt, nach so langer zeit [sic!] ist die Integration zum Pathos der Sonderpädagogik geworden, zum 'Paradigmenwechsel', wie ich gehört habe (wenn die Sonderpädagogik wirklich einen Paradigmenwechsel gemacht hätte, würde es sie wohl gar nicht mehr geben!). Wir in der Behindertenbewegung sind längst ganz woanders: wir fordern Emanzipation statt Integration ... Wir fordern das selbstverständliche Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und das Anerkanntsein in unserem Sein mit unseren spezifischen, eben vielleicht anderen Möglichkeiten."[43]

Zu Recht fordert AIHA ZEMP hier anstelle von Integration Emanzipation und ein selbstbestimmtes Leben für behinderte Männer und Frauen. Denn schon aus grundsätzlichen Erwägungen ist zu fragen, warum in einer Zeit, in der allgemein individualisierte Lebenszusammenhänge und Emanzipationsauseinandersetzungen verschiedenster Art im Vordergrund stehen,[44] für eine bestimmte Gesellschaftsgruppe ein Gesamtziel - nämlich das der Integration - formuliert wird, anstatt individuelle Gegebenheiten zu favorisieren. Dabei ist angesichts einer zunehmend durch Individualisierung geprägten Gesellschaftsstruktur zu fragen, in was hinein integriert werden soll? Zudem ist die Frage zu stellen, warum wollen sich Frauen allgemein emanzipieren und warum sollen sich behinderte Männer und Frauen integrieren? Was tut unter diesen Umständen z.B. eine dunkelhäutige behinderte Frau, die einer nichtmitteleuropäischen Kultur angehört? Muß sie sich als Behinderte integrieren? Hat sie sich als Ausländerin zu integrieren? Oder ist es ihr Ziel, sich als Frau zu emanzipieren? Auf all diese Fragen können Integrationstheorien keine befriedigenden Antworten geben.

Um diesen Problemen angemessen begegnen zu können, bedarf es Zielsetzungen, die auch für behinderte Männer und Frauen an emanzipatorischen Bestrebungen ausgerichtet sind. Emanzipatorische Ansätze sind - anders als behinderungsbezogene Integration - in der Lage, die gesamte Person mit allen ihren Merkmalen und Fähigkeiten zu berücksichtigen und dabei alle tatsächlichen oder möglichen Sozialrollen - wie z.B. Mann/Frau, Kollege/Kollegin, Vater/Mutter, Verbündeter/Verbündete, Kontrahent/Kontrahentin u.a. - einzubeziehen. Dabei wären betroffene Personen nicht mehr von den von nichtbetroffenen Fachleuten für sie für gut gehaltene Vorgaben und Lebensentwürfen abhängig, sondern es wäre auf der Grundlage von Emanzipation ein hohes Maß an Selbstbestimmung für behinderte Männer und Frauen möglich. In diesem Zusammenhang kommt auch für behinderte Menschen jenes zum tragen, was WOLFGANG LEMPERT allgemein als emanzipatorisches Interesse formuliert:

"Das emanzipatorische Interesse ist das Interesse des Menschen an der Erweiterung und Erhaltung der Verfügung über sich selbst. Es zielt auf die Aufhebung und Abwehr irrationaler Herrschaft, auf die Befreiung von Zwängen aller Art."[45]

Gleichzeitig fordert Emanzipation die "Verringerung von Beschränkungen für die Artikulation und Befriedigung menschlicher Bedürfnisse"[46].

Im Unterschied zur "Integration"[47] wird mit dem Begriff "Emanzipation" die Befreiung aus Machtverhältnissen mitgedacht. Dies macht schon die lateinische Grundform des Wortes deutlich. So heißt es im DUDEN-Herkunftswörterbuch, daß "der ursprünglich im römischen Patriarchat begründete Sinn von lateinisch emancipare '(einen erwachsenen Sohn bzw. einen Sklaven) aus der väterlichen Gewalt zur Selbständigkeit entlassen'[48] ist.

Dabei kann es also auch für behinderte Männern und Frauen nicht - wie bei der Integration - um Formen von (gesellschaftlicher) Anpassung gehen, denn die Betroffenen

"sind Teil unserer Gesellschaft - es bedarf deshalb nicht ihrer Eingliederung in die Gesellschaft, sondern es muß Wege geben, daß die Gesellschaft Behinderungen oder chronische Erkrankungen als etwa Natürliches begreift und damit umgeht. Behinderung ist eine von zahlreichen Erscheinungsformen des Menschseins."[49]

Von entscheidender Bedeutung ist, daß behinderte Männer und Frauen als "die besten 'Experten in eigener Sache', die nicht krank, sondern anders sind und am besten selbst wissen, welches ihre Bedürfnisse sind und wie diese am effektivsten begegnet werden kann"[50].



[36] SANDER 1995, S. 105.

[37] SIERCK 1989, S. 9.

[38] SCHLEY 1995, S. 67.

[39] EBERWEIN 1994, S. 293.

[40] WUNDER 1982, S. 75.

[41] ZEMP 1995, S. 355. In diesem Zusammenhang ist m.E. auch die von ROLF ALBERS u.a. (1989, S. 2) in Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung stellte Frage - "kann es überhaupt eine Definition für eine menschliche Existenzform geben, zu der es für den 'nichtbehinderten' Menschen keine Zugangsmöglichkeit gibt? " - im übertragenen Sinne grundsätzlich für das Verhältnis zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen zu diskutieren.

[42] Vgl. MILES-PAUL 1992.

[43] ZEMP 1995, S. 355 f.

[44] Vgl. BECK 1993. WELSCH (1993, S. 5) formuliert dazu in einer seiner Thesen folgendes: "Die Grunderfahrung der Postmoderne ist die des unüberschreitbaren Rechts hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster."

[45] LEMPERT 1971, S. 318.

[46] LEMPERT 1973, S. 219.

[47] Im DUDEN "Etymologie" (1989, S. 307) heißt es zum Ursprung des Wortes Integration: "Eine besondere Rolle spielen im deutschen Wortschatz Ableitungen von lateinisch integer, nämlich lateinisch integrare 'Teil, unversehrt machen, wiederherstellen; ergänzen' mittellateinisch integralis 'ein Ganzen ausmachend' und lateinisch integratio 'Wiederherstellung eines Ganzen'". Hier handelt es sich also um Formen der Anpassung.

[48] DUDEN "Etymologie" 1989, S. 153 f.

[49] ARBEITSGEMEINSCHAFT ALLERGIEKRANKES KIND e.V. u.a. 1995, S. 3.

[50] MILES-PAUL 1992, S. 123. Vgl. auch ARBEITSGEMEINSCHAFT ALLERGIEKRANKES KIND e.V. u.a. 1995, S. 18.

4. Konsequenzen für behinderte Männer

Stellt sich abschließend die Frage, welche Konsequenzen ergeben sich aus den Ausführungen nun speziell für behinderte Männer?

Von zentraler Bedeutung ist es, daß behinderte Männer anfangen sich sowohl individuell als auch kollektiv mit der eigenen Vergangenheit und Gegenwart kritisch auseinanderzusetzen. Dabei ist es wichtig, daß sie ihre eigenen traditionellen Bilder von Behinderung hinterfragen und sich von liebgewonnenen Rollen bzw. Handlungsmustern als "Behinderte" verabschieden.[51] Sie müssen lernen, ihr Behindertsein nicht als Defizit zu begreifen, sondern ihre Qualitäten als ganze Persönlichkeit, die sich nicht auf bestimmte Merkmale reduzieren läßt, zu sehen und damit aktiv umzugehen. Es gilt zu erkennen, daß bestimmte Qualitäten eben erst aufgrund der Erfahrungen als behinderter Mann entwickelt werden konnten und daß diese Qualitäten bzw. Erfahrungen in die gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Art und Weise von menschlichem Zusammenleben eingebracht werden können und müssen. In diesem Zusammenhang ist es für betroffene Männer wichtig, die Zuweisung von passiven Sozialrollen durch nichtbehinderte Personen von sich zu weisen und statt dessen darauf hinzuweisen und zu zeigen, daß sie in ihren konkreten sozialen Umfeldern als ganze Persönlichkeit - also auch mit ihrer Behinderung - das soziale Klima aktiv mitgestalten und damit gesamtgesellschaftliche Gestaltungs- bzw. Veränderungsprozesse mitbestimmen. So können z.B. nichtbehinderte Männer in einer Gesellschaft, in der das soziale Klima zunehmend durch Leistung, Starksein und Konkurrenz geprägt ist, von behinderten Männern lernen, wie man(n) auch mit dem Bewußtsein nicht "Supermann" zu sein, sozialverträgliche Formen von Stärke entwickeln kann. Das setzt jedoch folgendes voraus:

"Eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Emanzipation als behinderter Mensch ist es, unsere Nicht-Normalität zu akzeptieren. Noch immer setzen viele Behinderte der gesellschaftlichen Entwertung ein ebenso trotziges wie hilfloses 'Ich-bin-normal' entgegen. Das Anormale wird 'unterhalb' oder entfernt der eigenen auffälligen Abweichungen definiert. Mit ungeheuerem Aufwand werden eigene Behinderungen zu kaschieren versucht."[52]

Der Aufwand, der nötig sein wird, um die eigene Emanzipation in einer Welt durchzusetzen, die es gewöhnt ist, daß Behinderte sich unterordnen und für das Angebotene Dankbarkeit zeigen, wird mindestens genauso groß sein, wie der permanente Versuch die eigene Normalität zu beweisen. Es ist zu erwarten, daß durch derartige Emanzipationsprozesse ähnliche Unsicherheiten und Widerstandsreaktion hervorgerufen werden, wie ANITA NIEDER sie allgemein für Frauen darstellt, die aus traditionellen Rollen ausbrechen und sich emanzipieren. Eine Person, die sich entgegen der allgemeinen Rollenzuschreibung emanzipieren will, "hat nicht nur mit den eigenen Unsicherheiten zu kämpfen, sie ist zuweilen auch heftigen Anfeindungen seitens der Umwelt ausgesetzt"[53].

Um diesem Widerstand standhalten zu können und zudem individuelle Emanzipationsprozesse stützen zu können, ist es notwendig, daß sich behinderte Männer in entsprechenden Gruppen zusammenfinden und den Mut aufbringen ihre Situation offen zu benennen und sich darüber hinaus gegenseitige Unterstützung zukommen lassen. Sowohl für den einzelnen behinderten Mann als auch für behinderte Männer als Gruppe kommt es darauf an, zu lernen, sich der eigenen Wünschen bewußt zu werden und diese zu artikulieren. Denn

"was wir uns wünschen können, hängt unter anderem davon ab, wieweit uns zugestanden wird, uns unserer Wünsche bewußt zu werden. Bewußt werden Wünsche auf dem Wege ihrer sprachlichen Formulierung, diese muß also erlaubt sein. Das Maß der jeweils möglichen Bedürfnisbefriedigung ist also gebunden an die Chancen freier Bedürfnisartikulation."[54]

Zu diesem Zweck müssen behinderte Männer sich verstärkt "soziale Kompetenzen wie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit"[55] aneignen. Denn auch für sie gilt:

"Viele Bedürfnisse werden gar nicht erst zur Artikulation zugelassen, andere, bereits artikulierte, dermaßen tabuiert, daß sie aus der sprachlichen Kommunikation, oft auch aus dem Bewußtsein der Individuen wieder ausscheiden und nur noch von deren Verhalten beziehungsweise Verhaltensstörungen ablesbar sind."[56]

Da für behinderte Menschen allgemein die Auseinandersetzung mit der eigenen Emanzipation noch relativ neu ist und diese speziell für behinderte Männer gerade erst am Anfang steht, gilt besonders für sie, daß was LOTHAR SANDFORT grundsätzlich formuliert. Es

"steht der eigentliche emanzipatorische Schub noch aus. Viel zu wenig Behinderte lassen sich auf den mühsamen Befreiungskampf ein. Zu übermächtig scheint die Diktatur der Normalität. Viel zu viele Behinderte schlucken die alltäglichen kleinen und großen Diskriminierungen, beugen sich der Aussonderung und verdrängen ihr Abnormalität. Die Unverschämtheiten des Normalen werden einfach hingenommen, ertragen oder verdrängt."[57]

Egal, wie behinderte Männer die Auseinandersetzung um ihre Emanzipation führen werden, eins kann schon heute gesagt werden: Behinderte Männer können sich in ihren Emanzipationsprozessen nicht auf das traditionelle Bild vom starken Mann beziehen. Unabhängig davon, ob ein derartiges Männerbild als Orientierung wünschenswert ist oder nicht, würde schon der Versuch dieses zum Vorbild zu machen behinderte Männer der Lächerlichkeit preisgeben. Was sie auch versuchen, sie können niemals einen "John Wayne" verkörpern. Sie sind somit darauf angewiesen, neue noch unbekannte Wege zu beschreiten, die nicht dadurch bewältigt werden können, "daß schnell die Identität eines 'neuen Mannes' zurechtgemacht wird"[58]. Diese Wege müssen also eigene sein, die in Richtung Emanzipation führen und ihren Ausgang in der folgenden Frage haben sollten:

"Was setzen wir unserer bisherigen Selbstentwertung entgegen. Eigene neue Werte, ja gerne. Aber welche?"[59]



[51] Die bis hierher gemachten Ausführungen sind in erster Linie davon ausgegangen, daß ein betroffener Mann schon seit seiner Geburt behindert ist. Es ist jedoch wichtig zu berücksichtigen, daß zum Teil noch andere Aspekte zu beachten sind, wenn die Behinderung zu einem späteren Zeitpunkt auftrat; hier spielt u.a. die entsprechende Lebensphase - z.B. Jugend oder Familienvater Mitte 40 - eine entscheidende Rolle. Doch grundsätzlich kann hier gesagt werden: Jemand, der seit Beginn seines Lebens behindert ist, wird weniger damit zu tun haben, seine neue Rolle als behinderter Mensch zu akzeptieren. Für ihn ist es in der Regel wichtiger aus Rollen, die ihm im Elternhaus, in Heimen u.a. anerzogen wurden, herauszukommen. Jemand, der schon eine langjährige Sozialisation zum bzw. als nichtbehinderter Mann durchlaufen hat, wird dagegen gezwungen sein, sich von seinem Männerbild zu lösen - besonders wenn es einem traditionellem entspricht - und die Rolle als behinderter Mensch zu finden, um dann ein Selbstverständnis als behinderter Mann zu entwickeln. PETER MAND (1995, S. 20) beschreibt die Situation vieler Menschen, deren Behinderung erst in späteren Jahren eingetreten ist folgendermaßen: "Es geht zuerst oft um das pure Überleben und anschließend häufig für den Rest des Lebens um die Frage der Lebensqualität. Nicht zufällig stellt sich für viele in einer kurzen Phase der medizinischen Rehabilitation die Frage, ob es sich überhaupt loht, sein Leben im Rollstuhl weiterzuführen. Bei einigen wenigen führt dies zum Selbstmord, bei der ganz überwiegenden Mehrheit ist diese Phase eine Episode im Prozeß des Annehmens der neuen Lebenssituation."

[52] SANDFORT 1993, S. 49.

[53] NIEDER 1986, S. 92.

[54] LEMPERT 1973, S. 219.

[55] RAUTENBERG-TAUBER / SOHN 1994, S. 295.

[56] LEMPERT 1973, S. 220 f.

[57] SANDFORT 1993, S. 14.

[58] STAPELFELD 1995, S. 10.

[59] SANDFORT 1993, S. 92.

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Quelle:

Karsten Exner: Deformierte Identität behinderter Männern und deren emanzipatorische Überwindung

Erschienen in: WARZECHA, Birgit: Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik: Forschung - Praxis - Perspektiven. Hamburg: Lit Verlag 1997, S. 67-87.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.10.2006

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