"Die eigenen Möglichkeiten entdecken"

Integrative Pädagogik und ihre Chancen für Entwicklungen in der allgemeinen Schule

Autor:in - Katrin Düring
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Vortrag
Releaseinfo: Vortrag am Institut für Erziehungswissenschaften, in Innsbruck, am 24.04.06
Copyright: © Katrin Düring 2006

1. Grundsätzliches

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen

Der integrative Unterricht gewinnt unter der Perspektive der Heterogenität in Schule weitere Aufmerksamkeit. "Die offene Schule in der offenen Gesellschaft" wird eine Schule sein, in der die Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern einer Klasse zunehmen werden (vgl. Ulf PREUSS-LAUSITZ 2004, 14-17). Engagierte Eltern sowie Integrationsfachfrauen und -männer haben bereits in den siebziger Jahren eine "Schule der Vielfalt" gefordert und sich somit bildungs- und gesellschafts-politisch klar positioniert. Insbesondere die Ergebnisse von Lern-Leistungs-vergleichen der letzten Jahre führten nunmehr dazu, dass diese Forderung zum Gegenstand öffentlicher und schulfachlicher Debatten avancierte. Wie eine integrative Pädagogik zu einer inklusiven Schulentwicklung führen kann, möchte ich Ihnen jetzt darstellen. Ich danke Ihnen für die Einladung und für die Gelegenheit, meine Positionen und Erfahrungen hier in Innsbruck am Institut für Erziehungswissenschaften darlegen zu dürfen.

2. Persönliches

Mein Vortrag baut auf meine beruflichen Erfahrungen auf: Ich habe vor 16 Jahren meine professionelle Tätigkeit als Sonderpädagogin in einer Förderschule für Lernbehinderte begonnen. Das Studium der Sonderpädagogik in der ehem. DDR war geprägt von dem Verständnis der sowjetischen Defektologie. Ich beendete mein Hochschulstudium mit dem Abschluss: "Diplomlehrerin für intellektuell Geschädigte". Gesellschaftspolitische Ursachen für Lernschwierigkeiten wurden nicht akzeptiert. Die Behinderung selbst durfte vom Erklärungsansatz her nur in der Persönlichkeit selbst und in den sich daraus ergebenden intellektuellen Einschränkungen liegen.

Ich selbst hatte die Chance, gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen die Auflösung einer Förderschule wg. zu geringer Schülerzahlen vorzubereiten, um dann mit meiner Klasse in den Grundschulteil einer benachbarten Schule einzuziehen. Diese Erfahrung hat mich in meiner pädagogischen Haltung geprägt. Zum einen veränderte sich das Selbstwertgefühl der Schülerinnen und Schüler - sie gehörten jetzt selbstverständlich dazu. Zum anderen erlebte ich im Unterricht mit anderen Grundschulkindern die "Kraft der Gruppe". Seit dem Schuljahr 2005/06 prüfe ich als externe Gutachterin Schulqualität. Aktuell bereite ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen die Qualitätsprüfung der Sonderschulen in unserem Bundesland vor. Das ist übrigens das erste Mal in Deutschland, dass sich alle Sonderschulen im Rahmen der Schulinspektion bzw. Schulvisitation einer Qualitätsprüfung zu unterziehen haben und dies entsprechend der Maßstäbe, die für allgemein bildende Schulen gelten.

In meine inhaltlichen Positionen fließen auch die Erfahrungen als Mutter zweier Kinder ein. Ich habe unlängst erlebt, wie bereits in der vorschulischen Bildung unreflektiert Kindern Bilder von Menschen mit Behinderungen vermittelt werden. So heißt es in dem Lied "Farben für den Winter", dass unsere fünfjährige Tochter zu einem Fest vor Ostern lernen sollte: "Der Blinde, der immer nur im Schatten steht. [...] Der Taube, der das, was man ihm schenkt, durch seine Worte nur zerstört. [...] Der Stumme, der schweigt und nur das tut, was man ihm sagt." In der Grundschule habe ich vier Jahre lang aus der Elternperspektive erfahren, dass die Anpassung der Kinder an die Schule erwartet wird. Auf Unangepasstheit wird mit Zurückstellung, Nichtversetzung und mit Verweis an die Förderschule reagiert.

Wir leben in Deutschland in einer Gesellschaft, in der es immer noch als "normal" angesehen wird, Kinder von der Mehrheit aller anderen Kinder zu trennen, wenn sie andere Bedürfnisse für ihr Leben und Lernen als die jeweilige Mehrheit haben. Den Eltern wird oft geraten, ihr Kind in einem Schonraum von Sonderkindergarten, Sonderschule oder Sonderwerkstatt lernen und leben zu lassen, weil dieses Kind langsamer oder anders lernt als die anderen gleichaltrigen Kinder. Oder die Eltern entscheiden sich, dass das Kind doch eher und mehr unter Druck lernt oder auch mehr an Lernstoff angeboten bekommt, wenn es ein Gymnasium besucht.

3. Modellhaftes

Wie mit diesen Fragen anders umgegangen werden kann, möchte ich Ihnen zu dem Schulversuch berichten, den ich bis zum Sommer vergangenen Jahres geleitet habe. Im Jahr 1998 wurde die Entscheidung getroffen, den Prozess der Zusammenlegung der Förderschulen für Körperbehinderte Grundschule und Sekundarstufen I/II sowie der Grundschule und der Gesamtschule in Birkenwerder im Rahmen eines Landesschulversuchs zu begleiten. Das Bildungsministerium des Landes Brandenburg genehmigte für die Zeit von 1999 bis 2005 den Schulversuch "Die integrativ-kooperativen Schulen in Birkenwerder" (vgl. Katrin DÜRING 2002). Aus dem Zusammenschluss zweier Förderschulen und allgemeiner Schulen entstanden zwei sog. integrativ-kooperative Schulen, was ich hier am Beispiel der Schulen für die Primarstufe (Jahrgangsstufen 1bis 6) zeigen möchte.

Exkurs Modellversuch Birkenwerder (1998-2005)

Abb 1: Modell zum Zusammenschluss von Förderschule und Grundschule

Mit der Errichtung der integrativ-kooperativen Schulen in Birkenwerder entstand die einmalige Situation, diese neu zu konzipieren. Mit der Bildung einer Steuergruppe, einem Wettbewerb zum Schullogo, dem Schulprogramm und dem Leitbild der Schule entstanden im Denken der Lehrerinnen und Lehrer mentale Modelle, die identitätsstiftend und visionär wirkten.

Die pädagogische Schulentwicklung ist dabei stärker als anfangs angenommen zu einem Kernthema des Schulversuchs geworden. Am Anfang stand dabei die Frage: "Wie sieht diese Schule aus, die allen Kindern gerecht werden kann?" Gemeinsam sollte ein Konzept entwickelt werden, in dem in einer qualitativ veränderten Form eine Schule entsteht, in der sich die sonderpädagogische Förderung unterstützend in das Gesamtkonzept der allgemeinen Schule integriert.

Keine Sorge, ich werde Ihnen jetzt nicht den gesamten Projektverlauf vorstellen und auch nicht auf die Ambivalenzen eingehen, die sich zunächst aus dem integrativ-kooperativen Modell ergeben haben. Ich werde anknüpfen an das Ende des Modellprojektes: Zum Schuljahresbeginn im vergangenen Herbst sind zum ersten Mal Schülerinnen und Schüler aus der örtlichen Grundschule in die Gesamtschule gewechselt, die vom 1. Schuljahr an das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen erlebt haben. Für diese Kinder war es etwas Selbstverständliches, was an den allermeisten Schulstandorten in Deutschland noch ungewöhnlich, für manche nicht vorstellbar erscheint: Alle Kinder, die hier wohnen, können gemeinsam in die Schule gehen und integrative Erfahrungen von der 1. bis zur 13. Klasse sammeln.

In jeder Schule werden andere Wege notwendig sein, um das langfristige Ziel zu erreichen, dass alle Kinder gemeinsam in einer Schule unterrichtet werden. Kein Kind darf zurückbleiben, jedes einzelne ist wichtig. Eine Schule ohne Kinder mit Behinderungen ist nach dem Verständnis von Jutta Schöler, meiner Kollegin und Mentorin, keine normale Schule. "Es stellt sich nicht die Frage der Integration, sondern die der Qualität eines individualisierenden Unterrichts, in dem jedes Kind an seiner Leistungsgrenze arbeiten und mit den eigenen Erfolgen wachsen kann. Eine Schule ohne Kinder mit einer Behinderung ist keine normale Schule" (Jutta SCHÖLER 2003, 9-13).

Die Integration beginnt an vielen Orten, in vielen Schulen mit der Aufgabe, ein einzelnes Kind zu unterrichten. Einzelne Professionelle beginnen vor Ort, die Eltern behinderter Kinder in ihrem Wunsch nach mehr Normalität zu unterstützen. Dieser Weg muss, so Volker SCHÖNWIESE, von der "Achtung und Begleitung der Eigenentwicklung von behinderten Personen, deren Familien, deren Bezugspersonen, deren gesellschaftliches Umfeld geprägt sein" (1998, 158). Er fordert auf, Langfristigkeit anzuerkennen: "Bruchlose Entwicklungen gibt es eben nicht [...]" (ebd., 159). Irrwege, Umwege und Brüche anzuerkennen, sie verstehen zu lernen und damit erfolgreich umzugehen, sind die Aufgaben der professionell handelnden Erwachsenen.

Die Lehrerinnen und Lehrer im Modellversuch in Birkenwerder, die einmal begonnen haben, für ein einzelnes Kind einen Förderplan zu schreiben und für dieses Kind ganz konkret zu überlegen, wie das Kind wirklich zeigen kann, was es kann und damit es nicht immer wieder auf die Defizite festgelegt wird, diese Lehrerinnen und Lehrer beginnen nahezu immer, sich über ihren Unterricht und alle Kinder anders Gedanken zu machen. Die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Kooperation der Erwachsenen im Klassenzimmer ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Gelingen des gemeinsamen Lernens von Schülerinnen und Schülern. Darauf werde ich noch an anderer Stelle meines Vortrages eingehen. Es wird von den Lehrerinnen und Lehrern der "normalen Schulen" erwartet, dass sie die Aufgaben der Erziehung und Unterrichtung aller Kinder weitgehend alleine bewältigen. Sie haben nicht (wie z. B. in den skandinavischen Ländern) die Möglichkeit, Sozialpädagoginnen oder Psychologinnen, die zum Team der Schule gehören, regelmäßig zu kontaktieren oder als Unterstützung für sich und für das Kind in den Unterricht einzubeziehen. Besondere Herausforderungen können in Deutschland zu schnell entweder als Versagen der Lehrerin bzw. des Lehrers oder als Versagen des Kindes bewertet werden.

Integrationspädagogik meint die Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen und Lernbedürfnisse aller Kinder in Unterricht und Schule, wobei die "Akzeptanz der Verschiedenheit und Differenzierung in der sozialen Gesellschaft" Grundsätze der Integrationspädagogik sind und diese ihren Ausdruck finden in der Öffnung für unterschiedliche Lerninhalte, -wege und -zeiten (Jutta SCHÖLER 1999, 11). Nach sechs Schuljahren Erfahrungen hinsichtlich Integration und Kooperation ist der Schulversuch in Birkenwerder zwar wie vorgesehen beendet worden. Er findet inhaltlich-konzeptionell seine Fortsetzung in der Grundschule mit einem veränderten Modell des Schulanfangs in den Jahrgangsstufen 1 und 2.

4. Anfängliches

"Auf den Anfang kommt es an!"[1] lautet das Credo skandinavischer Pädagogik, wie es Reinhard Kahl in dem gleichnamigen Film darstellt. Kinder mit Beeinträchtigungen im schulischen Lernen, im Bereich der Sprache und im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung, des Erlebens und des Verhaltens werden ohne Feststellungsverfahren aufgenommen und entsprechend förderdiagnostisch begleitet. Förderdiagnostik, die sich selbst als eine pädagogische Diagnostik versteht und auf einzelne Entwicklungsaspekte, Biografien und Sozialisationshintergründe gerichtet ist, versucht eine qualitative Erfassung von Lerninhalten, Lernstrategien und speziellen Erziehungsbedürfnissen zu leisten.

Jedes Kind hat im Anfangsunterricht eine individuelle Verweildauer, d.h. schneller lernende Kinder können bereits in einem Jahr durch die flexible Schuleingangsphase gehen. Andere Kinder bleiben wie gewohnt zwei Schuljahre im Anfangsunterricht der Grundschule. Für langsam lernende Kinder kann die Verweildauer um ein Jahr verlängert werden, ohne dass dies auf die Gesamtschulzeit des Kindes angerechnet wird.

Die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen wirken bei der Erhebung der Lernausgangslagen bei Kindern mit vermutetem sonderpädagogischen Förderbedarf und bei der Erarbeitung von Förderplänen mit. Sie führen entwicklungsbegleitende Beobachtungen durch, leisten Fördermaßnahmen und beteiligen sich ggf. in Klasse 3 am Feststellungsverfahren. Alle Aufgabenfelder der sonderpädagogischen Förderung sind in enger Kooperation mit den Grundschullehrerinnen zu erfüllen

Im Rahmen eines landesweiten Modellprojektes wurden im Bundesland Brandenburg Standards für einen flexiblen Schulanfang erarbeitet. Dazu gehören folgende Prämissen:[2]

a.) Vermeidung der Selektivität am Schulanfang

  • Aufnahme aller Kinder ohne Zurückstellung, Wiederholung und Ausschulung

  • Unterstützung der vorzeitigen Schulaufnahme

  • Flexibler Schulaufnahmetermin zum Schulhalbjahr

b) Sicherung einer individuellen Kompetenzentwicklung aller Kinder in einem stützenden Sozialkontext

  • Individuelle Verweildauer von 1 - 3 Jahren in der Schuleingangsphase (Nichtanrechnung des dritten Verweiljahres)

  • Förderung von schneller und langsam lernender Kinder (Prävention von Lernschwierigkeiten)

  • Lernen im jahrgangsstufenübergreifenden Unterricht

  • Individualisierende Lernkultur, Prinzipien und Methoden eines geöffneten Unterrichts, Sozialerziehung als prägender Bestandteil, rhythmisierter Tagesablauf

c) Förderdiagnostische Lernbeobachtung und multiprofessionelle Teams und Beachtung der Schnittstelle Kindergarten-Schule

  • Kinder mit Förderbedarf im Bereich Lernen, Verhalten und Sprache werden mit förderdiagnostischer Lernbeobachtung und durch ein multiprofessionelles Team begleitet (kein Feststellungsverfahren)

  • Pädagogischer Kompetenztransfer im Team

  • Zusammenarbeit von Kindergarten und Schule

Beste Voraussetzung für integrativen Unterricht bieten Projekte, die fachübergreifend geplant und durchgeführt werden. Je länger die Zeiträume sind, für die an einem Thema gearbeitet wird, um so leichter ist es, sowohl die Lernbedürfnisse der hoch befähigten Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen, damit diese sich nicht langweilen, als auch die besonderen Lernanlässe zu planen, an denen Schülerinnen und Schüler mit Lernproblemen arbeiten können und dennoch zu einem sie selbst befriedigenden Ergebnis führen. "Denn es gibt keine behindertenspezifische Allgemeinbildung, die sich unterscheidet von der für alle anderen Schüler" (Ulf PREUSS-LAUSITZ 1998, 15).



[1] "Spitze - Schulen am Wendekreis der Pädagogik" Warum Schulen in Skandinavien gelingen. Titel des Videofilms von Reinhard Kahl zur Pädagogik in den skandinavischen Schulen

[2] vgl. www.lisum.brandenburg.de

5. Spannungsvolles

Volker RUTTE hat auf dem österreichischen Symposium zur Integration in Innsbruck 1996 kritisch angemerkt, dass die Regelschule bislang nicht in Frage gestellt wurde. Seiner Meinung nach haben Eltern die Wahl zwischen einer Sonderschule und einer oft auch in der Integration lehrerzentrierten, stofforientierten und selektierenden Regelschule. Diese Spannungsfelder im integrativen Unterricht können aus meiner Sicht folgendermaßen pointiert beschrieben werden:

  • Verschiedenheit der Kinder vs. Gemeinschaft der Klasse

  • LehrerInnen der allgemeinen Pädagogik vs. SonderpädagogInnen

  • Anpassung der Kinder vs. Anpassung des Unterrichtskonzeptes

  • Die tradierte Lehrerrolle in Einzelverantwortung vor der Klasse vs. Teamarbeit in gemeinsamer Verantwortung für alle Kinder und für den Lernort Schule

Einen konstruktiven Umgang mit diesen Spannungsfeldern nehme ich im Zusammenhang mit der seit einigen Jahren geführten Inklusionsdebatte war. Ein systemischer Blick auf die Schule fragt nach Prozess- und Ergebnisqualitäten der Institution für Lehrende und Lernende. In meinen bisherigen Forschungsarbeiten thematisierte ich die Verbindungslinien zwischen Integrationspädagogik und Schulentwicklung im besonderen Maße, denn das sich daraus ergebende Innovationspotential ist offensichtlich. Ewald FEYERER hebt dieses Potential als Chance für Schulentwicklung hervor:

Die Integration behinderter Kinder kann damit auch als Motor für eine innere Schulreform bezeichnet werden, die Schüler und Schülerinnen lieber zur Schule gehen lässt, weil sie in soziale Gruppenprozesse besser integriert sind und an schulischen Vorgängen durch individuellen Einsatz wie durch solidarisches Handeln verstärkt mitwirken können (Ewald FEYERER 1998, 184).

Wenn die Anerkennung der Vielfalt von Anfang an als gemeinschaftliche Aufgabe verstanden wird, schließt dies die Anerkennung gemeinsamer Verantwortung für Kinder mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen ein. "Die Probleme eines Behinderten und ihre Lösungen sind, wie bei allen Menschen, in seiner Umwelt eingebettet" (Ludwig-Otto ROSER 1998, 177).

6. Gemeinsames

Was bedeutet nun konkret "Anerkennung gemeinsamer Verantwortung" im integrativen Unterricht? Die Teams innerhalb des Systems Schule, ob Jahrgangsstufenteams, einzelne Fachbereiche oder das Kollegium, sind Schnittstellen zwischen Individuum und Organisation. In besonderer Weise lässt sich hier individuelles und organisationales Lernen beobachten. "Integrationsfähig ist die Schule mit dem kooperationsfähigen Kollegium" (Jutta SCHÖLER 1998, 436).

Ich habe mich mit dieser Frage im Rahmen meiner Dissertation beschäftigt. Die aktive Selbstdefinition beruflicher Beziehungen wird durch die wechselseitige Abarbeitung der aneinander gerichteten Ansprüche und Erwartungen im integrativen Unterricht geprägt. In der Untersuchung teamorientierter Arbeitsbeziehungen habe ich weniger statisch-strukturelle Sachverhalte als vielmehr eine hohe Dynamik wechselnder Definitionsprozesse beobachten können.

Hilbert MEYER geht soweit, die Einführung von Teamarbeit als einen "point of no return" in der Schulentwicklung zu bezeichnen: "Denn die Teamarbeit strahlt auf alle übrigen Bereiche der Schul- und Unterrichtsorganisation aus: Sie holt die Kolleginnen und Kollegen aus ihren Einzelkämpfer-Rollen heraus; sie beeinflusst das Schulklima insgesamt und fördert die Demokratisierung der Leitungsstrukturen einer Schule" (1998, 16). Eine qualitativ weit entwickelte Teamarbeit lässt sich nach Meinung der von mir befragten Grundschullehrerinnen so beschreiben:

  • Jede kann ihre Stärken uneingeschränkt einbringen.

  • Es gelingt uns, gemeinsam an Schwächen zu arbeiten.

  • Die gut funktionierenden Teams sind Rückgrat, Ideenträger und "Werkstatt" der Schule.

Gelingende Arbeitsbeziehungen haben nicht zuletzt einen positiven Einfluss auf die physische und psychische Gesundheit des Einzelnen. "Entlastung" und "höhere Berufszufriedenheit" wurden von den Lehrerinnen und Lehrern als ein persönlicher Gewinn von Teamarbeit benannt.

Teamorientierte Arbeitsbeziehungen im integrativen Unterricht entwickeln sich prozesshaft dynamisch in Zeit und Raum, ohne Garantien für Gradlinigkeit und immer in hoher Abhängigkeit der aktuellen inner- und intersubjektiven Gegebenheiten. Inwiefern es den Lehrerinnen und Lehrern gelingt, die Teams als Lern-Netzwerke für ihre persönliche und professionelle Weiterentwicklung zu nutzen, wird mit entscheidend dafür sein, welche Antworten sie auf die Herausforderungen einer Lernenden Schule finden, in der Vielfalt anerkannt und zum Gewinn aller genutzt wird.

Stärker als in den Jahren zuvor ist dafür die Schule als Ganzes in den Blick zu nehmen und die Aufmerksamkeit auf Gelingensvariablen in ihren Teilsystemen zu legen. "Mit vereinter Kraft" heißt es also:

  • auf der bildungspolitischen Ebene die schul-, dienst- und personalrechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, so dass Lernen und Lehren in erweiterten Zeitrhythmen stattfindet,

  • auf der Managementebene der Einzelschule an Modellen geteilter Verantwortung und förderlichen Kommunikations- und Kooperationsstrukturen zu arbeiten sowie

  • auf der Ebene der Lehrerinnen und Lehrer ein professionelles Verständnis zu entwickeln, mit dem die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit synergetischer Zusammenarbeit akzeptiert und gemeinsam erfolgreich umgesetzt wird.

Für den zuletzt genannten Aspekt sind Integrationsleistungen der Erwachsenen zu erbringen, die in hohem Maße subjektiv bewusstseinsbildend sind. Eine integrative Bewusstseinsdisposition meint nach meinem Verständnis das Bewusstwerden eigener spannungsreicher Zustände, die Akzeptanz von Verschiedenheit der Kinder in einer Pädagogik der Vielfalt sowie Integrationsleistungen, die ebenso im Team zu erbringen sind.

Es bedeutet für Lehrerinnen und Lehrer eine mit großen Ängsten verbundene Umstellung, nicht mehr mit ihren Kindern allein in der Klasse zu sein, Verantwortung und Zuwendung teilen zu müssen, sich kollegial beobachtet und bewertet zu fühlen und sich der direkten professionellen Auseinandersetzung mit Kolleginnen und Kollegen nicht mehr entziehen zu können. Wenn die Kooperation allerdings durch Rollenfindungs- und Kompetenzklärungsprozesse gelingt, bedeutet dies eine große Qualitätsverbesserung des Unterrichts, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Lehrer. Die Möglichkeit, nicht mehr ständig allein aufpassen zu müssen, Verantwortung zu teilen und Probleme mit einzelnen Kindern oder dem Unterricht insgesamt gemeinsam reflektieren zu können, bietet Entlastung und stärkt die Berufszufriedenheit der Lehrer. Für die Kinder ist es darüber hinaus auch wichtig, konkret wahrzunehmen, wie Erwachsene zusammen arbeiten (Peter HEYER 1998, 216).

8. Systemisches

Schulentwicklung meint zunächst, dass die handelnden Personen bewusst Zeit und Engagement darin investieren, "[...] die neue (Innovation) und die bewährte (Tradition) Praxis miteinander zu konfrontieren und zu verknüpfen" (Olivier MAULINI 2003, 16) und im Sinne der Trias pädagogischer Schulentwicklung Veränderungen hinsichtlich Unterrichtsentwicklung, Personalentwicklung und Organisations-entwicklung umzusetzen:

Abb 2: Felder der Veränderungen im gemeinsamen Unterricht

Die Felder der Veränderung im integrativen Unterricht sind umfassend und komplex. Nach wie vor ist es entscheidend, dass die "Pädagogik der Vielfalt" in der Unterrichtskultur gelebt wird. Ein kennzeichnender Aspekt einer modernen, demokratischen und humanen Gesellschaft ist ihr Umgang mit Menschen mit Behinderungen.

Schulentwicklung bedeutet im Sinne der inklusiven pädagogischen Arbeit optimale Entwicklungsbegleitungen für alle Kinder zu garantieren. Inklusive Schulentwicklung unterstützt die Schule als "lernende Organisation" in ihrem selbständigen Streben nach Entwicklung und Qualität des inklusiven Lebens und Lernens aller Kinder. Dabei werden Kinder und Jugendliche, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer ernst genommen in ihrer Mitverantwortung in der Schulgemeinschaft. Diese gemeinsame Verantwortung wird im Prozess der Schulprogrammentwicklung und bei der Erarbeitung eines pädagogischen Leitbildes wahrgenommen oder auch bei der Beteiligung an der Arbeit der innerschulischen Steuergruppe. Eltern sowie Schülerinnen und Schüler werden bei internen und externen Evaluationen beteiligt. An dieser Stelle sei die Anmerkung erlaubt, dass bereits Grundschulkinder sehr aussagekräftig zur Qualität des Unterrichts sind, den sie täglich erleben.

Was erfolgreich integrativ arbeitende Schulen auszeichnet, ist ein pädagogisches Konzept mit einer tragenden Idee, einer Pädagogik also, die vordenkt und nicht den Entwicklungen hinterherläuft. In diesem Sinne hoffe und wünsche ich, dass es den Lehrerinnen und Lehrern in den allgemeinen Schulen in Zukunft noch besser gelingt, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken und die integrative Pädagogik für einzelne Kinder an ihrer Schule als Chance für eine inklusive Schulentwicklung zu nutzen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

Literatur:

Düring, Katrin: Die Weichen werden am Anfang gestellt. Integrativ-kooperative Schulen als eine Entwicklungsperspektive für mehr sonderpädagogische Kompetenz in allgemeinen Schulen. Berlin : Wissenschaft und Technik, 2002

Feyerer, Ewald: Behindern Behinderte? : Integrativer Unterricht in der Sekundarstufe I. Innsbruck : StudienVerlag, 1998

Heyer, Peter: Die integrationsfähige Grundschule. In: Hildeschmidt, Anne; Schnell, Irmtraud (Hrsg.): Integrationspädagogik : Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim : Juventa, 1998, S. 207-222

Maulini, Olivier: Diffusion - eine grundlegende Voraussetzung von Schulentwicklung. In: journal für schulentwicklung 7 (2003), H. 2, S. 15-24

Meyer, Hilbert: Was ist eine LERNENDE SCHULE? In: Lernende Schule (Supplement) 1 (1998), H. 1, S. 1-24

Rutte, Volker: Zur Situation der schulischen Integration in Österreich. Referat am 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen "Es ist normal, verschieden zu sein", Innsbruck, 6.-8. Juni 1996, http://bidok.uibk.ac.at/ 20.06.06 Roser,Ludwig-Otto: Florenz: Neue Auffassungen der Integrierung Behinderter in Schule und Arbeit. In: Schöler, Jutta (Hrsg.): Normalität für Kinder mit Behinderungen: Integration. Texte und Wirkungen von Ludwig-Otto Roser. Neuwied : Luchterhand, 1998, S. 109-116

Schöler, Jutta: Den Eltern die Normalität ihres Kindes zurückgeben! In: Schöler, Jutta (Hrsg.): Normalität für Kinder mit Behinderungen: Integration : Texte und Wirkungen von Ludwig-Otto Roser. Neuwied : Luchterhand, 1998, S.166-168

Schöler, Jutta: Integrative Schule - Integrativer Unterricht : Ratgeber für Eltern und Lehrer. 2. Aufl. Neuwied : Luchterhand, 1999

Preuss-Lausitz, Ulf: Die offene Gesellschaft und ihre Schule: Zur Zukunftsfähigkeit des Lernens unter Bedingungen von Vielfalt. In: Becker, Gerold; Lenzen, Klaus-Dieter; Stäudel, Lutz; Tillmann, Klaus-Jürgen; Werning, Rolf; Winter, Felix (Hrsg.): Heterogenität : Unterschiede nutzen - Gemeinsamkeiten stärken. Jahresheft XXII. Seelze :Friedrich, 2004, S. 14-17

Quelle:

Katrin Düring: "Die eigenen Möglichkeiten entdecken - integrative Pädagogik und ihre Chancen für Entwicklungen in der allgemeinen Schule"

Vortrag am Institut für Erziehungswissenschaften, in Innsbruck, am 24.04.06

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 21.06.2006

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