Schreckliche Wissenschaft contra Gehörlose

Autor:in - Franz Dotter
Themenbereiche: Vorschulischer Bereich
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: In leicht veränderter Fassung erschienen in: Die Zukunft 7/1996, S. 32-37. Anmerkung:Das Thema ‚Integration von hörgeschädigten Kindern' und ‚Gehörlosenbildung' wird in der Fachwelt sehr gegensätzlich diskutiert. BIDOK hat Texte von Vertretern beider Seiten aufgenommen. Siehe dazu auch René J. Müller.
Copyright: © Franz Dotter 1996

1. Vorbemerkung

Aus der Perspektive zumindest europäischer Standards sind die Gehörlosen eine der letzten Gruppen, deren fundamentale Interessen von unserer Gesellschaft nicht berücksichtigt werden. Die bisher nicht erfolgte Anerkennung ihrer optisch kodierten Sprachen, der Gebärdensprachen, ist als Verweigerung eines Menschenrechts zu sehen. Das besondere an der Situation der Gehörlosen ist, daß hier nicht wenige Wissenschaftler als Personen, z.T. sogar Segmente von Wissenschaftsbereichen wie Pädagogik oder Psychologie als Begründer und Vertreter dieser Menschenrechtsverweigerung auftreten. Diese Einmaligkeit veranlaßt mich als Sprachwissenschaftler, mit meinem Beitrag an die Soziologen heranzutreten.

Die gegen Gehörlose und schwer Hörbehinderte gerichteten Herrschafts- und Organisationsformen, aber auch bloße Kommunikationsbarrieren führen dazu, daß heute viele Hörende und von Hörenden beherrschte Institutionen die Anliegen der Gehörlosen entweder nicht verstehen oder sie bewußt nicht erfüllen. Die Verweigerung eines optischen Sprachsystems (auch wenn es bloß alternativ zu bestehenden in einem bilingualen Ansatz angeboten werden soll) durch viele Erziehungsbehörden und andere Institutionen (hierher müssen auch negative Empfehlungen nicht weniger Ärzte, Psychologen oder Pädagogen gerechnet werden) stellt sich dann als eigentliche Quelle der angeblichen "Sprachbehinderung" der Gehörlosen dar. Sie ist eine Bevormundung Gehörloser durch Hörende, die die Betroffenen stärker behindert als die Behinderung selbst. Besondere Dramatik ergibt sich in der häufigsten Konstellation: ein gehörloses Kind in einer hörenden Familie und Umgebung. Für die heute als politisches Programm eingeführte Integration Behinderter ergeben sich spezielle Anforderungen bezüglich der Integration Gehörloser.

Es ist nicht Ziel der Darstellung, die Diskurse bzw. Konflikte zwischen verschiedenen Lösungsansätzen in der Gehörlosenbildung zu analysieren. Es soll lediglich auf die erwähnte Einmaligkeit des Eintretens von Wissenschaftlern (ich typisiere sie als 'Oralisten') gegen die - aus meiner Sicht auf der heutzutage mehrheitlich anerkannten moralisch-ethischen Basis wissenschaftlich nachweisbaren - Interessen einer Bevölkerungsgruppe hingewiesen werden.

2. Umschreibung von Gehörlosigkeit

Als gehörlos wird ein Mensch bezeichnet, dessen Hörfähigkeiten nicht ausreichen, um die gesprochene Sprache (Lautsprache) selbständig über das Ohr (den akustischen Kanal) aufzunehmen und damit zu erlernen. Mit dieser Umschreibung werden diejenigen Personen hervorgehoben, die vor jeder einsetzenden Sprachentwicklung schon eine entsprechende Hörschädigung aufweisen (also 'prälingual ertaubt' sind, d.h. spätestens im ersten bzw. zweiten Lebensjahr).

Für Menschen, die im Lauf ihres Lebens zu einer Zeit ihr Gehör verlieren, in der zumindest wichtige Phasen der Sprachentwicklung abgeschlossen sind, oder auch im Alter, ist dieser Verlust zwar ebenfalls sehr einschneidend, die Förderung kann aber bei diesen 'postlingual Ertaubten' auf einer ganz anderen Basis (nämlich einem bestehenden Sprachverständnis) erfolgen als bei den prälingual Ertaubten.

Medizinisch-technisch läßt sich eine Hörschädigung zwar messen, nicht in allen Fällen (vor allem im Übergangsbereich zwischen hochgradiger Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit) aber eindeutig sagen, ob diese Schädigung eine Gehörlosigkeit im oben beschriebenen Sinn darstellt. Das führt zu einer besonderen Problematik von Diagnose und Frühförderung (vgl. Dotter/Holzinger, Ms.).

3. Gehörlosigkeit, Sprache und Kultur

Es kann gezeigt werden, daß Gebärdensprachen Sprachcharakter besitzen und ein für Gehörlose geeignetes Kommunikationsmittel sind (vgl. Dotter 1991). Als Ergebnis der Forschung ist zu betrachten: Gehörlose, welche dominant lautsprachlich erzogen werden, erreichen mit ihren Leistungen im Durchschnitt bei weitem nicht den Durchschnitt der hörenden Kinder (vgl. Gelter 1987). Ihnen stehen nach Durchlaufen der Bildungseinrichtungen sehr wenige Berufe offen; höhere Bildung wie Matura oder gar Studium ist von ihnen im Vergleich zum Schnitt der Gesamtbevölkerung praktisch nicht erreichbar (vgl. Kölblinger 1993).

Das Bildungsziel für Gehörlose und schwer Hörbehinderte ist aus meiner Sicht: Sie sollen in die Lage versetzt werden, ihre eigene Identität vollständig zu entwickeln. Zu dieser Identität gehört wesentlich, daß sie selbst entscheiden können, in welcher 'Teilkultur' sie primär bzw. zu welchem Ausmaß leben wollen, derjenigen der Gehörlosen oder derjenigen der Hörenden. Dafür hätte eine entsprechende Elternbildung einzusetzen. Dies ergäbe auch einschneidende Folgen für die pädagogischen Konzeptionen von Kindergarten und Schule für Gehörlose: Optische Systeme wie die Gebärdensprache würden das Hauptkommunikationsmittel in einem Zweig der Gehörlosenbildung, der als explizite Alternative zu jetzt bestehenden Bildungscurricula zumindest z.T. neu errichtet werden müßte. Daraus folgte wieder ein Bedarf an 'muttersprachlichen Sprechern' der Gebärdensprache, also Gehörlosen als Bediensteten in den Bildungsinstitutionen. Daß es hier um eine schwerwiegende Entscheidung geht, welche zusätzliche Qualifikationen der bisher im Gehörlosenbereich Beschäftigten bzw. Teamarbeit mit Gehörlosen erfordert, erklärt meines Erachtens den teilweise enormen Widerstand gegen entsprechende Projekte.

4. Die psychosoziale Dimension der Gehörlosigkeit

Wer nicht sprechen kann, oder - noch schlimmer - unartikulierte "tierische Laute" von sich gibt, kann doch geistig nicht in Ordnung sein. Vielleicht ist er/sie gar kein vollwertiger Mensch oder wenn, dann ein schwerstbehinderter. Wir Hörende können uns bei solchen Urteilen auf unsere stammesgeschichtlichen Traditionen berufen, weil Sprachlosigkeit oder schlecht artikulierte, großteils unverständliche Sprache eines Vertreters ihrer Spezies in unseren Urahnen wahrscheinlich große Ängste ausgelöst hat. Der (Kultur-) Schock, den manche erleben, wenn sie mit Gehörlosen zusammentreffen, erklärt auch die Wünsche und Verdrängungen vieler hörender Eltern, wenn sie ein gehörloses Kind haben: Sie möchten unter allen Umständen ein normales, d.h. sprechendes Kind.

Das Menschenbild der Oralisten retardiert in seiner Verklemmung zu den 'natürlichen' stammesgeschichtlichen Schutzfunktionen. Es rationalisiert die Überlegenheit der Hörenden und die Unterlegenheit der Gehörlosen: Hörende sind 'fertige Menschen', zu denen sich Gehörlose "hingezogen fühlen sollen" weil:

  • "Ein intimes Gespräch eines Gehörlosen mit einem verstehenden, kulturell hochstehenden Hörenden ist ein Genuß für einen Gehörlosen." bzw.

  • "Ob nun ein gehörloses Kind oder ein gehörloser Erwachsener Gelegenheit bekommt, ein entspannendes Gespräch mit einem Hörenden zu führen, hängt ganz davon ab, ob er gut sprechen kann, ob er genügend entwickelt ist (einschließlich des lautsprachlichen Vokabulars), vor allem aber, ob er anderen gegenüber offen ist und nicht zu egozentrisch."

Alle diese Zitate stammen aus van Uden 1980 (S. 241f). Dieser ist deswegen als Phänomen hervorzuheben, weil er vieles von dem schreibt, was andere Oralisten in beweisbarer Form nicht (mehr) so offen äußern.

Wie das Menschenbild ist auch das Sozialisationskonzept oft nur implizit (oder durch Wunschszenarien der Oralisten) nachweisbar. Scharf formuliert lautet es: Die Hörenden haben paternalistisch durch eine (nun als Integration getarnte) Assimilation der Gehörlosen an die Lautsprachgemeinschaft für die Rettung dieser (zur Gebärdensprache so leicht) Verführbaren zu sorgen. Das Verständnis für die so Umsorgten endet aber dort, wo sie die Vorgaben der Hörenden nicht erfüllen oder gar eigene, von den bevormundend autoritär vorgegebenen abweichende Interessen zeigen. Dann müssen sie entweder selbst sehen, wo sie bleiben (ich assoziiere: bekanntlich erhalten ja auch nur 'brave Neger' die Unterstützung der 'weißen Väter') oder werden zum Dauerbetreuungsfall (und erfüllen so geheime Wünsche eines Elterntyps, der in Wahrheit die Kinder nicht erwachsen werden sehen will).

Unter diesen Vorgaben sind Machtverhältnisse und Rollenverteilungen zum Teil prognostizierbar: Die GehörlosenlehrerInnen arbeiten in einem extremen Zwiespalt: sie haben einerseits die oralistischen Vorgaben zu erfüllen (über diese verfügen ja auch nur sie über das 'wahre' Kommunikationsmittel Lautsprache), andererseits erkennen sie die Bedürfnisse der Kinder für die sie da sein sollen (zur Diagnose betreffend Anpassung und Abwehr, von Phantasien, Projektionen und Mythenbildung dieser Berufsgruppe vgl. Migsch 1987). Die Eltern werden über ihre verständlichen Wünsche nach einem 'normalen' Kind und die von den Oralisten in Aussicht gestellte Möglichkeit der vollständigen Integration so manipuliert, daß sie ohne übergroße eigene Bemühungen um Information keine Wahl haben. Sollten engagierte Eltern 'unpassende' Meinungen zeigen, haben sie von den von Oralisten beherrschten Institutionen keine Hilfe mehr zu erwarten.

Die Machtausübung der Oralisten erfolgt innerhalb von Netzwerken in den führenden Gehörlosenbildungseinrichtungen (etwa den pädaudiologischen Beratungsstellen) inklusive der übergeordneten Stellen und bei vorgeordneten Institutionen (Kliniken, medizinische Versorgung), sodaß Maßnahmen gegen andere Ansätze relativ leicht fallen.

Das Scheitern der oralen Gehörlosenbildung wird ausschließlich individuell gesehen und aus dem Ungenügen entweder der LehrerInnen, der Eltern oder der Ungeeignetheit des einzelnen Kindes selbst erklärt. Damit wird die Methode geschützt und individuelle Schuld vor allem bei Untergeordneten und Betroffenen erzeugt. Oftmals wird das Wissen um die unvollständige Kompensationskraft der oralen Methode in euphemistischen Sätzen zusammengefaßt, wie 'Wenn der Rückstand des gehörlosen Kindes auch nicht ganz aufgehoben werden kann, so ist er prinzipiell doch zumindest weitgehend aufholbar'. Dabei werden Einzelfälle von vertretbaren Ergebnissen als angebliche Stellvertreter für den Durchschnitt vorgezeigt. Wo überhaupt eine Gesamtanalyse erfolgt, zeigt sie katastrophale Ergebnisse (vgl. Gelter 1987).

5. Fallen, Vorurteile und Kampfbegriffe

Hier sind verschiedene Strategien bzw. Konzeptionen festzustellen. Exemplarisch seien genannt:

Tilgung der Spezifität des Gehörlosenproblems durch wissenschaftliche Abstraktion:

Oftmals werden Gehörlose und Blinde als "Sinnesbehinderte" in einer Gruppe zusammengefaßt. Das ist eine sehr gefährliche Praxis: Denn die Blinden haben mit dem Erlernen der Lautsprache überhaupt keine Probleme und für die Schriftsprache gibt es mit der Brailleschrift ein bewährtes Umsetzungsinstrument. Die Gehörlosen (und damit sind immer auch Teile der schwer Hörbehinderten mitgemeint) können die Lautsprache aber nicht eigenständig erlernen, schlicht weil sie sie nicht (ausreichend) hören und das Lippenlesen nur ein unvollständiger (stark kontextabhängiger) Ersatz bleibt.

Die unangemessene Extension eines Begriffs wird über einen an sich gültigen Satz quasi zur Wahrheit manipuliert: "Die Sprache ist ein Kennzeichen des Menschen". Wenn hier "Sprache" mit "Lautsprache" gleichgesetzt wird, können die gebärdensprachliche Identität aufweisenden Gehörlosen tatsächlich - quasi forschungslogisch - als Nicht- oder Untermenschen bezeichnet werden. Wenn wir unter Sprache auch optische Systeme wie die verschiedenen Gebärdensprachen der Welt verstehen, besteht diese Möglichkeit nicht mehr. Dann besitzen die Gehörlosen ja eine Sprache, nur eben in einem anderen Übertragungskanal, dem optischen.

Ebenfalls mit einer Einschränkung, diesmal aber der Begriffsintension wird im Fall der Gruppe der Gehörlosen selbst gearbeitet: Indem man die richtige Behauptung, fast alle Hörbehinderten, also auch die sogenannten Gehörlosen, besäßen Hörreste, mit der Illusion verbindet, daß Hörrest identisch mit Lautsprachperzeptionsfähigkeit sei, soll die Gruppe der 'echt Gehörlosen' minimiert werden, sowohl was ihr politisches Gewicht als auch was eventuell für sie notwendige Maßnahmen betrifft. Diese Strategie wird noch verstärkt durch eine undifferenzierte Forderung nach weiterer Verbesserung der Hörhilfen, die von der oben angesprochenen Gleichsetzung ausgeht. Ähnliches gilt für die ziemlich weitgehende Ersetzung von 'gehörlos' durch das abstraktere, extensionsverschiedene 'hörbehindert'. Damit wird einerseits die Verwendung des Terminus 'gehörlos' minimiert, andererseits der Eindruck erweckt, als hätten alle 'Hörbehinderten' dieselben Probleme. Die bekämpfte Teilgruppe wird damit gleich doppelt diskriminiert.

Die Umdeutung von Begriffen findet z.B. im Fall von 'Integration' ('in die hörende Welt') statt: Es handelt sich eigentlich um die Ausübung einer pädagogisch verbrämten strukturellen Gewalt zum Zweck der Assimilation. Dies ging noch bei van Uden (1980, 247f) soweit, daß er darauf hinarbeitete, daß Ehen vorzugsweise zwischen einer gehörlosen und einer hörenden Person geschlossen würden (eine interessante Umkehr der Rassenschande bzw. eine Anwendung von 'Arisierbarkeit') und im gegenteiligen Fall das Junggesellendasein vorsieht. Aber auch bei den von Hörenden gewollten 'Mischehen' sollte auf Kinder eher verzichtet werden. Dies wurde bis in die "religiöse Nachbetreuung" hineingetragen (van Uden berichtet übrigens auch vom Erfolg seiner Bemühungen). Es wird klarerweise negativ bewertet, Gehörlosenklubs zu empfehlen oder zu unterstützen. Das entsprechende zugrundeliegende Konzept lautet wohl: Nur in der Isolierung werden sich die Behinderten ihrer Rechte nicht bewußt.

Quasi als materielles Kampfmittel wird das Cochlearimplantat (CI) verwendet. Ein CI arbeitet mit folgender Technik: Ein akustischer körperexterner Prozessor verarbeitet Signale und leitet sie an ein in das Innenohr implantiertes Gerät weiter. Das Innenohr und der Hörnerv (der also arbeitsfähig sein muß) werden dabei mittels elektrischer Impulse in einer Weise angeregt, die der normalen Ohrfunktion zwar recht grob, aber in gewisser Weise nahekommt, jedoch für die Betroffenen gewöhnungsbedürftig ist. Die Erfolge des CI sind bei postlingual Ertaubten besser als bei prälingual Ertaubten. Im Schnitt wird mit einem CI ausgehend von einer praktisch vollständigen Gehörlosigkeit eine mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit erreicht.

Ein CI wird im positiven Normalfall eine erhebliche Verbesserung der akustischen Aufnahmefähigkeit bedeuten. Ob diese für eine normale Sprachentwicklung ausschließlich auf Basis der Lautsprache ausreicht, kann aber nicht garantiert werden. Auf jeden Fall bleibt ein hoher Förderaufwand bestehen. Nun wird aber das CI - speziell im deutschen Sprachraum - nicht als das betrachtet, was es ist, nämlich als sinnvolle technische Hilfe. Vielmehr ergeben sich aus Sicht der Oralisten daraus neuerliche und sehr gewichtige Gründe, auf die Gebärdensprache zu verzichten: Erstens würde durch den 'flächendeckenden' Einsatz des CI die Gruppe der 'wirklich' Gehörlosen drastisch eingeschränkt; zweitens könne man in der Zeit zwischen Hörschadenerfassung und Implantation leicht auf andere Kommunikationsmittel als die Sprache verzichten.

6. Politische Dimensionen der Gehörlosigkeit

Für alle oben genannten Fallen, Vorurteile u.ä. gilt: Man kann sie naiv reproduzieren bzw. in sie hineingeraten, oder man kann sie bewußt als Strategien und Kampfmittel einsetzen. Es ist daher bezüglich individueller Verwendungen solcher Äußerungen nicht immer entscheidbar, auf welche Weise sie zustandegekommen sind.

Bei (wissenschafts)politischen 'Kampfgruppen' ist dies aber sehr wohl der Fall. Als Beipiele seien Breiner und der Hohenemser Kreis genannt. Letzterer hat eine Anfrage im Deutschen Bundestag (1993) dazu verwendet, um seine oralistische Sicht der Dinge gleichsam durch die Tatsache der parlamentarischen Behandlung auch bezüglich ihrer 'Wahrheit' anerkennen zu lassen. Hier erkennen wir in der Selbstbezeichnung "die Gehörlosenpädagogik" für die Oralisten den Vertretungsanspruch dieser Gruppe und gleichzeitig eine Apotheose der oralistischen Gehörlosenbildung (z.B. S. 18).

Die hörenden Gegner derjenigen Gehörlosen, die ihre Identität in der Gebärdensprachgemeinschaft sehen, haben hier ihre Kenntnis der Hörendenkultur und die Defizite der Gehörlosen dazu benutzt, um gegen die betroffene Gruppe Politik zu machen. Die Oralisten nützen bei diesen Strategien auch die (von ihnen und ihren Vorgängern) verbreitete Desinformation über Gehörlosigkeit und Gebärdensprache: praktisch alle zuständigen Referenten sind mit der Frage überfordert (soweit sie nicht selbst Oralisten sind) und halten sich an meistens oralistisch orientierte Spezialisten. Gleichzeitig werden anderslautende Informationen ausgefiltert, bevor sie verantwortliche Politiker erreichen. Vielfach werden die Gehörlosen auch mit dem Hinweis 'zuviel Aufwand für eine zu kleine Betroffenengruppe' ignoriert.

Die Abwertung der (gebärdensprachorientierten, also der 'bösen') Gehörlosen erfolgt über die soziale Stigmatisierung der Gebärdensprache durch bewußt manipulierend eingesetzte Beschreibungen ("dehumanisierend kleines Vokabular" bei van Uden oder Nichtexistenz einer Normierung für die Deutsche Gebärdensprache beim Hohenemser Kreis) bzw. der ('bösen', s.o.) Gehörlosen selbst, denen ein kulturell niedriges Niveau zugeschrieben wird.

Dabei wird die Fragwürdigkeit oder Unhaltbarkeit der von den Oralisten vertretenen Hypothesen dadurch verschleiert, daß sie Begriffe der modernen Pädagogik in ihre Thesen integrieren bzw. in anderen Fällen echte Verbesserungen ihres Ansatzes durchführen. So hat van Uden durch Verwendung natürlicher Kommunikationssituationen und die Bindung von Kommunikation an alltägliche Abläufe den Erfolg gegenüber reinem Lautsprachdrill erheblich erhöhen können. Jussen ist ein Beispiel für die Vortäuschung von Standards der modernen Pädagogik über Einführung entsprechender Begriffe (etwa "sensomotorische Frühförderung") und Berufung auf 'Größen' der Pädagogik und Psychologie (Luria, Piaget, Watzlawick), sowie für eine neu entwickelte Begrifflichkeit, welche die Inhalte der oralistischen Praxis aber eher verschleiert ("muttersprachlich reflektierter Lautsprachunterricht" für Hörbehinderte).

7. Zusammenfassung

In der militanten Ablehnung der Gebärdensprache zeigen sich Reste eines Sprachgebrauchs, der als paternalistisch und autoritär, ja sogar kolonialistisch und rassistisch gegenüber den Gehörlosen zu klassifizieren ist. Geradezu paradox ist, daß die Oralisten die schlechten Ergebnisse ihrer Gehörlosenbildung zwar zumindest zum Teil selbst erwähnen, sie aber dann uminterpretieren im Sinn einer Verdrängung des Methodeneinflusses auf die Erfolge und den oben genannten Ursachen bei LehrerInnen, Gehörlosen oder deren Eltern zuschreiben. Gerade der umfassend argumentierende van Uden erreicht mit seinen vielen ausgesprochenen 'Wahrheiten' wahrscheinlich eine hohe Attraktivität. Da so viele 'richtige' Fakten erscheinen, wird von vielen Lesern auch den mit diesen Fakten gekoppelten Ressentiments und Vorurteilen dieselbe Richtigkeit zugestanden.

Weder die Ausgrenzung der unbotmäßigen gebärdensprachorientierten Gehörlosen (als menschlich-politische Unzulänglichkeit des Oralismus) noch die Defizite bei den unterworfenen Gehörlosen (als Auswirkungen der unzulänglichen Methode) berühren den Wert des Oralismus wirklich. Denn es geht ja um ein 'höheres Ziel', die Vermenschlichung von 'Unwesen'.

Aus Gründen der Kürze mußte die eingesetzte Typisierung so scharf sein. In der Praxis der Gehörlosenbildung zeigt sich, daß die oralistischen Prinzipien in kaum einer Institution wirklich aufrechterhalten werden können, weil sonst die Kommunikation zwischen Frühförderern, Kindergärtnerinnen, LehrerInnen und Gehörlosen zusammenbräche. Die Oralisten haben also recht, wenn sie zu ihrer Verteidigung vorbringen, 'man wäre doch sowieso flexibel und setze "die Gebärde" (bewußt ohne "-sprache") doch überall dort ein, wo man sonst nicht mehr weiterkönne'. Dieses Vorgehen führt aber bei Aufrechterhaltung der oralistischen Theorien und der unsystematischen Verwendung optischer Kommunikationsmittel dazu, daß sich bei vielen betroffenen Kindern nun wirklich keinerlei optisches (und oft auch kein akustisches) Sprachsystem entwickeln kann.

Ich sehe den Bereich der Gehörlosenbildung als einen, in dem weder eine der Zeit des Nationalsozialismus gewidmete Vergangenheitsbewältigung stattgefunden hat, noch eine umfassendere, welche jahrhundertelang tradierte Konzeptualisierungen von Hörenden gegenüber Gehörlosen aufarbeiten müßte.

8. Literatur

Breiner, H.L.: Information zur Arbeitsgemeinschaft Lautsprache und Integration für Gehörlose und Schwerhörige. Frankenthal o.J.

Dotter, F.: Gebärdensprache in der Gehörlosenbildung: Zu den Argumenten und Einstellungen ihrer Gegner.-In: Das Zeichen 5 (1991), S. 321-332 und in: Der Sprachheilpädagoge 23 (1991), Heft 3, S. 27-50

Dotter, F./Holzinger, D.: Vorschlag zur Frühförderung gehörloser und schwer hörbehinderter Kinder in Österreich. Ms. Klagenfurt 1994

Gelter, I.: Wortschatz und Lesefähigkeit gehörloser Schüler.-In: Der Sprachheilpädagoge 3 (1987), 37-42

Hohenemser Kreis (Hrsg.): Stellungnahme zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. Antje-Marie Steen u.a. -Drucksache 12/6180- zum Thema: Kommunikationsmittel, Gebärdensprache und Lautsprache bei von Hörbeeinträchtigungen Betroffenen. Essen o.J.

Kölblinger, M.: Hörbehinderte Frauen. Die Lebenssituation und die sozialen Beziehungen von schwerhörenden und ertaubten Frauen. Diss. Linz 1993

Migsch, G.: Die Verstummung des Widerspruchs. Ein qualitativer Beitrag zur beruflichen Sozialisation von Gehörlosenlehrern. Diss. Salzburg 1987

Van Uden, A.: Das gehörlose Kind. Heidelberg 1980 (Klagenfurt, 10. 3. 1996)

Quelle:

Franz Dotter: Schreckliche Wissenschaft contra Gehörlose

In leicht veränderter Fassung erschienen in: Die Zukunft 7/1996, S. 32-37

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 30.11.2005

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