Auf dem Weg zur inklusiven Region?

Einflussfaktoren und Entwicklungsphasen am Beispiel Reutte/Außerfern

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Feyerer, Ewald/ Langner Anke (Hrsg.) (2014): Umgang mit Vielfalt. Lehrbuch für Inklusive Bildung. Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule OÖ, Band 3. Linz: Trauner, Verlag. S. 242-273.
Copyright: © Andrea Dlugosch, Anke Langner 2014

Vorwort

„… dieses Inseldasein, das ist nicht toll, das ist nicht toll eine inklusive Region zu sein auf einer bestimmten Ebene. Weil natürlich stark beobachtet. Oder weil immer dieses Auseinanderklaffen zwischen dem was tatsächlich passiert und dem was wir vertreten“[1].

Im folgenden Beitrag wird nach der Darstellung der bisherigen österreichischen Adaption und Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein spezifischer Blick auf die Entwicklungen von Inklusiven (Modell-) Regionen gerichtet. Im Anschluss werden am Beispiel des Bezirkes Reutte/Tirol (vgl. Langner 2011) spezifische Einflussfaktoren und Entwicklungsphasen zu rekonstruieren versucht, die die Mehrebenenkonstellation (vgl. Dlugosch 2013) im Kontext von Integration und Inklusion vor Ort näher charakterisieren können.



[1] Leiter des Sonderpädagogischen Beratungszentrums - im Folgenden kurz: SBZ.

1 Auf dem Weg zur Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen[2]

Das Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Original: Convention on the Rights of Persons with Disabilities and Optional Protocol; United Nations 2006) ist auf der Ebene der Menschenrechte angesiedelt und stellt ein supranationales Abkommen dar, dem sich Einzelstaaten verpflichten (können). Von da ab liegt es dann im Aktionsradius (hier) der Republik Österreich, dieser Verpflichtung nachzukommen. Diese Verpflichtung wird durch den Akt der Ratifizierung dokumentiert. Das Übereinkommen enthält Regelungen zur Durchführung und Überwachung (Monitoring) auf der internationalen und nationalen Ebene (vgl. Art. 34 und Art. 35). In turnusmäßigen Abständen wird der jeweilige Stand der Entwicklungen in den Vertragsstaaten durch Berichtsfassungen und Stellungnahmen von der UN geprüft und ggf. durch allgemeine Vorschläge oder Empfehlungen kommentiert. „Sanktionen, die die Vertragsstaaten zur Durchsetzung der Verpflichtung zwingen könnten, sieht das Berichtswesen nicht vor. Der internationale Menschenrechtsschutz ist darauf angewiesen, dass sich die Vertragsstaaten an ihre völkerrechtlichen Selbstverpflichtungen halten und mit der Staatengemeinschaft zusammenarbeiten. Es geht dabei auch um Glaubwürdigkeit, Wahrung des Ansehens und Übernahme von Vorbildfunktionen. Anders als auf europäischer Ebene mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gibt es eine solche Institution zur Durchsetzung der Menschenrechte auf internationaler Ebene nicht“ (Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz Hamburg 2010, S. 17). Im zum Übereinkommen gehörenden Fakultativprotokoll, das unterzeichnet werden kann, aber nicht muss, werden Ergänzungen zum Monitoring vorgenommen, die sich auf Einzelprüfverfahren beziehen (vgl. ebd., S. 18ff).

Das Abkommen auf überstaatlicher Ebene wird auf Grund unterschiedlicher landesspezifischer Bedingungskonstellationen, z.B. unterschiedliche Traditionen und Verfahrensweisen, von den unterzeichneten Staaten in je eigentümlicher Weise adaptiert. Dies wird im Folgenden für die Republik Österreich ausgeführt.

Auf der nationalen Ebene Österreichs stellt der Nationale Aktionsplan (kurz NAP, Bundeministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz [bmask] 2012) Faktoren vor, die die Strategie der österreichischen Bunderegierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, so der Untertitel des NAP, im Zeitraum von 2012 – 2020 umreißen. Die acht Kapitelüberschriften können hiernach zunächst als politisch wichtig erachtete Stellschrauben im Prozess der Umsetzung der Konvention gesehen werden: Behindertenpolitik, Diskriminierungsschutz; Barrierefreiheit, Bildung, Beschäftigung, Selbstbestimmtes Leben, Gesundheit und Rehabilitation, Bewusstseinsbildung und Rehabilitation (vgl. Inhaltsverzeichnis ebd.). Im Folgenden wird der Schwerpunkt auf bildungsrelevante, insbesondere das Schulsystem betreffende Aspekte gelegt.

In Österreich herrschte zunächst die Einschätzung vor, dass mit der Ratifizierung der Konvention im Jahr 2008 kein erheblicher Einfluss auf das Bildungssystem verbunden sein würde. Dies wurde damit in Zusammenhang gebracht, dass Österreich, z.B. im Vergleich zu Deutschland, im Gesamtdurchschnitt einen hohen Anteil einer gemeinsamen Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht (GU) vorweisen kann. Dass dies in den einzelnen Bundesländern, und auch regional, sehr unterschiedlich ist bzw. sein kann, bleibt durch den Gesamtdurchschnitt unterbelichtet (vgl. Feyerer 2013, S. 40f). Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, dass mit der Umsetzung UN-Konvention sehr wohl Veränderungen verbunden sind, wenn es nicht nur mit einer Umwidmung der Überschrift getan sein soll. Der Perspektivenwechsel für das Bildungssystem (zum Teil auch als Paradigmenwechsel bezeichnet, vgl. Dorrance & Dannenbeck 2013), liegt darin, dass sich nicht die Kinder bzw. die Jugendlichen unter möglichen Bedingungen von Marginalisierung, handicaps oder anderen Barrieren des Lernens dem Unterrichts- oder Schulsystem anzupassen hätten, sondern dass sich die schulischen Bedingungen an dem Lernprozess des jeweils Einzelnen und seinen Entwicklungsmöglichkeiten orientieren. Dies führt in der Folge zu Änderungen der Systembedingungen, um ein besseres Passungsverhältnis zwischen Schülerinnen bzw. Schülern und Lerngegenständen herstellen zu können. Neben der individuellen Ausrichtung bleibt als zweites Moment die Zugehörigkeit zum und bestmögliche Teilhabe am gemeinsamen Lernen konstitutiv.

Im NAP wird die Ausrichtung für den Bildungsbereich wie folgt beschrieben:

„Die UN-Behindertenrechtskonvention verankert in Art. 24 das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen und verpflichtet die Staaten, angemessene Vorkehrungen in diesem Bereich zu treffen. Ziel des Bildungssystems soll insbesondere sein, Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen und ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen“ (bmask 2012, S. 51).

Nachfolgend werden am Lebenslauf orientiert für Bildungsinstitutionen (im vorschulischen Bereich, im schulischen Bereich, im Bereich der Fachhochschulen und Universitäten und in den Bereichen der Erwachsenenbildung und des lebenslangen Lernens) Ziele, Indikatoren und Maßnahmen formuliert, die das Programm der Umsetzung konkretisieren sollen (vgl. ebd., S. 51ff). Als Indikator zur Zielerreichung gibt der NAP die „Integrationsquote an österreichischen Schulen“ vor (ebd., S. 54). Als Maßnahmen werden die folgenden Aspekte genannt:

Nr.

Inhalt

Zeit

Zuständigkeit

124

Partizipative Strategieentwicklung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zur Realisierung eines inklusiven Schulsystems

2012/13

BMUKK

125

Entwicklung von Inklusiven Modellregionen. Erfahrungssammlung und darauf aufbauend Erstellung eines detaillierten Entwicklungskonzeptes sowie Ausbau der inklusiven Regionen bis 2020

2012-2020

BMUKK, Länder und Gemeinden

126

Vermehrte Schulversuche in der Sekundarstufe II

2012-2020

BMUKK

127

Erhöhung der Anzahl von Integrationsklassen in der AHS-Unterstufe österreichweit

2012-2020

BMUKK

128

Fortbildungsangebote für Lehrerinnen, Lehrer sowie Schulaufsicht (Bezirksschulinspektoren) für Diagnoseverfahren zur Erstellung eines SPF sowie zur professionellen Beratung von Eltern und Erziehungsberechtigten

2012-2020

BMUKK

129

Weiterentwicklung der Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern (inklusive Bildung, Sonderpädagogik)

2012/13

BMUKK

130

Inklusive Pädagogik als Teil der zukünftigen Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer an Pädagogischen Hochschulen und für Studierende der Lehrämter an Allgemeinbildenden und Berufsbildenden Höheren Schulen

2012-2020

BMUKK, Universitäten, Träger der Pädagogischen Hochschulen

131

Bundesweite Aus- und Fortbildung in Österreichischer Gebärdensprache

2012-2020

BMUKK, Universitäten

132

Teilnahme von Integrationsklassen am media literacy award

2012-2020

BMUKK

133

Bewusstseinsbildung durch Projekt „Gemeinsam sind wir Klasse“ – Darstellung der Inklusion durch Betroffene – im Parlament

2012-2020

BMUKK

134

Weiterentwicklung von barrierefreien Bildungsangeboten

2014

BMUKK

135

Abstimmung der von Pädagogischen Hochschulen autonom erstellten Curricula im Hinblick auf inklusive Bildung

2012-2020

BMUKK

Tabellen aus dem Nationalen Aktionsplan, bmask 2012, S.54f.

Die Vorgaben des NAP werden auf Grund der Bildungshoheiten der Länder unterschiedlich ausbuchstabiert. Auf Grund der föderalistischen Struktur hängt es daher mit von den Eigengesetzlichkeiten der Bundesländer ab, in welcher Form die Vorgaben des NAP als Gestaltungsrahmen für innovative Entwicklungen genutzt werden und/oder Bestehendes zu bestätigen versuchen. Es ist davon auszugehen, dass vergleichbar mit den in den Ländern vorzufindenden unterschiedlichen Segregations- bzw. Integrationsquoten (vgl. Feyerer 2009, Tabelle 2), auch die Adaption des NAP auf unterschiedliche Weise erfolgt/erfolgen wird. Wie noch gezeigt werden wird, muss die Bezugseinheit des Bundeslandes durch weitere Systemebenen ergänzt werden, damit den unterschiedlichen lokalen, regionalen und kommunalen Konstellationen der Prozesse um eine integrative bzw. inklusive Ausrichtung entsprochen werden kann.



[2] Das Konzept der Weg-Metapher wird im Kontext der Inklusion vielfach genutzt, beispielhaft sei hier auf den Titel von Altrichter & Feyerer (2011) verwiesen.

2 Inklusive Regionen - ein weiterer Schritt zur Umsetzung?

Als eine der Maßnahmen, die für das Schulsystem den Blick über den eigenen Tellerrand erfordert (vgl. Dorrance & Dannenbeck 2013, S.10), ist im NAP unter der Nr. 125 die Entwicklung von „Inklusiven Modellregionen“ vorgesehen, die in einer gemeinsamen Zuständigkeit des bm:ukk, der Länder und Gemeinden stehen soll (bmask 2012, S. 54). Die daraus resultierenden Erfahrungen sollen infolge in ein detailliertes Entwicklungskonzept münden, das einen flächendeckenden Ausbau der Inklusiven Regionen bis 2020 gewährleistet. In der Vorbemerkung von Rüdiger Teutsch (bm:ukk) zu dem „3. Arbeitspapier zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungssystem: Inklusive Regionen“, verfasst von Barbara Gasteiger-Klicpera und David Wohlhart (2012)[3], gilt das „Szenario der ‚Inklusiven Region‘“ sogar als „Ausgangspunkt für die flächendeckende Weiterentwicklung des inklusiven Schulsystems in Österreich“ (ebd., S.1). Der Nationale Aktionsplan bleibt im Hinblick auf den Auf- und Ausbau von Inklusiven Regionen in den Formulierungen jedoch eher vage. Nach Feyerer wurde damit „ein Ausweg gefunden, der einerseits eine Schließung von Sonderschulen nicht explizit verlangt, andererseits aber eine solche durchaus zulässt“ (Feyerer 2013, S. 43).

Gasteiger-Klicpera & Wohlhart (2012) legen eine Konturierung einer Inklusiven Region und damit verbundenen Erfordernisse im 3. Arbeitspapier vor:

„Eine Inklusive Region ist eine Region, die das Ziel verfolgt, in ihrem Einflussbereich den Artikel ‘24. Bildung’ der UN-Behindertenrechtskonvention vollständig umzusetzen. Im Zentrum steht das Anliegen, in einem definierten Zeitraum die Qualität der Bildungseinrichtungen in der Region hinsichtlich inklusiver Bildung so anzuheben, dass Sondereinrichtungen wie Sonderschulen oder Sonderkindergärten geöffnet oder nicht mehr gebraucht werden. Der Begriff ‘Region’ lässt deren geografische Ausdehnung zunächst offen. Eine inklusive Region umfasst im Allgemeinen einige Schulbezirke. Einige österreichische Bundesländer haben bereits (Bildungs-)Regionen dieser Größenordnung eingerichtet oder planen dies. Wenn bereits Bildungsregionen eingerichtet sind, empfiehlt es sich, diese zu inklusiven Regionen auszubauen. Die über die Bezirksgrenzen hinausgehende Erstreckung ist darin begründet, dass in diesen Regionen die wichtigsten professionellen Kompetenzen für die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems und für die individuelle Förderung vertreten sein sollen. Die Definition der regionalen Ausdehnung obliegt den Bundesländern, wobei darauf zu achten ist, dass Entwicklungen im Zuge der Verwaltungsreform sowie der Neugestaltung der Schulaufsicht im Sinne einer möglichst effizienten Bündelung von Ressourcen und Verwaltungsstrukturen in die Konzeption einbezogen werden“ (ebd., S. 3; vgl. Feyerer 2013, S. 44).

Auf der Länderebene sollen in Absprache mit dem Bund in regionalen Aktionsplänen die Leitlinien, die Zeitperspektiven und die Schwerpunkte für ein inklusives Bildungssystems durch ein Konsortium erarbeitet werden (vgl. Gasteiger-Klicpera & Wohlhart 2012, S. 3).

2.1 Exkurs: Bildungslandschaften als Prototyp?

Auch wenn das Konzept der „Bildungslandschaften“ nicht einheitlich gebraucht werde, so biete es eine wichtige Orientierung und eine Anschlussstelle für inklusive Entwicklungen. Darauf weist Wolfgang Mack unter Betonung der in der UN-Konvention ausgewiesenen Unterstützungsmaßnahmen „in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet“ (UN-Konvention Artikel 24/2g zit. n. Mack 2012, S. 40) hin. Es bedarf, so Mack, einer sozialräumlichen Lesart von Bildungsprozessen, mit der das Verhältnis von „Sozialstruktur und Raum thematisiert wird. … Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen territoriale Einheiten wie das Quartier, die Gemeinde oder Stadt. … Bildungslandschaften entstehen und basieren auf der Kooperation von Institutionen und Initiativen aus den Bereichen Bildung, Jugend, Soziales, Wirtschaft, Kultur, Gesundheit, Sport unter Einbezug gesellschaftlicher Gruppen und Verbände, Gewerkschaften, Kirchen und Vereine, sie sind alle am Aufbau und an der Gestaltung von Bildungslandschaften zu beteiligen“ (ebd., 41).

Für eine gelingende Gestaltung der Vernetzung und Kooperation sieht Mack die kommunale Verwaltung und Politik in besonderer Pflicht. Beide stellen „einen zentralen und unverzichtbaren Akteur in einem Projekt Bildungslandschaften dar“ (ebd., S. 42). Wenn es darum geht, Teilhabe zu ermöglichen, dann sei ein breites Konzept von Bildung gefragt, das neben der formalen Bildung ebenfalls non-formale und informelle Bildungsprozesse umfasse. Jürgen Oelkers formuliert diesbezüglich, dass sich die „Metapher der ‚Bildungslandschaft‘ (…) am besten fassen (lasse, A.D.), wenn man sie als Verkoppelung von brauchbaren Lernanschlüssen konzipiert, bei denen auch das informelle Lernen Berücksichtigung findet“ (Oelkers 2012, S. 34).

Die Ausweitung des Bildungsanspruchs auf weitere Sektoren sei nach Mack dafür geeignet, die selektiven Prozesse des Schulsystems, die Disparitäten und Marginalisierung nach sich ziehen, abzufedern. Dadurch sieht sich die Schulentwicklung in einen „lokalen Bildungsraum“ (Mack 2012, S. 43) eingebettet, der zum Ausgangspunkt für den Abbau von Bildungsbarrieren generiert. Damit „(erscheinen) Schule und Schulentwicklung (…) dann als Bestandteil einer lokalen Bildungslandschaft. … Begriff und Konzept der Bildungslandschaften markieren somit einen raumbezogenen Zugang zu Bildung und Bildungspolitik. Als geographische Räume werden dabei je nach Kontext unterschiedliche Gebietseinheiten in den Blick genommen, sie können eine gesamte Region umfassen oder auf einen einzelnen Stadtteil bezogen werden. Dies spiegelt sich in der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe regionale, lokale und kommunale Bildungslandschaften“ (ebd., S. 43).

Die Bedeutung des Konzepts für Inklusion sieht Mack insbesondere deshalb gegeben, da „Inklusion (…) nur gelingen (kann), wenn soziale Benachteiligung und ihre Folgen für Bildung in den Blick genommen werden. Soll der mit Inklusion bezeichnete Anspruch eingelöst werden, kommt es darauf an, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, in Schule und Jugendhilfe, Berufsbildung und Erwachsenenbildung Möglichkeiten und Perspektiven zu bieten. Inklusion ohne Berücksichtigung der sozialen Lage geht nicht“ (ebd., S. 45).

2.2 Faktoren und Dimensionen im Kontext von Bildungslandschaften

Neben dem hohen Stellenwert der kommunalen Verwaltung und Politik, und auch der Einflussnahme einzelner Stiftungen als Geld- bzw. Ressourcengeber, verweist Mack (in Rekurs auf Schubert et al. 2011) bei dem Aufbau des Konzeptes der Bildungslandschaften auf die Bedeutung eines „Steuerungskreises“ (Mack 2012, 44), auf den „Einbezug aller wichtigen Akteure in der Bildungslandschaft, Einbezug und Beteiligung der professionellen Akteure aus dem formalen und non-formalen Bildungsbereich sowie der Adressaten der Angebote und Leistungen in der Bildungslandschaft“ (ebd., S.44).

Herbert Schubert präsentiert als ein Ergebnis der ersten Analysephase des Programms „Lebenswelt Schule“, bei dem es um den modellhaften Aufbau lokaler Bildungslandschaften in vier bundesdeutschen Kommunen ging, die besondere Bedeutung einer „externen Prozessbegleitung… für die Akteure vor Ort“ (Schubert 2010. S. 20). „Wichtige ‚harte‘ Faktoren sind etwa bestehende Ressourcen der Netzwerkarbeit, die genutzt und fortgesetzt werden können, eine hauptamtliche Koordinierungsstelle, eine ausgeglichene Finanzlage und eine breite politische bildungspolitische Unterstützung aus dem kommunalpolitischen Raum. Als ‚weiche‘ Faktoren einer gelingenden Umsetzung werden Engagement und Bereitschaft auf der systemisch-strategischen als auch auf der operativen Ebene, Veränderungsbereitschaft und Offenheit und eine Bottom-Up-Kultur vorausgesetzt. Die Erfahrungen der Modellstandorte haben gezeigt, dass die möglichst frühe Beteiligung und intensive Öffentlichkeitsarbeit wichtige Unterstützungsmaßnahmen sind“ (ebd., S. 20).

Auch aus anderen Zusammenhängen des kommunalen Bildungsmanagements werden als Erfolgsbedingungen der kommunalen Koordinierung

  • die Bereitschaft der Kommunen, Verantwortung in der Bildungspolitik zu übernehmen,

  • der Aufbau von Strukturen in den Kommunen, die es ermöglichen, alle wichtigen Akteure in dem Handlungsbereich Übergang Schule – Beruf zu beteiligen,

  • die Abstimmung der Verantwortlichkeiten zwischen den in diesem Bereich tätigen Institutionen,

  • die Verknüpfung der Handlungsbereiche und

  • die demokratische Legitimation dieser kommunalen Koordinierung durch entsprechende Beschlüsse in den kommunalen Parlamenten genannt (vgl. Mack 2012, S. 45 in Bezug auf Kruse et al. 2010, 161ff.).

Heinz-Jürgen Stolz präsentiert in Verweis auf die Begleitforschung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) „vier zentrale Dimensionen der Gestaltung lokaler Bildungslandschaften“ (Stolz 2012, 24f.). Sie betreffen die Bereiche Planung, Zivilgesellschaft, Aneignung und die Profession. Neben der Koordination und Integration von Einzelprozessen und der Sensibilisierung für bildungsrelevante Prozesse auf der kommunalen Ebene, betont Stolz für die „Planungsdimension“ (ebd., S. 24) die Notwendigkeit einer belastbaren Datengrundlage, insbesondere für non-formale Bildungsprozesse. Die „Zivilgesellschaftsdimension“ (ebd., S. 24) kommt in der Verwirklichung einer Teilhabekultur zum Ausdruck. Sie integriert wichtige Akteure (bzw. nach Scholz „Stakeholder“) in den eben erwähnten Planungsprozess, der über lokale oder regionale Bildungsbüros hauptamtlich koordiniert wird. Dabei stellt die Ausdehnung des Radius auf die Beteiligung von noch nicht organisierten Bürgerinnen und Bürgern, sowohl für die Forschung als auch für zu lösende Handlungsprobleme vor Ort, eine aktuelle Fragestellung dar. Im Mittelpunkt der „Aneignungsdimension“ (ebd., S. 25) steht „die Rolle des ‚Lernsubjektes‘ (Schüler/innenrolle, Elternbildung, allgemeine und berufliche Aus- und Weiterbildung etc.)“ (ebd., S,. 25). In diesem Kontext geht es vor allem um zwei Lern- und Bildungsperspektiven: zum einen um die Öffnung lokaler Bildungseinrichtungen für breite Bevölkerungskreise durch zielgenaue Angebote und eine entsprechende Senkung von Zugangsschwellen (…) und zum anderen um die Umgestaltung des lokalen Nahraumes zu einer anregenden Lern- und Lebensumgebung für selbst organisiertes, informelles Lernen“ (ebd., S. 25). Die vierte Dimension, „die Professionsdimension“ (ebd., S. 25) betrifft die sich an den neuen und komplexen Aufgaben orientierende Professionalität der Beteiligten. Als verbindendes Element sieht Stolz hierbei das systemische Paradigma als geeignet dafür an, dass die unterschiedlichen Professionen, die an den lokalen oder regionalen Entwicklungen mitwirken, sich synchronisieren können.

Als förderliche Bedingungen im Gesamtprozess verweist Stolz auf eine „dezernatsübergreifende Bearbeitung des Bildungsthemas“ und die „Etablierung einer lokalen Aushandlungs- und Beteiligungskultur …, ohne die das bei den lokalen Akteuren vorhandene Konsenspotenzial nicht aktiviert werden kann“ (ebd., S. 26). Allerdings kann die Konsenskultur durchaus auch ihre Schattenseiten haben, wenn sie sich als Befriedung (bei einer überstarken Betonung der bildungspolitischen Regulationsebene gegenüber den Ansprüchen an einer veränderten inhaltlichen pädagogischen Ausrichtung) auswirkt. Es wird nach Ansicht des Autors daher auch perspektivisch notwendig sein, eine konfliktoffene, offensivere „Streitkultur“ zu etablieren, die „pädagogische Gestaltungsfragen des ‚Lernens vor Ort‘ integriert und eine Verkürzung des Diskurses auf Fragen der institutionellen Gestaltung des ‚kommunalen Bildungsmanagements‘ entgegentritt“ (ebd., S. 30).

Interessant im Hinblick auf die noch weiter unten erwähnte Frage des Transfers von Modellen weist die wissenschaftliche Begleitforschung des DJI darauf hin, dass sich die Entwicklungen weniger an übergreifenden „abstrakten Strukturmodellen von Verwaltungsreform und Netzwerkmanagement“ orientieren. Stärker wirke sich die Orientierung an konkreten Problembezügen aus, die eher pragmatisch gehandhabt würden. Als hinderlich erweise sich, dass sich der gemeinsame Bezug der beteiligten Professionen nicht unbedingt synergetisch als Multiprofessionalität ausweise, die mitunter auf dafür dienliche Strukturen (u.a. koordinierte Verfügungszeiten) angewiesen ist. Die unterschiedlichen Zuständigkeiten (staatliche bzw. kommunale Ebene), ineffiziente Parallelstrukturen auf Grund eines Verzichts auf abstrakte Steuerungsmodelle und ebenso die ausbleibende Wirkungsbeschreibung lokaler Bildungsnetzwerke durch fehlende Evaluationen sind als weitere, eher hinderliche Bedingungen zu verstehen (vgl. ebd., S. 27).

Bezüglich des Transfers der entwickelten Modelle in weitere Regionen besteht auf der Ebene der Akteure Uneinigkeit: Einerseits können zwar klare Voraussetzungen benannt werden, andererseits wird aber auch auf die lokalen Gegebenheiten im Sinne von spezifischen Kontextbedingungen verwiesen, die - durch die Konstellation von personellen, strukturellen, politischen und finanziellen Gegebenheiten – die Singularität des Einzelfalls ausmachen (vgl. Schubert 2010, 20). Auf Grund indirekter Effekte und ausstehender Längsschnittstudien lässt sich auch nach Ansicht von Marcus Emmerich (noch) nicht beantworten, ob bzw. inwieweit „Regionale Bildungslandschaften ihren Wirkungserwartungen im Hinblick auf die Verbesserung schulischer Lehr-Lernprozesse gerecht werden können“ (Emmerich 2010, S. 375). Jedoch verweist auch Emmerich in seiner Fallstudie zu Baden-Württemberg auf die besondere Bedeutung der Steuerungsgruppe (hier auf der Schulebene) (vgl. ebd., S. 370f., vgl. Dlugosch 2013, S. 27).



[3] „welches im Rahmen des vom bm:ukk gesteuerten partizipativen Prozesses zur Erstellung des NAP entstanden ist und damit als wichtige inhaltliche Grundlage des Umsetzungsprozesses gesehen werden muss“ (Feyerer 2013, S. 43f).

3 Regionale Entwicklungen im Kontext der Inklusion – Hinweise und mögliche Einflussfaktoren

Im Kontext der Inklusion sehen auch Gasteiger-Klicpera und Wohlhart (2012) die Notwendigkeit der Regionalisierung gegeben. „Eine ausschließliche Änderung von Bundes- und Landesgesetzen ohne regionale Initiativen hätte sehr wahrscheinlich zu geringe Auswirkungen auf das Bildungssystem“ (ebd., S. 3). In dem 3. Arbeitspapier werden ebenfalls Hinweise gegeben und Strukturelemente inklusiver Regionen genannt, die im jeweils regional, von einem Konsortium zu erstellenden Aktionsplan Berücksichtigung finden sollten (vgl. ebd., S. 4ff.): Diese sind zusammengefasst:

  • eine stabile Stammkompetenz bzgl. Individualisierung in den pädagogischen Institutionen vor Ort (ggf. durch Fort- und Weiterbildung), eine inklusionsförderliche Leitung, interne und externe Unterstützungssysteme (siehe auch der nachfolgende Punkt.);

  • Regionale Inklusionszentren als steuernde, unterstützende, vernetzende und koordinierende Instanzen des Einzugsgebietes als „Drehscheibe und Vernetzungsagentur für Bildungseinrichtungen“ (ebd., S. 5), (enge Verbindungen mit dem folgenden Aufzählungspunkt);

  • beratende, prozessbegleitende und evaluierende wissenschaftliche Koordinationsstellen; internationale „forschende Begleitung der Umsetzung“ (ebd., S. 10), Gewährleistung wissenschaftlicher Distanz;

  • institutionelle Weiterentwicklung, Zuständigkeitsdefinitionen für Inklusion der Beteiligten, gemeinsame Problemlösungen, „Krisenmanagement“ (ebd., S. 6), Diagnose- und Förderkompetenz (auch durch Fort- und Weiterbildung), Inklusion von Menschen unter den Bedingungen von Behinderung in das Stammpersonal der pädagogischen Einrichtung;

  • „Bedarfsgerechte Förderung“ (ebd., S.7.): graduell gestuft im Sinne individueller, präventiver und kontinuierlicher Unterstützung;

  • Barrierefreiheit (räumlich, medial, sprachlich);

  • Basiskompetenz Inklusive Pädagogik (auch durch Fort- und Weiterbildung), Systemkompetenz Inklusive Schulentwicklung, sonderpädagogische Spezialisierung - dementsprechend koordinierte Personalplanungen in Kooperation mit den PHs und Universitäten.

Zudem sind im jeweiligen regionalen Aktionsplan, Bestimmungen und Beschreibungen zum Konsortium, zu der Beschreibung der inklusiven Regionen, zu den eingesetzten Ressourcen, der Ausgangslage der Region, eine Potenzialanalyse und eine Zieldefinition inklusive Indikatoren vorzunehmen (ebd., S. 10).

Feyerer sieht hiernach noch diverse Leerstellen gegeben, z.B. im Hinblick auf die regionale Ausdehnung und Kontur einer Inklusiven Region, auf mögliche Steuerungseinheiten, in deren Zuständigkeit die Entwicklung von regionalen Aktionsplänen und Indikatoren liegt, aber z.B. auch in Hinblick auf Finanzierungsfragen. Ebenso stünde das Ausloben der ersten Modellregion noch in Aussicht (vgl. Feyerer 2013, S. 45). Sichtbar wird allerdings, dass es Unterstützungsstrukturen bedarf, um die Entwicklungen voranzutreiben. Feyerer sieht eine besondere Aufgabe bei den „Pädagogischen Hochschulen in ihrer Verantwortung der regionalen LehrerInnenfort- und -weiterbildung“ und bei den „Sonderpädagogischen Zentren mit ihrem Auftrag zur Unterstützung und Koordination der Integration“ (ebd., S. 46) gegeben. Unter der Annahme einer defensiven Haushaltspolitik für den Bildungssektor formulieren Gasteiger-Klicpera & Wohlhart eine Strategie der Zusammenführung, die in einen Synergieeffekt münden soll: „Alle bisher vorhandenen Unterstützungssysteme, wie z.B. sonderpädagogische Zentren, IZB-Teams, … sowie deren Ressourcen werden in die regionalen Inklusionszentren eingemeindet oder durch Kooperationsverträge eingebunden, wodurch einerseits die übergreifende Förder-, Entwicklungs- und Beratungskompetenz gesteigert wird, andererseits aber auch ineffiziente Doppelgleisigkeiten abgebaut werden“ (Gasteiger-Klicpera & Wohlhart 2012, S. 5). Einen neuralgischen Punkt im Aufgabenspektrum zukünftiger regionaler Inklusionszentren vermutet Feyerer in dem Managen des Etikettierungs-Ressourcen- Dilemmas, d.h. in der Suche nach Lösungen, die Unterstützung gewährleisten, ohne auf die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zurückzugreifen. Als „indexbasierte Mittelzuteilung“ (Feyerer 2013, S. 46) würden damit viel stärker die (sozial-)strukturellen Bedingtheiten in den Blick genommen.

4 Bisherige und aktuelle Entwicklungen in den Bundesländern Österreichs

Die Maßnahmen des NAP treffen je nach Bundesland auf unterschiedliche Verwirklichungsgrade inklusiver Entwicklungen und damit auch auf unterschiedliche Verwirklichungsgrade Inklusiver Regionen. Als ein Indikator kann hierbei gelten, inwieweit Konkretisierungen für die jeweilige Länderebene bereits in regionalen Aktionsplänen formuliert wurden.

So verfolgt das Land Steiermark schon 2012, in einer ersten Umsetzungsphase bis 2014, für den Bereich der Bildung im Aktionsplan drei Ziele:

  1. die Umsetzung einer einheitlichen Zuständigkeit für die Zusatzbetreuung an Schulen an Kinderbildungs- und Betreuungseinrichtungen

  2. die Fertigstellung mindestens eines Konzeptes für eine Inklusive Modellregion und

  3. Maßnahmen für eine barrierefreie Erwachsenenbildung (vgl. Amt der Steiermärkischen Landesregierung 2012, S. 76ff.)

Das Land Steiermark scheint im Vergleich zu den Ansinnen des NAP einen Schritt voraus zu sein und dessen Ausrichtung eine eher bremsende Wirkung auf die Landesebene zu haben, da die Entwicklungen vor Ort bereits als wesentliche Schritte auf dem Weg zur Inklusion beschrieben werden (vgl. Amt der Steiermärkischen Landesregierung, S. 77). Mögliche Alleingänge der Länder in Richtung Inklusion sind auf Grund der bundesgesetzlichen Vorgaben [§ 8a (1) Schulpflichtgesetz und §27a; (1), (2) Schulorganisationsgesetz] nicht realisierbar, „aus diesem Grund wird in der Steiermark bis Ende 2014 vorerst ein Konzept für eine inklusive Modellregion entwickelt. Die Umsetzung des Konzeptes kann ab 2015 nur in Abstimmung mit dem Bund passieren, der im Nationalen Aktionsplan 46 die Maßnahme 125 – Entwicklung von inklusiven Modellregionen – verankert hat“ (ebd., S. 77, vgl. Dlugosch 2013 S. 28).

Das „Bundesland Kärnten hat zwar noch keinen Regionalen Aktionsplan wie die Steiermark publiziert, aber im Zusammenhang mit der Schließung des Sozialpädagogischen Zentrums bfz in Klagenfurt ‚Wege und Schritte zu einer inklusiven Bildungslandschaft‘ definiert. Ein erstes Ziel ist es, die bisher in der Landeshauptstadt konzentrierte sonderpädagogische und therapeutische Unterstützung auf sogenannte ‚regionale Inklusionszentren‘ zu verteilen. An vier regional gut verteilten Schulstandorten mit Integrationserfahrung sollen Kleinklassen für 5 – 7 Kindern mit einer Doppelbesetzung im Unterricht, Nachmittagsbetreuung und der Installierung eines mobilen therapeutischen Dienstes optimale Bedingungen auch für schwerer beeinträchtigte SchülerInnen garantieren und damit die Ängste von Eltern minimieren. Gemeinsame Unterrichtung ist möglich, muss aber nicht sein. Ansonsten hat noch kein Bundesland (Stand Juni 2013, A.D.) konkrete und sichtbare Schritte zur Umsetzung von Inklusiven Regionen gesetzt, aber auch die Bundesregierung ist nicht wirklich aktiv darum bemüht, zu konkreten Vereinbarungen mit den Ländern zu kommen und die noch offenen Aspekte zu klären“ (Feyerer 2013, S. 45).

Ähnlich wie es auch im Rahmen der Einzelschule um eine (Schul-) Entwicklungsaufgabe geht, ist auch die Entwicklung auf regionaler Ebene als ein Prozess aufzufassen, der in den lokalen/regionalen/kommunalen Gegebenheiten und spezifischen Konstellationen seinen Ausgangspunkt nimmt. Inwieweit die hierauf basierenden Entwicklungen übertragbar sein können, ist zurzeit noch eine offene Frage.

Auf Grund der bisherigen Ausführungen ist es möglich, präskriptiv Faktoren und Besonderheiten von regionalen Inklusionsszenarien zu formulieren. Allerdings ist dieses Geflecht von regionalen Bedingtheiten und daraus folgende Annahmen und Schlussfolgerungen in einem sehr hypothetischen Bereich angesiedelt, da letztlich auf einer allgemeinen Beschreibungsebene verblieben werden muss. Die realen Verläufe und Besonderheiten auf dem Weg zu und im Aufbau von Inklusiven Regionen sind nur rekonstruktiv nachzuzeichnen und obliegen einer wissenschaftlichen Begleitforschung, die in der Lage ist, die unmittelbaren und mittelbaren Einflussnahmen und Beteiligungen der verschiedenen Akteure in diesem Prozess nachzuzeichnen, wie dies in Bezug auf das Konzept der Bildungslandschaften (vgl. 2.1) angedeutet worden ist. Insofern steht der Erkenntnisgewinn über Verlaufsformen auf dem Weg zu Inklusiven Regionen noch in Aussicht (siehe Beitrag von König, Langner & Feyerer).

Es ist daneben allerdings auch möglich, sich beispielhaft bereits erfolgten Entwicklungen zu widmen und diese nachzuzeichnen zu versuchen, auch wenn sie bisweilen nicht unter der Überschrift „Aufbau einer Inklusiven Modellregion“ firmieren konnten – nicht zuletzt auch wegen des begrenzten räumlichen Ausdehnungsgrades. Im Folgenden sollen die lokalen Entwicklungen in Außerfern/Tirol erste Anhaltspunkte für Entwicklungsabschnitte liefern, die in der Folge auch für die Installation oder Implementierung von Inklusiven Regionen sensibilisieren können. Zu beachten ist hierbei, dass das Bundesland Tirol zurzeit einen höheren Segregationsquotienten als der österreichische Bundesdurchschnitt aufweist, Außerfern hingegen ist eine „sonderschulfreie Zone“ (Molitor 2008). Demgegenüber ist der Durchschnitt in den Bundesländern Steiermark und Kärnten bedeutend geringer (Graphiken[4] im Folgenden nach Flieger 2012, vgl. auch Feyerer 2012). Dies spricht auch dafür, sich in der Analyse kleineren räumlichen Einheiten zu widmen, da der Bundeslandbezug sonst zu grobmaschig erscheint.

Darstellung des Segregregationsquotienten in einme Diagramm für Tirol, Kärnten,
               Österreich und die Steiermark. Sinkender Trend von 1990-2000, ab 2000 wieder Anstieg
               der Segregationsquote, stärkster Anstieg in Tirol

Flieger 2012. S. 3-7



[4] Die Skalierung in den Grafiken ist nicht einheitlich.

5 Bisherige und aktuelle Entwicklungen in Reutte/Außerfern

Die folgende Darstellung zur Situation um und in Reutte konnte entstehen dank Experteninterviews mit dem Leiter der sonderpädagogischen Beratungsstelle in Reutte[5].

Außerfern liegt in Tirol, bis in die Landeshauptstadt sind es fast einhundert Kilometer, der geringste Teil der Strecke ist Autobahn, die längere Strecke der sogenannte Fernpass über bzw. durch die Alpen. So erscheinen deutsche Städte wie Kempten und Füssen den Einwohnern und Einwohnerinnen dieser Region deutlich näher. Die Landschaft ist u.a. durch den Fluss Lech geformt.

In dieser Region von ca. 1.236 Quadratkilometer leben ca. 31.000 Menschen, die größte Stadt hat ca. 6.000 Einwohner. Das Erscheinungsbild der Region ist geprägt durch den Tourismus – drei Millionen Übernachtungen pro Jahr – und eine in erster Linie landwirtschaftliche Struktur, es gibt nur wenig Industrie vor Ort. Dennoch ist der Bezirk jene Region in Tirol mit dem höchsten Anteil der Industrie an der regionalen Wertschöpfung (vgl. http://www.allesausserfern.at/bezirk-reutte/Ausserfern).

Vor allem hinsichtlich der schulischen Integration/Inklusion sieht Reutte sich selbst als Modellregion: „im Zusammenwirken mit einer regionalen politischen Entscheidung, einer regional politischen Absicht ‚Wir sind eine Modellregion‘ für Inklusion zum Beispiel wie es die Bürgermeisterkonferenz beschlossen hat“ (Leiter des SBZ).

Zur Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf muss gesagt werden, dass in dieser Region keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung stehen, sondern diese, wie überall in Österreich, bundeseinheitlich (siehe Beitrag von Langner & Feyerer) verfügbar sind[6].

5.1 Zeitkorridore von 1980 - 2010

5.1.1 Zeitkorridor I (ca. 1980-1990)

Der Beginn liegt in den 1980er Jahren, die Eltern in der Region Außerfern äußern ihre Unzufriedenheit über die pädagogisch-therapeutische Betreuung ihrer Kinder mit Behinderung. In der Regel mussten sie ihre Kinder für eine gute Betreuung 100km weit fahren, sodass die Kinder häufig in Sondereinrichtungen über die Woche hinweg lebten. Für eine Reihe von Eltern und explizit für einen Vater war dies nicht akzeptabel.

„Heinz Forcher erinnert sich genau. An die Zweifel. Die seelische Qual. Obwohl seit dem Unglück mit seinem Sohn Ernst fast 30 Jahre vergangen sind, sieht er vieles noch vor sich. Ernst war damals sieben Monate alt. Vielleicht hatte er sich in seinem Bettzeug eingewickelt und keine Luft mehr gekriegt, niemand weiß es genau. Die Diagnose: Schädigung des Gehirns durch Unterversorgung mit Sauerstoff. Ernst trug spastische Lähmungen an allen Gliedmaßen davon und kann sich bis heute nur im Rollstuhl fortbewegen. […] Heinz Forcher vertraute den Ärzten und Therapeuten. ‚Ich hab’ anfangs gedacht, ich muss nur tun, was die sagen‘, erinnert er sich. Und die Experten sagten: ‚Das Beste wäre, Sie geben ihn ins Heim.‘ […] Ernst wollte nicht ins Heim. Er wollte bei seinen Eltern bleiben. So begann Forchers langer Kampf für eine Alternative zum Aussondern und Abschieben von Behinderten in Heime, Werkstätten und Sonderschulen“ (Molitor 2008, S. 49).

Heinz Forcher hatte das Gefühl keine Hilfe vonseiten der Professionellen zu erhalten und setzte sich mit ebenfalls betroffenen Eltern in Verbindung, die ein ähnliches Anliegen wie er hatten. Bei einem ersten Treffen wurde allen bewusst, dass sie sich gegenseitig brauchten, um bestehende Probleme zu bewältigen und um sich auch emotionale zu unterstützen. Die Eltern waren sich einig, dass sie an die politischen Verantwortlichen herantreten müssen, damit sich etwas für ihre Kinder mit Behinderung verändert. Auf dem Weg zur Umsetzung der Rechte ihrer Kinder mussten die Eltern die Erfahrung machen, dass sie vonseiten der Professionellen und der politischen Verantwortlichen selten Unterstützung erfuhren. In der Regel wurde ihnen als Eltern das Recht abgesprochen die Interessen ihrer Kinder zu vertreten und Veränderungen umzusetzen (vgl. Forcher 1989).

„Trotz der massiven Widerstände auf sachlicher und persönlicher Ebene ließen wir uns nicht einschüchtern. Die Gründung erfolgte am 24. Mai 1984. In Selbsthilfe stellten wir als Elternverein einen Therapeuten ein. Es hat dann zirka acht Monate zäher Verhandlungen gebraucht, bis wir das erste Geld vom Land Tirol für die schon geleisteten Therapiestunden erhielten“ (Forcher 1989). Der Elternverein baute die therapeutische Betreuung aus. „Dadurch wurde allerdings der Konflikt im Bezirk nicht geringer, sondern nahm immer neue Dimensionen an. Dies führte z.B. dazu, daß im Mai 1985 der damalige Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger mit Landeshauptmann Eduard Wallnöfer im Gefolge bei einem Besuch im Bezirk Reutte in der Öffentlichkeit mit den Mitgliedern des Elternvereins ihre Probleme diskutierte. Dieses Gespräch brachte eine entscheidende Wende insofern, daß nun doch alle Verantwortlichen ernsthaft an einem gemeinsamen Gespräch zur Lösung der Konflikte interessiert waren. In wochenlangen Verhandlungen wurde vereinbart, daß der Elternverein mit der Lebenshilfe fusioniert: Die Sektion ‚Lebenshilfe Außerfern, Elternverein für Behinderte im Bezirk Reutte‘ […] Es werden Neuwahlen des Vorstandes in geheimer Abstimmung durchgeführt“ (Forcher 1989). Als Ergebnis der Wahl wurde der bisherige Vorstand des Elternvereins in den neuen Sektionsvorstand gewählt.

Über den Zusammenschluss der Eltern gelang es Heinz Forcher, dass im Schuljahr 1985/86 ein Modellversuch der schulischen Integration für seinen Sohn gestartet wurde. Von Beginn an erhielt er Unterstützung vom Leiter der Sonderschule vor Ort. „Ausgerechnet der Direktor der Sonderschule in Reutte wurde Forchers engster Verbündeter. In Norbert Syrow war im Laufe der Jahre die bittere Erkenntnis gereift, dass seine Schule hauptsächlich Nachschub für die Behinderten-Werkstätten produzierte“ (Molitor 2008, S.51). Der Sonderschulleiter unterstützte diese Veränderungen des sonderpädagogischen Professionsverständnisses - weg von der besonderen Unterrichtung.: „Wir haben jedes Kind, das zu uns kam, auf der Regelschule untergebracht. Und dass Kinder von dort zu uns abgeschoben wurden, sobald sie Schwierigkeiten bereiteten, kam erst recht nicht mehr in Frage“ (Syrow 1994).

Mit Hilfe einer starken Elternbewegung, der es gelang auch nicht betroffene Eltern zu mobilisieren, folgten weitere Initiativen, so dass integrative Klassen entstanden. Beispielhaft war die zweite Integrationsklasse in der Region. Durch den Druck vonseiten der Eltern konnte diese an der Volksschule vor Ort installiert werden.

Eine Mutter einer Tochter mit Hörbeeinträchtigung strebte eine integrative Beschulung vor Ort an. Unterstützt wurde sie durch den Elternverein zur Integration, durch den Schulleiter der Sonderschule vor Ort und durch einen Volksschullehrer, der seine Bereitschaft, eine integrative Klasse zu unterrichten, signalisierte. Auch der Bezirksschulrat unterstützte die Einrichtung einer integrativen Volksschulklasse und der Landesschulrat stand der Umsetzung ebenfalls nicht im Wege. Jedoch verwehrte sich der Volksschulleiter, die integrative Klasse in der Schule einzurichten, woraufhin auch der Bezirks- und der Landesschulrat ihre Unterstützung für die integrative Klasse entzogen (vgl. Syrow 1994). Der Elternverein („Lebenshilfe Außerfern, Elternverein für Behinderte im Bezirk Reutte")[7] mobilisierte daraufhin Eltern von Kindern ohne Behinderung, die eine gemeinsame Beschulung in einer Klasse zusammen mit dem Mädchen mit Hörbeeinträchtigung forderten. Hätte sich die Volksschule weiterhin verweigert, wäre eine integrative Klasse an der Sonderschule errichtet worden, unterrichtet von dem Volksschullehrer, der sich von Anfang an für diese integrative Klasse eingesetzt hatte. Ein „neue Schule“ in Form einer integrativen Schule im Rahmen der alten Sonderschule sollte laut dem Bezirksschulrat und dem Landesschulrat jedoch nicht entstehen, so dass sie den Volkschulleiter anwiesen, die integrative Klasse an seiner Schule einzurichten. Zu erwähnen ist, dass sich bereits zu diesem Zeitpunkt die Volksschule und die Sonderschule in einem gemeinsamen Gebäude befanden.

1988 musste sich der Elternverein (Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung – TAFIE) infolge von Ausschlüssen von Eltern bei der Lebenshilfe neu gründen. Als TAFIE organisierten sie das gesamtösterreichische Symposium zur Integration in Reutte, wodurch der Elternverein nachfolgend eine wissenschaftliche Unterstützung aus Österreich, Deutschland und der Schweiz für ihre Vorhaben erhielt. Auch das erziehungswissenschaftliche Institut der Universität Innsbruck unterstützte die Integration mit einer öffentlichen Stellungnahme: „Der Unterricht in Sonderklassen geht davon aus, daß fördernder Unterricht in homogenen Klassen am besten zu erreichen sei. Die wissenschaftliche Diskussion zeigt allerdings auf, daß diese homogenen Klassen der Schulrealität – und das quer durch die Schultypen hindurch – nicht entspricht. Außerdem läuft dies Konzept der schulischen Aussonderung der gesellschaftlichen Realität entgegen (zitiert nach Anlanger 1993, S. 81). In wenigen Jahren wurde der Elternverein zu einer Institution, die österreichweit vernetzt war.

Bereits in dieser ersten Phase veränderte sich das Bild der örtlichen Sonderschule sehr stark. Seit dem Schuljahr 1985 wurde nur noch ein einziges Kind in die Sonderschule eingeschult, alle anderen Schülerinnen und Schüler mit Behinderung wurden ab diesem Zeitpunkt in Integrationsklassen unterrichtet, bzw. einige konnten aus der Sonderschule rückgeschult werden. Die Sonderpädagoginnen der Sonderschule zeigten von Anfang an Bereitschaft, die Schüler mit Behinderung außerhalb der Sonderschule zu unterrichten, d.h. sie an ihren Heimatschulen zu begleiten. „Der Weg wird, indem man ihn geht. Das war ja immer so die Frage, zuerst Qualifizieren und dann Positionieren. Und wir haben immer gesagt gleichzeitig. Also wir positionieren Kinder mit Behinderung in den allgemeinen Schulen und qualifizieren gleichzeitig das System mit“ (Leiter des SBZ).

5.2 Zeitkorridor II (ca. 1990 – 2000)

Interessant ist Frage, wie die Institutionen jeweils den Anspruch der Inklusion zu verwirklichen suchen und auch, welche Barrieren in diesem Prozess zu Stagnation in der Entwicklung führten: „Durch die Stilllegung der Allgemeinen Sonderschule, wurde die Schule im Schuljahr 1992/93 in ‚Sonderschule für schwerstmehrfachbehinderte Kinder‘ umbenannt. Diese sechs Kinder, die heute (1994, A.L.) noch die Sonderschule besuchen, sind aber ‚nicht der harte Kern‘, Kinder, ‚die nicht integrierbar‘ sind, sondern es sind die Kinder, für die auch mir persönlich die Kraft und Energie gefehlt hat, gemeinsam mit den Eltern gegen an die Widerstände von seiten der zuständigen Schulen und damit ihrer LehrerInnen oder auch der Schulbehörde den gemeinsamen Unterricht mit den übrigen Kindern ihres Dorfes oder ihres Sprengels zu erreichen“ (Syrow 1994).

1996 wurde die Sonderschule vor Ort stillgelegt, der letzte Schüler verließ die Schule. Die Sonderschulpädagogik hatte sich de-institutionalisiert – sie brauchte die Sonderschule als schulische Institution nicht mehr. Es verblieb ein sonderpädagogisches Zentrum, von wo aus der Einsatz der Sonderpädagogen koordiniert und unterstützt wurde. „Also, was sich aufgebaut hat ist dieses sonderpädagogische Kompetenz- und Ressourcenzentrum in Anlehnung an den Wocken haben wir das versucht zu etablieren. D.h., nicht mehr die Kinder in die Sonderschulen, sondern die Experten zu den Kindern und da gibt‘s in Reutte die Beratungsstelle. [...] Also es hat sich eigentlich diese sonderpädagogische Beratungsstelle etabliert, aufgebaut, an der diese mobilen integrationspädagogischen Teams in Form von Lehrpersonen mit besonderen Kompetenzen angesiedelt sind und von dieser Stelle aus die Schulen praktisch unterstützen und begleiten. Es gibt schon insgesamt eine Veränderung, dass sich dieses Kompetenzzentrum als Ort versteht, an dem das pädagogische Wissen irgendwie gepflegt und aufgebaut wird. […] Weil da sehe ich eine Gefahr, wenn man das so unreflektiert allgemein jetzt ist Inklusion […], ich glaube schon, dass bestimmte Kinder noch ein spezifisches Hinschauen benötigen. Das sollte aus meiner Sicht schon auch verortet sein“ (Leiter des SBZ)[8].

Der Elternverein, vernetzt mit anderen Eltern in ganz Österreich, baut in diesem Zeitraum sein Angebot zur Unterstützung von Eltern mit einem Kind mit Behinderung und von Menschen mit Behinderung in der Region auf: Beratung und Assistenz in Freizeit und Beruf. Das Engagement des Elternvereins bleibt überregional bestehen. Der Obmann des Elternvereins im Außerfern war gleichzeitig auch Obmann eines bundeweiten Vereins zur Integration. So wurde versucht, die Interessen von Eltern mit einem Kind mit Behinderung auch auf Bundesebene einzubringen und zu vertreten. „Integration: Österreich ist der Zusammenschluß aller Vereine, die sich österreichweit für Integration, gemeinsame Erziehung, gemeinsames Leben einsetzen. Das sind sowohl regionale Vereine, Elterngruppen wie auch Landesvereine. Entstanden ist das Ganze nach vielen Jahren des Kampfes – damals ist es vor allem um die Integration im Kindergarten und in der Volksschule gegangen. Es war eine Notwendigkeit, einen Gesamtverein zu gründen, um geschlossener und gemeinsam politisch stärker auftreten zu können, um die Anliegen besser vertreten und die Rechte einfordern zu können. […] Es geht um etwas ganz Grundsätzliches: Integration ist nicht - wie es Ministerin Gehrer sagt - eine zusätzliche pädagogische Handlungsmöglichkeit, sondern aus unserer Sicht ist Integration ein existentielles Grundrecht, ein Menschenrecht für jedes Kind. Das schließt auch Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache ein - wirklich alle“ (Rath & Rössler 1993, 1).

Für alle Volksschulen in der Region war die Beschulung von Schülerinnen mit Behinderung in dieser Phase noch nicht Alltag, aber es wurde nicht mehr die Frage danach gestellt, ob eine schulische Integration erfolgt. Auch der Schulerhalter versuchte im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten, die Volksschulen barrierefrei zu gestalten. „In den kleineren Gemeinden hat es nicht viel kosten dürfen, da haben wir immer ein bisschen streiten müssen. Auf der anderen Seite sind das Gemeindebürger, wenn ich ein Dorf bin mit 1000 Einwohnern und da geht mal ein Rollstuhlkind in die Schule, dann kennt man dieses Kind im Dorf, der Bürgermeister stellt sich nicht gegen dieses Kind. Der jammert zwar am Anfang ‚Mei, jetzt muss ich da eine Rampe bauen oder irgendwie was‘. Aber er tut dann doch, verstehst? Und was wir nicht gemacht haben, also wir haben das so Schritt für Schritt gemacht, bei Bedarf umgestaltet, nicht vorsorglich alles barrierefrei“ (Leiter des SBZ).

Hingegen näherten sich die in der Region bestehenden Hauptschulen und auch die polytechnische Schule in dieser Zeit dem Thema der schulischen Integration erst an, es wurden erste Modellversuche gestartet. Dass dieser schulischen Integration nicht alle Lehrerinnen und Lehrer – auch nicht in dieser Region – wohlwollend gegenüber standen, unterstrich ein offener Brief der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst – die Tiroler Sektion Pflichtschullehrer – an den Minister Scholte. In diesem Brief formulierten die LehrerInnen ihre Bedenken vor allem gegenüber der Integration von SchülerInnen mit Sinnesbeeinträchtigungen und mit geistiger Behinderung (vgl. Anlanger 1993, S. 179).

Die wissenschaftliche Expertise für die Weiterführung der Integration erhielt der Elternverein u.a. durch die Gründung von bidok (behinderung inklusion dokumentation), einem Internet-Projekt zum Thema der damals noch als integrativ bezeichneten Pädagogik und Disability Studies am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck. Zudem berieten und unterstützten WissenschaftlerInnen aus dem deutschsprachigen Raum phasenweise den Elternverein.

5.3 Zeitkorridor III (ca. 2000-2010)

Auch von 2001-2010 blieb die Sonderschule vor Ort geschlossen, alle Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurden in den Volks- bzw. Hauptschulen der Region unterrichtet.

Dieser dritte Zeitraum war gekennzeichnet durch Auseinandersetzungen um die adäquate Anpassung an die neue Situation – die Auflösung der Sonderschule (z.B. Fragen der Gehaltsanpassung, der Weisungsbefugnisse und von klaren Zuständigkeiten etc.). Sonderpädagogische Beratungszentren waren, wie auch heute noch häufig, an bestehende Sonderschulen gekoppelt. Da in Reutte die Sonderschule stillgelegt war, konnte das sonderpädagogische Beratungszentrum nicht mehr an diese gebunden bleiben. Damit stellte sich die Frage, welche Position der Leiter dieser sonderpädagogischen Beratungsstelle einnahm. Erst durch Nachdruck wurde 2004 formal seine Rolle aus dem Grauzonenbereich einer fehlenden Status- und Zuständigkeitsdefinition gehoben, wobei es schien, dass der Status des Leiters des Beratungszentrums auf Landesebene nicht endgültig und eindeutig bestimmt wurde.

„Der Leiter des sonderpädagogischen Zentrums Reutte, Roland Astl erklärt, dass er als gewöhnlicher Lehrer an die Volksschule Reutte zurückkehren möchte. Er könne unter diesen Bedingungen nicht weiterarbeiten. Die Verantwortung sei gewaltig, seine rechtliche Position im luftleeren Raum. […] Der Reuttner erhält ein gewisses Weisungsrecht und ist nicht mehr auf die Gutmütgkeit der Kollegen angewiesen. […] Mitterer beauftragt Astl, das Sonderpädagogische Zentrum zu leiten. Rein formal gibt es aber weiterhin keine eigene Dienststelle. Es fehlt einfach jede Rechtsgrundlage, um eine Schule auszuweisen, in der es keine Schüler gibt“ (Tiroler Tageszeitung vom 10.09.2004).

Der Verein betrieb in dieser Phase eine Familienberatungsstelle. An sie angeschlossen war das Angebot unterschiedlichster Unterstützungsdienste für Menschen mit Beeinträchtigung jeden Alters. Durch Unterstützung des Bundessozialamtes konnte der Verein[9] Arbeitsassistenz, Jobcoaching, Clearing und die Integrative Berufsschulausbildung anbieten (siehe http://www.vianova-austria.at/).

Darüber hinaus unterstützte der Verein mit professionellen Assistenzen in der Freizeit oder zu Hause. Einerseits hatte sich die pädagogische Unterstützung des Vereins in diesem Zeitraum professionalisiert, andererseits hatten sich die Eltern als Akteure immer mehr zurückgezogen. Viele Eltern, die erst in dieser Zeit erfahren hatten, dass bei ihrem Kind eine Beeinträchtigung vorliegt, nahmen die Unterstützungsangebote des Vereins als Serviceleistung wahr. Das Engagement der Eltern im Verein nahm stark ab. Durch die Unterstützung durch professionelle Fachkräfte wurde den Eltern 2009 der Selbsthilfecharakter des Vereins, der diesen einst aus der Elternbewegung entstanden Verein ausgezeichnet hatte, wieder nahe gebracht. Seither engagieren sich stärker auch wieder einzelne Eltern im Vorstand des Vereins.

Für alle Schulformen – außer dem Gymnasium[10] – in der Region war die integrative Beschulung keine Frage mehr, als letzte Schule kam die Berufsschule hinzu. Die Berufsschulen tauschten ihre Erfahrungen bzgl. der verlängerten Lehre und der Teilqualifizierung bei überregionalen Vernetzungstreffen aus. Dabei zeigte sich, dass für die Berufsschule Reutte die Integration von SchülerInnen mit Behinderung und die damit verbundene notwendige Individualisierung des Unterrichts – im Gegensatz zu anderen Berufsschulen – am unproblematischsten war.

Aufgrund der Unterstützung durch Projekte zur Integration von Menschen mit Behinderung, die durch das Bundessozialamt ausgeschrieben wurden, suchte der Elternverein nach Arbeitgebern in der Region. Eine Bereitschaft zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zeigten vor allem Gemeinden vor Ort, die Menschen mit Behinderung als „GemeindearbeiterInnen“ anstellten. Erste Unternehmen beschäftigten ebenfalls Menschen mit Behinderung, häufig wurden die Entscheidungen für die Beschäftigung zu diesem Zeitpunkt noch von den betroffenen Eltern oder Verwandten getroffen, oder wie es der Leiter des sonderpädagogischen Beratungszentrums formuliert: „eben auch an der Nahtstelle Schule Beruf. Aber das müsste man mit VIANOVA genauer besprechen natürlich und da ist. Ich nehme, das so wahr, dass sich die mittleren Betriebe da leichter tun, wenn es auch nochmal eine persönliche Anknüpfung vom Firmenchef gibt. Die Kleinen tun sich schwer, eh klar. Und die Großen haben ihre strengeren Richtlinien“.

Zum Ende dieses Zeitraumes erklärte die ganze Region Außerfern in einem Leitbild Inklusion zu ihrem, das heißt also einem regionalen Auftrag:

„Das Außerfern entwickelt sich zur Modellregion für gelebte Integration in Richtung Inklusion aufbauend auf dem Konzept der umfassenden Teilhabe für alle. Integration und Inklusion sind eine grundlegende Menschenrechtsfrage. Wir verstehen darunter eine Haltung, die auf der Überzeugung beruht, dass alle Menschen gleichberechtigt sind, geachtet und geschätzt werden. Integration und Inklusion sind ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess und setzen Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen voraus. Sie ermöglichen allen Menschen in vollem Umfang gleichwertig, gleichberechtigt und partnerschaftlich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

In allen Lebensbereichen gilt es

inklusive Kulturen zu schaffen,

inklusive Strukturen zu erarbeiten und

inklusive Praktiken zu entwickeln.

Integration und Inklusion beziehen sich auf alle Menschen, unabhängig von der Art und Schwere ihrer Beeinträchtigung oder ihres sozialen Status – Sie sind unteilbar. Integration und Inklusion gewährleisten volle Bürgerrechte, bestmögliche Selbstbestimmung und entsprechende Unterstützung und Dienstleistung für alle“ (http://www.allesausserfern.at/servicebox/protokolle-zum-sozialen-leitbild).

5.4 Zeitkorridor IV ( ab ca. 2011 bis jetzt, Stand Juni 2013)

Das regionale Statement zur Inklusion begünstigt einen Vorbild- bzw. Multiplikatoreneffekt. Das lokale/regionale Profil kann als wegweisend für weitere Entwicklungen auf der Ebene des Bundeslandes und darüber hinaus angesehen werden. „Es hat inzwischen einen Tirol weiten Prozess gegeben, so dass die Art der Begleitung von Inklusion, wie sie im Bezirk Reutte seit vielen Jahren stattfindet, vorbildhaft für das gesamte Bundesland geworden ist. Und eigentlich jetzt beschlossen wurde. Also der Bezirk Reutte hat eine gewisse Strahlkraft jetzt in die anderen Bundesländer bekommen“ (Leiter des SBZ). Die Aussagen der UN-Konvention, die mancherorts nun eine (moralische) Appellfunktion auszuüben scheinen und gleichzeitig ein gewisses Maß an Ratlosigkeit hinterlassen, werden bei ihren Befürwortern als Entlastung wahrgenommen. Die Argumentationslinie verläuft nicht mehr (ausschließlich) auf der persönlichen Begründungs- oder sogar Rechtfertigungsebene, sondern sie wird durch das überstaatliche Übereinkommen gestärkt. „Es waren jetzt ganz viele Bildungsverantwortliche da und haben sich das bei uns angeschaut. Und haben schlussendlich durch die UN-Konvention Druck erhalten, wir müssen in Richtung Inklusion gehen, wie können wir das unterstützen. Und da wurde das Modell Reutte eigentlich übernommen. […] Was spannend ist, was ein bisschen entlastet, weil wir nicht mehr in der Rechtfertigung sind“ (Leiter des SBZ).

Die Region erfährt momentan Unterstützung durch die Bildungslandesrätin, die verwundert war, dass sich aus allen Bezirken, nur nicht aus dem Außerfern, Eltern bei ihr bzgl. der nicht umgesetzten Inklusion beschwerten. Sie veranlasste, die lokalen und regionalen Bedingtheiten des Außerfern näher zu betrachten, d.h. auch, sich an den Standorten zu orientieren, in denen gelingende Entwicklungen zu verzeichnen sind.

„Man hat die zuständige Bildungslandesrätin und ihre Abteilung im Grund auf einer persönlichen Ebene, menschlich überzeugt, dass das Modell Reutte Sinn macht und jetzt unterstützen die dies auch politisch - zwar schon vorsichtig, aber immerhin. Und es bewegt sich ein bisschen was weiter und was der nächste Schritt ist, es soll jetzt eine von den Sonderschulen unabhängige Integrationsberatung flächendeckend in Tirol aufgebaut werden. Was ein wichtiger Schritt ist“ (Leiter des SBZ).

Für die Bildungslandrätin waren die Eindrücke nachhaltig und flossen in das Koalitionspapier „Arbeitsübereinkommen für Tirol 2013 -2018“ ein. Für die Bildung wurde u.a. festgehalten: „Die Mitbestimmung von SchülerInnen an Schulen soll ausgebaut werden. Um den unterschiedlich interessierten und begabten Kindern ein förderliches Umfeld zu bereiten, werden von früher sprachlicher Unterstützung, bis hin zur Förderung besonderer Talente, eine breite Palette an Maßnahmen, vor allem durch einen auf das Individuum zugeschnittenen Unterricht, angeboten werden. Kinder sind unterschiedlich begabt und interessiert, das müssen wir positiv erkennen und fördern“ (http://www.tirolervp.at/fileadmin/userdaten/koalitionsuebereinkommen/index ) In diesen Zeitkorridor fällt auch das Erscheinen des Nationalen Aktionsplans Österreichs, (s.o.).

In der Region kann von einer weiteren Stabilisierung der Integration/Inklusion gesprochen werden. Die schulische Inklusion ist quasi erreicht – die Sonderschule bleibt b.a.w. stillgelegt und die SchülerInnen besuchen gemeindenah die Volks- und Hauptschule. Die Lehrer und Lehrerinnen entwickeln ihre Kompetenzen für einen inklusiven Unterricht in der Praxis. Bei all denjenigen, die bisher noch keinen Schüler/keine Schülerin mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschult hatten, beginnt nun ein diesbezüglicher Lernprozess. Folglich ist davon auszugehen, dass die Qualität des inklusiven Unterrichts sehr variiert: Wenn einerseits also für die Integration eine Flächendeckung in der Region zu verzeichnen ist, so muss andererseits von unterschiedlichen Qualitätsniveaus inklusiver Pädagogik ausgegangen werden.

Die Pädagogische Hochschule in Tirol (Innsbruck) tritt im Kontext Inklusion bisher nicht näher in Erscheinung. Daher sieht der Leiter des SBZ es für notwendig an, dass das sonderpädagogische Beratungszentrum speziell die JunglehrerInnen, die ihren Dienst in der Region antreten, unterstützt.

Aktuell wächst durch die momentan zuständige Schulinspektorin der Druck auf alle LehrerInnen, schulische Inklusion zu verwirklichen. Bisher vertrat der Leiter des SBZ, der für die Absicherung der schulischen Inklusion verantwortlich ist, die Auffassung, dass nur die Lehrer Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichten sollten, die dieses auch wollen.

Mit Blick auf die berufliche Integration lässt sich festhalten, dass die Unterstützungen des Bundessozialamtes geringer werden, jedoch mehr und mehr Unternehmen vor Ort die berufliche Integration unterstützen und sich als Arbeitgeber anbieten. Daran wird sichtbar, dass das beschriebene Profil der Gemeinde als inklusive Gemeinde nun auch bei den Arbeitgebern vor Ort Effekte nach sich zieht. Der wirtschaftliche Sektor (vor allem mittelständische Betriebe) trägt vermehrt zur inklusiven Profilbildung bei.

Der Elternverein konnte sein Angebot an Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung beibehalten. Das Anliegen des Elternvereins ist es nun, zum einen eine ambulante Unterstützung im Wohnen bei Menschen mit Behinderung anzubieten und zum anderen eine spezifische Ausbildung ihrer/von AssistentInnen zu ermöglichen. Der Verein ist der Auffassung, dass übliche Ausbildungen, die im Bereich der Heilpädagogik durch andere Träger angeboten werden, nicht dem Anspruch eines Integrationsassistenten gerecht werden. Insofern gibt sich der Verein eine weitere und neue Aufgabe, die seine Relevanz nun auf einer anderen Ebene deutlich macht: die Professionalisierung des Personals. Für die Konzeption der Ausbildung erhielt der Verein Unterstützung durch eine wissenschaftliche Expertise, voraussichtlich ab 2014 wird die Ausbildung starten. Auch für den Elternverein scheint nun eine Phase einer neuen Profilbildung begonnen zu haben. Mit der Verantwortung für die Ausbildung der Assistenz rückt ein neues Ziel in den Mittelpunkt.



[5] Er selbst war Lehrer des zweiten schulischen Integrations-Modellversuchs und ist seit diesem Zeitpunkt in die Integrationsbewegung vor Ort involviert.

[6] „Das BMUKK setzte zur Abdeckung des sonderpädagogischen Förderbedarfs eine Maßzahl von 2,7 % aller Schüler fest, die bei der Berechnung des Grundkontingents an Planstellen berücksichtigt wurde. In den überprüften Ländern Kärnten, Niederösterreich und Salzburg lag jedoch der tatsächliche Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Schuljahren 2007/2008 bis 2009/2010 zwischen 3,61 % und 4,11 %. (TZ 8)“ (Der Rechnungshof 2012, S. 6)

[7] Elternverein gegründet im Mai 1984, Elternverein und Lebenshilfe schließen sich zu "Lebenshilfe Außerfern, Elternverein für Behinderte im Bezirk Reutte" im Mai 1985 zusammen. 1987 erfolgte der Ausschluss des Direktors der Sonderschule und von Heinz Forcher, wegen „vereinsschädigen Verhaltens“ (Leiter des SBZ). Heinz Forcher gründet folgend den Verein TAFIE "Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung" mit, der eine Außenstelle auch in Reutte hatte (1989).

2002-2006 gab es mit der OASE ein Projekt unter dem Dach von TAFIE, mit ihm war eine europäische Förderung von Arbeitsprojekten für Menschen mit geistigen und schwersten Beeinträchtigung verbunden (vgl. Dablander 2006). Seit 2007 heißt der Elternverein VIANOVA.

[8] So arbeitet das Kompetenzzentrum, wie es inzwischen heißt, seit über 15 Jahren.

[9] Dies geschieht auch heute noch.

[10] Das Gymnasium Reutte konnte sich bisher nicht zu einer zieldifferenten Inklusion durchringen. Nur Schülerinnen mit Körper- und Sinnesbehinderungen werden aufgenommen, wenn sie lehrzielgleich unterrichtet werden können.

6 Hinweise auf Entwicklungsphasen

Die Rekonstruktion der Entwicklungslinien innerhalb der – zunächst auf Grund der Übersichtlichkeit nur nach gleich langen Zeiträumen – eingeteilten Phasen förderte zutage, dass innerhalb der Zeiträume dominante (kommunikative) Strategien oder Verfahrensformen beschrieben werden können. Das bedeutet nicht, dass sich frühere Abläufe und Formationen in späteren Phasen gänzlich auflösen. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass diese zwar relevant bleiben, dass sich aber die Aktivitätsformen transformieren. Beginnend mit den Eltern soll dies im Folgenden beispielhaft erläutert werden. Dies geschieht auch deshalb, weil mit der Elterninitiative der Startpunkt der Ereignisse benannt werden kann (vgl. Arora 2013). Ausgehend von der Unzufriedenheit der Eltern über die bestehenden schulischen Bedingungen ist in der ersten (Initiativ-)Phase eine Dominanz von Persönlichem Engagement und persönlichen Beziehungen festzustellen. Quasi im Sinne einer „Anschubfinanzierung“ werden viele persönliche Ressourcen und informelle Gespräche benötigt, um das Anliegen in der Kommunikation zu halten, bekannt zu machen und das Ziel der Integration zu erreichen. Einzelne Personen nehmen die Position von Schlüsselfiguren ein, von denen die Entwicklungen vorangetrieben werden. So stellt der Sonderschulleiter für alle sichtbar, die Existenz seiner Schule in Frage. Der Erfolg der Initiative lässt sich an dem Einrichten von Modellversuchen und einer gewonnenen Öffentlichkeit (Symposium) ablesen. Die Vereinsgründung des Elternvereins steht am Ende der ersten Phase und leitet durch den erreichten Institutionalisierungsgrad und damit verbundener neuer Regel- und Musterbildungen eine zweite Phase ein. In dieser rücken die Institutionen als Akteure in das Blickfeld. Entweder institutionelle Zusammenhänge entstehen (Vereinsgründung der Eltern), oder sie werden ab- bzw. umgebaut (De-Institutionalisierung der Sonderschule als Schule). Letzteres ist ggf. mit der Transformation des Auftragsverständnisses (Zweck, Ziel) verbunden (Re-Institutionalisierung) (vgl. Brachmann 2011). Im Außerfern lässt sich dies z.B. daran ablesen, dass die Volksschule nun alle Kinder aufnimmt und die sonderpädagogische Institution als Beratungszentrum aufgebaut wird. Der Schulerhalter stützt durch Maßnahmen der Barrierefreiheit die institutionelle Ebene ganz konkret. In dieser Phase, in der eine Festigung und Konsolidierung der Integrationsanliegen durch das Einbeziehen der institutionellen Ebenen verzeichnet werden kann, bleibt der Aktionsradius der Eltern als Verein bestehen und es bahnt sich eine Ausweitung, auch auf der Bundesebene, an. Die Allgemeine Sonderschule wird drei Jahre vor ihrer Stilllegung (1995) in die Sonderschule für schwerstmehrfach behinderte Schüler umgewandelt.

Für die dritte Phase wählen wir die Bezeichnung der Vernetzung, weil diese in unterschiedlichen Zusammenhängen erfolgt und damit Aushandlungsprozesse verbunden sind. Hier ist beispielsweise die Auseinandersetzung des Leiters des Sonderpädagogischen Zentrums mit dem Landesrat für Bildung um die Anerkennung als Dienststelle zu nennen. Die Formalisierung der Arbeit des SBZ-Leiters wurde mitunter auf informellen Kommunikationswegen bewirkt. „Es hat sich in Reutte sehr informell und sehr ohne formale Absicherung dieses Beratungsteam für Inklusion nicht nur entlang der Dimension Behinderung-Nichtbehinderung, sondern dann auch entlang anderer Differenzdimensionen also zu Bewältigung von Heterogenität diese Beratungsstelle aufgebaut, sehr informell, indem die lokalen Verantwortlichen dafür waren und die Leute halt da waren. Und dies hat jetzt wieder Modellcharakter für Gesamttirol“ (Leiter des SBZ). In diesen zeitlichen Abschnitt fällt auch die Professionalisierung des Angebotes des Elternvereins. Es sind allerdings auch Elemente der Stagnation erkennbar, da eine angestrebte Elterninitiative auf überregionaler Ebene scheitert (I:Ö geht 2006 in Insolvenz). Dieser mögliche Bedeutungsverlust wird in der vierten Phase dahingehend zu lösen versucht, dass sich nun der Schwerpunkt des Vereins verlagert, es kommt eine zweite Aufgabe hinzu: die der Ausbildung für das professionelle Personal. Es rückt dadurch ein weiteres Anliegen ins Zentrum, das im Sinne einer Synthese eine Lösung zweiter Ordnung anbietet: Schwindet die eigene (elterliche) Beteiligung und Geltung durch den wachsenden Einsatz von professionellem Personal, so wird durch die Aufgabe, selbst eine Ausbildung für Assistenzen anzubieten, der Geltungsbereich wieder größer. Für diese Phase wählen wir die Bezeichnung der Profilbildung. Das Profil der sonderpädagogischen Einrichtung als Beratungszentrum und die damit verbundenen strukturellen Bedingungen sind nun abgesichert. Die Gemeinde veröffentlicht ein eigenes inklusives Profil.

Grafische Darstellung der Entwicklungsphasen: 1 -
"Persönliches Engagement", 2 - " Re- und
De-Institutionalisierung", 3 - "Vernetzung", 4 - "
Profilbildung"

Der nachgezeichnete Verlauf macht deutlich, dass für eine weitestgehende Umsetzung der Inklusion neben einem (anhaltenden) persönlichen Engagement weitere institutionelle Zusammenschlüsse, Auftragsklärungen und Veränderungen notwendig sind. Die direkte Einflussnahme eines veränderten sonderpädagogischen Auftrags auf die Ausrichtung der Volksschule und der weiterführenden Schulen wird sichtbar. Insbesondere die erste und die zweite Phase lassen Ähnlichkeiten mit Organisationsentwicklungsmodellen erkennen, bei denen, zumeist um eine Gründerfigur herum, am Anfang eine Pionierphase steht, gefolgt von Phasen der Differenzierung, Integration und Assoziation (vgl. Glasl & Lievegoed 42011). Dieser Verlauf kann als Anpassungsprozess an Systemveränderungen gesehen werden. Diese werden zunächst als Krisen wahrgenommen und können mehr oder minder produktiv gelöst werden. Inwieweit Phasenverläufe von Organisationen ebenfalls für regionale Bezugseinheiten als plausibel angenommen werden können, wäre zukünftig näher zu untersuchen. Veränderungsprozesse, wie die, die mit inklusiven Bildungslandschaften verbunden sind, können jedoch erhebliche Unsicherheiten auslösen. Daher ist neben vielen Kompetenzen, die für die pädagogischen Gestaltungsszenarien hilfreich sind, sicherlich eine Gelingensbedingung in dem persönlichen Potenzial zu sehen, mit Unwägbarkeiten und Unsicherheiten gut umgehen, bzw. sich auf neue, nicht vorhersagbare Prozesse einlassen zu können, die ggf. auch scheitern können.

7 Literatur

Altrichter, Herbert & Feyerer, Ewald (2011): Auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem? Die Umsetzung der UN-Konvention in Österreich aus der Sicht der Governance-Perspektive. In: Zeitschrift für Inklusion, Nr. 4, verfügbar unter: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion/article/view/131/127 [Zugriff: 03.04.2013]

Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 11 – Soziales; Mag.a Barbara Pitner (Hrsg.) (2012): Aktionsplan des Landes Steiermark Phase 1: 2012– 2014 Umsetzung der UN-Behinderten rechtskonvention, Graz, verfügbar unter: http://www.soziales.steiermark.at/cms/dokumente/11772839_94717223/0cb589f6/Aktionsplan.pdf [03.04.2013]

Anlanger, Otto (1993). Behinderten Integration. Geschichte eines Erfolges. Wien- Dachs-Verlag: Wien – München.

Steffen Arora (2013). „Mein Sohn muss in die Schule gehen“. Wie es im Tiroler Bezirk Reutte zur Abschaffung der Sonderschule kam. In: behinderte Menschen 2. S. 4/5.

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VIANOVA: http://www.vianova-austria.at/

Quelle

Andrea Dlugosch, Anke Langner: Auf dem Weg zur inklusiven Region? Einflussfaktoren und Entwicklungsphasen am Beispiel Reutte/Außerfern. Erschienen in: Feyerer, Ewald/ Langner Anke (Hrsg.) (2014): Umgang mit Vielfalt. Lehrbuch für Inklusive Bildung. Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule OÖ, Band 3. Linz: Trauner, Verlag.

bidok - Volltextbibliothek: Wiedereröffentlichung im Internet

Stand: 19.05.2015

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