Die "Psychiatrische Landschaft" des "historischen Tirol" von 1830 bis zur Gegenwart

Ein Überblick

Themenbereiche: Lebensraum
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: E. Dietrich Daum, H.J.W. Kuprian, S. Clementi, M. Heidegger, M. Ralser (Hg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. innsbruck university press 2011, S. 17-41.
Copyright: © Elisabeth Dietrich-Daum, Michaela Ralser 2011

Die "Psychiatrische Landschaft" als mediko-sozialer Raum

Sich mit der "Psychiatrischen Landschaft" des "historischen Tirol" (in seinen Grenzen vor 1919) zu beschäftigen, bedeutet, sich zunächst mit einem, dann mit zwei verschiedenen psychiatrischen Versorgungssystemen auseinanderzusetzen. Hatte dieser Raum bis zum Ende des Ersten Weltkrieges eine Verwaltungseinheit mit vergleichbaren und aufeinander bezogenen medizinisch-sozialen Versorgungsstrukturen gebildet, teilte sich mit dem Friedensvertrag von St. Germain 1919 der Weg der nunmehr zwei Staaten zugeordneten Gebiete politisch und administrativ. Diese Trennung führte aber noch nicht zu einem Auseinanderdriften in der Gestaltung des psychiatrischen Versorgungssystems des Bundeslandes Tirol auf der einen und jenem in Südtirol und im Trentino auf der anderen Seite. Ein solches erfolgte auch nicht grundsätzlich während der Zeit der Option und des Zweiten Weltkrieges, in welcher das Schicksal der Südtiroler Kranken auf Grund des Gesetzes über die Option (21. August 1939, Nr. 1241) und der Deutsch-Italienischen Vereinbarungen (23. Juni 1939, 21. Oktober 1939 bzw. 17. November 1939) den menschenverachtenden Entscheidungen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik unterworfen war. Auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zeichnete sich die heute deutlich wahrnehmbare Trennung der Versorgungssysteme noch nicht ab, vielmehr wurden die alten Strukturen genutzt, um die psychiatrische Versorgung in der 1927 eingerichteten infrastrukturell schlecht ausgestatteten Provinz Bozen zu gewährleisten. Erst mit der Umsetzung der Reform durch Vollziehung des so genannten "Basaglia-Gesetzes" vom 13. Mai 1978 in Italien war der ideologische und strukturelle Bruch in der Ausrichtung der psychiatrischen Systeme Tirols und Südtirols bzw. des Trentino vollzogen. Diese Entwicklung hat in Italien letztendlich dazu geführt, dass die großen psychiatrischen Anstalten geschlossen und als solche zu historischen Objekten wurden, während in Österreich diese in reformierter und modifizierter Form weiter bestehen und immer noch als Orte psychiatrischer Krankenhauspraxis fungieren. Trotz dieser Auseinanderentwicklung bestehen bis heute intensive Kontakte zwischen den Nachbarregionen, über Jahrzehnte haben Innsbrucker Psychiater Südtiroler PatientInnen beraten und nach wie vor werden Südtiroler PatientInnen auf Wunsch und bei Bedarf an der Innsbrucker Klinik aufgenommen.

Mit der Bezeichnung "Psychiatrische Landschaft" ist also ein politisch-geographisch definierter historischer Raum gemeint, der sich durch spezifische - zum Teil miteinander verwobene - medikale Strukturen auszeichnet und vorerst gemeinsame, dann unterschiedliche Formen der medizinischen und sozialen Versorgung von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen entwickelte. Die aktuellen Versorgungssysteme in Tirol, Südtirol und im Trentino sind Ergebnisse schwieriger und langwieriger nationalstaatlicher, bilateraler und sozial-politischer Verhandlungsprozesse, deren gemeinsame Geschichte 1830 mit der Gründung der Anstalt in Hall ihren Anfang nahm. So ist auch nachvollziehbar, dass die Nachbarregionen heute vor je unterschiedlichen Herausforderungen stehen und unterschiedliche Erinnerungskulturen hervorgebracht haben. Folglich sind auch die Fragen an die Geschichte in den ehemaligen drei historischen Landesteilen heute nicht (mehr) dieselben wie vor hundert Jahren.

Das Versorgungssystem im "historischen Tirol" 1830 - 1919

Im ehemaligen Kronland Tirol basierte die medizinische und soziale Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf vier Säulen: der privaten Familienpflege, der gemeindlichen Unterbringung in Armen- und Versorgungshäusern, der Verpflegung in lokalen Spitälern und der Unterbringung in öffentlichen psychiatrischen (Landes-)Anstalten und in der Neurologisch-psychiatrischen Klinik. Die Versorgung in privaten Sanatorien spielte mit Ausnahme des Meraner Raums (etwa Martinsbrunn) eine unbedeutende Rolle.

Traditionelle Formen der Versorgung, wie die Pflege im Familienverband, leisteten bis nach der Wende zum 20. Jahrhundert den größten Teil der Betreuungsarbeit für psychisch kranke Menschen. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 1895 befanden sich zu jener Zeit mehr als 40 Prozent der betreuungsbedürftigen "PsychiatriepatientInnen" im Raum des "historischen Tirol" in ständiger Familienpflege, über 30 Prozent wurde in den Gemeindeversorgungshäusern, in den allgemeinen und unspezifischen Krankenhäusern und Spitälern, aber nur rund 27 Prozent in den landeseigenen "Irrenanstalten", behandelt und gepflegt. So wurden die ersten Heil- und Pflegeanstalten genannt, die als therapeutische Milieus unter Hoheit des Arztes allein den psychisch Kranken vorbehalten waren und eine schrittweise Medikalisierung der "Irrenfrage" einleiteten. Die relativ geringe Versorgungsrate der frühen Haller Anstalt aber ist insofern bemerkenswert, als die Psychiatriegeschichte das 19. Jahrhundert als die Ära der großen psychiatrischen Anstalten ansieht, wodurch die häusliche Befürsorgung in der Familie und die Pflege in den Spitälern und Versorgungshäusern der Gemeinden außer Blick geraten. Nicht nur deshalb ist die Geschichte der kommunalen und privaten Betreuung psychisch kranker Menschen nur fragmentarisch erforscht. Die wenigen überlieferten Informationen dazu stammen zudem aus der Feder von Anstaltsdirektoren, die herbe Kritik an der mangelhaften Unterbringung der Kranken führten und zum Teil dramatische Schilderungen hinterließen, nicht zuletzt um deren alleinigen Anspruch auf Behandlung zu unterstreichen. Gänzlich unerforscht ist auch die Geschichte jener psychisch Kranken, die ihr Leben jenseits der Sorge-, Verwahr- und Behandlungssysteme weiterführten.

Abb. 2: Sanatorium Martinsbrunn in Gratsch-Meran (1906)

Vor der Eröffnung der ersten psychiatrischen Anstalt in Hall in Tirol wurden psychisch kranke Menschen, die keine Angehörigen hatten, die sie hätten versorgen können oder deren Familien nicht dazu im Stande waren, vorwiegend in den gemeindeeigenen Versorgungshäusern untergebracht. Anders als bei der Anstaltsversorgung, die ab 1830 als Alternative zur Verfügung stand, war für eine Unterbringung psychisch bzw. psychiatrisch Kranker kein ärztliches Gutachten notwendig, auch waren die Unterbringungskosten vergleichsweise gering. Auf Grund ungenügender Aufnahmekapazität der psychiatrischen Anstalten blieben die Versorgungshäuser bis in das 20. Jahrhundert Erstaufnahmestelle und "ultimum refugium"[1] zahlreicher Tiroler, Südtiroler und Trentiner "PsychiatriepatientInnen". Im Durchschnitt galten um 1900 11 Prozent der in den Versorgungshäusern des Landes lebenden Menschen als psychisch krank.

Diese Versorgungshäuser, im lokalen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts auch als "Armen"-, "Abnähr"-, "Maroden"-, "Siechen"-, "Pfründnerhäuser", "Gemeindespitäler" oder "Greisenasyle" bezeichnet, sind zum Teil aus den lokalen alten Spitälern, die nicht mit heutigen Krankenhäusern zu verwechseln sind, hervorgegangen, andere auf Grund der Bestimmungen der "Direktiv-Regeln zur künftigen Errichtung der hiesigen Spitäler und Versorgungs-Häuser" aus dem Jahr 1781 von Joseph II. sowie der Fürsorgepflicht der Gemeinden ("Heimatgesetz") in mehreren Gründungsphasen in nahezu jeder größeren Gemeinde installiert worden. Die entsprechende Norm für Tirol wurde mit Gubernialdekret über die Armenversorgungsanstalten auf dem Land vom 11. Jänner 1785 erlassen.[2] Die Bestimmungen verpflichteten die Gerichte eine Hauptarmenkasse einzurichten und die größeren Gemeinden, ihre Dorfarmen und Pflegebedürftigen in kommunal finanzierten, lokalen Versorgungs- oder Armenhäusern unterzubringen und für deren Wohnung, Heizung, Beleuchtung, Kleidung und Wäsche, ferner im Falle einer Krankheit für ärztliche Pflege, Arzneien sowie deren Kost aufzukommen. 1839 wurde auch eine für alle Versorgungsanstalten gültige "Hausordnung"[3] erlassen, nach welcher jede der Einrichtungen über ein beheizbares Zimmer sowie über eine mit Eisenstangen an den Fenstern und festen Türen versehene Kammer zur Unterbringung der "Irren" verfügen musste. Die Kosten für ihre Pflege wurden entweder von der heimatzuständigen Gemeinde, von einer Stiftung oder vom Landesfonds bestritten, die als Träger und Erhalter der Einrichtungen fungierten. Nach Fedor Gerényi, dem administrativen Inspektor der Wohltätigkeitsanstalten Niederösterreichs, der um 1900 die Versorgungshäuser Österreichs inspizierte, wurden in Tirol 87 Prozent der Pflegeleistung in den Tiroler Versorgungshäusern von 135 Ordensschwestern (im österreichischen Durchschnitt waren dies 59 Prozent), überwiegend von den Barmherzigen Schwestern der Mutterhäuser Innsbruck und Zams erbracht. Nur in größeren Häusern waren eigene Hausverwalter, Gehilfen, Knechte oder Mägde bestellt. Die historische Bedeutung und Prägekraft der Ordenspflege in Tirol wird so verständlich. Sie wird später auch noch für die psychiatrische Anstalt in Hall eine Rolle spielen.

Abb. 3: Heim Santa Katharina, Alten-, Pflege- und Therapiezentrum Ried im Oberinntal (2010), ehemaliges Versorgungshaus

Die Versorgungslandschaft des historischen Tirol blieb mit seinen um 1900 ausgewiesenen 145 Häusern äußerst inhomogen, ebenso die Qualität der lokalen Einrichtungen und Pflegestandards. Der Großteil der überwiegend älteren Versorgungshäuser wies auch nach Vergabe der Aufsicht und Pflege an die Barmherzigen Schwestern gravierende sanitäre und pflegerische Missstände auf. Die redundante Kritik der Behörden an der ungenügenden Ausstattung der Unterkünfte zieht sich durch das gesamte 19. Jahrhundert: undichte Dächer, kaputte Fenster, defekte Böden, feuchte, dunkle, kleine und schlecht ventilierte Räume, sanierungsbedürftige Abortanlagen und Senkgruben, fehlende Badestuben und Leichenkammern, Mangel an Bettwäsche, an Strohsäcken und Leibwäsche, an Schlafstellen und Holz. Neben den baulichen und sanitären Missständen kritisierten die administrativen Organe die unzureichende, ja zum Teil unzumutbare Ernährung der "Pfleglinge". Im Allgemeinen waren sie hinsichtlich Unterkunft und Kost, ärztlicher Betreuung und Pflege in den Versorgungs- und Armenhäusern merklich schlechter gestellt als die PatientInnen in den Krankenhäusern, wo ein Verpflegstag das Dreifache der Taxe der Tiroler Versorgungshäuser kostete. Es ist davon auszugehen, dass die aufgenommenen Kranken in den Versorgungshäusern im Wesentlichen bloß behelfsmäßig versorgt wurden, ohne eine spezifische medizinisch-psychiatrische Behandlung zu erfahren.

Abb. 4: Ehemaliges Versorgungshaus Imst (2010)

Die geografische Verteilung der Versorgungshäuser im 19. Jahrhundert zeigt sehr deutlich, dass die Bezirke Bozen, Innsbruck, die Unterinntaler Bezirke und im südlichen Landesteil die Gerichtsbezirke Borgo und Tione, letztere allerdings mit sehr kleinen Häusern, über ein relativ dichtes Netz an entsprechenden Einrichtungen verfügten, während große Teile Osttirols, der angrenzende Bezirk Pustertal/Bruneck, der Vinschgau und die nördlichen Gerichtsbezirke des Trentino massiv unterversorgt waren. Auch hinsichtlich der Aufnahmekapazitäten sind erhebliche Unterschiede festzustellen, große Versorgungshäuser bestanden in Hall, das so genannte "Zufluchtshaus" verfügte z.B. über Platz für rund 250 Personen, das städtische Versorgungshaus in Innsbruck zählte über 170 Pflegebetten, das städtische Armenhaus in Innsbruck bot 120 Personen Platz. Die meisten Häuser zählten aber kaum mehr als 20 ständig Verpflegte. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden in Innsbruck und Wörgl Versorgungshäuser mit großen Kapazitäten und relativ guten Standards gebaut und eröffnet. Auch wenn die Versorgungshäuser bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wesentlicher Bestandteil der Unterbringungspraxis in Tirol waren, wurden psychisch kranke Menschen dort in der Regel - vorübergehend oder auch dauerhaft - bloß "verwahrt". Die medizinisch-psychiatrische Behandlung gehörte nicht zum Aufgabengebiet der Versorgungshäuser. Eine über die einfache Grundpflege, Verköstigung und Beaufsichtigung hinausgehende Betreuung der Kranken war nicht vorgesehen. Diese Rolle nahmen eigene Spezialanstalten ein, die sich in Österreich - wie in vielen anderen europäischen Staaten - als eine der zentralen Strukturen des aufgeklärten "Wohltätigkeitsregimes" etablieren sollten: die "Irrenanstalten". Diese eigenständigen Spezialanstalten zur Versorgung, Pflege und Behandlung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen beherbergten am Ende des 19. Jahrhunderts Österreich weit rund 40 Prozent der nunmehr als PatientInnen wahrgenommenen "Irren". Diese neue Auffassung vom "Irren" als "krank" und der "Irrenfrage" als medizinischer Herausforderung hat sich in allen Staaten Europas - in den einen früher, den anderen später - ebenso wie in den USA durchgesetzt. Dass diese wesentlich neue Orientierung in der Praxis oft eine improvisierte Antwort, eine von alten und neuen Vorstellungen und Zwecken durchwirkte Verwahr- und Behandlungsstruktur mit vermischter Funktion erzeugte, respektive bewahrte, gilt als sozial- und medizingeschichtlich erwiesen. Organisations- und institutionengeschichtlich aber muss die "Irrenanstalt" als erfolgreich gelten. In allen Ländern Europas wurde ihre Einrichtung beschlossen, so auch in Österreich. Das Gesetz vom 17. Februar 1864 übertrug die Zuständigkeit der "Irrenversorgung" vom Staat auf die Länder bzw. Kronländer, was eine Gründungswelle landeseigener Anstalten in Gang setzte.[4]

Abb. 5: Landesnervenkrankenhaus Hall (ca. 1960)

Die erste psychiatrische Anstalt des Landes Tirol, die "k. k. Provinzial-Irrenanstalt"[5], wurde am 1. September 1830 im ehemaligen Klarissenkloster für 80 Männer und Frauen aus Tirol, Südtirol, dem Trentino und Vorarlberg[6] in Hall, westlich der Landeshauptstadt Innsbruck eröffnet. Sie war damit eine der ersten "Irrenanstalten" Österreichs und galt lange als eine seiner modernsten. Sie sollte anfangs, so das Statut, "heilbare" und "gefährliche" PatientInnen mit "seelischen" Problemen aufnehmen. Auf Grund der stetig steigenden Nachfrage nach Behandlungsbetten und Pflegeplätzen - ein Phänomen, das später als "Irrenboom"[7] bezeichnet werden wird, und dessen Zustandekommen schon zeitgenössisch zu kontroversen Debatten führte - wurden mehrere Zu- und Umbauten (1845 "Tobabteilung", 1868 "Frauenhaus") notwendig. Diese konnten die Nachfrage allerdings nur vorübergehend befriedigen, so dass eine im Landtag und in der Presse geführte langwierige und politisch aufgeladene Diskussion um die Errichtung einer zweiten Landesanstalt oder alternativ um den Bau einer "Irren"-Pflegeanstalt (für chronisch Kranke) entbrannte. Die italienischen Abgeordneten argumentierten zu Recht mit der Benachteiligung der italienischsprachigen Bevölkerungsgruppe, deren PatientInnen nach weiten und strapaziösen Anreisen ins mehrheitlich deutschsprachige Tirol in einer für sie fremden soziokulturellen Umgebung leben mussten. Ihrer Forderung wurde nach schwierigen Verhandlungen schließlich am 12. Oktober 1874 durch Verordnung des Tiroler Landtages Folge geleistet und ein Begutachtungsverfahren für einen geeigneten Standort eingeleitet. Am Gelände des Gutshofes San Pietro in Pergine errichtete das Land in der für die Anstalten der Habsburgermonarchie typischen Form eines liegenden "E" ihre zweite "Landesirrenanstalt" mit einer Aufnahmekapazität von anfänglich 91 Personen italienischer Muttersprache. Doch wurde auch diese Anstalt ständig erweitert: Wies die am 15. September 1882 eröffnete zweite "Landesirrenanstalt Pergine / Manicomio provinciale di Pergine"[8] nach der Jahrhundertwende eine Bettenzahl von rund 400 aus, war der Bestand in den 1940er Jahren auf über 1000 Behandlungsbetten angewachsen.

Abb. 6: Landesirrenanstalt Pergine (ca. 1910)

Vergleichbares gilt auch für die Anstalt in Hall: Den höchsten Belegsstand mit 1078 Pflegeplätzen erreichte diese schon während des Ersten Weltkriegs. Neben mehreren Umbauten in Pergine selbst (1905 die Pavillons "Padiglione Pandolfi" und "Padiglione Perusini" zu je 50 Betten) konnte diese Steigerung durch die Eröffnung von Filialen, so der landwirtschaftlichen Kolonie in Vigalzano mit 40 Betten (1904), der durch Unterstützung der "Attilio-Romani-Stiftung" ermöglichten Errichtung der Pflegeanstalt Nomi (1922) und der "Landwirtschaftlichen Siedlung für ruhige Geisteskranke Stadlhof / Colonia agricola provinciale per infermi di mente tranquilli di Stadio" bei Pfatten (1938) für 40 PatientInnen aus der Provinz Bozen, erreicht werden. Bis zu der im Zuge der Psychiatriereform erfolgten Schließung der Anstalten in Italien blieb Stadlhof als "Institut für psychiatrische Ergotherapie" die einzige, wenn auch in ihrer Funktion eingeschränkte, psychiatrische Struktur zur stationären Behandlung von psychisch beeinträchtigten Personen in der Provinz Bozen - lange Zeit mit einer Aufnahmekapazität von 150 Plätzen.

Abb. 7: Landwirtschaftliche Kolonie Stadlhof bei Pfatten (2. Hälfte 20. Jahrhundert)

Eine weitere und in der Folge den wissenschaftlichen Diskurs bestimmende Säule der "Psychiatrischen Landschaft" Tirols bildete die Innsbrucker "Neurologisch-psychiatrische Klinik"[9], die 1891 als vierte Universitätsklinik im damaligen Österreich eröffnet wurde. Obwohl der Grund für die Errichtung der Klinik nicht eigentlich die Not in der Versorgung von PatientInnen war, schließlich war die Klinik von mehreren, nicht allzu fernen psychiatrischen Anstalten in Hall, in der Valduna (Vorarlberg) und Pergine umgeben, auch die Krankenhäuser in Trient (S. Chiara), Zams und Innsbruck führten zusammen fast 200 sogenannte "Irrenbetten", war sie beständig gut ausgelastet, wenn auch infrastrukturell stets unterversorgt. Dies wird sich erst ändern als 1918 ein Teil der PatientInnen in die neu eingerichtete "Neurologische Abteilung" in die ehemalige Kadettenschule am Innrain übersiedeln und als 1937 der über Jahre geforderte Neubau der Klinik am heutigen Standort entstehen wird. Die Zahl der Aufnahmen stieg von etwa jährlich 105 im Jahr nach der Gründung 1892/93 bis zu gut drei Mal so vielen im Jahr 1915 an. Die großen Aufnahmezahlen resultierten letztlich aus der vergleichsweise kurzen Aufenthaltsdauer und hohen Fluktuation der PatientInnen. Die Zahl der "Überstellungen" in die psychiatrischen Anstalten Hall und Pergine oder auch in andere Versorgungsstrukturen war hoch: So entfielen in den 1920 und 1930er Jahren allein 57 Prozent der Zuweisungen an die Haller Anstalt auf die Innsbrucker Klinik. Die hohe Zahl verweist auf ihre besondere Rolle als "Durchgangsort und Schleuse" innerhalb des psychiatrischen Systems. Während das Versorgungsmonopol bis weit ins 20. Jahrhundert bei den Anstaltspsychiatrien verblieb, verschob sich das Diskursmonopol schon 1900 hin zur akademischen Psychiatrie. Sie etablierte eine neue Beziehung zwischen "Heilen und Wissen".

Bevor die Kriegsumstände ab 1916 (Evakuierungen der 504 PatientInnen in Pergine auf Grund der Frontnähe in die Anstalten Hall, Klosterneuburg, Mauer-Öhling, Wien, Ybbs a. d. Donau, Praha-Bohnice und Kremsier sowie die Einquartierungen von Soldaten in Hall) zu einschneidenden Verschiebungen innerhalb der medikalen Struktur des Landes führen sollten, hatte sich die "psychiatrische Landschaft" Tirols zu einer für den österreichischen Raum typischen Versorgungsstruktur geformt: PsychiatriepatientInnen, die chronisch krank waren, aber keine permanente medizinische Behandlung benötigten oder aus sozialen Gründen erlangen konnten, verblieben entweder in der Familienversorgung oder in den lokalen Versorgungshäusern und Spitälern; PatientInnen, die auf Grund behaupteter oder tatsächlicher Selbst- oder Fremdgefährdung einer dauerhaften Behandlung, Pflege und Beaufsichtigung bedurften, wurden, sofern Aufnahmebetten zur Verfügung standen, in den psychiatrischen Anstalten in Hall bzw. in Pergine untergebracht.

Abb. 8: Neurologisch-Psychiatrische Klinik Innsbruck (1916)

Die Innsbrucker "Neurologisch-psychiatrische Klinik"der Gründerzeit wiederum nahm als "integrierte Stätte der Forschung, Lehre und Behandlung"[10] vor allem "AkutpatientInnen" und solche Menschen auf, deren Krankheitszustand ungewiss, diagnostisch anspruchsvoll und wissenschaftlich vielversprechend war. Viele von ihnen stammten aus dem benachbarten Vorarlberg, aus Südtirol und dem Trentino. Die dreifache Funktion der Universitätspsychiatrie stellte auch die Innsbrucker Klinik vor die beständige Herausforderung, zwischen "Wissens- und Versorgungsökonomie"[11] zu vermitteln.

Abb. 9: Die Versorgungslandschaft im historischen Raum Tirol um 1900



[1] Vgl. im Folgenden Dietrich-Daum, Elisabeth, "Care" im "ultimum refugium". Versorgungshäuser als Orte kommunaler Armenpflege und -politik im 19. Jahrhundert, in: Appelt, Erna / Heidegger, Maria / Preglau, Max / Wolf, Maria A. (Hg.), Who Cares? Betreuung und Pflege in Österreich. Eine geschlechterkritische Perspektive, Innsbruck-Wien-Bozen 2010, S. 165-176.

[2] Tiroler Landesarchiv (TLA), Jüng. Gubernium, Normaliensammlung, 28. Fasz., Pos.6.

[3] TLA, Provinzialgesetzgebung für Tirol und Vorarlberg für das Jahr 1839, Bd. 26/2, S. 465f.

[4] In Österreich entstand so in beinahe jedem der heutigen Bundesländer eine große Anstalt: die Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke am Steinhof bei Wien (1904-1907), Gugging bei Klosterneuburg (1885), die Landes-Irrenanstalt Feldhof bei Graz (1874 als Neubau), Niedernhart bei Linz (1867), die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling (1903), die k. k. Provinzial-Irrenanstalt in Hall. i. T. bei Innsbruck (1830) sowie die "Valduna" in Rankweil / Vorarlberg (1870) und die Landes-Irrenanstalt Pergine im heutigen Trentino (1882).

[5] Vgl. Redinger, Thomas, Zur Geschichte der psychiatrischen Disziplin. Die Irrenanstalt von Hall in Tirol (1830-1882), Diplomarbeit, Innsbruck 1998; Grießenböck, Angela, Die "Landesirrenanstalt" in Hall in Tirol und ihre Patientinnen und Patienten (1882-1919), Dissertation, Innsbruck 2009.

[6] 1870 wurde in der Nähe von Rankweil die Valduna als psychiatrische Landesanstalt für Vorarlberger PatientInnen eröffnet. Vgl. Schnetzer, Norbert / Sperandio, Hans (Hg.), 600 Jahre Valduna. Der lange Weg - vom Klarissenkloster zum Landeskrankenhaus, Rankweil 1999.

[7] Vgl. Watzka, Carlos, Der "Irrenboom" in Steiermark. Zum Problem der Zunahme psychischer Erkrankungen in der Moderne, in: Newsletter Moderne 5/1 (2002), S. 21-26.

[8] Vgl. Grandi, Casimira / Taiani, Rodolfo (Hg.), Alla ricerca delle menti perdute. Progetti e realizzazioni per il riuso degli ex ospedali psichiatrici nei territori italiani appartenuti all'Impero asburgico (=Quaderni di Archivio trentino 6), Trento 2002; Taiani, Rodolfo (Hg.), Alla ricerca delle menti perdute: viaggi nell'istituzione manicomiale (Ausstellungskatalog), Trento 2003; Pasini, Marina / Pinamonti, Annalisa (Hg.), Ospedale psichiatrico di Pergine Valsugana. Inventario dell'archivio (1882-1981), Trento 2003.

[9] Ralser, Michaela, Im Vordergrund die Klinik. Das Beispiel der Innsbrucker Psychiatrisch-Neurologischen Klinik um 1900, in: Dietrich-Daum, Elisabeth / Taiani, Rodolfo (Hg.), Psychiatrielandschaft / Oltre il manincomio, Themenheft der Zeitschrift "Geschichte und Region / Storia e regione", 17/2 (2008), S. 135-146; Ralser, Michaela, Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der Krankheit um 1900, München 2010.

[10] Vgl. Engstrom, Eric, Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric Practice, Ithaca / London 2003.

[11] Vgl. Engstrom, Eric / Hess, Volker (Hg.), Zwischen Wissens- und Verwaltungsökonomie. Zur Geschichte des Berliner Charité Krankenhauses im 19. Jahrhundert (=Jahrbuch für Universitätsgeschichte, 3/2000), S. 7-18 und S. 162-178.

Das Versorgungssystem in Tirol, Südtirol und im Trentino 1919 bis zur "Basaglia-Reform"

Die durch den Friedensvertrag von St. Germain 1919 bestimmte Abtretung der Gebiete südlich des Brenners an Italien hatte für die AnstaltspatientInnen aus dem Trentino und aus Südtirol weitreichende Folgen. Bereits am 3. März 1919 kehrten 101 Frauen und 74 Männer aus der Gruppe der 1916 aus Pergine evakuierten 504 PatientInnen nach Pergine zurück. Während die evakuierten PatientInnen aus dem Trentino in ihre "Heimat" zurückkehrten, bedeutete für die durch ein Abkommen mit der Anstalt in Pergine ermöglichte Überstellung der deutschsprachigen, nun aber nach Italien zuständigen Südtiroler PatientInnen, sich in eine für sie fremde Anstaltskultur und nunmehr italienische Institution fügen zu müssen. 1923 und 1925 wurden die letzten der nun nach Italien zuständigen Südtiroler bzw. Trentiner PatientInnen dorthin überstellt. Die psychiatrische Anstalt in Pergine, fortan als "Ospedale provinciale della Venezia Tridentina in Pergine" bezeichnet, wurde mit königlichem Dekret vom 31. Jänner 1929 dem italienischen Gesetz über die Anstalten vom 14. Februar 1904 Nr. 36 unterworfen. Im Sinne des ihr auferlegten erweiterten Versorgungsauftrags erfuhr die Anstalt unter dem ersten italienischen Direktor Guido Garbini erneut bauliche Veränderungen ("Padiglione Valdagni", "Padiglione di Osservazione"). Nach diesen Erweiterungen sollte die Zahl der PatientInnen auf 750 anwachsen. Mit den neuen Dienst- und Aufsichtsanweisungen vom 26. November 1932 wurde die Anstalt in Pergine endgültig zur "totalen Institution" (Erving Goffman). Selbstverständlich hatte die autoritäre Politik des ab nun in Italien regierenden Faschismus von Benito Mussolini Rückwirkungen auch auf die Krankenanstalt und deren Organisation.

Durch die deutsch-italienischen Vereinbarungen waren auch die deutschsprachigen PatientInnen der Anstalt in Pergine von den Optionsbestimmungen für Südtirol betroffen. Ab dem 1. Jänner 1940 war Pergine nicht mehr länger für jene SüdtirolerInnen zuständig, die selbst bzw. deren Angehörige für das "Deutsche Reich" optiert hatten. Bereits am 29. Mai 1940 wurden 299 deutschsprachige PatientInnen aus Pergine, Stadlhof und anderen psychiatrischen Einrichtungen (etwa aus den Anstalten in Udine und Nomi) in Begleitung von Ärzten und PflegerInnen in die psychiatrische Anstalt Zwiefalten in Deutschland und von hier in die Anstalten Schussenried und Weissenau in Baden-Württemberg verbracht.[12] Psychisch Kranke, die sich vor und während der Optionszeit nicht in einer psychiatrischen Anstalt befanden und für die Angehörige ein Optionsgesuch gestellt hatten, wurden in Innsbruck von der "Dienststelle Umsiedlung Südtirol (DUS)" untersucht, "psychiatrisiert" und entweder nach Hall oder in die Psychiatrische Klinik in Innsbruck eingewiesen. Nach derzeitigem Forschungsstand dürfte der größere Teil der SüdtirolerInnen - Hinterhuber[13] spricht von 62 Opfern - einer gezielten Ermordung im Rahmen der so genannten "Aktion T4" entgangen sein, dennoch starben viele noch vor Kriegsende auf Grund unzureichender Versorgung und/oder systematischer Vernachlässigung.[14] Bekannt ist inzwischen auch das Schicksal von zehn Südtiroler Kindern mit Behinderung, von denen nachweislich fünf durch medizinische Menschenversuche in einer deutschen Kinderfachabteilung getötet wurden.[15] Hartmann Hinterhuber und Giuseppe Pantozzi[16] gehen davon aus, dass insgesamt 569 SüdtirolerInnen in deutsche Anstalten verlegt wurden, von denen mindestens 239 vor Kriegsende verstarben. Jene Südtiroler PatientInnen, für die kein Optionsgesuch gestellt wurde, erlebten wie ihre "italienischen" LeidensgenossInnen in Pergine eine von Verlegung, Entbehrung und Unterversorgung bestimmte Kriegszeit.

Im September 1940 begannen auch in der Heil- und Pflegeanstalt Hall die Vorbereitungen für die Transporte im Rahmen des nationalsozialistischen "Euthanasie"-Programms "T4". Eine externe Ärztekommission erstellte auf Basis der Krankengeschichten die "Transportlisten"- die PatientInnen wurden weder untersucht noch befragt. Insgesamt wurden in den Jahren 1940 bis 1942 in vier Transporten 360 Männer und Frauen direkt aus der Anstalt in Hall oder über diese nach Hartheim[17] oder nach Niedernhart (Oberösterreich) deportiert, wo sie ermordet wurden. Der letzte Transport Ende August 1942 - mehr als ein Jahr nach dem offiziellen Ende der NS-"Euthanasie" - führte in die Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart bei Linz, wo die PatientInnen durch Medikamentenüberdosierungen ermordet wurden. Von der nationalsozialistischen Tötungsaktion waren aber nicht nur die PatientInnen der Heil- und Pflegeanstalten betroffen. Bereits im Dezember 1940 wurden auch aus dem St. Josefs-Institut in Mils "Pfleglinge" nach Hartheim verbracht und dort ermordet. Ab dem Frühjahr 1941 wurden auch die Versorgungshäuser in die "Aktion T4" miteinbezogen. Von den 360 ermordeten PatientInnen, die aus Hall abtransportiert wurden, kamen 20 ursprünglich aus dem Versorgungshaus Nassereith, 13 aus dem Versorgungshaus Imst und 21 aus dem Versorgungshaus Ried im Oberinntal.[18]

Aber auch die PatientInnen der Heil- und Pflegeanstalt Hall, die nicht für den organisierten Mord ausgewählt und in die Tötungsanstalten verbracht wurden, litten unter den Auswirkungen der menschenverachtenden NS-Gesundheitspolitik. Die Sterberate stieg in diesen Jahren deutlich an. Die genauen Hintergründe und Umstände für diese erhöhte Sterblichkeit werden seit Jänner 2011 im Rahmen eines interdisziplinären Projekts (Archäologie, Anthropologie, Medizin und Geschichtswissenschaft) und einer vom Land Tirol eingesetzten Expertenkommission erforscht. Die zwischenzeitlich durchgeführten Exhumierungen von 125 der schätzungsweise 230 Toten am Gräberfeld in Hall bestätigen indes nicht nur den Verdacht auf Hungerkost und massiver pflegerischer Unterversorgung zwischen 1942 und 1945, der Befund zeugt darüber hinaus von der Anwendung massiver körperlicher Gewalt: Mehr als die Hälfte der untersuchten Skelette weist Rippenbrüche auf, die in keiner Krankenakte vermerkt sind. Ebenso gibt es klare Hinweise auf an diesen PatientInnen durchgeführte Sterilisierungen und hohe Medikamentendosierungen, die Lungenentzündungen und Thrombosen ausgelöst haben dürften und unter Umständen auch tödlich waren. Endgültige Ergebnisse werden für 2012/2013 erwartet.[19]

Über die Geschichte der Anstalt in Hall der unmittelbaren Nachkriegsjahre ist noch wenig bekannt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das "Historische Archiv des Landeskrankenhauses Hall" erst vor wenigen Jahren eingerichtet wurde und das Material - die Nachkriegszeit betreffend - bislang nur unzureichend aufgearbeitet ist. Auch fehlen diesbezüglich die für eine Institutionengeschichte aufschlussreichen Verwaltungsakten. Wie so oft sind die HistorikerInnen auch hier auf die Aussagen von ZeitzeugInnen (z.B. ehemaligen PflegerInnen) angewiesen, deren mündliche Berichte derzeit im Rahmen eines Forschungsprojektes für eine Filmdokumentation gesammelt und verarbeitet werden.[20] Etwas genauer ist die Forschung indes über das Nachkriegsschicksal der Südtiroler PatientInnen informiert. Jener Teil der PatientInnen, der das Kriegende erlebte, verblieb über den Krieg hinaus zum Teil noch für Jahre in Zwiefalten, Schussenried und Weissenau, weil ein dazu notwendiger Antrag auf Rückoption nicht oder zu spät eingereicht wurde, die Unterschriften der gesetzlichen Vormunde fehlten oder die staatliche Zugehörigkeit der PatientInnen verloren gegangen war. Entscheidend dürfte aber gewesen sein, dass sich weder der Staat Italien, der den OptantInnen eine Frist von einem Jahr für eine Rückoption setzte, noch die Südtiroler Verwaltungsbehörden um die Repatriierung der PatientInnen kümmerten. Denn obwohl ein junger deutscher Psychiater, Johannes May und ein Pfleger, Albert Altherr, sich 1953 des Problems annahmen, befanden sich 1960 immer noch 67 Südtiroler PatientInnen allein in Schussenried. Erst ab Mitte der 1970er Jahre und auf Bestreben der dortigen Anstalt wurde ein Repatriierungsprogramm gestartet, das im Laufe langjähriger Vorbereitungen die rückkehrwilligen PatientInnen nach Südtirol zurückbringen sollte. In Schussenried und Zwiefalten leben im Jahr 1974 noch 37 der im Zuge des Optionsabkommens dorthin verlegten 491 Südtiroler Kranken, vor wenigen Jahren verstarb der letzte Südtiroler Patient in der Psychiatrie Kaufbeuren.

Das Fehlen eines tragfähigen Versorgungsnetzes in Südtirol sollte zunächst durch ein Abkommen mit dem Land Tirol (1955) kompensiert werden, wodurch die Aufnahme und Behandlung von Südtiroler PatientInnen im Bundesland Tirol ermöglicht wurde. Auch die in den 1950er Jahren gestarteten Initiativen der Trentiner Anstaltsleitung, die Einrichtung und den Betrieb der ersten psychiatrischen Beratungsstellen ("Ambulante Dienste") in Bozen und Meran zu unterstützen, dienten diesem Zweck. Ein anderer Teil der Südtiroler PatientInnen wurde an die Anstalt in Pergine verwiesen, die in den 1960er Jahren mit 1.600 bis 1.700 Kranken wieder an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität gelangt war, obwohl 1949 die landwirtschaftliche Kolonie "Stadlhof" erweitert und 1959 und 1966 der Bau zweier neuer Gebäude in Auftrag gegeben wurde. Durch diese Politik war Südtirol in eine doppelte Anbindung an und Abhängigkeit von den alten Nachbarregionen - dem österreichischen Bundesland Tirol und der Provinz Trentino - geraten. Somit ist auch wenig verwunderlich, dass in Südtirol noch Mitte der 1960er Jahre Pläne zum Bau eines eigenen psychiatrischen Großkrankenhauses entwickelt wurden. Allerdings zeichnete sich in dieser Phase bereits ab, dass Italiens Gesellschaft künftig einen neuen Weg in der Begleitung psychisch kranker Personen suchen würde.[21] Schon im Gesetz Nr. 431 vom 18. März 1968 ("legge Mariotti") wurde die Errichtung weiterer psychiatrischer Anstalten in Frage gestellt, die Installierung von kleinen psychiatrischen Abteilungen und multiprofessionellen Ambulanzen (Regionalisierung der Psychiatrie) angedacht und erste Zentren für Psychische Gesundheit ("Centri di igiene mentale - CIM") geplant. Erstmals sollte seit Beginn des Jahrhunderts ("legge Giolitti") eine Einweisung in die Psychiatrie nicht mehr den Verlust der Persönlichkeits- und Freiheitsrechte bedeuten, erstmals auch sollte eine freiwillige Aufnahme in institutionelle, psychiatrische Behandlung möglich werden. Auch das Landesgesetz Nr. 37 aus dem Jahre 1976 ging in eine ähnliche Richtung. Mit der Umsetzung der Reform durch Vollziehung des so genannten "Basaglia-Gesetzes" vom 13. Mai 1978 (Staatsgesetz Nr. 180) in Italien waren der ideologische und strukturelle Bruch mit den alten Strukturen und die völlige Neuorientierung der künftigen Ausrichtung des italienischen psychiatrischen Systems vollzogen. Der Initiator der Reform, der italienische Psychiater Franco Basaglia (1924-1980), hatte sich bereits 1961 von Görz ("Görzer Experiment") und dann ab 1972 von Triest ausgehend, gemeinsam mit einem Team von ReformpsychiaterInnen entschieden gegen den repressiven und kustodialen Anstaltsstil gewandt und die Stationen geöffnet. Basaglia war der Auffassung, das alte "Irrenhaus" würde den Ort darstellen, in dem der Kranke endgültig verloren sei, er wäre hier nicht nur Objekt seiner Krankheit, sondern auch Objekt von Internierung. Die Krankheit sei kaum noch von der Hospitalisierung, die die Anstalt erzeuge, zu unterscheiden, erläuterte er 1964 am "Internationen Kongress für Sozialpsychiatrie" in London.[22] Alle Sozial- und Personenrechte müssten dem Kranken zurückgegeben werden, jeder Freiheitsentzug müsse vermieden, die Person und ihre natürliche Umgebung, in der Gemeinde, der Familie sollten im Vordergrund einer psycho-sozialen und therapeutischen Begleitung stehen. Das medikale Prinzip dürfe nicht mehr dominieren. Die im Gesetz Nr. 180 verfügte Schließung der psychiatrischen Anstalten erfolgte in den einzelnen Regionen Italiens unterschiedlich rasch. Die Anstalt Pergine etwa wurde erst 2002 endgültig geschlossen. Viele PatientInnen aus Pergine wurden in Alters-, Behindertenheime und Privatkliniken verlegt, die ebenso wie die Einrichtungen der forensischen Psychiatrie ("Ospedali Psichiatrici Giudiziari") von den Bestimmungen der Reform ausgenommen waren[23], andere wurden in ihre Familien oder in offene Rehabilitationszentren und Genossenschaftsprojekte entlassen. Seit 17. Juli 1978 nahm die Anstalt in Pergine keine PatientInnen mehr auf, die als "rückfällig" galten oder per Zwang eingewiesen wurden, eine freiwillige Aufnahme allerdings war noch bis Dezember 1981 möglich. Die Schließung der großen psychiatrischen Krankenanstalten in Italien und die ihr nachfolgende oder gleichzeitige Realisierung gemeindenaher Alternativen stellte einen Prozess dar, der weit davon entfernt war mit Ausrufung des Gesetzes schon abgeschlossen zu sein. Allerdings war er auch nicht mehr rückgängig zu machen und entfaltete seine "befreiende" Wirkung weit über Italien hinaus.



[12] Vgl. den Beitrag von Maria Fiebrandt in diesem Band.

[13] Vgl. Hinterhuber, Hartmann, Die "Ausmerze Erbkranker", eine "bevölkerungspolitische Maßnahme". Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten aus Nord- und Südtirol, in: Steininger, Rolf / Pitscheider, Sabine (Hg.), Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit, Innsbruck-Wien-München-Bozen 2002, S. 217-229, hier S. 224.

[14] May, Johannes, Die staatliche Heilanstalt Schussenried in den Jahren 1933 bis 1945, in: Pretsch, Hermann J. u. a. (Hg.), "Euthanasie". Krankenmorde in Südwestdeutschland, Zwiefalten 1996, S. 74-83.

[15] Vgl. Karlegger, Selma, Südtiroler Kinder und Jugendliche als Opfer der "NS-Euthanasie", Diplomarbeit, Innsbruck 2006. Vgl. auch: http://www.zeitschatten.info/lebensgeschichten.html , eingesehen am 27.2.2011.

[16] Vgl. Pantozzi, Giuseppe, Die brennende Frage. Geschichte der Psychiatrie in den Gebieten von Bozen und Trient (1830-1942), Bozen 1989.

[18] Vgl. Seifert, Oliver, "Sterben hätte sie auch hier können". Die "Euthanasie"-Transporte aus der Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol nach Hartheim und Niedernhart, in: Kepplinger, Brigitte / Marckhgott, Gerhart / Reese Hartmut (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim (=Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 3), Linz 2008 (2. erw. Aufl.); Seifert, Oliver, "... daß alle durch uns geholten Patienten als gestorben zu behandeln sind ...". Die "Euthanasie"-Transporte aus der Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke in Hall in Tirol, in: Sommerauer, Andrea / Wassermann, Franz (Hg.), Temporäres Denkmal. Im Gedenken an 360 Opfer der NS-Euthanasie. PatientInnen des heutigen Psychiatrischen Krankenhauses Hall i. T., Innsbruck 2007, S. 29-77.

[19] Vgl. dazu die Presseberichte: Tiroler Tageszeitung vom 21. 6., 23.6. und 26.6.2011; Dolomiten vom 21.6.2011; Kurier vom 21.6.2011; Salzburger Nachrichten vom 21.6.2011 und andere Medienberichte; vgl. auch den Beitrag von Oliver Seifert in diesem Band.

[20] Die [un]sichtbare Arbeit. Psychiatrische Pflege im historischen Tirol von 1830 bis zur Gegenwart, Filmdokument, Innsbruck 2011.

[21] Bereits 1969 hatten studentische Gruppen die Anstalt in Parma für 35 Tage besetzt. Es folgte die Gründung mehrerer Vereinigungen ("psichiatria democratica" 1973 in Bologna und "associazione per la lotta alle malattie mentali"), die sich gegen die Behandlung psychisch Kranker in den italienischen "Irrenhäusern" richteten, die als Mittel staatlicher Repression gesehen wurden. Auch die linksgerichteten (Bürgerrechts-)Parteien ("partito comunista italiano" und "partito radicale italiano") forderten nach ihren Wahlerfolgen (1975/76) eine umfassende Umgestaltung der psychiatrischen Versorgung. Vgl. Härle, Jürgen, Die demokratische Psychiatrie in Italien. Modell und Utopie, München 1988, S. 82 und S. 91.

[22] Basaglia, Franco, La distruzione dell'ospedale psichiatrico come luogo d'istituzionalizzazione, Vortrag gehalten am International Congress of Social Psychiatry in London 1964, in: Toresini, Lorenzo / Mezzina, Roberto (editors / a cura di), Beyond the walls / Oltri i muri. Deinstitutionalisation in European best practices in mental health / La deistituzionalizzazione nelle migliori pratiche europee di salute mentale, Merano 2010, S. 37-49, hier S. 39.

[23] Seit 2008 verbietet ein italienisches Gesetz auch den Betrieb geschlossener Forensiken, der so genannten "Ospedali Psichiatrici Giudiziari". Ihre PatientInnen werden in regionale Strukturen integriert.

Das psychiatrische Versorgungsnetz in Südtirol nach der Psychiatriereform

Die im "Basaglia-Gesetz" formulierten Dezentralisierungsmaßnahmen legten die Zuständigkeit für "AkutpatientInnen" in die Verantwortung der allgemeinen Krankenhäuser (in deren "Psychiatrische Dienste für Diagnose und Therapie"), während die ambulante Behandlung und Betreuung in multiprofessionellen Teams von den "Zentren für psychische Gesundheit" geleistet werden sollten. Der Aufbau eines alternativen Behandlungs- und Versorgungsnetzes erwies sich jedoch als schwierig und langwierig. Das alte psychiatrische Modell war juridisch und technisch nicht mehr anwendbar - für das kurz vor Fertigstellung stehende "Psychiatrische Krankenhaus" in Moritzing bei Bozen musste ein alternativer Verwendungszweck gefunden werden - und neue Entwicklungen blieben lange aus. Der Personalstand der psychiatrischen Dienste in Südtirol betrug noch Mitte der 1980er Jahre, so Elio Dellantonio, 20 Prozent des Mindestsolls: in der Nachbarprovinz Trentino arbeiteten vier Mal so viele Psychiater und fünf bis sechs Mal so viele Pflegekräfte, in Tirol sechs bis acht Mal so viele Ärzte und etwa acht Mal so viele Pfleger und Pflegerinnen.[24] Nach Dellantonio konnte bis Ende der 1980er Jahre in Südtirol daher nicht mehr als "Routine-Dringlichkeitspsychiatrie" betrieben werden. Auch Lorenzo Toresini bestätigt, dass es bis in die beginnenden 1990er Jahre mit wenigen Ausnahmen so gut wie keine eigenständige Südtiroler Antwort auf die Bedürfnislagen der psychisch Kranken des Landes gab.[25] Von den Akutabteilungen in den allgemeinen Krankenhäusern waren zunächst nur zwei - in Bozen - in Betrieb, mit einer Kapazität von 24 Betten. Seit Ende der 1990er Jahre hat jedes größere Bezirkskrankenhaus seine - der "Basaglia-Reform" entsprechende kleine - Abteilung. Trotzdem befanden sich im Jahr 1991 allein in der Psychiatrischen Klinik in Innsbruck und im Psychiatrischen Krankenhaus in Hall 277 Südtiroler PsychiatriepatientInnen,[26] noch 1992/1993 wurden fast 60 Prozent der PatientInnen Südtirols außerhalb der Provinz behandelt.[27] 2009, somit dreizehn Jahre nach Beschluss des Südtiroler "Psychiatrieplans 2002" (1996), dessen Leitlinie es war, "eine integrierte und gestufte, und in die bestehende Struktur der medizinischen und sozialen Grundversorgung eingebundene psychiatrische Versorgung" sicherzustellen, seien nach einem langwierigen Nachholprozess, so Roger Pycha[28], 80 Prozent der Vorhaben umgesetzt. Das Fehlen geeigneter Einrichtungen war aber nicht nur ein Problem der langanhaltenden, unzureichenden Versorgungsstruktur des Landes. Das andere Problem bestand im Mangel an ausgewiesenem Fachpersonal: Fast zwei Jahrzehnte lang wurde ein Drittel des gesamten Südtiroler Raumes ausschließlich, und ein weiteres Drittel teilweise von Innsbruck aus betreut. Es ist mit ein Verdienst des "Verband(es) der Angehörigen und Freunde psychisch Kranker", der sich seit 1989 durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit für eine tragfähige Struktur engagierte und politisch Gehör fand, dass heute (2011) ein vergleichsweise zeitgemäßes und gemeindenahes Versorgungssystem zur Verfügung steht: Bestehend aus acht "Zentren für Psychische Gesundheit", vier Krankenhausabteilungen (mit insgesamt 61 Betten), vier Day/Night-Hospitals mit 15 Betten, drei Reha-Einrichtungen ("Grieser Hof" in Bozen, "Gelmini" in Salurn und das "Basaglia-Haus" in Sinich mit insgesamt 59 Plätzen), sieben Wohnheimen mit insgesamt 79 und zwölf Wohngemeinschaften mit 97 Plätzen, acht Tagesstätten und fünf Treffpunkten, sowie vierzehn Berufswiedereingliederungsdiensten.

Abb. 10: Haus Basaglia, Zentrum für psychische Gesundheit in Sinich/Meran (2011)

Die Bewertung der gegenwärtigen Lage bleibt allerdings abhängig von den Parametern, die angelegt werden, um diese zu qualifizieren. Wer auf eine hohe Ausdifferenzierung der Angebote im medikalen Raum setzt, wird weiter eine Reihe von Lücken im Südtiroler Versorgungssystem ausmachen, wer systematisierte Betten vergleicht, wird feststellen, dass das klinische Angebot geringer ist als jenes in Tirol. Wer das System dahingehend beurteilt, dass stigmatisierende Großeinrichtungen fehlen, dass Gemeindenähe praktiziert, auf Freiheitsentzug strukturell verzichtet und ohne Besonderung der psychisch kranken MitbürgerInnen auf Integration der psychiatrischen Dienste in das allgemeine Sozial- und Gesundheitssystem gesetzt wird, wird andere Schlüsse ziehen.



[24] Dellantonio, Elio, Die Lage der Psychiatrie in Südtirol, in: Skolast. Zeitschrift der Südtiroler Hochschülerschaft 34 (1989), Nr. 3, S. 24.

[25] Toresini, Lorenzo, Vorwort, in: Toresini / Mezzina, Beyond the walls / Oltri i muri, S. 10-13, hier S. 11.

[26] Siehe dazu das Interview mit Martin Achmüller in diesem Band.

[27] Vgl. APIS - Zeitschrift für Politik, Ethik, Wissenschaft und Kultur im Gesundheitswesen 2 (1993), S. 7.

[28] Vgl. den Artikel von Pycha, Roger, "Psychiatrie: über den schwierigen Aufholprozess Südtirols nach der beschämenden Abschiebung der Kranken nach Hall und Pergine - oder in die Euthanasie Nazideutschlands", in: FF - Südtiroler Wochenmagazin - Nr. 41, 08.10.2009, S. 34f.

Späte Reform - die psychiatrische Versorgung in Tirol

Im Unterschied zur Entwicklung in Italien war die Breitenwirkung und Durchsetzungskraft der psychiatriekritischen Bewegung in Österreich vergleichsweise gering. Die Demonstrationswelle[29] der österreichischen Repräsentanten[30] und Gruppen (etwa die am italienischem Vorbild orientierte "Demokratische Psychiatrie", die Gruppe "Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter", das Patientencafé auf der Baumgartnerhöhe "Komm 24", sowie die AktivistInnengruppe "Kritik, Aktion, Information")[31] verebbte zu Ende der 1980er Jahre fast ganz.

Als erste wichtige Etappe der österreichischen Psychiatriereform gilt das so genannte "Unterbringungsgesetz" (UbG) für psychisch Kranke aus dem Jahr 1991, das bei abnehmender Bettenzahl in Österreich seit den 1970er Jahren von rund 20.000 auf 4.000, den Anteil unfreiwilliger Aufnahmen von anfänglich 96 Prozent (1990) auf 20 Prozent (1991/1992) reduzierte.[32] Das Unterbringungsgesetz löste das bis dahin wirksame Anhalterecht der so genannten "Entmündigungsordnung" aus dem Jahre 1916 ab. Es sucht den Freiheitsentzug (die unfreiwillige Anhaltung) zu begrenzen, ihn auf ganz bestimmte in der Tendenz sich verkleinernde Personengruppen (jenen, denen eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung attestiert wird) zu beschränken, den Zwang zu minimieren, ihn also nur in ganz bestimmten Situationen zur Anwendung kommen zu lassen und es markiert die unfreiwillige Psychiatrisierung durch die geforderte Subsidiarität als letzte aller Möglichkeiten. Eine unabhängige PatientInnenanwaltschaft wurde als Rechtsvertretung eingesetzt: Sie ist das Korrektiv im ungleichen Kräfteverhältnis zwischen Institution und PsychiatriepatientIn. Da für die Voraussetzung der Anhaltung zwingend eine psychische Krankheit vorliegen muss, ermöglichte die Umsetzung des UbG letztlich, dass für mehr als hundert geistig behinderte Menschen, die bis dahin über Jahre und oft Jahrzehnte in geschlossenen Stationen des Psychiatrischen Krankenhauses in Hall gelebt hatten, angemessenere und offene Wohn- und Betreuungsstrukturen gesucht und gefunden werden mussten. Wie spät die Reform Österreich erreichte, zeigt sich auch daran, dass mit Beginn der Arbeit der Patientenanwaltschaft im PKH Hall im Jahre 1991 der größte Teil der Anstalt noch geschlossen geführt wurde. Aber auch die indirekten Auswirkungen des UbG allein hinsichtlich der Bettenzahl in Hall sind beeindruckend: Von den noch Ende der 1980er Jahre 1.200 stationären Betten in Hall verblieben 1995 rund 500, 2010 nur mehr 250. Weitere Reduktionen sind im regionalen Strukturplan vorgesehen.

Abb. 11: Parkcafé im Landeskrankenhaus Hall (2010)

Der "Tiroler Psychiatriereformplan" (1993)[33], der am 31. Jänner 1995 in der Tiroler Landesregierung Zustimmung fand und eine regionalisierte und bedarfgerechte Versorgungsstruktur mit stationären, ambulanten und komplementären Leistungsangeboten vorsieht, zeigt nunmehr 15 Jahre später deutliche Züge einer regionalisierten und sektorialisierten "psychiatrischen Landschaft". Der "Ausgliederung" der Menschen mit geistiger Behinderung (1995) aus den psychiatrischen Krankenhäusern folgte 1999 die Ausgliederung bzw. Überführung des "Primariats III" in die neue Landes-Pflegeklinik in Hall mit 121 Betten. Im selben Jahr wurde im Krankenhaus Kufstein eine psychiatrische Abteilung eröffnet, 2009 konnte nach Besetzungsschwierigkeiten eine solche auch im Bezirkskrankenhaus Lienz ihre Arbeit aufnehmen. Parallel zum massiven Bettenabbau wurde das Angebot an Tageskliniken erhöht, 1997 an der Universitätsklinik und am Psychiatrischen Krankenhaus in Hall, zwei Jahre später auch im Bezirkskrankenhaus Kufstein. Seit 2003 verfügen alle Tiroler Bezirke über so genannte "Psychosoziale Dienste", erste Anlaufstellen für Kranke und deren Angehörige. Spezialambulanzen etwa für Drogenkranke stehen im LKH Hall, an der Universitätsklinik sowie seit 2003 in Wörgl als Zweigstelle des Bezirkskrankenhauses Kufstein zur Verfügung. Im komplementären Bereich fungieren vor allem Organisationen wie PSP ("Psychosozialer Pflegedienst"), START ("Sozialtherapeutische Arbeitsgemeinschaft Tirol"), die GPG ("Gesellschaft für psychische Gesundheit"), BIN ("Beratungsstelle für Abhängigkeitskrankheiten"), BIT ("Drogen Suchtberatung Tirol") und VAGET ("Verbund außerstationärer gerontopsychiatrischer Einrichtungen Tirols") als Träger. Der größere Teil dieser extramuralen Einrichtungen verfügt über Zweigstellen auch in den größeren Bezirksstädten. Der Ausbau der "Tagesstrukturen" zur Unterstützung der Rehabilitation und Vorbereitung für den Berufswiedereinstieg allerdings konzentriert sich auf die Stadt Innsbruck und Innsbruck-Land. Zwei Drittel der Plätze werden dort angeboten. Das gilt auch für das Angebot betreuten Wohnens und Arbeitens. Der Psychiatriereformplan sah außerdem eine Verbesserung des regionalen Angebotes an Fachärzten, GesundheitspsychologInnen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen vor. Während die Zahl der FachärztInnen mit Kassenvertrag stagnierte, nahm jene der WahlärztInnen in dieser Zeit (1993-2005) von 20 auf 32 zu, auch die Zahl der klinischen PsychologInnen, GesundheitspsychologInnen und PsychotherapeutInnen stieg von 495 (1995) auf 863 (2005) an. Auch hier gilt eine starke Verteilungsdiskrepanz zwischen Stadt und Land.

Als vorläufig letzte Etappe der österreichischen Psychiatriereform ist das "Patientenverfügungsgesetz" von 2006 anzusehen. Mit diesem erhalten potenzielle PatientInnen die Möglichkeit durch eine Vorausverfügung bestimmte Behandlungsformen und Medikationen abzulehnen. Noch viel weitreichender allerdings wäre die Anwendung der 2008 in Kraft getretenen und im selben Jahr von Österreich unterzeichneten "UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung", in dessen weitem Begriff von Behinderung Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen eingeschlossen sind. Durch die konsequente Orientierung der Konvention an Gleichstellung, Teilhabe und Selbstbestimmung machte sie erstmals soziale Rechte auf Inklusion und Beteiligung, einschließlich aller Maßnahmen, die zu ihrer individuellen Durchsetzung notwendig sind, auch für psychisch kranke Menschen einklagbar. Das allerdings würde die psychiatrische Versorgungslandschaft, auch jene von Tirol, vom Kopf auf die Füße stellen: in die (Mit)Entscheidungsverantwortung der Betroffenen.

Quelle:

Elisabeth Dietrich-Daum, Michaela Ralser: Die "Psychiatrische Landschaft" des "historischen Tirol" von 1830 bis zur Gegenwart. Ein Überblick

erschienen in: E. Dietrich Daum, H.J.W. Kuprian, S. Clementi, M. Heidegger, M. Ralser (Hg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. innsbruck university press 2011. S. 17-41.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 10.04.2014



[29] Demonstrationen und Initiativen fanden auf der Baumgartner Höhe, in Graz, Linz und Hall in Tirol statt.

[30] Vgl. Weiss, Hans, "Tagebuch eines Irrenwärters" samt Kommentar, in: profil,

Nr. 22 vom 25. Mai 1976, S. 30-35. Vgl. weiter: Schallhas, Markus, Antipsychiatrie und Psychiatriekritik in Österreich, S. 26-27, auf: http://www.eop.at/datenbank/personen/mschallhas/Psychiatrie , eingesehen am 12.11.2008.

[31] Vgl. Schallhas, Antipsychiatrie und Psychiatriekritik, S. 26.

[32] Vgl. Hack, Christina Maria, Psychiatriereform: Die Grenzen der Freiheit, in: CliniCum psy 4/2004, auf: http://www.medical-tribune.at/dynasite.cfm?dsmid=60797&dspaid=437012 , eingesehen am 27.2.2011.

[33] Vgl. Amt der Tiroler Landesregierung, Tiroler Psychiatriereform 1995-2005, Innsbruck 2005.

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation