Menschen in Institutionen der Psychiatrie

Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: E. Dietrich Daum, H.J.W. Kuprian, S. Clementi, M. Heidegger, M. Ralser (Hg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. innsbruck university press 2011, S. 43-68.
Copyright: © Dietrich-Daum et al. 2011

Abbildungsverzeichnis

    Vorbemerkung

    Die jeweilige historische Ausgestaltung einer „psychiatrischen Landschaft“ war und ist ausschlaggebend dafür, wohin sich Menschen mit psychischen Problemen wenden können bzw. wohin diese verbracht werden. Sie legt im Zusammenspiel mit Werthaltungen und Normen auch den Status bzw. die Rolle der PatientInnen fest und bestimmt ihre jeweiligen Handlungsspielräume. Ob Menschen mit psychischen Problemen bzw. Erkrankungen als schutzbedürftige und solidarisch zu unterstützende MitbürgerInnen angesehen werden oder als marginalisierte und kontrollbedürftige Randgruppe ist entscheidend für das Ausmaß von Fürsorglichkeit und Schutz oder Diskriminierung, Stigmatisierung und Reglementierung, das ihnen zu Teil wird. Ethisch-soziale Positionen und die Art und Weise, wie Versorgung medizinisch, rechtlich und politisch organisiert wird, legen aber auch gleichermaßen fest, wie die Rollen der ÄrztInnen, der PflegerInnen, der TherapeutInnen und der SozialarbeiterInnen gestaltet sind. Und diese Faktoren bestimmen auch, welche Befugnisse VertreterInnen staatlicher Instanzen (Amts- oder GerichtsärztInnen[1], Polizei, Gerichte), die Vorstände von Orten der Verwahrung (Gefängnisse, Hospitäler, Ordensgemeinschaften, Heime) oder die Verantwortlichen in extramuralen Einrichtungen innehaben. Auch die Rolle der Angehörigen und ihre Rechte und Pflichten sind vom jeweiligen „Wohlfahrtsregime“ sowie der Ausgestaltung von Bürgerrechten und Fürsorgepflichten abhängig. Mit den vielfachen Veränderungen der historischen Rahmenbedingungen der psychiatrischen Versorgung ist also zwangsläufig ein Wandel der Rollen der AkteurInnen verbunden. Psychiatrische Praktiken, Räume und Beziehungen sind historisch spezifisch, sie präsentieren sich heute völlig anders als vor 150 Jahren.

    Abbildung 1. Abb. 13: Patientinnen der Heil- und Pflegeanstalt Hall mit Barmherzigen Schwestern beim Reinigen von Wolle (frühes 20. Jahrhundert)

    Fotographie einer Gruppe von Frauen beim Reinigen von Wolle

    Unabhängig aber von der historischen Veränderlichkeit der Rollen der handelnden Subjekte agieren die verschiedenen Personengruppen immer in einem Beziehungssystem, das sie vorfinden und mitgestalten. Immer haben wir es mit Menschen zu tun, die in Beziehung zueinander treten oder stehen – ob freiwillig oder erzwungen. In der Geschichte der Psychiatrie sind diese Beziehungen, auch wenn sie zuweilen auf den ersten Blick als reine „Fürsorge-Beziehungen“ erscheinen, in der Regel zeitlich begrenzte oder andauernde „Zwangsbeziehungen“, in welchen das soziale Gefälle zwischen den AkteurInnen zu asymmetrischen Abhängigkeits- und Machtbeziehungen führen. Innerhalb eines solchen psychiatrischen Beziehungssystems stellen PatientInnen die bei weitem größte Gruppe dar. Dies ist aber nicht der einzige, auch nicht der wichtigste Grund dafür, weshalb sie in diesem Beitrag im Zentrum stehen. Die Sicht auf die PatientInnen soll vielmehr gerade jene Personengruppe in den Vordergrund rücken, die zwangsläufig und am unmittelbarsten – psychisch, physisch und sozial – ja existenziell vom Handeln Anderer abhängig ist. Denn „informierte“ PatientInnen, die gemeinsam mit medizinischem und pflegerischem Fachpersonal trialogisch über geeignete Therapien beraten, kennt die Psychiatriegeschichte erst seit wenigen Jahren. Mit Bezug auf die Situation der PatientInnen wird an zweiter Stelle die Geschichte des Pflegepersonals und schließlich die Gruppe der ÄrztInnen thematisiert. Die Geschichte des Verwaltungspersonals in Orten der Verwahrung allgemein, in psychiatrischen Institutionen im Besonderen, ihre Aktions- und Entscheidungsmöglichkeiten im Kontext wechselnder Machtverhältnisse und ökonomischer Rahmenbedingungen, ist zu wenig erforscht. Diese Geschichte steht noch im Schatten einer traditionellen Medizin- und Psychiatriegeschichtsschreibung, deren Fokus in der Regel auf die Ärzte und deren Konzepte gerichtet ist. So wissen wir beispielsweise über den gebürtigen Wiener Vinzenz Sackl, zuvor Protokollist am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, dass er 31 Jahre lang – von der Gründung der „Irrenanstalt“ Hall 1830 bis 1861 – als Verwalter angestellt war und bei seinem Tod eine Stiftung für arme, aus der Anstalt als „geheilt“ entlassene PatientInnen hinterließ, doch darüber hinaus nicht viel mehr.[2] Die weiteren AkteurInnen des skizzierten psychiatrischen Beziehungssystems, Verwaltungsangestellte, Seelsorger[3], SozialarbeiterInnen, TherapeutInnen, LogopädInnen, medizinisch-technisches Personal, aber auch Handwerker und Arbeiter können nicht gleichermaßen berücksichtigt werden, zum Teil kommen sie in den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes zu Wort.



    [1] Dietrich-Daum, Elisabeth / Taddei, Elena, Curare – segregare – amministrare. L’assistenza e la gestione dei „mentecatti” in un contado del Tirolo: l’esempio del medico generico Franz von Ottenthal (1818–1899) di Campo Tures, in: Dietrich-Daum, Elisabeth / Taiani, Rodolfo (Hg.), „Psychiatrielandschaft/Oltre il manicomio“. Themenheft der Zeitschrift „Geschichte und Region / Storia e regione“ 17/2 (2008), S. 83-102.

    [2] Vgl. Theodor Pichler, 100 Jahre Anstaltsverwaltung, in: Bericht für das Jahr 1930, Hall 1931, S. 17-23.

    [3] Vgl. den Beitrag von Maria Heidegger in diesem Band. Vgl. auch für Pergine die Ausführungen von Pantozzi über den langjährigen Anstaltskaplan Anton Moser (geb. 1845 in Trient, 1882–1918 Kaplan in Pergine). Pantozzi, Giuseppe, Die brennende Frage. Zur Geschichte der Psychiatrie in den Gebieten von Bozen und Trient (1830–1942), Bozen 1989, S. 116.

    Der Weg in die Anstalt: Einweisung und Zwangsanhaltung

    Ein Patient ist im Wortsinne ein Leidender. PsychiatriepatientInnen sind im Unterschied zu psychisch kranken Individuen – in den historischen Quellen als „Irre“, „Geisteskranke“, „Verrückte“, „Wahnsinnige“ oder „Narren“ bezeichnet – Personen, die medizinisch-therapeutisch behandelt werden[4] und damit bestimmten Regelwerken (Diäten, Therapien, Hausordnung, Tagesablauf) bzw. medizinischen Institutionen unterworfen sind. Mit dem Eintreten der Kranken in eine stationäre Behandlung verändert sich ihr Status damit grundlegend.[5] Sie finden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis wieder und erfahren gravierende Einschnitte ihrer persönlichen Autonomie.

    Auszug aus einer nach psychopädagogischen Behandlungskonzepten der frühen Anstaltspsychiatrie 1835 konzipierten Tagesordnung für die „Provinzial-Irrenanstalt“ Hall:

    Vormittage

    Tag

    Uhrzeit

    Tätigkeit

    Sonntag

    5.00 bis 6.30

    Aufstehen, Morgengebet, Aufbetten, Putzen

    6.00 bis 7.30

    Bewegung im Freien

    7.30 bis 8.00

    Frühstück im Speisesaal

    8.00 bis 8.30

    Heilige Messe

    8.30 bis 10.00

    Ärztliche Ordination

    11.00 bis 11.30

    Mittagessen im Speisesaal

    Montag

    5.00 bis 10.00

    Aufstehen, Morgengebet, Aufbetten, Putzen

    10.00 bis 10.45

    Religionsunterricht für Deutsche

    Dienstag

    wie am Montag

    10.00 bis 10.45

    Schreibschule und Baden, danach Mittagessen

    Mittwoch

    wie am Montag

    Donnerstag

    10.00 bis 10.45

    Leseübungen und Baden

    Freitag

    10.00 bis 10.45

    Religionsunterricht für Italiener

    Samstag

    10.00 bis 10.45

    Reinigung der Lokalien

    11.00 bis 11.30

    Mittagessen auf dem Zimmer

    Nachmittage

    Tag

    Uhrzeit

    Tätigkeit

    Sonntag

    13.30 bis 14.00

    Rosenkranzandacht

    14.45 bis 16.00

    Singschule
    17.30 bis 18.00

    Abendessen im Speisesaal

    18.30 bis 20.30

    Bewegung im Freien, Blumengießen, Spiele

    Montag

    13.00 bis 14.30

    Schneider-, Schuster- und Tischlerarbeiten

    14.30 bis 15.30

    Singschule und Religionsunterricht für die weiblichen „Irren“

    15.30 bis 16.00

    Rosenkranzandacht

    16.00 bis 17.30

    Gartenarbeiten

    17.30 bis 18.00

    Abendessen

    18.30 bis 20.30

    Bewegung im Freien, Blumengießen, Spiele

    Dienstag

    14.30 bis 16.00

    Singschule

    Donnerstag

    wie am Dienstag

    Freitag

    14.30 bis 15.30

    Reinigung der Lokalien und Religionsuntericht für Italienerinnen

    Samstag

    14.30 bis 16.00

    Reinigung der Lokalien

    Quelle: Bibliothek des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum, Erzh. Johann Tirolensien, 1703–1854, FB 2076 Nr. 157, Verschiedene Ausweise über die Prov. Irrenanstalt zu Hall 1835.

    Hinzu kommt, dass die Anstaltspsychiatrie seit ihrer Entstehung eine doppelte Funktion zu erfüllen hatte. Die „Irren“, so lautet seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Prämisse, sind kranke Menschen, die ärztlicher Hilfe bedürfen. Die „Irrenanstalt“ in Hall war ihren Statuten zufolge 1830 primär für die „heilbaren“, jedoch auch für die „gefährlichen“ und nicht-heilbaren „Irren“ gegründet worden. Gleichzeitig diente die Anstaltspsychiatrie von Anfang an auch der Verwahrung jener, die nicht heilbar sind und keinen Platz in der Gesellschaft haben. Menschen in Institutionen der Psychiatrie erfuhren unterschiedliche, sich ergänzende aber auch sich gegenseitig ausschließende therapeutische, disziplinierende, verwahrende und pflegerische Praktiken. Diese Praktiken wie überhaupt das psychiatrische Beziehungssystem gestalteten sich unterschiedlich, auch abhängig von der Größe und den Zahlenverhältnissen „Insassen“ – Personal. Die 1830 gegründete Haller Anstalt war nur für insgesamt 80 Männer und Frauen konzipiert und konnte erst ab 1845 100 „Irre“ aufnehmen, 1860 durchschnittlich 110 und erst nach Erweiterungen 1868 und 1889 250 bzw. 300 Personen.[6] Im 19. Jahrhundert wurden sowohl in Hall als auch in Pergine durchgehend mehr Männer als Frauen als PatientInnen aufgenommen und dies weil, so erklärte Anstaltsdirektor Josef Stolz 1869 diesen Umstand, weibliche „Geisteskranke“ in den verschiedenen Spitälern Tirols leichter Aufnahme finden würden, „während die Männer überall abgewiesen werden.[7]

    Mit der Einweisung in eine psychiatrische Klinik oder Anstalt war in der Regel ein Prozedere verbunden, das die persönliche Freiheit der PatientInnen massiv verletzte: ohne Zustimmung des bzw. der Kranken konnte mittels einer „Entscheidung des Kurators, des Pflegschaftsgerichts […] von Verwaltungsbehörden bzw. der Anstaltsdirektion[8] nach vorausgegangener Anzeige entweder der Polizei, der Familienangehörigen, der Gemeinde oder des Vorstehers einer so genannten Wohltätigkeitseinrichtung (Heim, Spital oder Krankenhaus) eine Zwangseinweisung erwirkt werden (wobei Angehörige teilweise lange auf einen freien Platz warten mussten).[9] Diese Einweisung galt dann als rechtskonform, wenn der oder die Betroffene „geisteskrank“ war, was nach § 273 des ABGB von 1811 durch ein obligatorisches amts-, gemeinde- oder gerichtsärztliches Gutachten, dem so genannten „Parere“, bestätigt werden musste. Andere Vorschriften waren nicht zu beachten. Über die letztendliche Aufnahme und die Dauer der zwangsweisen Anhaltung entschied allein der Anstaltsleiter. Angehörige konnten nur gegen Vorlage eines Sicherheitsrevers die PatientInnen nach Hause holen, sofern der Anstaltsleiter deren „Harmlosigkeit[10] attestiert hatte. Diese über hundert Jahre lang geltenden Bestimmungen wurden angesichts der stark angestiegenen Unterbringungszahlen an der Wende zum 20. Jahrhundert auch in Österreich, das in der Ausgestaltung des „Irrenrechts“ besonders rückständig war,[11] reformiert und zwar durch die Bestimmungen der „Entmündigungsordnung“ (Kaiserliche Verordnung vom 28. Juni 1916 über die Entmündigung, RGBl. Nr. 207). Diese sah erstmalig eine obligatorische gerichtliche Kontrolle der Zwangseinweisung in öffentlichen und privaten Anstalten vor, wobei das Gericht binnen einer dreiwöchigen Frist über die Zulässigkeit der Aufnahme entscheiden musste und gegebenenfalls auch eine Entlassung verfügen konnte. PatientInnen erhielten nunmehr ein Anhörungsrecht und die Möglichkeit des Rekurses. War die Rechtmäßigkeit der Zwangsaufnahme aber gerichtlich bestätigt, konnten sie bis zu einem Jahr angehalten werden, Schutzbestimmungen vor gewaltförmigen Übergriffen oder anderen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen (Fixieren, Einsperren, invasiven Behandlungsverfahren) bestanden nicht. Einmal zulässigerweise aufgenommen, waren „InsassInnen“ psychiatrischer Anstalten bis in die Zweite Republik völlig rechtlos. Während der NS-Zeit führten die Bestimmungen des deutschen Fürsorgerechts wiederum zu einer Verschlechterung der rechtlichen Situation und zwar insofern, als eine zeitliche Befristung der Anhaltung entfiel und Verlegungen von PatientInnen – nicht zuletzt in die Tötungsanstalten – ohne Zustimmung der Anstaltsleiter angeordnet werden konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Bestimmungen der Entmündigungsordnung des Jahres 1916 beibehalten, trotz der Erfahrungen mit der NS-Psychiatrie, eklatanter Versorgungsmängel, des hohen Ausmaßes an Zwang und trotz der kritisierten „Verwahrfunktion“ der Psychiatrie. Erst im Rahmen der seit den 1970er Jahren europaweit artikulierten Psychiatriekritik und der mit dieser entwickelten Sensibilisierung hinsichtlich der Frage der Rechtsstaatlichkeit der Anhaltepraxis der Anstaltspsychiatrie wurde die Reformbedürftigkeit des Entmündigungsrechts erkannt. Der Reformdruck mündete nach einem langwierigen Gesetzgebungsprozess im so genannten „Unterbringungsgesetz“ (UbG) vom 1. März 1990 (BGBl. 155/1990), das mit 1. Jänner 1991 in Kraft trat.[12] Geistige Behinderung[13] sowie psychiatrische Behandlungsbedürftigkeit (ausgenommen befürchtete Selbst- bzw. Fremdgefährdungen) sind seit dem UbG kein Grund mehr für Zwangseinweisungen. Auch sind verschiedene Rechtsschutzmaßnahmen für PatientInnen während ihrer Unterbringung einzuhalten, für die Vornahme von „Zwangsbehandlungen[14] werden definierte Bedingungen vorausgesetzt. Die Einhaltung der neuen Bestimmungen wird seither durch eine professionelle, obligatorische und für die PatientInnen kostenlose Einrichtung, der Patientenanwaltschaft, überwacht. Die beabsichtigte Senkung der Unterbringungsrate konnte das UbG aber nicht bewirken, vielmehr hat sich diese seit Inkrafttreten des UbG mehr als verdoppelt, sodass Österreich wieder im europäischen Spitzenfeld liegt.[15]

    Auch nach italienischem Recht („Gesetz über die Irrenhäuser“ Nr. 36 aus dem Jahr 1904) war mit der zwangsweisen Aufnahme in eine psychiatrische Anstalt automatisch der Verlust der bürgerlichen Rechte, darüber hinaus auch die Eintragung in das Strafregister und häufig die Entmündigung der Person verbunden. Diese Bestimmungen wurden mittels königlichen Dekrets aus dem Jahr 1929 auch für die PatientInnen der Anstalt in Pergine wirksam und behielten bis zur italienischen Psychiatriereform 1978 („Basaglia“- Gesetz Nr. 180) ihre Gültigkeit.

    In einer 1842 publizierten Anstaltsbeschreibung wird das typische Prozedere nach der Aufnahme der PatientInnen an der „k. k. Provinzial-Irrenanstalt zu Hall in Tirol“ vom damaligen Direktor Dr. Johann Tschallener beschrieben. Entsprechend der geltenden „Dienstinstruktion“ wurden die PatientInnen einem für sie zuständigen „Wärter“ oder einer „Wärterin“ übergeben, gewaschen und mit „frischen, entweder eigenen oder Anstaltskleidern versehen und in die geeignete Diätklasse versetzt.“ [16] Nur zahlende Erste-Klasse-PatientInnen hatten Anspruch auf eine eigene „Wartperson“, ein Einzelzimmer und bessere Kost. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten und vor allem der Patientinnen war aber auf Grund ihrer Armut zahlungsunfähig und wurde „gratis“ in der dritten Klasse untergebracht. Dies bedeutete meist eine Unterbringung in einem Mehrbettzimmer oder in einem Schlafsaal sowie bescheidene Zuwendung und Kost. Konkret hieß dies im Jahre 1847 für jemanden, der nach der dritten Klasse oder unentgeltlich verpflegt wurde und eine „Drittelportion“ erhielt: Eine Portion Fleischbrühe zum Frühstück, zu Mittag eine Portion so genanntes „Trinkpanatel“ aus Rindsuppe (Suppe mit Broteinlage), nachmittags erneut Fleischbrühe und abends wiederum Rindsuppe mit Broteinlage. Dagegen wurde in der erste Klasse nach der Portionsgattung „ganze Portion“ zum Mittagessen unter anderem „eine Portion eingekochte Rindsuppe, 8 Loth gekochtes Rindfleisch mit rothen Rüben, Senf, Essigkren oder Gurken, dann Gemüse oder Obstspeise, 8 Loth Kalb oder Lammbraten mit Salat in Essig und Öhl oder 8 Loth eingemachtes Kalb oder Lammfleisch, dann Mehl oder andere Fastenspeisen“ aufgetragen.[17] Klagen der PatientInnen über Hunger sind nicht nur für die Zeit des Ersten Weltkrieges belegt, Ernährung war außerdem ein hochwirksames Mittel zur Disziplinierung.

    Für die Anstalt stellten die Verpflegstaxen die wichtigsten Einkünfte dar, die der Verwaltung zur Bestreitung sämtlicher Ausgaben zur Verfügung standen, einschließlich der Pensionen und Provisionen für pensionierte Anstaltsbedienstete und deren Witwen und Waisen, Leistungen, die erst kurz vor der Jahrhundertwende von der Tiroler Landeskasse übernommen wurden.[18]

    Für beide psychiatrischen Anstalten ist überliefert, dass Anstaltskleidung angefertigt und ausgegeben wurde, doch dürfte das Tragen der Einheitskleidung sich auch aus Einsparungsgründen wohl auf jene PatientInnen beschränkt haben, die selbst keine geeignete Kleidung mitbrachten oder deren Bekleidung in einem schlechten Zustand war. Anders war die Situation in der psychiatrischen Klinik, wo die PatientInnen aus Gründen der Kennzeichnung – so Frau Hafner in ihrem Interview – bis 1976 gestreifte Klinikbekleidung tragen mussten.[19]

    „An die k. k. Kreisämter von Roveredo, Trient und Botzen.

    Es hat sich gezeigt, daß alle bisher von Südtyrol in die Provinzial Irrenanstalt zu Hall aufgenommenen armen Geistes-Kranken sehr erbärmlich gekleidet, ja nur mit Lumpen bedeckt, und mit sehr schlechten Schuhen versehen angekommen sind, so daß sie alsogleich mit der Hauskleidung bekleidet werden mussten. Da die Anstalt, dem höchsten Orts genehmigten Organisationsplan gemäß zwar die unentgeldliche Verpflegung der armen Irren übernimmt, diese armen Irren nach erfolgter Heilung oder Besserung mit der Hauskleidung zu entlassen, was, wenn sie unbrauchbare Kleidung und Fußbedeckung mitbringen geschehen müßte; so hat das Kreisamt die Landgerichte anzuweisen, gehörig Sorge zu tragen, daß die zur Ablieferung in die Provinzial Irrenanstalt bestimmten armen Geistes-Kranken vorläufig mit guter Leibwäsche, Fuß-Kopf Bedeckung und Leibbekleidung um so mehr versehen werden, als den betreffenden Gemeinden dadurch eine sehr große Wohlthat zu Theil wird, daß ihre armen Irren in der Anstalt unentgeldlich verpflegt und ärztlich behandelt werden. […] Innsbruck am 25. Februar 1831.“

    Quelle: Historisches Archiv, Landeskrankenhaus Hall: Verwaltungsakten 1831. Abschrift der Weisung der obersten Sanitätsbehörde im Landesgubernium an die südlichen Kreisämter Rovereto, Trient und Bozen, Nr. 4188/472 vom 25. Februar 1831.

    In der Anstaltsroutine des 19. Jahrhunderts nahmen der Anstaltsleiter und der Sekundararzt eine Erstuntersuchung vor, deren Ergebnis vom Sekundararzt in die Krankengeschichte eingetragen wurde. Aus diesen Eintragungen wissen wir, dass ein Großteil der Aufgenommenen aus sehr armen Verhältnissen kam und neben den psychischen Problemen verschiedene körperliche Gebrechen aufwies: Tuberkulose, rachitische Folgeerkrankungen, Hautkrankheiten und Pellagra, letztere eine Folge der einseitigen Ernährung im Trentino. Die historischen Krankenakten verdeutlichen für das 19. Jahrhundert drastisch, dass viele der Aufgenommenen, besonders jene ohne Familienanschluss, körperlich verwahrlost, zum Teil misshandelt und ausgehungert in den Anstalten ankamen und zuerst „aufgepäppelt“ werden mussten. Die soziale Ordnungsfunktion der Anstalten im 19. Jahrhundert wird hier besonders deutlich.



    [4] Lachmund, Jens / Stollberg, Gunnar, Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien, Opladen 1995, S. 21.

    [5] Vgl. dazu Heidegger, Maria / Dietrich-Daum Elisabeth, Die k. k. Provinzial-Irrenanstalt Hall in Tirol im Vormärz – eine totale Institution? in: Scheutz, Martin (Hg.), Totale Institutionen. Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/1 (2008), S. 68-85.

    [6] Zur Entwicklung des PatientInnenstandes vgl. Grießenböck, Angela, Die „Landes-Irrenanstalt Hall in Tirol“. Eine vergleichende Darstellung mit der „Landes-Irrenanstalt Feldhof bei Graz“ (Zeitraum von 1830 bis 1912), in: Tiroler Heimat 71 (2007), S. 131-156, hier S. 139.

    [7] Stolz, Josef, Bemerkungen über die Tirolische Landes-Irren-Anstalt zu Hall, Innsbruck 1869, S. 8.

    [8] Vgl. dazu und im Weiteren: Jaquemar, Susanne / Kinzl, Harald, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz, auf: http://www.vsp.at/index.php?id=65, eingesehen am 15.3.2011. Vgl. auch Forster, Rudolf, Staat, Politik und Psychiatrie in Österreich. Am Beispiel der rechtlichen Regulierung von Zwangsmaßnahmen von 1916–1990, in: Keintzel, Brigitta / Gabriel, Eberhard (Hg.), Gründe der Seele. Die Wiener Psychiatrie im 20. Jahrhundert, Wien 1999, S. 166-189.

    [9] Ein Eintritt auf eigenen Wunsch war erst auf Grund von Artikel 24 des neuen Statuts aus dem Jahre 1908 möglich. Vgl. Pantozzi, Die brennende Frage, S. 155.

    [10] Vgl. ebenda, S. 26.

    [11] Vgl. Jaquemar / Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz, ebenda und Forster, Rudolf / Kinzl, Harald, 15 Jahre Unterbringungsgesetz, in: iFamZ (November 2007), S. 294-298.

    [12] Zur aktuellen Rechtslage in Österreich vgl. die Broschüre des Vertretungsnetzes auf: http://www.vertretungsnetz.at/fileadmin/user_upload/1_SERVICE%20Publikationen/Broschuere_PatRechte_2010.pdf, eingesehen am 5.3.2011.

    [13] Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Dietl, Marina Descovich und Evelina Haspinger in diesem Band.

    [14] Vgl. dazu den Beitrag von Matthias B. Lauer in diesem Band.

    [15] Vgl. Forster / Kinzl, 15 Jahre Unterbringungsgesetz, S. 296.

    [16] Tschallener, Johann, Beschreibung der k. k. Provinzial-Irren-Heilanstalt zu Hall in Tirol, Innsbruck 1842, S. 19.

    [17] Vgl. Heidegger, Maria, Ernährung in der psychiatrischen Anstalt. Quellenbefunde am Beispiel der „Irrenanstalt“ Hall in Tirol 1830–1914, in: Ernährung und Gesundheit in den Alpen / Alimentation et santé dans les Alpes (=Histoire des Alpes / Storia delle Alpi / Geschichte der Alpen 13), Zürich 2008, S. 227-247.

    [18] Pichler, 100 Jahre Anstaltsverwaltung, S. 18.

    [19] Vgl. das Interview mit Friederike Hafner in diesem Band.

    Therapeutische Perspektiven in der Tiroler Psychiatriegeschichte

    Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Idee der Heilbarkeit des „Wahnsinns“, nunmehr weder göttliche Strafe noch Schicksal, sondern als Krankheit aufgefasst – und im Zusammenhang damit die moderne, klinische Psychiatrie. Zu ihrem Selbstverständnis als Institution der Heilung gehörte die „moralische“ pädagogische Behandlung durch Ermahnung und Belehrung, Zwang und Ordnung, Zerstreuung und Arbeit mit dem Ziel der (Re-)Integration. Daneben kamen noch lange althergebrachte medizinische Verfahren zum Einsatz: Diäten, Abführmittel, Aderlass und pflanzliche Drogen wie Digitalis oder Opium. Die PatientInnen erfuhren diese Behandlung in einer programmatisch als „familienähnlich“ definierten Atmosphäre, der absoluten Autorität des Arztes unterworfen. Nach 1850 verbreitete sich ausgehend von England das so genannte „Non-Restraint System“. Dieses Behandlungskonzept verzichtete weitgehend auf „mechanischen Zwang“, auf Fixieren und Einsperren. In Hall wurde dieses Konzept vergleichsweise früh von Direktor Josef Stolz durchgesetzt. Zugleich wurde die Psychiatrie im gesamten deutschsprachigen Raum als naturwissenschaftliches, medizinisches Fach professionalisiert. Mit dem Beginn der Universitätspsychiatrie (in Tirol 1891) wurde die Therapie verstärkt mit Forschung und Lehre verbunden. Wie die Anstaltspsychiatrie war die Behandlung an der Klinik mit ihren psychiatrischen Abteilungen abhängig von einem sozialen Klassensystem, einer Außen- und Binnendifferenzierung. Wer es sich um 1900 leisten konnte, wie etwa Angehörige der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht, zogen der Anstaltsobsorge das privat geführte Sanatorium für Nervenkranke und der öffentlichen Klinik das Privatkrankenhaus vor. Das gilt auch für die Innsbrucker „Psychiatrisch-Neurologische Klinik“ der Gründerzeit. Auch an der Klinik entstammten die meisten PatientInnen den unteren sozialen Schichten. Um 1900 waren sie kleine Handwerker, Kleinstbauern und -bäuerinnen, ArbeiterInnen, Tagelöhner und Dienstbotinnen. Unter den Eingewiesenen fanden sich aber auch LehrerInnen, Klosterfrauen und Priester, BahnweichenwärterInnen, Handelsvertreter und Prostituierte.[20]

    Um 1900 setzte sich an den psychiatrischen Anstalten die mehrwöchige „Bettbehandlung“ durch, ein Behandlungskonzept, das diese Institutionen den „normalen“ Krankenhäusern und Kliniken ähnlicher erscheinen ließ. In den Jahren von 1905 bis 1911 wurden in Hall jeweils zwischen 180 und 200 PatientInnen „zu Bett gehalten“, wobei gleichzeitig Beruhigungs- und Schlafmittel zur Anwendung kamen.

    Durch die ausgedehnte Bettenbehandlung des Kranken gewinnt das Krankenhaus, in welchem jeder, gerade den Irren so lästige Zwang vermieden ist; der im Bett Behandelte ist sich weniger seiner Freiheitsbeschränkung bewußt, als der mit einer Zwangsjacke versehene Irre, der in einer finstern dumpfigen Zelle eingeschlossen ist. Der Wärter wirkt auf den zu Bette Liegenden viel leichter ein und der Kranke gewinnt auf diese Weise mehr und mehr die Überzeugung, daß er in dem Wärter und dem Arzte nicht einen Tyrannen und Gefängniswärter, sondern seinen Freund und Wohltäter zu erblicken habe, der Heilung bringt.“

    Quelle: Ausschnitt aus der Ansprache des Baron Paul von Sternbach (Mitglied des Tiroler Landesausschusses 1902-1914) vor dem Landtag 1903, zit. in: Pantozzi, Die brennende Frage, S. 229.

    Unruhige PatientInnen erhielten bis in die 1940er Jahre auch stundenlange Bäder im lauwarmen Wasser oder in kalt-heißen Wechselbädern, die ihre Erregtheit dämpfen sollten. Von dieser so genannten „Dauerbadbehandlung“ in krankenhaus- und kurähnlicher Atmosphäre erwarteten sich die Psychiater Kontrolle und Disziplinierung der PatientInnen.[21] Denn als Beruhigungsmittel standen nur chemische Substanzen – Bromide ab 1850, Chloralhydrat ab 1870 und Barbiturate ab 1903[22] – zur Verfügung. Zu dieser Zeit erhielt auch die „Arbeitstherapie“, die schon das frühe 19. Jahrhundert kannte, einen neuen Stellenwert – nunmehr allerdings mit einem rigiden Anpassungsdruck verbunden und mit ökonomischen Erwägungen verknüpft.

    Abbildung 2. Abb. 14: Wachsaal Landesirrenanstalt Pergine (um 1910)

    Foto eines Schlafsaales

    Abbildung 3. Abb. 15: Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Hall beim Schnee schaufeln (ca. 1930)

    Foto von Menschen die Schnee schaufeln

    Abbildung 4. Abb. 16: Patientinnen unter Aufsicht einer Ordensschwester beim Wäsche waschen im Ospedale Ricovero Romani in Nomi (ca. 1935)

    Foto von Menschen die waschen

    Abbildung 5. Abb. 17: Küche und Personal der Landesirrenanstalt in Hall (um 1910)

    Foto von Menschen in einer Küche beim Arbeiten

    „Diese Arbeit, welche sich stets unter Aufsicht von Wärtern, sogenannten Professionistenwärtern, vollzieht, hat aber noch einen anderen Zweck. Die Arbeit, welche, wie gesagt, grundsätzlich im Freien vor sich gehen soll, wird dazu verwendet, den Anstaltsbetrieb zu verbilligen. […] Früher haben wir in Hall und Pergine die Irren, damit wir eben diesen therapeutischen Behelf anwenden können, den umliegenden Ökonomen [Bauern, Anm. der Verf.], ich möchte sagen, zur Arbeit geliehen.“

    Quelle: Ausschnitt aus der Ansprache des Baron Paul von Sternbach vor dem Landtag 1903, zit. in: Pantozzi, Die brennende Frage, S. 231.

    In der Zwischenkriegszeit wurden invasive Schocktherapien wie die „Insulinkur“ (ab 1927) oder das „Elektrokrampfverfahren“ (ab 1938) zur Auslösung künstlicher Krampfanfälle entwickelt, auch die „Malariatherapie“ (ab 1929) diente diesem Zweck. Anstaltsleiter Georg Eisath führte zwischen 1921 und 1925 zahlreiche Malaria- und Cardiazolexperimente an den PatientInnen in Hall durch. Ein Behandlungszyklus konnte beim „Elektrokrampfverfahren“ noch in den 1950er Jahren bis zu 15 Anwendungen beinhalten. Über drei Jahrzehnte lang dominierten diese schweren Eingriffe insbesondere die Schizophreniebehandlung. Körperbezogene Behandlungsmethoden betrafen mehr PatientInnen als je zuvor. Im Namen der Therapie und Heilung wurden zum Teil schwerwiegende Risiken eingegangen, Zweiterkrankungen und Behinderungen in Kauf genommen. Rudolf Forster stellte unter anderem mit Blick auf die Psychochirurgie fest, dass psychiatrische PatientInnen stets eine besondere Risikogruppe waren, wenn es um die Anwendung radikaler, unnützer und oftmals gefährlicher Interventionen mit angeblich wundersamen heilenden Eigenschaften ging.[23]

    Im Nationalsozialismus blieben als Folge einer Eskalation der Funktionen „Heilen und Verwahren“ zu „Heilen und Vernichten“ therapeutische Interventionen nur noch den als heilbar klassifizierten PatientInnen vorbehalten.[24] Die „Unheilbaren“ und „Unproduktiven“ sollten hingegen ermordet werden. Mindestens 216.000 Menschen wurden im Deutschen Reich im Rahmen der NS-„Euthanasie“ umgebracht, für den Gau Tirol-Vorarlberg sind 709 Opfer nachweisbar. Sie wurden entweder in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz oder in der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart bei Linz ermordet. Vor allem auf Druck der Kirche wurde die „Aktion T4“ im August 1941 eingestellt, allerdings im Rahmen der so genannten „wilden“ oder dezentralen „Euthanasie“ weiter gemordet. Mangelversorgung, verordneter Hunger und hohe Medikamentendosierungen wurden gezielt eingesetzt, um PatientInnen zu töten oder, wie es im NS-Jargon hieß, die Anstalten zu „entleeren“.

    In den 1950er Jahren beginnt das Zeitalter der Psychopharmaka. [25] Die Gabe von Neuroleptika setzte sich auch im Bundesland Tirol der späten 1950er Jahre unter Anstaltsleiter Dr. Helmut Scharfetter rasch durch, die „Euphorie über die pharmakologische Revolution”, vor allem aber personelle und ökonomische Engpässe förderten die große Zahl hoch dosierter Verordnungen, mitunter auch als Beruhigungs- und Disziplinierungsmittel. Diese „chemische Zwangsjacke“ wurde in der psychiatriekritischen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre energisch kritisiert. Neben der Frage der Zwangseinweisung beklagten die reformerischen bzw. psychiatriekritischen Bewegungen besonders die temporären oder manifesten disziplinierenden Behandlungsmethoden und die den psychiatrischen Institutionen immanenten gewaltförmigen Strukturen. Tatsächlich konnten sich PatientInnen gegen angeordnete medikamentöse oder andere therapeutische „Behandlungen“ nicht zur Wehr setzen, erst das vor wenigen Jahren erlassene „Patientenverfügungsgesetz“ (2006) änderte diese Situation in Österreich grundlegend.



    [20] Vgl. Ralser, Michaela, Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie: Kulturen der Krankheit um 1900, München 2010.

    [21] Vgl. Rotzoll, Maike, Verwahren, verpflegen, vernichten. Die Entwicklung der Anstaltspsychiatrie in Deutschland und die NS-„Euthanasie“, in: Fuchs, Petra / Rotzoll, Maike et al. (Hg.), „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Göttingen 2007, S. 24-35, hier S. 28.

    [22] Vgl. Brückner, Burkhart, Basiswissen: Geschichte der Psychiatrie, Bonn 2010, S. 107.

    [23] Vgl. Forster, Rudolf, Zur Gewalt in der Psychiatrie, auf: http://www.univie.ac.at/OEGS-Kongress-2000/On-Line-Publikation/forster.pdf, eingesehen am 13.8 2008.

    [24] Vgl. Rotzoll, Verwahren, verpflegen, vernichten, S. 32.

    [25] Vgl. dazu bzw. auch zur Geschichte der „Wirksamkeitskonstruktionen“: Balz, Viola, Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka. Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950–1980, Bielefeld 2010.

    Psychiatrische Pflege in Tirol

    Die Geschichte des Wartpersonals ist zunächst eine Geschichte der „kleinen Leute“, eine Geschichte der Angehörigen der so genannten dienenden Schichten. Im 19. Jahrhundert handelte es sich bei der Krankenpflege um keinen bürgerlichen Beruf und schon gar nicht um einen bürgerlichen Frauenberuf. Eine einschlägige Berufsausbildung zum „Irrenwärter“ bzw. zur „Irrenwärterin“ gab es nicht, doch wurde in der psychiatrischen Literatur der 1840er Jahre die Frage einer entsprechenden Ausbildungseinrichtung diskutiert.[26] In Hall lehnte Direktor Tschallener eine entsprechende Schulgründung explizit ab, in der Überzeugung, dass das „Irrenhaus“ selbst die beste Schule abgebe. Dem Anstaltsdirektor sollte allein vorbehalten bleiben, „sich ein Wartpersonal nach seinem Kopfe heranzubilden und es auch so lange zu behalten, so lange es ihm entspricht.“[27] Äußerungen negativer Art von Seiten der „Irrenärzte“ über die Rohheit und Unerfahrenheit des Pflegepersonals sind in großer Zahl erhalten. Darin widerspiegeln sich aber sehr wohl auch weit verbreitete Standesvorurteile, nach denen Angehörige der unteren Schichten gern pauschal als habgierig und zanksüchtig dargestellt wurden.

    1842 waren in Hall bei einem Krankenstand von 80 PatientInnen (33 Frauen und 47 Männer) acht „Wärterinnen“ und eine „Oberwärterin“, elf „Unterwärter“ und ein „Oberwärter“ beschäftigt.[28] Es handelte sich um bezahlte Lohnwärterinnen und -wärter, die innerhalb der Anstalt oder nahe der Anstalt lebten. In ihren Händen lag die Pflege seit der Gründung der Anstalt 1830 bis weit in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein, bis 1881 die „Wärterinnen“ großteils durch Barmherzige Schwestern ersetzt wurden. Neben der Pflege und Überwachung der weiblichen „Pfleglinge“ bei Tag und Nacht besorgten die 24 Barmherzigen Schwestern in Hall den wachsenden Anstaltshaushalt, insbesondere die Küche, Wäsche und die Reinigung der Anstaltszimmer. Zwar stieg mit wachsender PatientInnenzahl auch jene der angestellten PflegerInnen – in den Anfangsjahren werden 12 Wartpersonen, zu Beginn der 1840er Jahre 17 bis 19, Mitte der 1850er Jahre 23 bis 24, Mitte der 1960er Jahre 25 bis 26, Mitte der 1870er Jahre 41 bis 43 angeführt – doch kann als kennzeichnend – zumindest bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, gelten, dass sich das Verhältnis PflegerInnen zu PatientInnen eher verschlechterte als verbesserte. Betrug dieses in Hall in den 1880er Jahren in etwa 1:7, im Ersten Weltkrieg 1:10, lag dieses in den 1930er Jahren bei 1:14, Ende der 1960er Jahre wieder bei 1:13. Vergleichswerte für Pergine und die Universitätsklinik sowie für die Zeit nach 1970 liegen noch nicht vor.

    Abbildung 6. Grafik 1: Entwicklung der Zahl der PatientInnen, PflegerInnen und ÄrztInnen in Hall (1887–1967)

    Graph mit Linien

    In der Anstaltspraxis der ersten Jahrzehnte, eingebettet in ein vorindustrielles, ländliches Umfeld, wurde das Anforderungsprofil an das Wartpersonal eindeutig von einem praktischen, handwerklichen Zugang dominiert. Ein von Direktor Tschallener 1849 aufgestellter Tugendkatalog führte konsequent Nüchternheit, Reinlichkeit, Bescheidenheit, Ordnungsliebe, Nachsicht, tadellose Sittlichkeit und vor allem unbedingte Folgsamkeit und Ergebenheit den Anordnungen der Vorgesetzten gegenüber auf.[29] Wie damals in zeitgenössischen Institutionen üblich, herrschte auch in Hall eine klare Trennung der Geschlechter vor. Wärter arbeiteten auf Männerabteilungen, Wärterinnen auf Frauenabteilungen. Zur Frage des Lohns für das männliche und weibliche Wartpersonal äußerte sich Direktor Tschallener in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“ wie folgt:

    Käme es auf mich an, so machte ich zwischen Wärtern und Wärterinnen, gegen die Meinung Einiger, keinen Unterschied; die Wärterin hat das Nämliche zu leisten, wie der Wärter, zwischen Wärter und Wärter, zwischen Wärterin und Wärterin soll aber ein Unterschied sein; das bravere Individuum, dem man ohnedies die gefährlicheren Kranken übergiebt, soll auch besser gehalten sein.“[30]

    Das männliche Wartpersonal rekrutierte sich in der Frühzeit der Anstaltspsychiatrie vorwiegend aus Militärveteranen. Von ihnen glaubte man, dass sie an Ordnung, Reinlichkeit und Subordination gewöhnt wären, doch es ihnen in der Regel an Gefühl und an einem für eine „Irrenanstalt“ passenden Umgang mit den Kranken fehle. Tschallener bevorzugte für das Wartpersonal daher „wohlgesittete, gewissenhafte und schlichte Menschen aus dem niedern Stande[31], die zumindest lesen und schreiben können sollten. Daneben waren handwerkliche Zusatzqualifikationen gefragt – für den Betrieb der Werkstätten, für Ausbesserungsarbeiten jeglicher Art, und vor allem – beim weiblichen Wartpersonal – für das Flicken und Nähen der Wäsche und Anstaltskleidung. In den meisten Anstalten wurden, wie auch in Hall, ledige BewerberInnen klar bevorzugt. Falls vorhanden, hatte die Familie der „Wärtersleute“ außen zu bleiben, innerhalb der Anstaltsmauern sollte hingegen eine Art Parallelfamilie entstehen. Die Rolle des Wartpersonals sowie der Status der PatientInnen – die Aufsicht, Wartung und Pflege benötigen – kommen in folgendem Analogieschluss Tschalleners klar zum Ausdruck: „Wie die Kindsmagd ist, so wird das ihr anvertraute kleine Kind, und nicht viel anders steht es mit dem Verhältnis des Wärters zu den Irren, unsern grossen Kindern.“[32]

    Abbildung 7. Abb. 18: Pfleger Andreas Junker in Hall (um 1930)

    Foto des Pflegers Andreas Junker sitzend auf einem
Patientenbett.

    In Pergine, 1882 eröffnet, wurden von Beginn an geistliche Schwestern, die „Schwestern der Göttlichen Vorsehung“ mit Sitz in Görz (gegründet 1836) eingesetzt. Ihr Vertrag mit der Landesbehörde war identisch mit jenem der Barmherzigen Schwestern in der Haller Institution. Für jede Schwester wurde ein jährliches Wartgeld von 40 Gulden vereinbart.[33] Regelmäßig wird auch erwähnt, dass jeder Schwester täglich ein Viertel Wein zu geben wäre, allen zusammen standen Holz, Kerzen, Seife, Küchengeräte und die Erträge aus einem kleinen Garten zu. Sie durften zur Unterstützung weltliche Hilfskräfte einstellen. Neben der Besorgung der Küche für die PatientInnen sowie für das Personal oblagen den Schwestern die Besorgung der Wäsche und die Pflege der Patientinnen.

    1882 wurden 20 Schwestern (darunter 18 für die Pflege, 2 für andere Hausdienste) unter der Oberin Cecilia Piacentini aufgenommen. Nach einer gewissen Probezeit entschied aber der Direktor der Anstalt über die „Diensttauglichkeit“ der angetretenen Schwester. Während die Belegschaft der Pflegeschwestern relativ stabil war, machte der ständige Personalwechsel bei den männlichen Pflegern in beiden Anstalten[34] Anlass zur Sorge, deren hohe Fluktuation auf Grund schwieriger Arbeitsbedingungen und schlechter Entlohnung (der Lohn entsprach jenem von Dienstboten) blieb über Jahrzehnte ein Problem. Eine besondere Schwierigkeit für die Ordensschwestern war die ihnen obwaltende doppelte Zuständigkeit und Kontrolle. Sie unterstanden sowohl den Vorschriften des Ordens als auch jenen der Anstalt in Person des Direktors. Die vom Landesausschuss genehmigte gemeinsame (das heißt für Pergine und Hall) „Dienstinstruktion für Wärter und Wärterinnen“ aus dem Jahr 1884 sah in Artikel 3 vor, dass diese

    gesittet, nüchtern, wohlerzogen, höflich, ordentlich, sauber, gut gekämmt, intelligent, treu, ehrlich, aufrichtig“ und „wahrhaftig“ sein sollten, sie mussten sich „miteinander vertragen, gegenseitig anspornen, miteinander höflich, freundlich und wohlwollend umgehen, Verfehlungen ihrer Kameraden den Vorgesetzten melden, für die eigene Sauberkeit sorgen, zusammen mit den Kranken arbeiten, sparsam sein, die Anstalt als eine große Familie betrachten, miteinander gut auskommen und zusammenarbeiten“. Vor allem sollten sie den Kranken „mit größtem Respekt, mit Geduld und Wohlwollen behandeln, auch wenn sie ungezogen, gewalttätig und impulsiv sind, […] sie nicht auslachen, noch verspotten noch sie als Irre, Narren bezeichnen.“[35]

    Abbildung 8. Abb. 19: Pflegerinnen und Schwestern im Ospedale Provinciale della Venezia Tridentina in Pergine (um 1930)

    Foto von Pflegerinnen und Schwestern

    Bis nach dem Ersten Weltkrieg, also bis zur Eröffnung der Krankenpflegeschule am Innrain in Innsbruck 1919, konnte der „Wartberuf“ bzw. Pflegeberuf nur „in praxi” angelernt werden. Zum Teil wurde das Pflegepersonal von den Klinik- bzw. Anstaltsärzten unterrichtet, ihre Eignung anschließend in Form einer „Hausprüfung“ bestätigt. Über die schlussendliche Anstellung nach einer Probezeit entschied wiederum der Anstaltsdirektor. Dabei fällt auf, dass zum Teil der Pflegeberuf in den Familien über Generationen weitergegeben wurde, eine Anstellungspraxis, der man in Pergine schließlich auf Grund der großen Nachfrage nach Arbeitsplätzen Einhalt gebieten wollte.[36]

    Die Zahl der geprüften PflegerInnen hielt sich im Bundesland Tirol bis in die 1950er Jahre aber in sehr engen Grenzen: 1954 hatten von den 37 weiblichen Pflegekräften in Hall nur zwei zivile und fünf geistliche Pflegerinnen die „Hausprüfung“ absolviert, 30 Pflegerinnen waren ohne Fachbildung. Bei den Männern war dieses Verhältnis noch ungünstiger: 1954 verfügten nur zwei von 41 Pflegern über die „Hausprüfung“. Die Ausbildungssituation verbesserte sich erst in den späteren 1960er Jahren, nachdem eine 1961 erlassene Ausbildungsrichtlinie wirksam geworden war: von 44 beschäftigten Pflegerinnen verfügten nun 30, bei den Männern 44 der insgesamt 57 angestellten Pfleger die entsprechende Fachausbildung. 1969, nachdem der psychiatrische Pflegeberuf mit einem eigenen Diplom abgeschlossen werden konnte, beschäftigte die Anstalt in Hall 16 zivile und 12 geistliche Pflegerinnen und 43 Pfleger mit dem „Diplom für Krankenpflegefachpersonal” und insgesamt weitere 48 Personen des „Sanitätshilfsdienstes“.[37]Mit der Professionalisierung des Pflegeberufs seit den 1950er Jahren wurde nun auch der Personalstand insgesamt stabiler. Der enorme Zuwachs an ausgebildetem Fachpersonal – besonders bei den Männern – war dem Umstand geschuldet, dass die psychiatrische Pflegeausbildung berufsbegleitend, mithin ohne finanzielle Einbußen, absolviert werden konnte.

    Abbildung 9. Abb. 20: Pflegepersonal der Psychiatrischen Klinik Innsbruck (ohne Datum)

    Foto des Pflegepersonals

    Insgesamt ist die Geschichte der psychiatrischen Pflege insbesondere für die Zeit nach 1945 noch wenig erforscht. Die dazu notwendige Einsichtnahme in die Personalakten der Kliniken und Anstalten ist zum Teil aus Datenschutzrechtsgründen, zum Teil wegen des Fehlens geordneter Bestände oder des Zugangs zu diesen, zurzeit nicht möglich. Diese Lücke kann im Augenblick nicht geschlossen werden, doch liefern einzelne Interviews interessante historische Details aus dem pflegerischen Alltag. So wissen wir aus einem Interview mit Schwester Rita[38] (geboren 1929 und in den Jahren 1951 bis 1956 Pflegerin in Hall), dass die Barmherzigen Schwestern in den 1950er Jahren in Hall praktisch auf der Station lebten und wohnten und abgesehen von den Gebetszeiten und Exerzitien Tag und Nacht anwesend waren. Sie schliefen im Schlafsaal auf einer Matratze und mussten mittels einer Stechuhr nachweisen, dass sie wach geblieben und nicht eingeschlafen waren. Sie waren auch angehalten, nach dem Essen das Besteck abzuzählen, wegen der Verletzungsgefahr und weil der Hausverwalter die sparsame Mittelverwendung streng kontrollierte. Sie erinnert sich auch, dass sie und andere Schwestern die Patientinnen vor den Eingriffen, insbesondere der gefürchteten Elektroschocktherapie, beruhigen mussten, weil diese große Angst gehabt hätten. Ähnliches beschreibt Valerio Fontanari, ein ehemaliger Pfleger der Anstalt in Pergine.[39]

    Für 2009 weist die Statistik der TILAK für das Psychiatrische Krankenhaus Hall einen Personalstand von 112 diplomierten Krankenpflegefachpersonen aus, die mit 56 Personen des Sanitätshilfsdienstes, 20 Personen des Medizinisch-Technischen Dienstes und weiteren 20 Personen mit medizinischer oder sozialpädagogischer Ausbildung zusammenarbeiten.[40] Verschiedene Teile des Aufgabenspektrums früherer PflegerInnen werden nun von anderen Berufsgruppen und zum Teil externen Firmen (z.B. Reinigung) geleistet. Diese Entwicklung war eine notwendige Voraussetzung für die Professionalisierung des Pflegeberufs und somit für die Entwicklung sowohl eines neuen Verständnisses von Pflege als auch eines gewandelten Berufsbildes.



    [26] Vgl. dazu Heidegger, Maria, Psychiatrische Pflege in der historischen Anstalt. Das Beispiel der „k. k. Provinzialirrenanstalt“ Hall in Tirol 1830–1850, in: Appelt, Erna / Heidegger, Maria / Preglau, Max / Wolf, Maria A. (Hg.), Who Cares? Betreuung und Pflege in Österreich. Eine geschlechterkritische Perspektive, Innsbruck-Wien-Bozen 2010, S. 87-97.

    [27] Tschallener, Johann, Ueber Wartung und Pflege der Irren, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 6 (1849) Heft 2, S. 262-284, hier S. 265.

    [28] Tschallener, Beschreibung, S. 16.

    [29] Tschallener, Ueber Wartung und Pflege der Irren, S. 267.

    [30] Ebenda, S. 277.

    [31] Ebenda, S. 263-264.

    [32] Ebenda, S. 262-263.

    [33] Vgl. Pantozzi, Die brennende Frage, S. 98.

    [34] Vgl. ebenda, S. 116.

    [35] Vgl. Dienstinstruktion für Wärter und Wärterinnen vom 23. Jänner 1884, zit. in: Pantozzi, ebenda, S. 133.

    [36] Vgl. den Beitrag von Valerio Fontanari in diesem Band.

    [37] Vgl. für diese Recherche in den Jahresberichten der Anstalt danken wir Angela Grießenböck.

    [38] Interview der Projektgruppe mit Schwester Rita am 18.2.2011 in Ried im Oberinntal.

    [39] Vgl. den Beitrag von Valerio Fontanari in diesem Band.

    [40] Vgl. den Leistungsbericht 2009 des Psychiatrischen Krankenhauses des Landes Tirol, auf: http://www.tilak.at/media//data0868/folder_2009_pkh.pdf (eingesehen am 19.5.2011).

    Das Ärztepersonal

    Doch nicht nur das Pflegepersonal verfügte lange Zeit nicht über eine entsprechende fachliche Ausbildung, auch die „Irrenärzte“ des 19. Jahrhunderts konnten keine einschlägige psychiatrisch-heilkundliche Ausbildung vorweisen. Erst nach Abänderung der Rigorosenordnung 1903 wurde das Fach Psychiatrie für alle Medizinstudenten verpflichtender Prüfungsstoff.[41] Zwar ist aus anderen Zusammenhängen bekannt, dass Medizinstudenten bereits ab den 1870er Jahren Spezialvorlesungen aus dem Fach der Psychiatrie besuchen konnten und auch, dass ärztliche Leiter von psychiatrischen Anstalten, z.B. Dr. Josef Stolz oder Sekundarärzte, Vorlesungen an den Universitäten gaben und auch Studenten in die Anstalt zum Hospitieren einluden, von einer akademischen Fachausbildung kann aber noch keine Rede sein. Junge Ärzte begaben sich daher in aller Regel zu ihrer Ausbildung auf Bildungsreise in andere „Irrenanstalten“ im In- und Ausland. Auch Dr. Josef Stolz, seit 1841 als „Hauswundarzt“ in Hall angestellt und ab 1854 Anstaltsdirektor, unternahm eine entsprechende Bildungsreise nach Deutschland, Frankreich und Belgien. Der Ausbildung eines qualifizierten Ärztepersonals diente von Anfang an die zeitlich auf zwei Jahre befristete Anstellung von jungen, unverheirateten Ärzten als „Sekundarärzte“. Die jungen Ärzte waren damit zwangsläufig sehr mobil, auch kann beobachtet werden, dass gerade in der Anfangszeit der zweiten psychiatrischen Landesanstalt in Pergine ein reger Austausch des ärztlichen Personals zwischen Hall und Pergine organisiert wurde, was wohl auch der Homologierung der „Tochteranstalt“ gedient haben dürfte. Nach 1919 bzw. nach Übertragung der Anstalt in Pergine an Italien arbeiteten ausschließlich an italienischen Universitäten ausgebildete Ärzte am „Ospedale Psichiatrico di Pergine Valsugana“. Auch diese hatten ihre fachliche Qualifikation in der Regel in der Praxis in italienischen Anstalten und nicht an Universitäten erhalten.[42] Anders sah die Ausbildungssituation bei den Ärzten der Universitätsklinik aus. Bereits vor der Gründung der Lehrkanzel für „Psychiatrie und Nervenpathologie“ 1891 hatten sich zwei Mediziner im Fach „Psychiatrie und Neurologie” habilitieren können, was im 20. Jahrhundert zur Standardbedingung für eine Klinikkarriere werden sollte. Mit der Gründung von immer mehr Heil- und Pflegeanstalten in ganz Europa und der Expansion der universitären Klinikpsychiatrie entstand im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein eigener psychiatrischer Berufsstand mit dezidierten Standesinteressen,[43] dem es um 1900 gelang, seine Expertise auf Bereiche auszudehnen, die weit über die „Klinik“ hinausgingen: im Feld der Pädagogik, der Rechtsprechung und ganz allgemein in den Diskursen des „Sozialen“ in der Moderne.[44]

    Abbildung 10. Abb. 21: Ärzte der Psychiatrischen Klinik Innsbruck (Eduard Gamper, Carl Mayer, Helmut Scharfetter, und unbekannt, 1920er Jahre)

    Foto von Ärzten der Psychiatrischen Klinik in
Innsbruck

    Über eine psychiatrische Fachausbildung über das medizinische Doktorat hinaus verfügten die an der psychiatrischen Anstalt in Hall angestellten Ärzte – mit Ausnahme des 1919 bestellten Anstaltsleiters Georg Eisath, der 1921 die Lehrbefugnis für Psychiatrie und Neurologie erhielt – in der Regel erst nach 1945. Auch die erste Psychiaterin in Hall, Dr. Helene Schuster, die in der Zwischenkriegszeit angestellt wurde, verfügte ebenso wenig wie ihr Kollege Dr. Ludwig Schmuck über eine psychiatrische Fachausbildung.[45]Psychiaterinnen finden wir dann erst nach 1945 in den Anstalten an, in Hall wird 1967 Dr. Aloisia Pesendorfer für ein einjähriges Praktikum in der „Wachabteilung“ eingestellt und im darauf folgenden Jahr wiederum nur als Praktikantin, Dr. Parthenopi Amantidou.

    Mit Sicherheit wirkte sich das sich zusehends auseinander entwickelnde Zahlenverhältnis Ärzte – PatientInnen auf das hier beschriebene Beziehungssystem und die Behandlungsparadigmata der psychiatrischen Institutionen aus: Bei Eröffnung der Anstalt Hall 1830 waren drei Ärzte angestellt – ein Primararzt und Direktor, ein Hauswundarzt und ein Sekundararzt. Drei Mediziner waren also für durchschnittlich 80 PatientInnen zuständig. Immer noch drei Ärzte waren in den 1880er Jahren nun für rund 300 und im Ersten Weltkrieg für fast 1000 PatientInnen angestellt.[46] Das Betreuungsverhältnis ÄrztInnen – PatientInnen hatte sich demnach und im Wesentlichen bis in die 1960er Jahre permanent verschlechtert. Für 2009 führt der Leistungsbericht der TILAK für das Psychiatrische Krankenhaus des Landes Tirol nunmehr 47 Vollzeitäquivalente beim ärztlichen Personal bei knapp über 261 systemisierten Betten und 5.664 Entlassungen von PatientInnen an.[47] Doch sind diese Angaben nur schwer miteinander vergleichbar, denn im Unterschied zu den Kennziffern in den historischen Jahresberichten wird heute gemäß einer betriebswirtschaftlichen Logik die PatientInnenbewegung in „Entlassungsfällen“ und der Personalstand in „Vollzeitäquivalenten“ ausgedrückt.

    Die klassische Psychiatriegeschichte wird und wurde meist mit wenigen hervorragenden ärztlichen Akteuren und lange Zeit auch gern mit „Vaterfiguren“ in Verbindung gebracht, für Tirol wären da an erster Stelle wohl der „patriarchale“ Anstaltsdirektor Johann Tschallener und sein „reformerischer“ Nachfolger Josef Stolz zu nennen. Die sozialhistorisch orientierte Geschichtswissenschaft und Medizingeschichte forderte seit den 1980er Jahren aber eine stärkere Berücksichtigung der PatientInnenperspektive ein. Und in jüngerer Zeit wird eine neue Thematisierung der „Innensichten“ des Personals eingemahnt[48] – der ärztlichen AkteurInnen ebenso wie jene des Pflegepersonals und weiterer, bisher kaum beachteter Personen- und Berufsgruppen. Standen also in der Psychiatriegeschichte zunächst strategische Inszenierungen humaner Befreiungsakte[49] und wissenschaftshistorische Weichenstellungen im Zentrum des Interesses, personifiziert durch herausragende Persönlichkeiten, geht es nun um die Geschichte der Beziehungen im Beziehungsfeld Psychiatrie, um Interaktionen zwischen „Personal“ und „Insassen“, auch um Orte der Begegnungen mit der Welt außerhalb der Anstaltsmauern wie beispielsweise anlässlich der Faschingsfeiern, die in Hall in den 1860er Jahren von Josef Stolz eingeführt wurden, oder der Feste am Tag der Kastanienernte oder am Tag der Heiligen Lucia in Pergine. Es geht auch um ein Ernstnehmen der therapeutischen Intentionen, um das Sichtbarmachen von Unsicherheiten bei Diagnose und Behandlung, von Ängsten, Loyalitätskonflikten und Verantwortungsgefühlen angesichts des seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend als gesellschaftliches Problem anerkannten psychischen Leids. Ein solcher Zugang zur Tiroler Psychiatriegeschichte hat das „Doppelgesicht“ der Institutionen der Psychiatrie zwischen Zwang und Fürsorge, zwischen philanthropischem Optimismus und Sozialdisziplinierung im Auge zu behalten.[50] Auf dieser Grundlage kann eine geschichtswissenschaftliche Erforschung Tiroler Psychiatriegeschichte letztlich dazu beitragen, die wechselnden Machtverhältnisse innerhalb dieses Beziehungssystems aufzuspüren, auf diese Weise politisch-soziale Handlungskontexte herauszuarbeiten, um immer im Sinne der Aufklärung und Entstigmatisierung die betroffenen Menschen in den Institutionen der Psychiatrie in den Mittelpunkt des Erinnerns zu rücken. Voraussetzung dafür sind jedoch stets das Vorhandensein und die Möglichkeit der wissenschaftlichen Nutzung und umsichtigen Interpretation einer entsprechenden Quellengrundlage. Insbesondere erlauben psychiatrische Krankenakten einen hervorragenden Einblick sowohl in die Geschichte der psychiatrischen Wissensproduktion als auch in alltägliche Interaktions- und Kommunikationsprozesse zwischen den einzelnen AkteurInnen in Institutionen der Psychiatrie. Das historische Archiv des Landeskrankenhauses Hall mit seinem geschlossenen Aktenbestand seit 1830, das Archiv der ehemaligen Anstalt in Pergine und die Bestände der Innsbrucker Neurologisch-Psychiatrischen Klinik im Tiroler Landesarchiv bieten dazu aus wissenschaftshistorischer wie aus gesellschaftspolitischer Sicht einen herausragenden und vielstimmigen Fundus.

    Quelle

    Elisabeth Dietrich-Daum / Maria Heidegger: Menschen in Institutionen der Psychiatrie. erschienen in: E. Dietrich Daum, H.J.W. Kuprian, S. Clementi, M. Heidegger, M. Ralser (Hg.): Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830. innsbruck university press 2011, S. 43-68.

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    Stand: 08.05.2015



    [41] Verordnung 678, RGBl. Nr. 102 vom 14.4.1903, zit. in: Ralser, Das Subjekt der Normalität, S. 163.

    [42] Vgl. Pantozzi, Die brennende Frage, S. 173-176.

    [43] Vgl. Chmielewski, Alexandra, Auf dem Weg zum Experten. Die Herausbildung des psychiatrischen Berufsstandes in Süddeutschland (1800 bis 1860), in: Berding, Helmut / Klippel, Diethelm / Lottes, Günther (Hg.), Kriminalität und abweichendes Verhalten: Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 105-140.

    [44] Vgl. Ralser, Das Subjekt der Normalität.

    [45] Vgl. den Beitrag von Angela Grießenböck über die Akte Schuster in diesem Band.

    [46] Einen Überblick über die ärztlichen Leiter der Anstalten Hall seit 1830 bis zur Gegenwart und Pergine seit 1882 bis in die jüngste Vergangenheit mit zahlreichen Einzelbiographien bietet die Projekthomepage: www.psychiatrische-landschaften.net.

    [47] Psychiatrisches Krankenhaus des Landes Tirol, Leistungsbericht 2009.

    [48] Vgl. Vanja, Christina, Das Irrenhaus als „Totale Institution“? Erving Goffmans Modell aus psychiatriehistorischer Perspektive, in: Scheutz, Martin, Totale Institutionen. Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/1 (2008), S. 120-129, hier S. 128.

    [49] Vgl. dazu Dietrich-Daum, Elisabeth / Heidegger, Maria, „Irrenbefreiung“ oder die historische Inszenierung eines Sieges in der Psychiatrie, in: Fahlenbock, Michaela / Madersbacher, Lukas / Schneider, Ingo (Hg.), Inszenierung des Sieges – Sieg der Inszenierung. Interdisziplinäre Perspektiven, Innsbruck-Wien-Bozen 2011, S. 45-55.

    [50] Vgl. Tanner, Jakob, Der „fremde Blick“: Möglichkeiten und Grenzen der historischen Beschreibung einer psychiatrischen Anstalt, in: Rössler, Wulf / Hoff, Paul (Hg.), Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang, Heidelberg 2005, S. 45-46, hier S. 50.

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