"Aus Zwang wurde Interesse"

Eine Studie zur Wirksamkeit von Seminaren zum Gemeinsamen Unterricht in Berlin

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Demmer-Dieckmann, Irene/Textor, Annette (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. Bad Heilbrunn 2007, 153-162
Copyright: © Irene Demmer-Dieckmann 2007

"Aus Zwang wurde Interesse".

Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in Deutschland vermehrt in Regelschulen und nicht mehr ausschließlich in Sonder- oder Förderschulen unterrichtet. Damit besteht in allen Bundesländern die Notwendigkeit, dass Studierende aller Lehrämter, und nicht mehr nur die Sonderpädagogen, in der ersten Phase der Lehrerbildung auf den Gemeinsamen Unterricht vorbereitet werden müssen. In Berlin, das im Mittelpunkt dieses Beitrages steht, wurde vor über 30 Jahren die erste bundesweite Integrationsklasse an einer staatlichen Schule eingerichtet (Fläming-Grundschule). Laut Berliner Schulgesetz von 2004 (§4.3) sollen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorrangig im Gemeinsamen Unterricht beschult werden. Nach Bremen hat Berlin bundesweit die zweithöchste Integrationsquote, die im Schuljahr 2005/2006 bei 36% für die Klassen 1-10 liegt. Für Lehrerinnen und Lehrer in Berlin ist es somit sehr wahrscheinlich, dass sie auch Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichten werden. Hierauf werden sie in der ersten Ausbildungsphase durch ein verpflichtendes Seminar zum Gemeinsamen Unterricht vorbereitet. Dieser Beitrag stellt eine Studie an der Technischen Universität Berlin (TU-B) vor, in der der Frage nachgegangen wird, ob und welche Wirkung diese verpflichtenden Seminare auf die Einstellungen von Studierenden haben.

1. Der Pflichtschein Integrationspädagogik in Berlin

Im Jahr 1999 wurde, insbesondere aufgrund des starken Engagements von Jutta Schöler und Ulf Preuss-Lausitz (TU-B) und zum Teil gegen den Widerstand von Humboldt-Universität und Freier Universität, eine Pflichtlehrveranstaltung mit zwei Semesterwochenstunden zum Gemeinsamen Unterricht in der Berliner Prüfungsordnung für das Erste Staatsexamen festgeschrieben. Diese Regelung gilt für alle Schularten und Schulstufen, auch für zukünftige Gymnasial- und Berufsschullehrkräfte. Um die Inhalte einer solchen Lehrveranstaltung nicht in Vorlesungen, sondern in Seminaren anbieten zu können, hat die TU-B seit Oktober 2003 im Institut für Erziehungswissenschaft eine akademische Ratsstelle für dieses Lehrgebiet eingerichtet, die ich seitdem innehabe.

Zum Wintersemester 2004/05 hat die TU-B die Lehrerbildung modularisiert und auf Bachelor- und Masterabschlüsse umgestellt. Für Studierende mit Lehramtsoption wurde auch hier wieder ein Seminar Integrationspädagogik im berufsfelderschließenden Modul mit zwei Leistungspunkten verankert, das entspricht einem Arbeitsumfang von 60 Zeitstunden für die Studierenden.

Lediglich in einem einzigen weiteren Bundesland, in Sachsen-Anhalt, dem Land mit der bundesweit höchsten Selektions- und gleichzeitig niedrigsten Integrationsquote, müssen die Lehramtstudierenden für Gymnasium und Sekundarschulen ebenfalls einen Studiennachweis in einer Lehrveranstaltung zur "Sonderpädagogik/ Integrationspädagogik" erwerben, für den allerdings das Institut für Rehabilitationspädagogik zuständig ist und nicht, wie in Berlin, die Erziehungswissenschaft (vgl. Boban/Hinz 2004, 332). In anderen Bundesländern wird das Thema zwar angeboten, aber es kann und muss nicht von jedem Lehramtsstudierenden belegt werden (vgl. u.a. das Konzept von Koch-Priewe/ Münch 2005).

Die Berliner Regelung mit dem Pflichtschein zum Gemeinsamen Unterricht ist somit bundesweit ein einmaliges Modell. Integrationsseminare werden seitdem nicht mehr nur von Studierenden besucht, die sich für dieses Thema interessieren und ggf. bereits eine integrationsfreundliche Position haben, sondern auch von denjenigen, die "nur" kommen, weil sie den Pflichtschein benötigen, eigentlich kein Interesse haben und zum Teil auch nicht einsehen, warum sie sich als angehende Gymnasial- oder Berufsschullehrer/in überhaupt mit behinderten Schülern beschäftigen sollen. Welche Auswirkungen auf die Einstellung der Studierenden entfaltet da ein Pflichtseminar?

2. Das Seminarkonzept

Lehrerbildung im Bereich der Integrationspädagogik soll fachliche Kenntnisse vermitteln, Einstellungen entwickeln und ggf. modifizieren und - vor allem in der 2. und 3. Phase der Lehrerbildung - Handlungskompetenz entwickeln. An der TU-B werden pro Semester drei Seminare von mir und ein viertes von einer/einem weiteren Dozentin/en angeboten. In meinen Seminaren behandele ich - mit verschiedener Akzentsetzung - folgende Inhalte:

  • Erfahrungen und Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung,

  • Behindertenbegriff,

  • Geschichte der Sonderbeschulung und des Gemeinsamen Unterrichts,

  • bildungspolitische Entwicklungen,

  • internationale und nationale Entwicklung,

  • aktueller Stand und schulgesetzliche Entwicklung in Berlin,

  • Forschungsergebnisse zum Gemeinsamen Unterricht,

  • Erfahrungsbericht von ehemaligen Integrationsschülern mit Behinderung oder einer Lehrkraft,

  • methodisch-didaktische Gestaltung des Gemeinsamen Unterrichts und

  • integrative Wege im Übergang Schule - Beruf.

Methodisch werden die Inhalte mittels Inputphasen, Arbeits- und Reflexionsphasen in Kleingruppen und in Partnerarbeit erarbeitet. In der zweiten Seminarhälfte arbeiten die Studierenden, häufig schulartbezogen, in interessenorientierten Themengruppen (Behinderung und Migration, Förderplanung, ADHS, Entwicklung von Unterrichtseinheiten etc.). Den Studierenden wird ein Reader zur Verfügung gestellt.

Von allen Studierenden wird eine aktive Leistung verlangt, die nach Teilnehmerzahl und Dozent/in variiert (schriftliche Ausarbeitungen, Test oder Gestaltung einer Sitzung). Um neben fachlichen Inhalten - wenn auch nur im kleinen Rahmen - die Reflexion von eigenen Erfahrungen einzubeziehen, besteht eine meiner Anforderungen darin, einen dreiseitigen Bericht über eine Hospitation in einer Integrationsklasse zu schreiben oder - weil dies nicht immer für alle Studierenden realisierbar ist - über den Besuch einer Vorstellung im Rambazamba-Theater, einem Theater, in dem behinderte und nichtbehinderte Schauspieler zusammen arbeiten. Über 90% der Studierenden geben in der Seminarevaluation an, dass ihnen durch diese Struktur die Grundlagen "sehr gut" bzw. "gut" vermittelt wurden.

Über drei Semester wurde das Konzept einer Online-Veranstaltung erprobt (vgl. Textor u.a. 2005); diese Form wurde allerdings nur begrenzt von Studierenden angenommen, u.a. weil in Präsenzveranstaltungen Diskussionen und Reflexionen leichter möglich sind.

3. Die Erhebung

Bereits 2003 hat Ulf Preuss-Lausitz einen Erfahrungsbericht über diese Pflichtseminare an der TU-B veröffentlicht. Die schriftliche Seminarevaluation verband er mit folgenden zwei Fragen: "Sollte die Pflichtveranstaltung für Integration beibehalten werden" und "Hat sich Ihre Einstellung zu Behinderten durch die Lehrveranstaltungen geändert?". Er legte die Ergebnisse seiner Befragung mit insgesamt 105 Studierenden aus drei Lehrveranstaltungen aus drei Semestern vor. Diese Anregung habe ich ausgeweitet und seit drei Semestern (Sommersemester 2005, Wintersemester 2005/2006, Sommersemester 2006) die Studierenden in allen an der TU-B angebotenen Pflichtseminaren (insgesamt zwölf Seminare) jeweils zu Beginn und zum Ende befragt. Es handelt sich daher um eine Vollerhebung. Neun der Seminare wurden von mir durchgeführt, drei von Kolleginnen und Kollegen. Mit einem anonymen, zwei- bzw. dreiseitigen Fragebogen (Fragen mit vorgegebenen Antwortkategorien sowie offene Fragen: Begründen Sie Ihre Einstellung.) werden insbesondere die Einstellungen und Einstellungsveränderungen erhoben: Mit welchen Einstellungen zum Gemeinsamen Unterricht kommen Studierende in das Seminar? Bewirkt die Auseinandersetzung im Seminar eine Veränderung der Haltung, und wenn ja in welche Richtung? Wie bewerten sie eine solche Pflichtveranstaltung?

Mittels eines replizierbaren Codes für jeden Studierenden können die Ergebnisse der Befragung aus der ersten Sitzung mit denen in der letzten Sitzung verglichen werden. In dieser Auswertung werden nur die Studierenden berücksichtigt, deren Bögen von der Erhebung vor und nach dem Seminar vorliegen, das sind die Bögen von 234 Lehramtsstudierenden.

4. Ausgewählte Ergebnisse

Die Sozialdaten ergeben folgendes Bild: 43% der Befragten sind angehende Gymnasiallehrkräfte, 25% zukünftige Berufsschullehrkräfte, 22% angehende Sekundarstufe-I-Lehrkräfte, 7% Bachelor-Studierende mit Lehramtsoption und 3% zukünftige Grundschul- oder Sonderpädagoginnen/pädagogen; letztere werden in Berlin nur an der Humboldt-Universität ausgebildet, können ihren Integrationsschein aber auch an der TU-B erwerben. Bachelor-Studierende sind seit dem Sommersemester 2006 in diesen Seminaren vertreten. An der TU-B werden nur noch Bachelor-Studierende mit Lehramtsoption mit dem Fach Arbeitslehre und mit beruflichen Fachrichtungen ausgebildet.

Typisch für den Lehrerberuf ist, dass zwei Drittel der befragten Studierenden weiblich sind. Zwei Drittel sind 21 bis 25 Jahre alt.

62% haben Begegnungen und Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung; 60% davon in Familie, Nachbarschaft, Verwandtschaft oder im nahen Bekanntenkreis. 11% haben bereits ihr Orientierungspraktikum und 2% ihr Fachpraktikum in einer Integrationsklasse gemacht; 6% haben in ihrer Schulzeit gemeinsam mit behinderten Mitschülern gelernt; 11% haben ihren Zivildienst in einer Einrichtung für behinderte Menschen gemacht. Somit haben immerhin zwei Drittel der Studierenden schon Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gesammelt.

61% der zukünftigen Lehrkräfte geben an, sich durch das Seminar zum erstenMal mit dem Gemeinsamen Unterricht beschäftigt zu haben. Angesichts der Tatsache, dass seit über 30 Jahren Gemeinsamer Unterricht bundesweit praktiziert wird und in Berlin seit 16 Jahren im Schulgesetz verankert ist, ist dies eine erstaunliche, aber auch beängstigend hohe Quote. Sie weist deutlich auf den Bedarf einer verpflichtenden Auseinandersetzung hin.

Auf die offen formulierte Frage, "Wenn ich an einen Schüler mit Behinderung/sonderpädagogischen Förderbedarf denke, denke ich an...", nennen 47% der Studierenden Körperbehinderung, 39% Geistige Behinderung, 7% Lernbehinderung, 4% Schwerstbehinderung und 3% Blindheit. Der Behinderungsbegriff wird - erwartungsgemäß - in erster Linie mit Körper- und Geistiger Behinderung in Verbindung gebracht. Der Förderschwerpunkt Lernen, mit 50% der größte aller Förderschwerpunkte, wird lediglich von 7% genannt und der Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung gar nicht. Mit diesen beiden Schwerpunkten werden zukünftige Lehrkräfte im Schulalltag allerdings am meisten zu tun haben.

Zu Beginn und am Ende des Seminars geben die Studierenden ihre Einstellung zu der These ab: "Ein Schüler mit Behinderung wird am besten in der Sonderschule gefördert". Abbildung 1 zeigt eine immense Veränderung der Einschätzungen: ein Plus von 35 Prozentpunkten, der größter Zuwachs im Vorher-Nachher-Vergleich dieser Erhebung insgesamt. Was hat zu dieser großen Veränderung geführt? Eine Studentin schreibt folgenden Text zur Begründung ihrer Einstellung: "Vor dem Seminar wusste ich nicht, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder überhaupt gemeinsam unterrichtet werden können. Ich kannte nur Sonderschulen und Werkstätten für Behinderte. Ich dachte, dass ist alles gut und richtig so" (Code: 231287).

Im Seminar thematisieren die Studierenden zu Beginn die Hoffnungen, die mit Sonderschulen in der Regel verbunden werden: In Sonderschulen arbeiten besonders qualifizierte Lehrkräfte, die spezielle Förderung erfolgt gezielt in kleineren Lerngruppen, Leistungsdruck und Hänseleien entfallen, die Schüler bleiben unter sich und fühlen sich so wohler etc. Anhand von empirischen Studien (u.a. Wocken 2000 und 2005) werden im Seminar Anspruch und Wirklichkeit am Beispiel der Schule für Lernbehinderte/ Förderschule vorgestellt und mit den Leistungsergebnissen in Integrationsklassen verglichen. Die von den Studierenden vermutete Wirkung einer Schonraumpädagogik erweist sich vor diesen Daten einer reduktionistischen Didaktik und sozialen Selektion als institutionelle "Schonraumfalle". Die für viele Studierende neue Erkenntnis dieser Zusammenhänge hat die Einstellung deutlich verändert. Die ernüchternde Einsicht formuliert eine Studentin wie folgt:

"Ich bin schockiert, dass die Ergebnisse für die Lernbehindertenschule so schlecht sind und dass das fast keiner weiß, ich auch nicht, und dass fast nichts passiert, um das zu ändern" (Code: 081034).

Abb. 1: Ein Schüler mit Behinderung wird am besten in der Sonderschule gefördert. (N = 218)

Die Studierenden werden gefragt: Würden Sie Ihr nicht behindertes (Abb. 2) bzw. behindertes Kind (Abb. 3) in eine Integrationsklasse geben? Der Zuwachs bei der Frage nach dem nichtbehinderten Kind ist um 14 Prozentpunkte gestiegen, beim behinderten Kind um 10 Prozentpunkte; nach dem Seminar würden fast drei Viertel aller Studierenden ihr Kind - ob behindert oder nicht - in eine Integrationsklasse geben.

Den schriftlichen Begründungen ist zu entnehmen, dass beim nichtbehinderten Kind vor allem Leistungsängste gegen eine Integrationsklasse sprechen, vor allem unter Akademikern ein weit verbreitetes Vorurteil. Beim behinderten Kind besteht die Angst, dass es in Integrationsklassen gehänselt und geärgert werden bzw. darunter leiden könnte, den Leistungsansprüchen nicht zu genügen. Die Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen, die genau hierzu Erkenntnisse liefern, hat sicherlich zu einer Veränderung in den Haltungen beigetragen.

Abb. 3:Würden Sie Ihr behindertes Kind in eine Integrationsklasse geben? (N = 230)

Vor dem Seminar können es sich 51% vorstellen, in einer Integrationsklasse zu arbeiten, während es sich 9% nicht vorstellen können; 40% wählen die Kategorie "Kommt darauf an". Nach dem Seminar wird von den Studierenden verlangt, Position zu beziehen: Die Kategorie "Kommt darauf an" wird ihnen bewusst nicht mehr angeboten. 84% können es sich dann vorstellen in Integrationsklassen zu unterrichten, ein mit 33 Prozentpunkten sehr hoher Zuwachs. Trotz der so nicht direkt vergleichbaren Werte hat die verpflichtende Auseinandersetzung diesbezüglich eine deutliche Veränderung der Einstellung bewirkt.

Auf die Frage: "Hat sich Ihre Einstellung zum Gemeinsamen Unterricht durch das Seminar verändert?" (Abb. 4), gibt mehr als die Hälfte der Studierenden an, eine positivere Einstellung wahrzunehmen, bei 36% ist sie positiv geblieben; d.h. 92% stehen dem Gemeinsamen Unterricht nach dem Seminar positiv gegenüber. Sie geben an, dass die Veränderung vor allem durch Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen und durch die Diskussionen im Seminar erfolgt sei, aber auch durch Filmbeiträge bzw. Hospitationen in Integrationsklassen.

Auch ihre Einstellung gegenüber Schülerinnen/Schülern mit Behinderung hat sich ähnlich positiv verändert. 52% haben mehr Verständnis entwickelt, bei 40% war die Einstellung schon positiv. Weiterhin Vorbehalte haben noch 1%, während lediglich 0,4% angeben, nach dem Seminar mehr Vorbehalte zu haben als vorher.

Viele Studierenden schreiben, dass sie sich durch ein Seminar noch nicht kompetent genug für den Gemeinsamen Unterricht fühlen. 61% der Studierenden beabsichtigen sich weiterhin mit dem Gemeinsamen Unterricht zu beschäftigen und 30% "vielleicht". 44% dieser Studierenden wollen ein Hauptseminar zum Thema besuchen und 28% wollen es als Prüfungsthema wählen. Lediglich 10% wollen sich nicht weiter damit befassen. Da sich ebenfalls 61% zum ersten Mal mit Integrationspädagogik beschäftigt, stellen diese Quoten ein deutliches Votum für eine Ausweitung jenseits eines einzigen Seminars dar.

Es überrascht nicht, dass diejenigen 62% der Studierenden, die bereits Erfahrungen mit behinderten Menschen gesammelt hatten, in allen Bereichen positivere Einschätzungen angeben. Die Auswertung weiterer Daten der an diesen Seminaren ebenfalls teilnehmenden Magisterstudierenden in Erziehungswissenschaft (N = 37) zeigt, dass sie von vorn herein eine positivere Einstellung haben. Dies erklärt sich dadurch, dass sie freiwillig am Seminar teilnehmen, sich für die Thematik interessieren und zumeist bereits Vorerfahrungen gesammelt haben.

Darüber hinaus können keine markanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Lehrämtern, zwischen weiblichen und männlichen Studierenden oder unterschiedlichen Dozentinnen/Dozenten festgestellt werden.

5. Resümee

Die Daten sprechen für sich: Nach dem Seminar würden 73% der Studierenden ihr nichtbehindertes oder behindertes Kind in eine Integrationsklassen geben; noch mehr, nämlich 84%, würden selber im Gemeinsamen Unterricht arbeiten und 92% haben eine positive Haltung zum Gemeinsamen Unterricht.

85% der Studierenden, denen in der Regel nicht bewusst ist, dass der Pflichtschein in Berlin bundesweit einmalig ist, bewerten nach dem Seminar eine verpflichtende Teilnahme mit "gut". Die Zustimmung ist im Vergleich mit der Quote vor dem Seminar um 10% gewachsen. Eine vergleichbar positive Resonanz hatte Preuss-Lausitz bereits 2003 erhalten. Zudem erhalten die Pflichtseminare in den zusätzlich durchgeführten Seminarevaluationen eine insgesamt gute Gesamtbewertung: 81% geben "sehr gut" oder "gut" an. Die Veränderungen in den Einstellungen durch nur ein zweistündiges Seminar sind deutlich und m.E. erstaunlich hoch. Eingewendet werden könnte, dass - trotz Anonymität - diese hohen Werte durch soziale Erwünschtheit entstanden sein könnten, d.h. durch den Wunsch sich "politisch korrekt" zu verhalten beziehungsweise sich nicht als behindertenfeindlich outen zu wollen. Allerdings würde dies beide Erhebungszeitpunkte betreffen, so dass sich die großen Veränderungen hieraus nicht erklären lassen.

Über die Stabilität der Einstellungsveränderungen - insbesondere wenn die Studierenden in die Schulpraxis gehen - kann diese Erhebung keine Aussagen machen. Die bisher relativ wenigen Studien zur Wirksamkeit der Lehrerausbildung zeigen allerdings, dass sich die Einstellungen während des Studiums in Richtung liberale bis progressive pädagogische Haltungen wandeln. Nach Beginn des Berufslebens verlieren sich diese bei den allermeisten rasch wieder (vgl. Terhardt 2006, 45).

"Aus Zwang wurde Interesse" - so das Fazit eines Studenten am Ende des Seminars, der zu Beginn wenig Sinn in einer solchen verpflichtenden Lehrveranstaltung gesehen und zuvor keine Berührungspunkte mit dem Thema gehabt hatte. Die Studie belegt, dass die bildungspolitische Entscheidung für eine Pflichtveranstaltung sich als wirkungsvoll erweist und zudem bei den Studierenden insgesamt hohe Zustimmung erfährt. Insbesondere für die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge ist es förderlich, wenn der Gemeinsame Unterricht explizit thematisiert und nicht lediglich undifferenziert unter dem Bereich Umgang mit Heterogenität subsumiert wird. Die Ergebnisse der Studie bieten deutliche Argumentationshilfen für die Einführung vergleichbarer Seminare an anderen Universitäten.Dieses Berliner Modell sollte in allen Bundesländern Schule machen.

Literatur

Boban, Ines/ Hinz, Andreas (2004): Berufbegleitender Studiengang Integrationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In: Schnell, Irmtraud/ Sander Alfred (Hrsg.): Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 331-337

Koch-Priewe, Barbara/ Münch, Jürgen (2005): Lehrerbildung für Gemeinsamen Unterricht. Konzepte und Erfahrungen aus der Kooperation von Schulpädagogik und Sonderpädagogik. In: Die Deutsche Schule, 97. Jg., Heft 4, 480-492

Kultusministerkonferenz der BRD (2005): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1994 bis 2003. Statistische Veröffentlichungen der KMK, Dokumentation Nr. 177. Bonn und Berlin

Preuss-Lausitz, Ulf (2003): Konzept, Probleme und Evaluation einer Pflicht-Lehrveranstaltung "Einführung in die Integrationspädagogik" für alle Lehramtsstudierenden. Erfahrungen aus Berlin. In: Feuser, Georg (Hrsg.): Integration heute - Perspektiven ihrer Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. Frankfurt/M: Peter Lang, 175-181

Textor, Annette/ Bethge, Matthias/ Schwieren, Alexander (2005): Selbstständiges Lernen in der Lehrerbildung. In: PÄD Forum, 33./24. Jg., Heft 5, 285-288

Wocken, Hans (2000): Leistung, Intelligenz und Soziallage von Schülern mit Lernbehinderungen. Vergleichende Untersuchungen an Förderschulen in Hamburg. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 51. Jg., Heft 12, 492-503

Wocken (2005): Andere Länder, andere Schüler? Vergleichende Untersuchungen von Förderschülern in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg und Niedersachsen (Forschungsbericht). URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/wocken-forschungsbericht.html [rev. 2.07.2006]

Quelle:

Irene Demmer-Dieckmann: "Aus Zwang wurde Interesse". Eine Studie zur Wirksamkeit von Seminaren zum Gemeinsamen Unterricht in Berlin.

Erschienen in: Demmer-Dieckmann, Irene/Textor, Annette (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. Bad Heilbrunn 2007, 153-162

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 08.01.2014

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation