Wenn frühkindliche Lebensbedingungen das Leben und Lernen nachhaltig bestimmen

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Pädagogik, Heft 1, 2001, S. 8 - 13
Copyright: © Irene Demmer-Dieckmann 2001

Wenn frühkindliche Lebensbedingungen das Leben und Lernen nachhaltig bestimmen

In der Frühstückspause treffe ich Hannah, angeregt mit zwei Mädchen aus ihrer Stammgruppe im Gespräch vertieft. Vermutlich sind sie auf dem Weg in den Schulzoo oder in die Cafeteria. Unsere Blicke treffen sich, wir lächeln uns zu. Ich freue mich jedes Mal darüber, dass sie ihren Blick nicht mehr rasch abwendet, dass er ruhig geworden, nach vorne und nicht mehr auf den Boden gerichtet ist. Wie sicher ihr Gang geworden ist und wie frei sie sich bewegt, fällt mir wieder einmal auf, als ich den Mädchen hinterher schaue. Ein schönes und selbstbewusstesMädchen ist sie geworden, denke ich.

Das war nicht immer so und es war ein langer und mühevoller Weg. Hannah ist eine ganz besondere Schülerin, die vor elf Jahren an die Laborschule kam und an die ich mich besonders gut und gerne erinnere.Von Hannahs ungewöhnlicher Lebensgeschichte und Lernentwicklung[1] an einer nicht ganz gewöhnlichen Schule[2] werde ich im Folgenden erzählen.



[1] Meine Beschreibung basiert auf eigenen Unterrichtserfahrungen in den Jahrgängen 3 und 4der Primarstufe, auf schriftliche und mündliche Berichte von Hannahs Lehrerinnen und Lehrer sowie auf Gespräche mit den Pflegeeltern.

[2] Die Laborschule, eine Ganztagsschule, ist eine Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie nimmt die Kinder bereits als Fünfjährige auf und führte sie ohne äußere Fachleistungsdifferenzierung zu den Abschlüssen der Sekundarstufe I. Erst zum Ende des 9. Jahrgangs werden die Lernberichte durch Ziffernzensuren ergänzt; ein Sitzenbleiben gibt es nicht. In der Eingangsstufe werden fünfjährige Kinder und Kinder des 1. und 2. Jahrgangs in jahrgangsübergreifenden Stammgruppen (Klassen) unterrichtet. Zur Zeit erprobt die Schule in drei Gruppen eine Mischung der Jahrgänge 3, 4 und 5. Als Schule ohne Aussonderung versucht die Laborschule auch den Schülerinnen und Schülern mit besonderem Betreuungs- und Unterstützungsbedarf gerecht zu werden. Daher arbeiten auch Sonderpädagoginnen und -pädagogen an der Laborschule. Mehr über unsere Schule erfährt man in dem Buch "Unsere Schule ist ein Haus des Lernens" von Susanne Thurn und Klaus-Jürgen Tillmann (Hg.) 1997; mehr über unser integratives Konzept kann man in "Gemeinsamkeit und Vielfalt" von Irene Demmer-Dieckmann und Bruno Struck (Hg.) 2001 nachlesen.

Eltern in Not - Kinder in Not

Als Hannah vor elf Jahren als Fünfjährige zu uns kam, wurde ein schwaches, kränkliches, schweigendes, am Daumen nuckelndes Kind eingeschult, das sich Wunden kratzte und Tag und Nacht keine Ruhe fand. Hannah wurde als Kind drogenkranker Eltern geboren, die mit der Versorgung des Babys überfordert waren. Hannah war unterversorgt, oft allein gelassen und unbetreut oder sie wurde von wechselnden Personen versorgt. Aufgrund ihres extrem schlechten körperlichen Zustandes musste sie mehrfach ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ihre ersten Lebensjahre waren geprägt von massiven körperlichen Beeinträchtigungen und Gewalterfahrungen, die ihre Lebens- und Lerngeschichte bis heute bestimmen. Auf Hannah treffen Sätze wie "Bevor ein Kind Schwierigkeit macht, hat es welche" oder "Verhaltensstörungen als Störungen der Verhältnisse" in besonderem Maße zu.

Mit drei Jahren kam sie in eine Pflegefamilie, die sich besonders intensiv um sie kümmerte. Hannahs besonderer Betreuungs- und Unterstützungsbedarf war offensichtlich; für ihre Pflegeeltern war es schwierig, eine Schule für sie zu finden. Eine Regelschule kam nicht in Frage; von den Sonderschulen schien keine geeignet. Über Freunde wurden sie auf die Laborschule aufmerksam, sie kamen zu einem Tag der offenen Tür, sprachen mit den Lehrerinnen und wünschten schließlich eine Aufnahme an unserer Schule. Es war sicherlich ein Glück, dass Hannahs Lehrerin auch Erfahrungen an einer Sonderschule gesammelt hatte.

Kleine Freunde auf vier Pfoten

Während der ersten Monate konnte Hannahs es aufgrund ihrer physischen und psychischen Situation nicht länger als zwei Stunden pro Tag in der Schule aushalten. Am liebsten saß sie neben dem Meerschweinchenstall, streichelte, fütterte oder bürstete ein Meerschweinchen. Es kam aber auch vor, dass sie unwirsch mit dem Tier umging und es quälte. Auch den Kontakt zu Kindern suchte sie über aggressive Verhaltensweisen. Dann wieder saß sie zurückgezogen und still in einer abgelegenen Ecke, weit weg von den Kindern, und beschäftigte sich mit dem Meerschweinchen. Man hätte sie dort fast vergessen können. Doch immer wieder gingen einzelne Kinder zu Hannah, sprachen oder spielten kurz mit ihr und kehrten dann zu ihren Arbeiten zurück. Allmählich entstanden erste, kurze Spielkontakte. Geduld und viele Ausnahmeregelungen waren von Nöten. Da Hannah sich so deutlich anders als andere Kinder verhielt, waren die Ausnahmen für sie den Kindern ihrer Gruppe selbstverständlich.

Außerhalb der Schule wurde Hannahs Entwicklung therapeutisch unterstützt (heilpädagogisch, spieltherapeutisch und psychomotorisch); eine hochgradige frühkindliche Traumatisierung war diagnostiziert worden. Von der Therapieeinrichtung erhielt die Schule die Rückmeldung, dass Hannahs Entwicklung insgesamt voran ging, wenn auch in sehr kleinen Schritten.

Ihre Beziehung zu den Meerschweinchen wurde umsichtiger; Hannah begann sich für die Versorgung der Tiere zu interessieren. Sie kümmerte sich um das Futter und das Reinigen des Stalls. Nach und nach wurde sie in ihrem Tierdienst zuverlässig. In Rollenspielen übernahm sie immer wieder die Rolle von Katzen, Pferden oder Panthern. Zu Tieren behielt Hannah während der gesamten Schulzeit eine besondere Beziehung, allerdings wurden die "kleinen Freunde" dann größer, viel größer, denn Hannah ging zum therapeutischen Reiten. Eine besondere und dauerhafte Vorliebe entwickelte sie für den Schulzoo mit zahlreichen Kleintieren.

Schule als Lebensort und erst viel später als Lernort

Anfangs konnte Hannah zunächst nur für kurze Zeit neben, später auch auf der Vorlesedecke der Gruppe Platz nehmen und der Lehrerin beim Vorlesen zuhören. Nach und nach entdeckte sie ihre Vorliebe für Malen. Allmählich konnte sie am gesamten Unterrichtsvormittag teilnehmen, später auch am freiwilligen Nachmittagsangebot.

Ein zusätzliches Jahr in der vertrauten Eingangsstufe war für Hannah dringend notwendig, denn ihre frühkindlichen Lebensbedingungen hatten ihre Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt. Nahm sie zu Beginn ihrer Schulzeit nur Kontakt zu Meerschweinchen auf, hatte sie sich nach vier Jahren zu einem in die Mädchengruppe integrierten Kind entwickelt, das freundliche Kontakte hatte, von denen sich einige später zu freundschaftlichen Beziehungen entwickelten. Eingebettet in die Mädchengruppe schaffte Hannah den Übergang in den dritten Jahrgang.

Ich kann das nicht! Du musst mir helfen

Hannahs Lebensgeschichte hat es ihr besonders schwer gemacht, Lebens- und Leistungszuversicht zu entwickeln. Große Verlust- und Versagensängste belasteten sie, die Angst, etwas falsch zu machen oder nicht lernen zu können. "Das kann ich nicht! Das schaffe ich nie!" - war ein oft geäußerter Ausruf ihrer Selbsteinschätzung. Hannah musste immer zunächst ihre Ängste überwinden, bevor sie sich auf die Inhalte einlassen konnte. Sie hatte kein Zutrauen zu sich und zu ihren Fähigkeiten und Leistungen. Ein Beispiel aus dem vierten Jahrgang veranschaulicht dies: Hannah arbeitete im Unterricht fast immer mit ihren Mitschülerinnen zusammen, sie halfen ihr, erklärten ihr die Arbeiten nochmals oder sie schrieb auch einfach von ihnen ab. Im Kunstunterricht forderte sie hartnäckig ein, dass ich oft und lange neben ihr saß. Sie holte mir einen Stuhl, hielt mich am Arm fest und sprach mit einem heftigen Drängen in der Stimme: "Du musst bei mir bleiben, geh nicht weg, die andern brauchen dich nicht, ich brauche dich!" Auf meine Frage: "Wofür brauchst du mich denn?", antwortete sie: "Es gibt so viel Entscheidungen." Und tatsächlich, Hannah fragte mich ununterbrochen: "Soll ich den Hund stehend oder liegend malen?", "Soll ich den Zeichenblock quer nehmen?", "Ist es besser, wenn ich ihn vorzeichne oder lieber nicht.", "Soll ich hellbraun oder besser dunkelbraun nehmen." Nahm sie meine Anregung an, kommentierte sie dies mit den Worten: "Wenn das Bild nichts wird, ist es deine Schuld, dann bist du es ja gewesen". Damit delegierte sie die Verantwortung für die vielen Entscheidungen und die Verantwortung für das Gesamtwerk an mich. Betrachtete man lediglich Hannahs sensible und kreative Endprodukte, über deren Gelingen sie selber immer wieder ehrlich erstaunt und verblüfft war, und nicht den Prozess dorthin, war es nicht mehr nachvollziehbar, wie anstrengend und kräfteverbrauchend der Fertigungsprozess für sie war. Ihr Weg zu der Einstellung "Ich weiß zwar nicht, ob ich das kann, aber egal, ich fang einfach mal an" war lang. Je öfter sie mutig mit einer Sache begann, desto mehr schaffte sie. Je mehr sie schaffte, desto besser ging es ihr und um so sicherer und mutiger wurde sie für neue Aufgaben. Konnte sie sich in ihren ersten Schuljahren nur zögerlich und kurz auf Malen und Vorlesen einlassen, war sie am Ende ihrer Primarstufenzeit zu einer ausdrucksstarken und kreativen Gestalterin geworden, die zum Beispiel ein wunderschönes Geschichtenheft mit zauberhaften Illustrationen als Weihnachtsgeschenk für ihre Pflegeeltern gestaltet hatte. Im Jahrgang 5 las sie ihrer Gruppe zum ersten Mal eine selbstverfasste Geschichte vor. Im Jahrgang 7 führte sie gemeinsam mit Mitschülerinnen eine kleine Pantomime bei einer Veranstaltung der Schule auf. Sie schrieb Referate über Tiere, über ihren Wellensittich, über Hermeline, Tannenmeisen, Rotdrosseln, über Pflanzen und die Umwelt. Im Wahlgrundkurs baute sie eine Tischuhr aus Metall mit einem Quarzuhrwerk. Die Liste ist fortsetzbar. Große Leistungen und damit wichtige Entwicklungsschritte für sie!

Vom Wunsch und der Last, so sein zu wollen wie die Freundinnen

Als Hannah sich auf andere Kinder und später dann auf Freundschaften einlassen konnte, suchte sie ständig die Nähe ihrer Freundinnen. Freundschaften bedeuteten einen Schutzraum für sie. Sie konnte sich, wenn nötig, hinter ihren Freundinnen verstecken. Sie konnte darauf hoffen, dass ihre Freundinnen sich für sie einsetzten; so hielt sie intensiv und eng an ihnen fest. In jeder Versammlung saß sie neben ihnen, sie suchte Körperkontakt. Jede Pause verbrachte sie mit ihnen, jede Arbeit wurde gemeinsam erledigt, wobei ihre Freundinnen ihr immer wieder halfen, ihr nochmals die Aufgabe erklärten, ihr Mut machten und sie trösteten. "Ich mache nur das, was Marie auch macht!" war ein Standardsatz von Hannah, wobei das Mädchen, an dem sie sich orientierte wechselte. Sie traf keine Entscheidung für sich. Sie wollte alles so tun und können wie ihre Freundinnen. Sie wollte so gut reiten können wie Anna-Lena, sie wollte die schöne Frisur von Jana haben, sie wollte so toll erzählen können wie Marie, sie wollte so schöne Bilder malen wie Jasmina, sie wollte so gut rechnen können wie Linda, sie wollte so schöne Geschichten schreiben können wie Mareike. Vor allem aber wollte Hannah nie andere Aufgaben bearbeiten als ihre Freundinnen, egal wie schwer sie auch für sie waren. Aufgaben, die ihrem Lern- und Leistungsstand angemessener gewesen wären, waren für sie lange Zeit nicht akzeptabel.

Hannahs intensiver Wunsch, so zu sein und so behandelt zu werden wie ihre Freundinnen, stärkte ihr Durchhaltevermögen. Ihre Entwicklungsschritte wurden immer größer und verbesserten damit auch ihre schulischen Leistungen. Ihr Wunsch ließ sie aber auch immer wieder stark an sich zweifeln. Warum kann ich das nicht? Warum können alle anderen das, nur ich nicht? Zur Stärkung ihrer Selbsteinschätzung fanden viele intensive Gespräche statt, in der Schule, mit den Pflegeeltern und den Therapeuten.

Die Kraft der Freundschaft

Hannahs große Entwicklung ist vor allem durch Freundschaften möglich geworden. Die Stärkung und Anerkennung, die Hannah durch ihre Freundinnen erfahren hat, waren eine wertvolle Unterstützung, aber immer wieder auch neue und große Herausforderungen für sie, die ihr in dieser Form von Erwachsenen nicht zuteil werden konnte.

Mit zunehmendem Alter gab es auch Freundschaftskummer und -probleme, da die Mädchen Hannahs totale Vereinnahmung als zu beanspruchend empfanden. Freundschaften bedeuteten für Hannah einen Sicherheitsraum. Ein besonders großer und schwieriger Entwicklungsschritt war es daher für sie zu lernen, ihre Freundinnen nicht so eng in Beschlag zu nehmen, sie nicht zu bedrängen, ihnen nicht alles nachzumachen, sondern für sich alleine zu entscheiden, was sie tun wollte. Und noch schwieriger war es für sie, schließlich eine bestimmte Zeit auch mal alleine zu arbeiten und nicht mehr nur ausschließlich mit den Freundinnen.

Mit zunehmenden Alter wurden die Auseinandersetzungen zwischen Jungen und Mädchen, aber auch unter den Mädchen und unter den Jungen heftiger und härter. Die Bereitschaft, sich um Hannah zu kümmern, verlor sich bei einigen Jugendlichen. Während dieser Zeit berichtete auch die Pflegemutter, dass vor allem bei gemeinsamen Aktivitäten in der Freizeit verstärkt Spannungen auftraten. Die Suche nach der eigenen Identität führte offenbar zu Abgrenzungen von Hannah, die auch mit Konflikten und Verletzungen einhergingen. So musste Hannah sich mit Sprüchen wie "Die ist nicht ganz dicht!" oder "Ist die blöd, kann die das immer noch nicht!" auseinandersetzen. Hannah nahm ihre Schwierigkeiten beim Lernen selber sehr deutlich wahr, sie wusste genau, dass sie langsamer lernte und zu den Leistungsschwächsten in der Gruppe gehörte.

Am Lernen gehindert oder lernbehindert?

Im achten Jahrgang beschäftigten sich Hannah, die Pflegeeltern, die Betreuerin der Pflegestelle und die Lehrerinnen und Lehrer intensiv mit der Frage nach Hannahs weiterer schulischen und beruflichen Perspektive. In einem gemeinsamen Gespräch wurde klar, dass ihre Leistungen vor allem in Englisch und Mathematik sehr wahrscheinlich nicht für einen Hauptschulabschluss reichen würden. Hannah hatte große Schwierigkeiten im Erlernen abstrakter Inhalte und im langfristigen Behalten solcher Informationen. Unterrichtsinhalte, zu denen sie einen persönlichen Bezug entwickeln oder die sie anschaulich erfahren kann, lernte sie hingegen gut.

Gemeinsam fragten wir uns: Was kommt nach der Schule? Soll Hannah bis einschließlich des Jahrgangs 10 bei uns bleiben? Ist es sinnvoll, wenn Hannah noch ein oder zwei Jahre auf eine Sonderschule für Lernbehinderte geht? Welche beruflichen Orientierungen und Maßnahmen gibt es für sie und welche entsprechen ihren Wünschen und Möglichkeiten? In diesem Zusammenhang wünschten sich die Eltern, dass wir einen Intelligenztest durchführen und die Frage klären würden, ob Hannah als lernbehindert einzustufen wäre. Ich wählte einen Intelligenztest aus, der die nonverbale Grundintelligenz misst, den CFT 20. Im ersten Testteil lag Hannahs Intelligenzquotient bei 107; dieser Wert (oder höhere) wird lediglich von 31% ihres Alters erreicht, liegt also deutlich über dem Durchschnitt. Dass ihr Ergebnis im zweiten Teil mit analogen Aufgaben niedriger lag, weist auf eine geringe Belastbarkeit hin. Die Auswertung beider Testteile ergab einen Intelligenzquotienten von 99. Nach diesem Gesamtergebnis hat Hannah eine durchschnittlich entwickelte Grundintelligenz, verfügt also potenziell über die kognitiven Möglichkeiten, um einen Abschluss einer allgemeinen Schule zu erlangen. Dennoch bleibt die Tatsache, dass ihr bestimmte Formen des Lernens schwerfallen und sie im Lernen beeinträchtigt ist. Bei Hannah scheinen Ursachen in ihren frühkindlichen traumatischen Erfahrungen zu liegen. Sie ist am und im Lernen gehindert und behindert, aber nicht im klassischen Sinn lernbehindert.

Nach der Durchführung des Tests bat Hannah mich um einen Termin für die Besprechung der Ergebnisse, wir verabredeten uns für wenige Tage später. Hannah erschien sehr aufgeregt zu diesem Termin und brachte ihre Freundin Mareike mit. Ihre Pflegeeltern hatten mir berichtet, dass die Frage, ob sie lernbehindert ist oder nicht, Hannah intensiv beschäftige. Ich stellte den beiden Mädchen das positive Ergebnis des Tests vor. Darauf erklärte Freundin Mareike: "Hannah versteht und lernt fast alles, man muss es ihr nur gut und oft genug erklären und immer dann neu erklären, wenn sie es braucht." Sichtlich erleichtert verließen mich die beiden.

Hannah besucht nun eine Vorklasse zum Berufsgrundschuljahr und hat sich für den Bereich Holz- und Metalltechnik entschieden. Beim einwöchigen Probeunterricht an der neuen Schule zeigten sich ihre zukünftigen Lehrer von ihren praktischen und technischen Fähigkeiten sowie dem selbstverständlichen und selbstständigen Umgang mit Maschinen beeindruckt. Allerdings dürfe sie in der neuen Schule nicht selbstständig an die Maschinen gehen, wurde ihr erklärt. An der Laborschule ist dies nämlich erlaubt, wenn der fachgerechte Umgang mit den Maschinen überprüft und mit einem Maschinenschein zertifiziert ist.

Hannah freut sich auf ihre neue Schule und ist gespannt, wie es wohl sein wird, nicht mehr zu den Schwächsten zu gehören. Dass sie dort vor allem mit Jungen zusammen sein wird, ist wieder eine neue Herausforderung für sie, für die sie sich ganz bewusst entschieden hat. Die Mädchen, die an dieser Schule sind, wählen eher den Bereich Ernährung und Hauswirtschaft; in diesen Bereich wollte Hannah auf keinen Fall.

Und immer wieder auch Zweifel

Zwischendurch waren wir nicht immer sicher, ob unsere Schule für Hannah die richtige ist. Immer wieder waren da auch Unsicherheiten und Zweifel:

  • Als Hannah extrem lange brauchte, um aus der Tierecke an den Schultisch zu kommen.

  • Als wir merkten, dass jede kleine Veränderung des Tagesablaufs eine große Herausforderung für sie bedeutete.

  • Als sie sich kaum am Unterricht beteiligte und in Versammlungen nicht sprach.

  • Als ihre Fortschritte beim Erlernen der Kulturtechniken so überaus langsam waren.

  • Als sie sich lange nicht traute, vor der Gruppe vorzulesen oder ihre Arbeitsprodukte vorzustellen.

  • Als sie in Englisch und bei abstrakten Lerninhalten kaum voran zu kommen schien.

  • Als den Mädchen Hannahs Freundschaft zu eng wurde.

  • Als in der Pubertätsphase die Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen zum Teil heftig wurden.

Ob eine Sonderschule besser geeignet gewesen wäre als die Laborschulgruppe mit 20 Jugendlichen, die in der Sekundarstufe von 4-5 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet wurde? Wie wäre es ihr wohl in einer Sonderschule ergangen? Manches wäre dort sicherlich leichter für sie gewesen, manche Überforderung wäre ihr erspart geblieben, manche Möglichkeiten hätte sie dort vermutlich aber auch nicht gehabt, wie z. B. die Teilhabe an einem hohen Maß von Normalität im schulischen und außerschulischen Alltag von Kindern und Jugendlichen. An einer Sonderschule - mit vielen Schülerinnen und Schülern, die ebenfalls einen besonders hohen Bedarf an Zuwendung und Aufmerksamkeit haben - wäre es ganz gewiss anders gewesen!

Normalität tut gut

Nach elf Laborschuljahren können wir sagen, dass die Entscheidung Hannah bei uns aufzunehmen richtig war; ihr Entwicklung zeigt dies deutlich. Auch ihre Pflegeeltern, mit denen ich am Ende ihrer Schulzeit ein Gespräch über gute und weniger gute Erfahrungen an unserer Schule führte, sehen dies so.

Hannahs Geschichte zeigt, wie frühkindliche Erfahrungen und Lebens-Probleme nachhaltige Lern-Probleme mit sich bringen. Ihre Entwicklung macht aber auch deutlich, wie wichtig die soziale Einbindung in die Gruppe ist. Wir Erwachsene, egal ob Sonder- oder Regelpädagoge, können kein Kind "von oben" in die Gruppengemeinschaft integrieren, aber wir können hilfreiche Bedingungen für eine solche Einbindung gestalten. Die Anerkennung und Herausforderung, die Hannah durch ihre Freundinnen erfahren hat, konnte sie in dieser Form von Erwachsenen nicht erfahren. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass die Freundinnen für sie ganz besonders gute "Sonderpädagoginnen" sind, weil sie keine Besonderung sondern Normalität für sie bedeuten.

Nicht alle Entwicklungen verlaufen insgesamt so positiv wie diese. Glücklicherweise haben aber auch nicht alle Kinder so extreme frühkindliche Lebensbedingungen zu verkraften wie Hannah, selbst wenn die Anzahl der Kinder und Jugendlichen zunimmt, deren soziales Umfeld ihr Leben und ihr Lernen insgesamt erschwert.

An ihrem letzten Laborschultag hat die Gruppe Hannah mit einem gemeinsamen Frühstück verabschiedet. Hannah und die Gruppe haben gemeinsam die Erfahrung gemacht, die Hartmut von Hentig so beschreibt: "Lernen mit anderen auszukommen, die anders sind - so anders wie man selbst." (in Bambach/Thurn 1984, S. 583). Beim Abschied wünschte ich ihr weiterhin Durchhaltevermögen, Zähigkeit und viel Glück. Nach elf Jahren an der Laborschule bin ich mir sicher: sie wird neue Freundschaften eingehen können.

Literatur:

Bambach, Heide/Thurn, Susanne: Alexander - Zweimal fünf Jahre Laborschule. In: Neue Sammlung Heft 6/1984, S. 572-597

Demmer-Dieckmann, Irene/Struck, Bruno (Hg.): Gemeinsamkeit und Vielfalt.Pädagoigk und Didaktik einer Schule ohne Aussonderung. Weinheim und München 2001

Thurn, Susanne/Tillmann, Klaus-Jürgen (Hg.): Unsere Schule ist ein Haus des Lernens. Das Beispiel Laborschule Bielefeld. Reinbek 1997

Zur Autorin

Irene Demmer-Dieckmann, Jg. 1961, Sonderpädagogin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Wissenschaftlichen Einrichtung der Laborschule an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld.

Adresse:

Universität Bielefeld

Fakultät für Pädagogik

Postfach 10 01 31

33501 Bielefeld

e-mail: Irene.Demmer-Dieckmann@uni-bielefeld.de

Quelle:

Irene Demmer-Dieckmann: Wenn frühkindliche Lebensbedingungen das Leben und Lernen nachhaltig bestimmen

Erschienen in: Pädagogik, Heft 1, 2001, S. 8 - 13

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 01.03.2006

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation