Bildungsarmut durch Selektion

Bildungsreichtum durch Integration

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: In: Oberwien, Bernd/Prengel, Annedore (Hrsg.): Recht auf Bildung - Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland. Budrich 2007, 191-202
Copyright: © Irene Demmer-Dieckmann 2007

Bildungsarmut durch Selektion

Bundesweit gibt es fast eine halbe Million Schüler (492.700) mit sonderpädagogischem Förderbedarf (vgl. KMK 2005); das sind 5,6% aller schulpflichtigen Schüler[1]. 1990 lag der Anteil noch bei 4,0%; die Tendenz ist steigend. 87% aller Schüler mit Förderbedarf besuchen Sonderschulen und nur 13% gehen mit ihren gleichaltrigen Mitschülern aus der Nachbarschaft gemeinsam in die allgemeinbildende Schule; zwei Drittel von ihnen besuchen integrative Grundschulen, ein Drittel weiterführende Schulen. In Deutschland ist Aussonderung immer noch die Regel, integrativer Unterricht die große Ausnahme.

In der aktuellen Diskussion um Kinderarmut und Bildungsarmut wird oft ausgeblendet, dass es jenseits der Hauptschule noch eine zusätzliche Schulform gibt mit einem weitaus höheren Sackgasseneffekt: Die ehemalige Hilfsschule, die lange Schule für Lernbehinderte genannt wurde und heute Schule für Lernhilfe oder Förderschule heißt. Ihre Schüler kommen aus noch schwächeren sozialen Verhältnissen als Hauptschüler und sind in jeder Hinsicht die ärmsten Schüler aller Schulen. Die Probleme der Hauptschule und der Schule für Lernbehinderte sind Folge des selektiven Schulsystems.

An den Rand gedrängt, Foto: Ernst Herb

Der oft zitierte Titel der Rede des Bundespräsidenten a.D. Richard von Weizsäckers, der auch einige Schulen ziert, "Es ist normal, verschieden zu sein", ist für Sonder- bzw. Förderschüler eine Phrase. Wie verschieden darf man sein, um in der allgemeinbildenden Schule noch dazu zugehören? Förderschüler scheinen zu verschieden zu sein, um dazu zugehören. "In Wirklichkeit freilich ist Behinderung nach wie vor die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt, ja bestraft wird. Es ist eine schwere, aber notwendige, eine gemeinsame Aufgabe für uns alle, diese Benachteiligung zu überwinden" (Weizsäcker 1993).

Sonderschule: Schonraum als Schonraumfalle

Behinderte Kinder sind in Sondereinrichtungen am besten zu fördern, so lautete lange Zeit die vorherrschende Meinung. Vor über 100 Jahren wurde die Hilfsschule gegründet, um die Volksschule zu entlasten, aber auch um die "Schulversager", die in den damals übervollen Klassen mit 60-80 Schülern "untergingen", besser zu fördern. Im Schonraum der Sonderschule - so wird auch heute noch in der Tradition der Hilfsschulpädagogik argumentiert - werden leistungsschwache Kinder vor dem Leistungsdruck der Regelschule bewahrt, vor Überforderung, Misserfolgen und Versagensängsten. Wenn lernschwache Schüler unter ihresgleichen bleiben, entfallen Hänseleien, sie fühlen sich geschützt und entwickeln ein besseres Selbstkonzept. Sie werden gezielter und damit besser von besonders qualifizierten Lehrkräften in kleineren Lerngruppen gefördert. So wurden zunächst Sonderklassen und später eigene Hilfsschulen gebildet.

Im Nationalsozialismus wurden Hilfsschulen, Pflege- und Heilanstalten für behinderte Menschen instrumentalisiert. Alle Hilfsschüler wurden auf vermeintliche Erbkrankheiten untersucht und ca. die Hälfte wurde zwangssterilisiert, insgesamt über 400.000 Menschen. Das Leben von 200.000 körper- und geistigbehinderten Menschen wurde als "lebensunwertes Lebens" deklariert. Die institutionelle Erfassung half bei der Organisation der Vernichtung, hier wurden sie abgeholt, in die Tötungsanstalten überführt und ermordet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das dreigliedrige Schulsystem zementiert, die Hilfsschulpädagogik knüpfte an die Tradition vor 1933 an. Um das Leistungsniveau in den Volksschulen zu halten, wurde der Ausbau des Hilfsschulsystems als nötig erachtet. In den 1960er und 1970er Jahren blühten Sonderschulen in Deutschland auf, die Zahl der Sonderschüler verdreifachte sich von 1960 bis 1973. Zehn verschiedene Sonderschulformen wurden eingerichtet. Lange Zeit bestand eine schulrechtlich verankerte Pflicht für behinderte Schüler, eine ihrer Eigenart entsprechende Sonderschule zu besuchen.

Heute ist die schulische Realität eine gänzlich andere als vor über 100 Jahren, aber das Sonderschulsystem stabilisiert weiterhin die Entsorgungsmentalität des selektiven Schulsystems und verschafft sich damit seine Existenzberechtigung. Kinder, die in der Regelschule "nicht passen", körperlich oder kognitiv beeinträchtigt sind, sozial benachteiligt sind, langsam lernen und im Lernen behindert sind, werden ausgesondert.

In die Schule für Lernbehinderte gehen mehr als die Hälfte aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Seit fast vier Jahrzehnten wird immer wieder festgestellt und problematisiert, dass vor allem die Schule für Lernbehinderte, eine Schule für Kinder von arbeitslosen, armen, kinderreichen Eltern ist, in der vor allem Jungen und Kinder mit Migrationshintergrund überrepräsentiert sind (vgl. Hildeschmidt/Sander 1996; Wocken 2007).

Die Förderschule beansprucht für sich eine bessere, sogar optimale Förderung zu leisten. Wird sie ihrem Anspruch gerecht?

Weder die PISA-Forscher noch die Ministerien interessieren sich für die kognitive Entwicklung dieser "Kellerkinder": "Bislang hat kein einziges Bundesland und kein einziges Kultusministerium ein Forschungsprojekt in Auftrag gegeben, das eine Evaluation der Schule für Lernbehinderte zum Ziel hat" (Wocken 2005: 6). Sie werden in die Schulleistungsstudien nicht einbezogen oder die Daten der wenigen einbezogenen Sonderschüler (108 Schüler bei PISA 2003) sind nicht auswertbar. Sonderschulen sind somit auch "Schonräume" der Evaluation: "Das Förderschulwesen...kann sich ungestört in einem `Schonraum´ der Evaluation einrichten und sich mit der Selbstbekräftigung seiner Qualität bescheiden" (Wocken 2005: 66).

Doch es liegen ausreichende Forschungsergebnisse vor, ältere und aktuelle, die immer wieder eindeutig die Ineffizienz der Schule für Lernbehinderte belegen: Leistungsschwache Schüler werden hier nicht besser gefördert als in Grund- und Hauptschulen. Im Gegenteil: Je länger ein Schüler die Sonderschule besucht, desto schlechter sind seine Leistungen. Das anregungsreduzierte Entwicklungspotenzial in Klassen, die sich ausschließlich aus Schülern mit gescheiterten Schulkarrieren zusammensetzen, ist Hauptursache für die schlechten Ergebnisse. Die Nachteile der sozialen Herkunft werden zusätzlich institutionell verstärkt.Das anregungsarme Lernniveau kann durch die besseren Lernbedingungen in kleineren Gruppen oder durch noch so kompetente Lehrkräfte nicht kompensiert werden. Wocken (2006) spricht sogar davon, dass der Schonraum eine "kognitiver Friedhofsruhe" mit sich bringt. Jene Selektionsmittel, die allgemeinbildende Schulen verwenden, sind auch in Förderschulen zu finden: homogene Gruppenbildung, Zifferzensuren, Wiederholen und Abstufung in die Schule für Geistigbehinderte.

Schuldistanzierte Haltungen und Perspektivlosigkeit auf dem Ausbildungs- wie Arbeitsmarkt verstärken die gesellschaftliche Selektion. 80% aller Schüler verlassen die Sonderschulen ohne Hauptschulabschluss (vgl. KMK 2005). "Absolventen von Lernbehindertenschulen: Disqualifiziert fürs Leben!" titelte das Max-Planck-Institut im Juni 2003.

Für die unbefriedigende Leistungs- und Intelligenzentwicklung in Förderschulen ist laut Wocken (2007: 56) ein vierfacher Reduktionismus als Kausalfaktor namhaft zu machen: Der didaktische (quantitative wie qualitative Reduktion des Curriculums), methodische (Reduktion auf gesteuerte, strukturierte Lernsituationen, weniger komplexe kognitive Operationen), soziale (niveaureduzierte Lerngruppe) und zeitliche Reduktionismus (häufigere Unterrichtsstörungen und Schulabsentismus reduzieren die Lernzeit). Mit Wocken (2007: 49) ist zu konstatieren, dass die Förderschule dem Verfassungsauftrag, Bildungsgerechtigkeit herzustellen, nicht gerecht wird und keine Schule der Chancengleichheit ist. Chancengleichheit ist zudem ein Begriff, der in der Sonderpädagogik kaum verwendet wird.

Da Förderschulen keine besseren Leistungsresultate erbringen, wird häufig argumentiert, leistungsschwache Schüler würden sich aber unter ihresgleichen wohler fühlen und ein positiveres Selbstbewusstsein aufbauen. Dieses gilt vor allem für diejenigen, die sich dort im oberen oder mittleren Leistungsdrittel befinden und nicht für das untere Drittel. Vorübergehende positive Effekte in Sonderklassen können aber langfristig die Stigmatisierungsffekte als Sonderschüler nicht kompensieren, denn für Sonderschüler ist die Aussonderung aus der allgemeinen Schule ein Stigma, für das sie sich schämen. Oft verheimlichen sie, dass sie die Schule für Lernbehinderte besuchen müssen. Die Beschämung verhindert und behindert wiederum ein stabiles Selbstbewusstsein, wie Schumann (2007) in einer empirischen Studie zur Belastungswahrnehmung und zum Bewältigungsverhalten von Schülern der Schule für Lernbehinderte und deren Eltern feststellte.

"Das tägliche Unrecht in den Schulen: Arme Kinder werden bildungsarm gemacht... Kinderarmut ist ein gesellschaftspolitischer, Bildungsarmut ist ein bildungspolitischer Skandal" schreibt der Grundschulverband in seiner Pressemitteilung vom 01.02.2007. Leistungsmäßig ist die Aussonderung von Nachteil und entzieht damit dieser Schulform ihre Daseinsberechtigung. Wo keine positiven Effekte nachgewiesen werden können, sind strukturelle und bildungspolitische Konsequenzen notwendig. Die Ergebnisse belegen, dass durch ihre Herkunft benachteiligte Schüler zusätzlich schulstrukturell benachteiligt werden. Der Schonraum Sonderschule erweist sich als institutionelle Schonraumfalle: Eine Entmystifizierung ist notwendig.

Aufgrund der empirischen Befunde hätte die Schule für Lernbehinderte schon lange abgeschafft werden müssen. Dass wider besseren Wissens an ihr festgehalten wird, hat viele Gründe: Ignoranz gegenüber den Befunden, Sehnsucht nach Homogenität, Entsorgungsmentalität des selektiven Schulsystems, Veränderungsängste, Selbsterhaltungsbestreben der Sonderschule und struktureller Konservatismus in Bildungspolitik, Schulverwaltung und Schulen. Lernbehinderte Kinder haben zudem keine Lobby. Ihre Eltern sind meistens überfordert, sich bildungspolitisch einzusetzen.

Inklusives Schulsystem: Gemeinsamkeit und Vielfalt

Eltern kritisierten in den 1970er Jahren die Sonderbetreuung und die damit verbundenen Nachteile für ihre Kinder; sie fühlten sich an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. Durch den Weg der Sonderbeschulung wurde das Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe nicht erreicht, das hat der historische Prozess gezeigt. Vielerorts schlossen sich Eltern zu Vereinigungen "Gemeinsam leben - gemeinsam lernen" zusammen und setzten zunächst eine gemeinsame Erziehung im Elementarbereich durch. Durch ihr großes Engagement wurden in Deutschland Mitte der 1970ziger Jahre die ersten Schulversuche zur Integration von behinderten und nichtbehinderten Schülern in Grundschulen eingerichtet. Die erste staatliche Integrationsklasse wurde 1975 an der Fläming-Grundschule in Berlin eröffnet, 1981 die Bodelschwingh-Grundschule in Bonn-Friesdorf, 1982 die Uckermark-Grundschule in Berlin und 1983 mehrere Grundschulen in Hamburg. Verschiedene Konzepte wurden erprobt und wissenschaftlich begleitet (wohnortnahes oder überregionales Einzugsgebiet, Anzahl der behinderten und nichtbehinderten Kinder, Aufnahme aller oder ausgewählter Behinderungsarten). Da die Integration in der Grundschule erfolgreich verlief, wurden ab 1985 erste Schulversuche in der Sekundarstufe I eingerichtet (Gesamtschule Bonn-Beuel, Gesamtschule Köln-Holweide, Gesamtschule Hamburg-Bergedorf etc.). Immer mehr positive Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitungen wurden vorgelegt (vgl. Eberwein 1988 bzw. Eberwein/Knauer 2002).

1994 sprach sich schließlich auch die KMK deutlich für den Gemeinsamen Unterricht aus. Ihre Empfehlung stellte eine wichtige Grundlage für zahlreiche Änderungen von Landesschulgesetzten dar, wodurch die zeitlich befristete Phase der Modellversuche abgelöst und der Gemeinsame Unterricht in einzelnen Bundesländern möglich wurde, allerdings unter Haushaltsvorbehalt (Saarland 1986, Berlin und Schleswig-Holstein 1990, Brandenburg 1991, Hessen 1992, Bremen und Niedersachsen 1994, Nordrhein-Westfalen 1995, Mecklenburg-Vorpommern 1996, Hamburg 1997). Hiermit wurde die Gleichwertigkeit der sonderpädagogischen Förderung auch in Regelschulen erreicht. (Zur Geschichte schulischer Integration siehe Schnell 2003.)

Die KMK-Statistik (2005) gibt eine bundesweite Integrationsquote von 13% an. Allerdings bestehen sehr große Unterschiede zwischen den Integrationsquoten je nach Förderschwerpunkt. Von allen Schülern mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besuchen bundesweit nur 2,8% den Gemeinsamen Unterricht, 97,2% die Sonderschule. Von den so genannten lernbehinderten Schülern werden bundesweit nur 11% integriert, 89% besuchen die Förderschule. Schüler mit Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, die als am schwierigsten zu integrieren gelten, werden hingegen mit 28% am häufigsten integriert; gefolgt von Schülern mit Förderschwerpunkt Sehen (23%), Sprache (22%), Hören (20%) und körperliche und motorische Entwicklung (16%). Die zielgleiche Integration, die Schüler werden nach dem Rahmenplan der allgemeinbildenden Schule unterrichtet, dominiert. Schüler Förderschwerpunkt Lernen und vor allem Schüler mit Geistige Entwicklung werden am wenigsten integriert. Mit dem Gemeinsamen Unterricht ist insbesondere die Abkehr vom Lernen im Gleichschritt verbunden, die differenzierte Förderung jedes einzelnen Schülers steht im Vordergrund, egal ob besonders begabt, langsam lernend oder geistigbehindert. Die zieldifferente Beschulung muss daher ausgeweitet werden.

Die Integrationsquoten sind nicht nur je Förderschwerpunkt sehr verschieden, sondern auch in den 16 Bundesländern. Die höchsten Quoten werden für Bremen mit 49%, Berlin mit 30% und für Schleswig-Holstein mit 27% angegeben. Die geringsten Integrationsquoten liegen in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern bei 10%, in Sachsen bei 7%, in Niedersachsen bei 4% und in Sachsen-Anhalt bei 3% (vgl. KMK 2005). In der DDR galt Gemeinsame Erziehung und Bildung von behinderten und nichtbehinderten Schülern als "kleinbürgerlicher Individualismus" und stand im Widerspruch zur sozialistischen Gesellschaftskonzeption. Da jedem Geschädigten (so der Terminus) ein sicherer Arbeitsplatz zugesichert wurde, seien sie zu jeder Zeit integriert. "Das Integrationskonzept der spätbürgerlichen Heil- und Sonderpädagogik trägt klar erkennbaren Klassencharakter, weil es die dem Kapitalismus wesenseigene soziale Benachteiligung von Schwachen und Randgruppen kaschieren soll, ohne sie in ihren Wurzeln beseitigen zu können" (Baudisch 1989: 5). Geistigbehinderte Kinder wurden als nicht bildungsfähig eingestuft und bis 1989 gab es keine Schulen für sie, sondern nur Betreuungseinrichtungen. Dieses Erbe ist mit ein Grund, warum in den fünf neuen Bundesländern eine im Bundesvergleich (5,6%) deutlich höhere Förderquote, aber insgesamt geringe Integrationsquote zu verzeichnen ist: Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen haben Förderquoten zwischen 6,7% und 8,8%. Diese Bundesländer etikettieren am stärksten, integrieren aber am wenigsten. Brandenburg stellt eine Ausnahme dar mit einer ebenfalls hohen Förderquote von 7,7%, aber einer hohen Integrationsquote von 23%. Die Möglichkeit eines integrativen Schulplatz hängt somit deutlich vom Bundesland ab, indem die Kinder und Eltern wohnen.

Den negativen Leistungsergebnissen insbesondere an der Schule für Lernbehinderte stehen insgesamt positive Ergebnisse der Integrationsforschung gegenüber (vgl. Preuss-Lausitz 2002a): Die Lern- und Leistungsentwicklung der nichtbehinderten Mitschüler wird durch die behinderten Kindern in Integrationsklassen nicht behindert, wie es oft von Lehrern behauptet und von verunsicherten Eltern ohne integrative Erfahrungen befürchtet wurde. Die Schulleistungen der nichtbehinderten Kinder in Integrationsklassen sind gleich gut; in einigen Studien erreichen sie sogar bessere Ergebnisse. Sehr viel besser, im Vergleich zu Sonderschulen, sind vor allem die Schulleistungen der als lernbehindert bezeichneten Kinder: Unterschiede in heterogenen Lerngruppen wirken sich gerade für schwächere Schüler leistungssteigernd aus, ein Befund, der sich auch bei PISA bestätigte. Im sozialen Bereich fördern Integrationsklassen ein positives soziales Klima. Behinderte Kinder sind in der Regel sozial integriert. Probleme gibt es bei der Integration von Kindern mit aggressivem Verhalten, egal ob mit oder ohne Förderbedarf. Diese Kinder stellen überall besondere Herausforderungen, egal wo sie beschult werden. Die Akzeptanz von Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung ist groß und steigt mit der Dauer der integrativen Erfahrung.

Integration sei zu teuer wird oft als Gegenargument angeführt. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass bei Berücksichtigung aller Kosten, Gemeinsamer Unterricht nicht teurer ist, sondern günstiger (vgl. Preuss-Lausitz 2002b). Es werden nicht nur die hohen Fahrkosten eingespart, sondern den Kindern bleibt bei einer wohnortnahen Beschulung die Belastung der langen Fahrzeiten erspart.

Wie aber können die Schüler, die an den Leistungsanforderungen und Lernbedingungen in der Regelschule gescheitert sind, an denen die Schule gescheitert ist und sie deswegen in die Sonderschule schickten, nun in der allgemeinen Schule gefordert und gefördert werden?

Ein Unterricht und Lernen im Gleichschritt mit gleichen Zielen, Inhalten und Methoden, ein lehrerzentrierter, fragend-entwicklender Unterricht, der insbesondere in der Sekundarstufe I einen zu großen Raum einnimmt, überfordert die einen und unterfordert die anderen. In Integrationsklassen ist eine "Gleichmacherei" nicht möglich. In Integrationsklassen unterrichten Regel- und Sonderpädagogen im Teamteaching, eine für Lehrkräfte zunächst untypische Situation. Durch Doppelbesetzung wird jedes Kind auf seinem Niveau differenziert und individualisiert gefördert und gefordert, unter Einsatz eines Förderplans. Außerdem lernen die Kinder von- und miteinander (Lernen durch Lehren). Der Unterricht hat insgesamt eine höhere Qualität als herkömmlicher Unterricht. Davon profitieren alle: die schnellen ebenso wie die langsamen Lerner (vgl. Demmer-Dieckmann u.a. 2001).

Dass noch immer die meisten Schulen Schüler mit Förderbedarf aussondern, hat sich für Deutschland in den internationalen Schulleistungsstudien nicht positiv ausgewirkt. Viele andere Länder, die behinderte Schüler nicht aussondern und keine Schule für Lernbehinderte kennen, haben deutlich besser abgeschlossen. In Finnland oder Norwegen, in Dänemark und Schweden, in Italien, Spanien, in Kanada oder den USA ist es selbstverständlich, dass behinderte Schüler dazu gehören. Viele Länder haben gar keine speziellen Schulen für langsam lernende Kinder (z.B. alle skandinavischen Länder, Kanada). Deutschland geht international einen Sonderweg, aber keinen erfolgreichen. International wird von Inclusion gesprochen. Inclusion impliziert eine Veränderung des Schulsystems und des Unterrichts. Sie geht von heterogenen Gruppen insgesamt aus und nicht von einer Zwei-Gruppen-Theorie, den behinderten und nichtbehinderten Menschen.

Bildungsgerechtigkeit durch Integration

Die internationalen Schulleistungsstudien zeigen in alarmierender Weise, dass in keinem anderen Industrieland der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg so eng ist wie in Deutschland. Das deutsche Schulsystem gilt als Weltmeister in der sozialen Auslese und Spitzenreiter in der Produktion von Schulscheiterern. Es verschärft die herkunftsbedingte Benachteiligung und scheitert an seiner Aufgabe, Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Insbesondere sozial benachteiligte und lernschwache Schüler erhalten keine angemessenen Bildungschancen, sie werden in ihrer Lern- und Leistungsentwicklung behindert. Fast 90 Integrationsforscher werten diese Tatsachen als "strukturelle Menschenrechtsverletzungen" (siehe Offener Brief an den UN-Menschenrechtsbeauftragten Vernor Muñoz im Anhang des Buches). Es ist daher auch bei uns längst an der Zeit, kein Kind mehr wegen einer Lern- und Entwicklungsstörung in die Förderschule zu schicken. Nehmen wir die empirischen Erkenntnisse und unsere Verantwortung diesen durch Herkunft und Schule benachteiligten Kindern und Jugendlichen gegenüber ernst: Durch integrative Beschulung wird mehr Bildungsgerechtigkeit erreicht (vgl. Preuss-Lausitz 2007).

Folgende Aspekte erhöhen die Bildungsqualität und damit die Lebensperspektive von benachteiligten und behinderten Schülern:

  • Schüler mit Förderbedarf werden vorrangig im Gemeinsamen Unterricht beschult. Dieser Vorrang wird in den Schulgesetzen aller Bundesländer verankert, wie es in Brandenburg seit 1991 und Berlin seit 2004 bereits der Fall ist. Der Haushaltsvorbehalt wird aufgehoben. Integration wird zur Regel. Insbesondere in den Schulen der Sekundarstufe I wird der Gemeinsame Unterricht ausgeweitet.

  • Kinder und Jugendliche werden nicht mehr gegen ihren Willen und den ihrer Eltern gezwungen, eine Sonderschule zu besuchen.

  • Der zieldifferente Unterricht wird ausgeweitet (für Schüler mit Förderschwerpunkt Lernen und geistige Entwicklung).

  • Jahrgangsweise läuft die Förderschule aus, es werden keine neuen Kinder mehr aufgenommen. Die sonderpädagogischen Ressourcen und Kompetenzen werden jahrgangsweise im Gemeinsamen Unterricht eingesetzt.

  • Die Teamarbeit von Regelschul- und Sonderpädagogen ermöglicht individualisierte Förderangebote für langsam oder schnell lernende Schüler, Jungen und Mädchen sowie für Schüler mit Migrationshintergrund. Jede Schülerin und jeder Schüler wird auf ihrem/seinem Niveau gefordert und gefördert.

  • Gemeinsame Lernsituationen, kooperatives und projektorientiertes Arbeiten stärken die Gemeinsamkeit und damit die Gemeinschaft der heterogenen Lerngruppe.

  • Die Lernentwicklung wird dokumentiert (z.B. Lern- oder Pensenbücher, Portfolios u.a.) und die Leistungsbewertung würdigt individuelle Entwicklungsfortschritte.

  • Ganztagsschulen bieten insbesondere benachteiligten und behinderten Schülern mehr Zeit zum Lernen. Sie machen vielfältige soziale Erfahrungen oder holen sie nach.

  • Durch niedrigschwellige Netzwerke mit Einrichtungen der Jugendhilfe und anderen schulexternen Einrichtungen werden Fördermaßnahmen koordiniert.

  • Schüler mit Förderbedarf werden in die Gemeinschaftsschule einbezogen, wie in Schleswig-Holstein bereits umgesetzt (vgl. Erdsiek-Rave 2007) und in Berlin geplant.

  • In der gestuften Lehrerbildung, wie im Referendariat, werden integrationspädagogische Grund- und Praxisfragen explizit thematisiert und nicht undifferenziert unter dem Bereich Umgang mit Heterogenität subsumiert. Sehr positive Ergebnisse der Wirksamkeit solcher Integrationsseminare in Berlin konnten nachgewiesen werden (vgl. Demmer-Dieckmann 2007). Im bundesweit einmaligen Konzept eines integrierten allgemeinen und sonderpädagogischen Lehramts (Bachelor- und Masterstudium), welches seit Wintersemester 2003/04 in Bielefeld praktiziert wird, wird das Lehramt für Sonderpädagogik (Förderschwerpunkt Lernen sowie Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung) in Kombination mit dem Lehramt für Grund-, Haupt- und Realschulen erworben (vgl. Hänsel 2004). Diese Lehrkräfte sind in besonderer Weise für den integrativen Unterricht kompetent.

Der UN-Menschenrechtsbeauftragte Vernor Muñoz kritisierte die hohe Quote an Sonderschülern und forderte mehr Integration ein. Das gegliederte Schulsystem diskriminiere benachteiligte und behinderte Kinder. Trotz dreißig Jahren positiver Erfahrungen mit dem Gemeinsamen Unterricht ist Deutschland im internationalen Vergleich noch immer ein "Entwicklungsland". Und dieses obwohl Deutschland mit der Unterzeichnung der Salamancaerklärung und der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen ist. Integrative Erziehung und Bildung ist Menschenrecht und Menschenpflicht, sie ist eine demokratische Verpflichtung für uns alle. Integration ist eine Frage des bildungspolitischen Wollens, die pädagogische Machbarkeit ist erwiesen. Fördern wir alle Schülerinnen und Schüler integrativ, anstatt sie auszusondern! Jedes Kind, das wir nicht in die Förderschule überweisen, zählt!

Welche Schule Kinder besuchen, sollte im 21. Jahrhundert nicht mehr auf einer veralteten Begabungstheorie basieren, auf einem historisch aus der Ständegesellschaft stammenden Schulsystem, indem Geburt, soziale und kulturelle Herkunft, Besitz und Status der Eltern bestimmend sind. Das ist nicht hinnehmbar. Nicht für eine Republik, die in ihrem Grundgesetz verspricht: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Und: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes seit 30.06.1994); ergänzt durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 18.08.2006. Die Folge von Herkunft gleich Zukunft gilt es zu durchbrechen. Nicht die Vielfalt der Menschen muss Furcht machen, sondern die Einfalt mancher.

Literatur

Baudisch, Winfried: Effektive Bedingungen und Wege für die Bildung und Erziehung physisch-psychisch geschädigter Kinder und Jugendlicher. In: Die Sonderschule, Heft 1, 1989, 5-10

Demmer-Dieckmann, Irene/Struck, Bruno (Hrsg.): Gemeinsamkeit und Vielfalt. Pädagogik und Didaktik einer Schule ohne Aussonderung. Weinheim/München 2001

Demmer-Dieckmann, Irene: "Aus Zwang wurde Interesse". Eine Studie zur Wirksamkeit von Seminaren zum Gemeinsamen Unterricht in Berlin. In: Demmer-Dieckmann, Irene/Textor, Annette (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. Bad Heilbrunn 2007, 153-162

Eberwein, Hans (Hrsg.:) Behinderte und Nichtbehinderte lernen gemeinsam. Handbuch der Integrationspädagogik. Weinheim/Basel 1988

Eberwein, Hans; Knauer/Sabine (Hrsg.): Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Weinheim/Basel 2002, 6. Auflage

Erdsiek-Rave, Ute: "Jeder einzelne ist wichtig". Schleswig-Holsteins Perspektiven einer Schule für alle. Eröffnungsrede der Bildungsministerin von Schleswig-Holstein. In: Demmer-Dieckmann, Irene/Textor, Annette (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. Bad Heilbrunn 2007, 25-34

Grundschulverband: Pressemitteilung vom 01.02.2007

Hänsel, Dagmar: Integriertes sonderpädagogisches Bachelor- und Masterstudium an der Universität Bielefeld. Strukturverschlechterung statt Qualitätsverbesserung? In: Carle, Ursula/Unckel, Anne (Hrsg.): Entwicklungszeiten. Forschungsperspektiven für die Grundschule. Jahrbuch Grundschulforschung Band 8. Wiesbaden 2004, 81-90

Hildeschmidt, Anne/Sander, Alfred: Zur Effizienz der Beschulung sogenannter Lernbehinderter in Sonderschulen. In: Eberwein, Hans (Hrsg.): Handbuch Lernen und Lern-Behinderungen. Aneignungsprobleme - Neues Verständnis von Lernen - Integrationspädagogische Lösungsansätze. Weinheim 1996, 115-134

Kultusministerkonferenz: Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.05.1994

Kultusministerkonferenz: Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1994 bis 2003. Statistische Veröffentlichungen der KMK, Dokumentation Nr. 177. Bonn/Berlin 2005

Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: "Absolventen von Lernbehindertenschulen: Disqualifiziert fürs Leben!"

URL: http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/aktuelles/lernschwierigkeiten.htm [24.02.2007]

Preuss-Lausitz, Ulf: Integrationsforschung. Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven. In: Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (Hrsg.): Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Weinheim/Basel 2002a, 6. Auflage, 458-470

Preuss-Lausitz, Ulf: Untersuchungen zur Finanzierung sonderpädagogischer Förderung in integrativen und separaten Schulen. In: Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (Hrsg.): Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. Weinheim/Basel 2002b, 6. Auflage, 514-524

Preuss-Lausitz, Ulf: Gerechtigkeit durch Integrationspädagogik. In: Fischer, Dietlind/Elsenbast, Volker (Hrsg.): Zur Gerechtigkeit im Bildungswesen. Münster 2007, 72-77

Schnell, Irmtraud: Geschichte schulischer Integration. Gemeinsames Lernen von SchülerInnen mit und ohne Behinderung in der BRD seit 1970. Weinheim/München 2003

Schumann, Brigitte: "Ich schäme mich so. Die Sonderschule für Lernbehinderte als "Schonraumfalle". Bad Heilbrunn 2007

Weizsäcker, Richard von: Es ist normal, verschieden zu sein. Ansprache des Bundespräsidenten a.D. vom 01.07.1993 in Bonn.

URL: http://www.imew.de/imew.php/aid/94 [24.02.2007]

Wocken, Hans: Andere Länder, andere Schüler? Vergleichende Untersuchungen von Förderschülern in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg und Niedersachen. Forschungsbericht 2005.

URL: http://bidok.uibk.ac.at/download/wocken-forschungsbericht.pdf [24.02.2007]

Wocken, Hans. Kognitive Friedhofsruhe. In: Frankfurter Rundschau vom 11.07.2006, 27

Wocken, Hans: Fördert Förderschule? Eine empirische Rundreise durch Schulen für "optimale Förderung". In: Demmer-Dieckmann, Irene/Textor, Annette (Hrsg.): Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog. Bad Heilbrunn 2007, 35-59

Dr. Irene Demmer-Dieckmann

Dozentin im Institut für Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Berlin

Franklinstr. 28/29, 10587 Berlin

demmer-dieckmann@tu-berlin.de

Quelle:

Irene Demmer-Dieckmann: Bildungsarmut durch Selektion - Bildungsreichtum durch Integration

In: Oberwien, Bernd/Prengel, Annedore (Hrsg.): Recht auf Bildung - Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland. Budrich 2007, 191-202

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 19.03.2013



[1] Für 2,9% aller schulpflichtigen Schüler wird der Förderschwerpunkt Lernen diagnostiziert, für 0,8% der Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, für jeweils 0,5% der Förderschwerpunkt Sprache bzw. emotionale und soziale Entwicklung, für 0,3% der Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, für 0,2% der Förderschwerpunkt Hören und für 0,1% der Förderschwerpunkt Sehen (vgl. KMK 2005).

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