Wind gesät, Sturm geerntet

Themenbereiche: Schule, Recht
Textsorte: Bericht
Releaseinfo: Bericht von der Fachtagung "Eine Schule für Alle - Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zur Inklusion" in Offenbach vom 12. Bis 14. November 2009
Copyright: © Clemens Dannenbeck, Carmen Dorrance 2009

Inhaltsverzeichnis

Wind gesät, Sturm geerntet

Die Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung trägt erste Früchte. Bundesweit erhält die Debatte um Inklusion zumindest im Bildungsbereich Rückenwind. Zu spüren jüngst auf der Fachtagung "Eine Schule für Alle - Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zur Inklusion", die auf Einladung der Bundesvereinigung Lebenshilfe in Kooperation mit dem Aktionsbündnis "Eine Schule für alle", dem unter anderem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sowie zahlreiche Bundesverbände angehören, vom 12. bis 14. November in Offenbach stattfand. Zu den Ergebnissen der Fachtagung zählt die Offenbacher Erklärung "Gemeinsames Leben braucht gemeinsames Lernen in der Schule - Schulische Bildung im Zeitalter der Inklusion", die von den 380 Teilnehmenden aus Wissenschaft, schulischer Praxis und Elternschaft verabschiedet wurde.

Die Ratifizierung der UN-Konvention weist gerade im schulischen Bereich auf einen erheblichen politischen Handlungsbedarf. Deutschland schneidet, was die Integration von Schülerinnen und Schülern in das Regelschulsystem anbelangt, europaweit immer noch erschreckend schlecht ab. Die bundesländerspezifisch differenziert gehandhabte Integrationspraxis führt hierzulande zu erheblichen Unterschieden in den Teilhabechancen von Kindern mit Behinderung und im europäischen Vergleich zu der klaren Erkenntnis: Art. 24, Abs. 1 der UN-Konvention, der ein Recht auf inklusive Bildung und die Verpflichtung, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen als verbindliches politisches Ziel formuliert, ist in Deutschland nicht verwirklicht. 400.000 Kinder mit Behinderung sind nicht ins Regelschulsystem integriert. Wer in Deutschland als Mensch mit Behinderung einen Regelschulabschluss erwirbt, hat immer noch in jedem Fall eine biografische Erfahrung gemacht, die vom Kampf der Eltern, integrationsbereiter Lehrender und deren Schulleitungen und anderer engagierter Menschen gegen die Widrigkeiten des Schulsystems, bisweilen auch gegen expliziten politischen Willen zeugt. Integration als Maßnahme ist immer noch notwendig, da wir nicht in inklusiven Strukturen leben. Integration ist dabei immer noch die Ausnahme, nicht die Regel.

Was ein Miteinander an kreativem und sozialem Potenzial in sich birgt, davon gaben die "kleinen Szenen", die von der integrierten Gesamtschule Ernst-Reuter II aus Frankfurt unter der Leitung von Ruth Kockelmann zu Beginn der Tagung aufgeführt wurden, einen ersten Eindruck. Nach der Begrüßung durch Prof. Dr. Theo Klauß vom Bundesvorstand der Lebenshilfe, eröffnete die Podiumsdiskussion des "Rote Sofas" den inhaltlichen Teil der Veranstaltung. Die Erfahrungen von Eltern und von Menschen mit Behinderung liefern überzeugende Belege für die Notwendigkeit, die Herstellung inklusiver Lebenswelten energisch voranzutreiben. Kinder etwa, die im Familienkreis unter ihren Geschwistern aufwachsen, entwickeln eine realistische Selbsteinschätzung, was ihre eigenen Ressourcen betrifft, erlernen einen selbstverständlichen Umgang miteinander und laufen dann Gefahr, dass die Einschulung mit sozialer Trennung und mit Defizitzuschreibungen verbunden wird, die einen Bruch in der psychosozialen Entwicklung bedeuten. Die Schule stellt den Dreh- und Angelpunkt dar, der in die Richtung vermeintlich beschützter, aber von gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend abgesonderter Räume führen oder aber als Ausgangspunkt für ein Leben mitten in der Gesellschaft dienen kann. Bestehende Sondereinrichtungen sind dabei nicht (immer) in Bezug auf die Qualität ihrer Arbeit zu kritisieren, sondern in struktureller Hinsicht zu hinterfragen: Förderqualität und sonderpädagogisches know-how werden gerade in inklusiven Verhältnissen dringend benötigt, sogar in noch breiterem Umfang als dies heute vorhanden ist. Auch für die Lehrerbildung stellt die Forderung nach Inklusion eine Herausforderung für die Zukunft dar. Zieldifferenzierter gemeinsamer Unterricht stellt neue Anforderungen an die Kooperationsbereitschaft der unterschiedlichen pädagogischen und anderen sozialen Fachdisziplinen, wobei auch Formen des Gemeinsamen Unterrichtens eine bereichernde und durchaus auch entlastende Wirkung haben können. Die Orientierung an der Förderungswürdigkeit jeden einzelnen Kindes, gilt es nun als behindert oder nicht, stellt jedoch unser differenziertes Schulsystem strukturell-organisatorisch in Frage. Ein System, wie das vorhandene, das letzten Endes nur drei Begabungsstufen kennt, zielt auf Gleichmacherei in Gestalt angestrebter homogener Lerngruppen. Unsere Schulen sind dann die eigentlichen Einheitsschulen, weil sie die Vielfalt ihrer Schülerinnen und Schüler bezüglich ihrer Begabungen, Ressourcen, Potenziale, Stärken und Schwächen rigoros kategorisieren und versuchen Schultypen zuzuordnen, wo Heterogenität dann weitgehend ignoriert werden muss.

Die Zusammensetzung des "Roten Sofas" bedingte eine breite Einführung in die pädagogischen und politischen Herausforderungen, die schulische Inklusion bedeuten. Marianne Demmer (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Frankfurt), Christine Pluhar (Kultusministerium Schleswig-Holstein), Maria Steffens (Integrierte Gesamtschule Hamburg), Andreas Hinz (Universität Halle), Ingrid Körner und Ramona Günther sowie Ruth Kockelmann diskutierten wichtige Aspekte von Inklusion und konnten von ihren persönlichen Erfahrungen aus integrativer Praxis und mit Inklusionspolitik berichten. Dabei wurde schon die Zielrichtung der Tagung deutlich. Es ging den Veranstaltern offensichtlich in erster Linie um fachliche Selbstvergewisserung, vielleicht auch ein Stück weit um eine strategische Neupositionierung sowie um die Diskussion politischer bzw. pädagogischer Handlungsstrategien auf dem Weg zu mehr Inklusion, veranlasst durch die Ratifizierung der UN-Konvention. Die politische Herausforderung und Konfrontation mit den doch immerhin noch die Realität prägenden Widerständen gegen entsprechende bildungspolitische Reformdiskussionen hingegen wurde nur gelegentlich gesucht.

Auch der weitere Verlauf der Tagung wechselte immer wieder zwischen der selbstbewussten Präsentation eines hoch motivierten Willens zur Inklusion, der sich aber auch fragen muss, ob er sich in der Praxis nicht allzu leicht mit inselartigen Integrationserfolgen begnügt und der Einsicht in die Tatsache, dass die Forderung nach Inklusion sich eben nie mit der Entwicklung alternativer pädagogisch-didaktischer Handlungsmodelle begnügen darf. Vielmehr stellt sie ein politisches Projekt dar, das als permanenter Lernprozess (Hinz) verstanden, dann auf seinen kritischen Anspruch nicht verzichten kann. Wie es Annedore Stein in einer der abendlichen AGs formulierte: "Wir dürfen uns den Inklusionsbegriff nicht genauso von politischer Seite aus instrumentalisieren lassen, wie dies mit der Integration einst geschah". Ein Blick auf die länderspezifisch unterschiedlich gehandhabte Integrationspraxis zeigt, wie begrenzt die Teilhabe- und Bildungschancen auch und gerade von Menschen mit Behinderung heute noch sind, auch wenn "Integration" längst eine akzeptierte bildungspolitische Orientierung darstellt.

Zuvor leitete Prof. Dr. Matthias von Salden (Universität Lüneburg) eine Reihe von drei Fachvorträgen ein, die im Plenum gehalten wurden. Er machte unmissverständlich deutlich, dass ein integriertes Schulsystem auf dem bisher bildungspolitisch verfolgten Weg nicht realisierbar ist - und der verfolgte im wesentlichen zwei Strategien: Reduzierung von Heterogenität durch den fortgesetzten Versuch, mittels einer frühzeitigen Verteilung auf unterschiedliche Schultypen homogene Lerngruppen herzustellen und die auf diese Weise nicht egalisierten Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern fortan pädagogisch und didaktisch zu ignorieren. Die strukturellen Denkfehler des bestehenden Schulsystems in Zukunft zu vermeiden, erfordert andere Rahmenbedingungen: Orientierung an Heterogenität, ohne dabei in die Individualisierungsfalle zu geraten. Zum einen geht es um Fragen des Schulsystems - es nützt nichts, was bislang schon aufgrund der föderalen Praxis zwangsläufig der Fall ist, an kleinen Schrauben zu drehen. Zum anderen sind auch auf Seiten der Lehrkräfte Innovationswiderstände zu berücksichtigen. Inklusive Praxis verlangt auch den Mut Fehler machen zu können.

Der schonungslos kritischen Analyse des bestehenden Schulsystems folgte der Beitrag von Prof. Dr. Andreas Hinz (Universität Halle), der sich vornehmlich der Frage nach Wegen der praktischen Umsetzbarkeit der durch die UN-Konvention unmissverständlich in den Raum gestellten Inklusionsforderung widmete. Die Praxis zeigt, dass Lernen durch Heterogenität(erst) angeregt - und nicht etwa erschwert oder behindert - wird. Dabei geht es um die Anerkennung aller Aspekte von Heterogenität. Damit kann und darf Inklusion kein Aufgabenfeld der Sonderpädagogik sein. Vielmehr orientiert sich Inklusion an den Zielen der Bürgerrechtsbewegung und wendet sich gegen jede Form von Marginalisierung. Das macht auch ihr kritisches Potenzial aus: Inklusion als permanenter Lernprozess hinsichtlich der Frage, inwieweit Bürgerrechte realisiert sind, bzw. wodurch und inwiefern deren Wahrnehmung in Gefahr gerät. Die Ratifizierung der UN-Konvention schafft dabei eine neue Grundlage und Ausgangssituation für die Diskussion: Fortan geht es nicht mehr darum, ob Inklusion bildungspolitisches Ziel sein soll, sondern allein um das Wie, also um die Wege ihrer Realisierung. Dabei kann der in England von Booth/Ainscow entwickelte und auf deutsche Schul- und Kindertagesstättenverhältnisse übertragene Index für Inklusion einen konkreten Betrag leisten: Er stellt ein praktisches Instrument zur Initiierung einer inklusiven Schulentwicklung dar und leistet damit einen Beitrag zu einer inklusionsbezogenen Beschreibung von Schulqualität. Internationale und nationale Erfahrungen mit dem Index geben Hinweise, wie Inklusion als permanenter Lernprozess in Gang gesetzt und vorangebracht werden kann.

Eine Vorstellung von inklusiver Unterrichtspraxis vermittelte der Beitrag von Prof. Dr. Andrea Platte. Am Beispiel des Lesens und des Umgangs mit Sprache zeigte sie die unterschiedlichen Bedeutungen der Schriftsprache für Menschen auf. Unter dieser Prämisse aber können alle Kinder lesen lernen. Wir müssen uns radikal von der Vorstellung verabschieden, Lernzielgleichheit realisieren zu können oder auch nur zu wollen. Es geht um die Kunst des Lehrens, die darin besteht, nicht bestimmten Kindern von vornherein reduzierte Fähigkeiten zu unterstellen, sondern (nach Comenius) allen Kindern alles zu lehren. Oder, wie es Feuser einst formulierte: "Jedes Kind hat das Recht, alles über diese Welt zu erfahren, weil es in ihr lebt".

Der von Ramona Günther und Ingrid Körner erfrischend moderierte erste Tag ging zu Ende mit der Möglichkeit, sich in kleineren Gruppen kennenzulernen und die Eindrücke der bisherigen Tagung gemeinsam zu reflektieren.

Den zweiten Tag eröffnete ein "Gespräch am Runden Tisch" mit Schülern, Eltern und Lehrern der Sophie-Scholl-Schule Gießen, unter der Leitung von Wiltrud Thies. Die Schule steht als Beispiel für ein pädagogisches Konzept, in der das einzelne Kind und dessen Lern- und Entwicklungsprozesse Ausgangspunkt jeglichen pädagogischen Handelns ist. Aufschlussreich war es zu erfahren, wie der Weg zur Entscheidung, einen inklusiven Schulentwicklungsprozess einzuschlagen, aussehen kann.

Anschließend sprach Dr. Valentin Aichele vom Deutschen Institut für Menschenrechte (Berlin) über die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention aus rechtlicher Sicht. Einige Aspekte, die in der deutschen politischen Diskussion allzu leicht unter den Tisch fallen könnten, sind dabei besonders bemerkenswert: So spricht die Konvention, die u.a. das Recht auf Bildung in einen menschenrechtlichen Zusammenhang rückt, unterschiedliche Lebenslagen an, auch Menschen mit hohem und höchstem Entwicklungsbedarf. Inklusion ist also unteilbar und schließt alle Menschen ein. Infolgedessen kann Behinderung in der Konvention auch nicht abgeschlossen definiert werden. Es handelt sich nicht um eine "Spezialkonvention" für eine bestimmte Gruppe von Menschen, sondern die UN-Konvention ergänzt und konkretisiert lediglich die bestehenden menschenrechtlichen Übereinkommen. Ihr Zustandekommen wurde veranlasst durch den Erfahrungshintergrund der sozialen Ausgrenzung, den Menschen mit Behinderung weltweit aufweisen. Ihre Grundlagen sind der Grundsatz der Menschenwürde, die Menschenrechte als Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie der Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Durch die Ratifizierung der UN-Konvention ist das Recht auf inklusive Bildung geltendes Recht. Damit verpflichtet sich die Politik, als verbindliches Ziel zu akzeptieren, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen. Sonderpädagogische Kompetenz wird dabei unabdingbar sein und es wird darüber hinaus sogar nicht ohne zusätzliche Ressourcen gehen. Für Eltern schafft die UN-Konvention einen Rechtsanspruch auf Öffnung des Regelschulsystems für Kinder mit Behinderung. Festzuhalten ist dabei allerdings, dass die UN-Konvention den Staat nicht zur Abschaffung des Sonderschulwesens verpflichtet, gesonderte Orte der Beschulung und Förderung sind als Ausnahme durchaus denkbar. Aber die Entscheidung der Aufrechterhaltung eines parallelen Fördersystems bedarf fortan der Begründung. Und gegen den eigenen Willen darf in Zukunft niemandem das Regelschulsystem vorenthalten werden. Zusammenfassend macht Dr. Aichele deutlich: Die Konvention verbindet Behinderung mit einem menschenrechtlichen Anliegen. Sie ist mit ihrer Ratifizierung Grundlage staatlicher Schulpolitik und - das ist letztlich eine zivilgesellschaftliche Aufgabe - die Schaffung eines inklusiven Schulsystems kann nur als gesamtgesellschaftliches Projekt erreicht werden.

Der von Ramona Günther und Andreas Hinz moderierte zweite Tag wurde stark durch eine Reihe von Arbeitsgruppen geprägt, von denen jeder der Teilnehmenden zwei besuchen konnte. Zwei der AGs wurden durchgängig durchgeführt: Der von Astrid Eggers und Niklas Oldhofer (Hamburg) gestaltete Theaterworkshop sowie der Zukunftsworkshop von Ines Boban und Patricia Netti (Halle). Die Ergebnisse beider Kreativworkshops wurden dann am letzten Tag der Veranstaltung dem Plenum präsentiert.

Insgesamt verfolgten die AGs das Ziel, inklusive Praxiserfahrungen zu präsentieren, auszutauschen und zur Diskussion zu stellen. Wiltrud Thies (Gießen) skizzierte dabei die Sophie-Scholl-Schule der Lebenshilfe auf dem Weg zur Inklusion. Reinhard Stähling und Barbara Wenders (Münster) beschrieben Inklusionserfahrungen in sozialen Brennpunkten unter dem Aspekte des Umgangs mit Verhaltensproblemen. Angela Fiedler (Hamburg) diskutierte, wie eine Schule in einem heterogenen Stadtteil agiert und Dr. Michael Schwager (Köln) stellte vor, was Inklusion in der Schule in Bezug auf den Umgang mit Vielfalt der Schülerinnen und Schüler praktisch heißt. Niklas Gigion und Lenja Haas stellten die Demokratische Schule Kapriole in Freiburg i. Br. vor. Hedwig Matt und Sabine Koller-Hesse (Berlin) veranschaulichten anhand ihrer schulischen Praxis, was es heißt, Kinder mit schweren Behinderungen in den schulischen Alltag zu inkludieren. Die Bandbreite dieser Beispiele aus der Praxis war sehr eindrucksvoll und aufschlussreich. Allerdings hätte man sich gewünscht, sowohl skeptische Vertreter der Politik als auch die indirekt häufig zitierten "ängstlichen Eltern" von Kindern mit und ohne Behinderungen mit ihren spezifischen Vorbehalten gegen gemeinsames Lernen mit diesen leuchtenden Beispielen gelebter Integration zu konfrontieren. Denn, soviel wurde klar: Bei allen präsentierten Beispielen von "best practice" - im Alltag werden die Auseinandersetzungen um die Fragen, ob Integration nicht doch letztlich an Grenzen stoßen muss, ob Lernprozesse von Kindern ohne Behinderung durch Integration negativ beeinflusst und Kinder mit Behinderung ein notwendiger Schutzraum vorenthalten wird, wieder dominieren. Bei manchen Teilnehmenden - das wurde in Einzelgesprächen deutlich - war eine Diskrepanz zu verspüren zwischen dem Rückenwind, den die Ratifizierung der UN-Konvention durch die Tagung wehen ließ und dem ganz persönlichen Gefühl, "daheim" in den Bundesländern, doch nach wie vor mit einer ganz anderen Realität umgehen zu müssen.

Den Nachmittag eröffneten drei parallele Vorträge: Prof. Dr. Christian Fischer (Luzern) sprach über Hochbegabungsförderung und Inklusion, Rosa Anna Ferdigg (Frankfurt) über das inklusive Schulsystem in Südtirol und Ulla Kreutz und Ludger Deckers (Köln) über Kooperatives Lernen. Neben dem Blick über den nationalen Tellerrand hinaus wurde dabei auch noch einmal deutlich, welche Vorteile Gemeinsames Lernen bietet (und was Kindern mit und ohne Behinderung jeweils an Lernchancen vorenthalten wird, wenn Unterricht in getrennten Systemen stattfindet.

"Inklusion ist nicht nur eine Angelegenheit von Schulpolitik und Schulverwaltung, auch nicht von Sonderpädagogik, sondern von Regional- und Gesellschaftspolitik" (Preuss-Lausitz 2009). Das Zitat kann wohl auch so interpretiert werden, dass Inklusion letztendlich ein Maßstab für die Qualität des Gemeinwesens und des menschlichen Miteinanders schlechthin darstellt. Das Abendprogramm mit dem Improvisationstheater "fast forward theatre" (Marburg) erlaubte es, den Bogen zu einer inklusiven kulturellen Praxis zu schlagen.

Den dritten Tag eröffneten noch einmal sechs neue Arbeitsgruppen, die sich mit der Frage auseinander setzten: Was verlangt die inklusive Schule von Politik, Verwaltung, Lehrern, Eltern und Schülern? Prof. Dr. Theo Klauß (Heidelberg) und Peter Hayer befassten sich mit der Aus- und Fortbildung für InklusionslehrerInnen. Silke Engesser und Michael Löser (Emmendingen) rekonstruierten die Gründung einer inklusiven Schule und die dabei gemachten Erfahrungen. Barbara Brokamp (Bonn) stellte die Arbeit der Montag Stiftungen dar, die das Leitbild Inklusion als Steuerungsinstrument verstehen. Ingrid Körner (Hamburg) moderierte die AG Bildungspolitisches Forum, die von Christine PLuhar (Kiel), Birgid Oertel (Wiesbaden), Georg Müller (Frankfurt) und Karsten Geike (Bützow) besetzt war. Rolf Flathmann (Bremerhaven) stellte sich der Frage, wie Verbands- und Elternpower entwickelt werden kann und Sybille Hausmanns (Frankfurt) und Ulrich Hellmann (Berlin) moderierten die AG Juristische Fragestellungen.

Der Erkenntnisertrag der Tagung machte dann auch unmissverständlich deutlich: Es wurde viel gearbeitet, reflektiert und mit hohem vor allem auch kreativem Engagement agiert. Die Präsentation der Ergebnisse des Theaterworkshops und des Zukunftsworkshops sollten dafür stellvertretend Zeugnis ablegen. Eine Ahnung hingegen von der harten politischen Realität lieferte das Statement von Wolfgang Rombach, Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Als gerade frisch ins Amt Gelangter um seine Aufgabe nicht zu beneiden, lieferte Herr Rombach gleichwohl ein symptomatisches Beispiel für den Reflexionsstand so mancher Länderpolitik im Bildungsbereich. Zumindest unvertraut, vielleicht auch ein Stück weit verunsichert klangen die politischen Begleitkommentare zur Verpflichtung, für Inklusion zu sorgen. Immerhin geht es um die Entwicklung eines Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Konvention.

So wurde bei der Verabschiedung der "Offenbacher Erklärung" noch einmal von Seiten des Publikums mehrheitlich darauf hingewiesen, dass Inklusion nicht ohne eine Struktur- und Organisationsdebatte über das bestehende Schulsystem vorangebracht werden kann.

Die politische Auseinandersetzung wurde dann am Ende anlässlich der abschließenden Podiumsdiskussion doch noch in Ansätzen geführt. Udo Michalik (Staatssekretär im Kultusministerium Mecklenburg-Vorpommern und Vorsitzender der Amtschefkonferenz in der Kultusministerkonferenz), Rolf Flathmann (Bundeselternrat der Bundesvereinigung Lebenshilfe), Peter Hayer (Grundschulverband) und Ramona Günther (Rat behinderter Menschen der Bundesvereinigung Lebenshilfe) diskutierten unter der Leitung von Jutta vom Hofe über die politischen Konsequenzen der UN-Konvention. Ramona Günther erinnerte dabei immer wieder an den Grundsatz "nichts über uns ohne uns" - ein Hinweis, der auch vor dem Hintergrund der Zusammensetzung der Teilnehmenden der Tagung insgesamt bedenkenswert war. Mit Blick auf die Grundschule wurde deutlich: Die Grundschule ist von Seiten des Schulsystems einem enormen Druck zu selektieren ausgesetzt. So ist die Grundschule heute zwar eine Schule für Viele (das ist letztlich auch der Erfolg von Integrationsbemühungen) - keineswegs aber eine Schule für Alle. Vor diesem Hintergrund ist zu Fragen: Wie viele Hintertüren lässt die UN-Konvention, letztendlich doch bestimmte Menschen vom Regelschulbetrieb auszusondern? Und - wird unter dem Deckmäntelchen Inklusion die politische Chance gesehen, klammheimlich zu sparen? Eines muss klar bleiben: Inklusion darf nicht als billigere Lösung interpretiert werden. Im Gegenteil: Inklusion als Weg setzt Maßstäbe für eine Qualifizierung des Bildungssystems im Sinne einer Gesellschaft freier Menschen.

(Zeitnah zur Tagung wird eine Tagungsdokumentation erstellt werden, in: Lebenshilfe-Verlag, hrsg. von Hinz, Körner & Niehoff)

Links:

www.lebenshilfe.de

Offenbacher Erklärung:

http://www.lebenshilfe.de/wDeutsch/aus_fachlicher_sicht/downloads/Offenbacher-Erklaerung14_11_2009.pdf

Quelle:

Clemens Dannenbeck, Carmen Dorrance: Wind gesät, Sturm geerntet

Bericht von der Fachtagung "Eine Schule für Alle - Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zur Inklusion" in Offenbach vom 12. Bis 14. November 2009

bidok - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet

Stand: 08.03.2010

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