Von der "Medizin der Krankheit" zu einer "Medizin der Gesundheit"

Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti (1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 16 - 27.
Copyright: © Milani Comparetti 1996

Von der "Medizin der Krankheit" zu einer "Medizin der Gesundheit"[1]

"From cure to care", der Aufruf der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu einer neuen Sichtweise in der Medizin, weist in eindrücklich klarer Form auf den Kernunterschied zwischen "Krankheits-" und "Gesundheitsmedizin" hin: Die erstere hat sich darauf spezialisiert, Krankheiten zu kurieren - sie versteht unter Gesundheit das Nichtvorhandensein von Krankheit - während die andere sich um die Gesundheit sorgt - sie versteht unter Gesundheit das Vorhandensein von Lebensqualitäten[2].

Wie Milani Comparetti betont, ist der Unterschied zwischen den beiden medizinischen Sichtweisen nicht leicht zu fassen, wodurch Sätze wie der oben beschriebene Slogan Gefahr laufen, als eine pure Wortspielerei mißverstanden zu werden. Es macht jedoch einen sehr großen Unterschied, ob sich ein Arzt auf die Krankheit spezialisiert, d.h. sie in seinen Lehrbüchern studiert hat, um sie nun bei seinem Patienten wiederzuentdecken und entsprechend zu behandeln, oder ob er vorrangig die Gesundheit der sich ihm anvertrauenden Mitmenschen im Auge hat. Letzteres verlangt von ihm den unbedingten Respekt vor der Ganzheitlichkeit des Menschen. Im Gegensatz hierzu zeichnet sich die "Krankheitsmedizin" dadurch aus, daß sie durch ihre Konzentration auf die Krankheit den Patienten in kranke und gesunde Teile aufspaltet und als Folge hiervon den Menschen als eine ganzheitliche Persönlichkeit aus dem Auge verliert.

Die Tendenz zur Aufspaltung in kranke und gesunde Teile steht in engem Zusammenhang zu Abwehrmechanismen, die wir Menschen unbewußt gegen unsere eigene Angst vor dem Leid und dem dadurch verkörperten "Bösen"[3] aufbauen. Die Konsequenzen, die sich aus diesen Abwehrmechanismen für die Rehabilitation Behinderter ergeben, sind in einer Tabelle zusammengefaßt (siehe Abb.1). Bei diesen auf den ersten Blick abstrakt erscheinenden Überlegungen darf nicht vergessen werden, daß sie nicht nur das Resultat langjähriger Erfahrung Milani Comparettis sind, sondern auch über Jahrzehnte hin in der Praxis ständig überprüft und weiterentwickelt wurden.

Milani Comparetti geht davon aus, daß die Begegnung mit einem behinderten Kind Angst macht. Gegen diese Angst wird der Versuch einer omnipotenten[4] Verteidigung aufgebaut, die es leichter macht, sie zu ertragen. Die Behinderung wird entweder gar nicht erst wahrgenommen ("Position der Verleugnung") oder um jeden Preis bekämpft ("schizo-paranoide Position"). Auf diese Weise soll das "Böse" ausgetrieben werden.

Drei verschiedene Positionen der Erwachsenen (Eltern, Lehrer und Mitarbeiter des Gesundheitssystems) bei der Konfrontation mit dem "Bösen". (Allein das Reifen des Realitätsbewußtseins gestattet eine korrekte multidisziplinäre Zusammenarbeit.)

Übersetzung dieser Tabelle sowie der wörtlichen Zitate von Eckhard Jäger und Hans von Lüpke.Abb.1. (Quelle: Milani Comparetti [90], S. 38)

Omnipotenz: Formen der Abwehr

Omnipotenz: Formen der Abwehr

Realitätsbewußtsein

POSITION DER VERLEUGNUNG

Verleugnung des Bösen

  • Schockphase

  • Ablehnung der Realität

  • Ablehnung des Bewußtseins der Unterschiedlichkeit

SCHIZO-PARANOIDE POSITION

Aggression gegen das Böse

  • Schuldgefühl

  • phobische Angst, magische Rituale

  • Reparaturtherapie (= bedrängende "Verbesserungs"-Abwehr)

  • wilde Rehabilitation

  • "perverse Allianz" (Winnicott 1978)

Aggression gegen den Kranken

  • Ablehnung des Andersartigen

  • Rassismus, aggressive Maßnahmen, Aussonderung und totale Institutionalisierung

DEPRESSIVE POSITION

Akzeptieren des Bösen

  • Trauerverarbeitung

  • Akzeptieren der Realität ohne Verfolgungsangst

  • Integration in das Beziehungssystem

  • Verantwortung der Familie und der Gemeinschaft für die Rehabilitation

  • Integration in das System der sozialen Bindungen: Eingliederung in das Schul- und Arbeitsleben, Abbau von Barrieren

Manische Verbandsposition

Gleichmacherei

Behindertenolympiade

Anspruchsorientierte Verbandsposition

Schadenersatzforderung und Förderungsaktivismus

Depressive Verbandsposition

Politische Verantwortung und kulturelle wie soziale Einbeziehung

Die Position der Verleugnung[5] findet man häufig zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Leid, so z.B. wenn Eltern zum ersten Mal vom Arzt die Diagnose der Behinderung ihres Kindes erfahren. In dieser Anfangsphase, die Menolascino als "novelty-shock" (Menolascino u. Egger 1978) bezeichnet hat, wird die Realität regelrecht ausgeblendet: man will das Leid nicht wahr haben und nimmt es dementsprechend auch nicht wahr. Man tut so, als gäbe es keine Unterschiede zwischen einem behinderten und einem nichtbehinderten Kind.

In die Tabelle wurde zu jeder Art der individuellen Auseinandersetzung mit dem Leid / dem "Bösen" auch die entsprechende Position auf - wie Milani Comparetti es nennt - "Verbandsebene" mit einbezogen. Der Position der Verleugnung entspricht die manischeVerbandsposition, da die Arbeit solcher Verbände eine realitätsverleugnende Gleichmacherei zur Grundlage hat. Milani Comparetti rechnet hierzu auch die Behindertenolympiade, da er sie ebenfalls als eine "manische Abwehrhaltung" ansieht.

Die schizo-paranoide Position, welche sich durch den Abwehrmechanismus Aggression auszeichnet, ist jedoch viel häufiger zu beobachten. So können Schuldgefühle und eine sich daraus entwickelnde phobische Angst vor dem "Bösen" auf seiten der Eltern zu einer regelrechten Sucht nach immer neuen Therapieformen für ihr Kind führen oder sie gar dazu bringen, magische Rituale zur Austreibung des "Bösen" zu akzeptieren. In der Vorstellung dieser Eltern muß jeder Defekt durch eine entsprechende Therapie heilbar sein (Reparaturtherapie), es kommt nur darauf an, die jeweils richtige Methode zu finden.

Die Vorstellung "Mehr Therapie hilft auch mehr" führt nicht selten zu einer Anhäufung verschiedener Therapieformen gleichzeitig (wilde Rehabilitation). Bleibt der Erfolg trotz größter Intensität aus, so kommt es zu der Situation, die Milani Comparetti in Anlehnung an Winnicott (1978) als "perverse Allianz" zwischen Therapeuten und Eltern bezeichnet hat: Die aus der Enttäuschung über den Mißerfolg resultierende Aggression wird gemeinsam an deren Ursache, dem Kind, ausagiert (nach dem Motto: "Und nun erst recht!"). Nur so ist es möglich, daß Therapien, die unter rationalen Gesichtspunkten längst hätten abgesprochen oder zumindest modifiziert sein müssen, mit unverminderter Gewalt[6] über Jahre hin fortgeführt werden. Die Aktivitäten, denen das Kind ausgesetzt wird, dienen hierbei letztendlich nur den Erwachsenen.

Schließlich kann anstelle der Behinderung die Person des Behinderten selbst zum Objekt der Aggression werden. In der therapeutisch verbrämten Form geschieht dies durch die Ausgliederung in Sondereinrichtungen (Aussonderung und totale Institutionalisierung). Nur wenn man sich die Angst vor dem Leid nicht zugestehen kann, braucht man Institutionen, die dessen Verkörperung in sich aufnehmen und damit den Blicken entziehen. Der schizo-paranoiden Position entspricht die anspruchsorientierte Verbandsposition. Hierzu zählt Milani Comparetti all jene Verbände, die ihre Aufgabe beispielsweise allein in Schadensersatzforderungen für ihre Mitglieder oder in blindem Förderungsaktivismus für mehr Behandlung behinderter Kinder sehen.

Diese beiden Haltungen wehren also die eigene Angst ab, sie trennen das "Böse" von der Person und spalten sie damit auf. Man ist hierdurch Omnipotenzphantasien geprägt, als ob jede Form von Krankheit oder Behinderung heilbar wäre. Den Gegensatz bildet die depressive Position[7]. Diese Position verhindert die Aussonderung des behinderten Kindes aus dem System der Familie, der sozialen Bindungen und der Gemeinschaft. Denn die Eltern, die sich die Angst eingestehen können, die Schmerz und Trauer verarbeiten, werden alles daran setzen, daß ihr Kind nicht aus seinem psychosozialen Kontext herausgerissen wird. Die Familie und die Gemeinschaft übernehmen somit die Verantwortung für die Rehabilitation und werden sie nicht irgendwelchen Institutionen überlassen. Auf dieser Basis treten Verbände für die politische Verantwortung gegenüber behinderten Menschen, für ihre kulturelle und soziale Eingliederung in den gesellschaftlichen Alltag ein.

So wie die Abwehr der eigenen Angst mit Aufspaltung und Abtrennung, den Kennzeichen der "Krankheitsmedizin" arbeitet, so zeichnet sich die depressive Position in ihrem Realitätsbewußtsein durch die Wahrnehmung des leidtragenden oder behinderten Menschen in seiner Ganzheitlichkeit aus: Das Bewußtsein dieser Ganzheitlichkeit des Menschen bildet die Grundlage einer gesundheitsmedizinischen Sichtweise.

An dieser Stelle wird deutlich, daß die Beschäftigung mit den genannten Abwehrmechanismen eine der Voraussetzungen für die Arbeit innerhalb der "Gesundheitsmedizin" darstellt. Erst die Überwindung der eigenen Ängste ermöglicht im Grunde die gesundheitsmedizinische Tätigkeit. Das heißt, der Übergang von der "Krankheits-" zur "Gesundheitsmedizin" ist in der Tat eher mit einem Reifungsprozeß vergleichbar als mit einem einfachen Konzeptionswechsel. Man kann nicht die krankheitsmedizinische Sichtweise ablegen, ohne sich in irgendeiner Form mit sich selbst, seinen Ängsten, Schmerz- und Wutgefühlen auseinandergesetzt zu haben.

Es versteht sich von selbst, daß innerhalb der "Gesundheitsmedizin" die Teamarbeit eine grundlegende Arbeitsform darstellt. Wie anders wollte man der Ganzheitlichkeit des Menschen gerecht werden? Eine Berufsrichtung allein kann unmöglich seiner Komplexität entsprechen. Allerdings betont Milani Comparetti, daß Teamarbeit an sich noch nicht die Garantie für eine gesundheitsmedizinische Sichtweise sei. Als Beispiel führt er die im Vergleich zur heutigen Konzeption völlig unterschiedliche Form der Teamarbeit an, die während der Sechziger- und Siebzigerjahre am 'Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani' in Florenz praktiziert wurde. So sei die damalige Arbeit gekennzeichnet gewesen durch "Spaltung", durch die Aufteilung des Kindes in ein Mosaik von Problemen, die je einer Fachkompetenz anvertraut wurden. Diese Aufteilung habe man schließlich mit Hilfe der Teamsitzung wieder rückgängig machen wollen. Milani Comparetti bezeichnet dies als ein Ritual, das lediglich dazu dient, diese Spaltung zu verbergen[8].

Ganz offensichtlich lag der damaligen Teamarbeit keineswegs ein gereiftes Konzept der Ganzheitlichkeit des Menschen zugrunde. Als Kennzeichen des heutigen Ganzheitskonzeptes nennt Milani Comparetti das Bewußtsein, daß Systeme[9] verschiedenster Art wie Körper und Geist, Angeborenes und Erworbenes, Erinnerung an Vergangenes und in die Zukunft gerichtete Vorstellungskraft oder auch Leben (im Sinne von Handeln) und Erleben miteinander in Interaktion stehen. Die Ganzheitlichkeit des Menschen wird somit gleichgesetzt mit dem Vorhandensein einer Reihe interaktiver Systeme.

Um den bisher recht abstrakt gebliebenen Begriff der Ganzheitlichkeit mit konkreten Bedeutungsinhalten zu versehen, soll die Entwicklung der menschlichen Motorik als ein Beispiel aus der Vielzahl der interaktiven Systeme herausgegriffen werden. Die Beschäftigung hiermit hatte einen großen Einfluß auf die Änderung der Arbeitskonzeption am 'Centro di Educazione Motoria Anna Torrigiani' in Florenz.

Von jeher stand die Motoskopie, d.h. die Beobachtung des kindlichen Bewegungsverhaltens für Milani Comparetti im Mittelpunkt seiner diagnostischen wie prognostischen Überlegungen. Die Weiterentwicklung der motoskopischen Kompetenz führte zu einem zunehmend besseren Verständnis der Bewegungsentwicklung, wobei Milani Comparetti sich im Verlauf der Forschungen in immer frühere Phasen des Lebensalters der beobachteten Kinder "vorarbeitete".

Diese Arbeit machte einen gewaltigen Sprung nach vorn, als er 1978 mit einer Gruppe von Geburtshelfern aus Terlizzi (Süditalien) Kontakt aufnahm, die durch ihre Beschäftigung mit den fetalen Bewegungen hierüber reichhaltiges Material an Ultraschallaufzeichnungen angesammelt hatten. Dieses Bildmaterial ermöglichte es Milani Comparetti, bis an die frühesten Anfänge der Bewegungsentwicklung vorzustoßen, das fetale Bewegungsverhalten auf der Basis seiner (durch die Analyse der frühkindlichen Bewegungsentwicklung gewonnenen) Kenntnisse zu interpretieren und seine allgemeine Theorie der Bewegungsentwicklung zu bestätigen.

Gerade die fetale Motorik zeigte nun in eklatanter Weise bestimmte Eigenheiten, die auf die oben angeführten Interaktionen hinweisen, d.h. die Ganzheitlichkeit des Fetus in reiner Form offenbaren. So waren z. B. drei verschiedene Mechanismen unterscheidbar, die am Aufbau der Fülle von Bewegungsmustern beteiligt sind und die Wechselwirkung zwischen Angeborenem und Erworbenem klar zum Ausdruck bringen. Zu den drei Mechanismen zählen:

1. der genetische Mechanismus

Durch ihn entstehen die sogenannten "primären motorischen Muster" (primary motor patterns = PMP), beim Fetus von der 10. Schwangerschaftswoche an beobachtbare, genetisch festgelegte Bewegungsweisen, denen keine Funktion zugeschrieben werden kann. Der Aufbau des PMP-Repertoires ist bei unbeeinträchtigter Entwicklung mit der 20. Schwangerschaftswoche abgeschlossen, genau dann, wenn die definitive Verknüpfung der Nervenzellen ausgebildet ist. Die Bewegungsmuster dienen nun als Bausteine für komplizierte funktionelle Muster, welche im Folgenden durch die anderen beiden Mechanismen erworben werden.

2. der epigenetische Mechanismus

Er führt zum Repertoire der "primären Automatismen" (primary automatisms = PA). Darunter werden die ebenfalls schon ab der 10. Schwangerschaftswoche auftretenden Bewegungsmuster verstanden, denen von außen eindeutig eine funktionelle Bedeutung zugeschrieben werden kann[10]. Der Aufbau des Repertoires erstreckt sich allerdings weit über die Geburt hinaus bis in die ersten Lebensjahre. PA stellen gewissermaßen die genetisch vorprogrammierten Bewegungsmuster dar, die das Zentralnervensystem benutzt, um von der Umwelt gestellte Probleme zu lösen. Sie kommen erst dann zur Ausprägung, wenn tatsächlich das entsprechende Problem gestellt wird. Ist dies geschehen, brauchen sie jedoch nicht mühsam erlernt zu werden, sondern stehen sofort zur Verfügung. Diese Verknüpfung von genetischer Programmierung und Angewiesensein auf "Umweltprobleme" wird durch den Begriff epigenetisch zum Ausdruck gebracht.

3. der Mechanismus des Lernens

Hierdurch werden Bewegungsmuster gebildet, welche nun nicht mehr genetisch vorpgrogrammiert sind, die "sekundären Automatismen" (secondary automatisms = SA). Bei ihnen handelt es sich um Abwandlungen oder Verfeinerungen der PA. Der Aufbau ihres Repertoires ist im Grunde nie zu Ende.

Die enge Verflechtung zwischen den verschiedenen Musterrepertoires zeigt sich bereits an dem Sachverhalt, daß in der Regel viele verschiedene PMP zum Aufbau eines PA benötigt werden, während andererseits ein einzelnes PMP an der Ausbildung unterschiedlicher PA mitwirken kann. In dieser Wechselwirkung finden wir eine für lebendige Strukturen charakteristische Art der Verknüpfung zwischen Element und Ganzem.

Zwei weitere Eigenschaften der fetalen Motorik lohnen sich, hier eingehender dargestellt zu werden, da sie maßgeblich an der Veränderung von Milani Comparettis medizinischer Sichtweise beteiligt waren. Die eine betrifft die Tatsache, daß sich die Bewegung des Fetus durch selbständige Aktivität, durch Kreativität auszeichnet und nicht die Antwort auf einen Reiz von außen darstellt. Es ist vielmehr ein autonomer Lebenswille erkennbar, mit dem sich das Individuum selbst aufbaut. Bei der zweiten Eigenschaft geht es um die Intention des Individuums, über dieses Sich-selbst-aufbauen hinaus auch die Beziehung zur Umwelt zu entwickeln.

Die Fähigkeit des Zentralnervensystems, im Sinne eines "feed forward"[11] Bewegungsmuster ohne Außenreize neu zu bilden, ist gerade für die PMP ein charakteristisches Merkmal, da diese als rein genetisch vorherbestimmte Muster definiert waren. Mit der Ausbildung ihres Repertoires ist jedoch die "Kreativitäts-Kapazität" keineswegs erschöpft. So erkannten Milani Comparetti und seine Mitarbeiter bereits bei der eingehenden Beobachtung des kindlichen Bewegungsverhaltens ".... die Kreativität als Fähigkeit, sich selbst aufzubauen, auf die Umwelt einzuwirken, selbst Vorschläge zu machen, um damit die Basis für den Dialog und die Beziehung zu legen" [12].

Sich der kreativen Fähigkeit zum Vorschlag und des autonomen Lebenswillens als Kennzeichen der fetalen Motorik wie auch des Bewegungsverhaltens von Säuglingen und Kleinkindern bewußt zu sein, wurde für Milani Comparetti zur Grundlage des Umgangs mit dem Kind, sei es in einer Untersuchungssituation oder bei der Therapie. Die Konsequenz einer derartigen Sichtweise, in welcher das Kind als "Protagonist", als Hauptakteur seiner eigenen Entwicklung angesehen wird, liegt im totalen Verzicht auf jedwede Stimulation mit "nackten", d.h. aus dem Beziehungskontext herausgerissenen Reizen. Denn solche Reize dienen durchaus nicht dazu, den Aufbau von Autonomie zu fördern, sondern behindern im Gegenteil die Eigenaktivität des Kindes[13]. Vielmehr geht es darum, die Vorschläge des Kindes wahrzunehmen, sie aufzunehmen und mittels Gegenvorschlägen einen Dialog zu entwickeln. Ein solcher Dialog unterscheidet sich, wie Abb. 2 deutlich macht, vom Kreisschluß des Reiz-Antwort-Modells der "Reflexologie" und des Behaviourismus durch die Dimension der Kreativität, in die er sich spiralförmig hineinwindet. Seine Elemente sind dann nicht mehr Reiz und Antwort, sondern Vorschlag und Gegenvorschlag. Die von Milani Comparetti als "parametro propositivo" (Parameter des Vorschlags) bezeichnete "kreative Differenz" zwischen Vorschlag und Gegenvorschlag führt dazu, daß im Dialog beide Partner nie wieder - wie im geschlossenen Reiz-Antwort-Kreis - zum Ausgangspunkt zurückkehren, sondern gemeinsam etwas Neues entwickeln (Zustand der Kreativität). Auch für die Prognosestellung hat die Beobachtung bzw. Beurteilung dieser Vorgänge einen weitaus größeren Aussagewert, als die Überprüfung der sogenannten "frühkindlichen Reflexe".

Abb.2 (Quelle: Milani Comparetti u. Roser 1982, S. 82)

Der Respekt vor der Eigenaktivität des Kindes in dem Bewußtsein, daß nur das Kind allein sich selbst aufbauen kann, bestimmt auch die Therapie. Milani Comparetti weist ausdrücklich darauf hin, daß ein Kind sich nur dann aufbaut, wenn es dies auch selbst will. Fehlt ein solcher Wille, so gibt es kein Mittel, die Entwicklung des Kindes voranzutreiben. Keine einzige Übung vermag dies zu leisten. Im Gegenteil: Milani Comparetti betont, daß isoliertes Üben die sicherste Methode sei, den Wunsch des Kindes, sich selbst aufzubauen, zu zerstören. An die Stelle von solchen Übungen müsse die Erfahrung des Kindes treten. Damit sind Vorschläge gemeint, die innerhalb seiner emotionalen Beziehungen angesiedelt sind und infolgedessen für das Kind bedeutsam werden. Milani Comparettis Slogan für die Behandlung wurde somit: Nicht Übung, sondern Erfahrung!

Mit der Absage an eine bloße Stimulierung wird man auch der Beziehungsintention des Kindes gerecht. Wie der Fetus offenbart auch der Säugling in seinem Bewegungsverhalten ein deutliches Streben, den Dialog mit der menschlichen Umwelt aufzubauen. In diesem Sinne sieht Milani Comparetti bereits beim Neugeborenen die Kompetenz, gleich vom ersten Tag an ein provokatives und verführerisches Verhalten zu zeigen, um die Mutter an sich zu ziehen und mit ihr einen Dialog zu beginnen. Der Säugling trägt also schon ein "Projekt", eine Vorstellung vom Dialog in sich und gestaltet sein Bewegungsverhalten so, daß der Dialog über eine gewisse Zeit aufrechterhalten bleibt. Das bedeutet aber auch, daß der Säugling, wie auch die Mutter, eine angeborene Kenntnis der nonverbalen Kommunikation haben, die es ihnen erlaubt, einerseits dem Partner Zeichen zukommen zu lassen, andererseits die Zeichen des Partners wahrzunehmen und zu interpretieren. Der Dialog besteht damit auf der Senderseite aus einem Repertoire von Bedeutungen, denen ein Zeichen zugeordnet wird und auf der Empfängerseite aus einem Repertoire von Interpretationen, die mit dem Zeichen verknüpft werden. Beide Seiten des Dialogs versehen also die nonverbale Kommunikation mit Bedeutungsgehalt. Dieses wiederum zeugt eindeutig von einer geistigen Präsenz beim Neugeborenen. Indem durch die Intention des Säuglings der Dialog aufgebaut wird und dies in gleicher Weise von seiten der Mutter geschieht, entwickelt sich auf einer höheren Ebene die Beziehung zwischen beiden. Milani Comparetti gebraucht hierfür den Begriff "Metaintentionalität" [14].

Der Dialog zwischen Säugling und Mutter hat noch eine Eigenheit aufzuweisen, die grundlegend für die Beziehung zwischen zwei Individuen ist, das Geheimnis. Milani Comparetti: "Dieses Geheimnis, das Nicht-gesagte, das Schweigen repräsentiert im Dialog das Eigene, das mehr als alle Erklärungen das eine individuelle System vom anderen zugleich abgrenzt und mit ihm vereinigt.

In der Tat ist das Geheimnis nicht nur das, was von der persönlichen Identität aufgrund inadäquater Kommunikationswege nicht mitteilbar bleibt, sondern es stellt einen integralen Bestandteil des Dialogs dar und ist deshalb zugleich intentional wie meta-intentional als eine Reserve, ein Sich-verweigern auf der Ebene Vorschlag und Gegen-Vorschlag. Es ist die Nische der sprachlich nicht mehr faßbaren Subjektivität, unverzichtbar, um die Identität des Individuums im Kontext der Beziehungen aufzubauen.

Dem Erwachsenen ist es nur mit Schwierigkeit möglich, sich die geistige Identität des Neugeborenen vorzustellen, so grundverschieden durch ihre Unberührtheit von Symbolen und die 'Aufrichtigkeit' ihres Geheimnisses. Unsere emotionale Geschichte, unsere Erlebnisse und Konflikte machen aus uns und den Neugeborenen völlig unterschiedliche Partner. Aber die Beziehung zur Mutter ist perfekt ausbalanciert, speziell während der Phase der 'Reverie' in der Neugeborenenperiode, wenn die Mutter zur emotionalen, epigenetischen, metaphorischen und nonverbalen Kommunikation zurückkehrt. In dieser Phase wird die Reserve, das Geheimnis des Neugeborenen als zentrales Element seiner Kreativität respektiert." (Milani Comparetti [101], S. 50).

Eigenaktivität, Selbstaufbau, Beziehungsintentionalität und Ganzheitlichkeit sind die Begriffe, die aus gesundheitsmedizinischer Sichtweise das sich entwickelnde Individuum beschreiben. So ist auch ohne konkretes Beispiel nachvollziehbar, wie im Falle einer beeinträchtigten Gesundheit oder Entwicklungsstörung die Förderung auszusehen hat. Ganz gleich, welcher Art die Beeinträchtigung bzw. Schädigung ist, muß die Behandlungs- oder Fördermaßnahme so gestaltet sein, daß sie dazu beiträgt, die Eigenaktivität, d.h. die Autonomie des Kindes zu stärken und seine Beziehung mit der Umwelt, den Dialog, zu stabilisieren. Das Bewußtsein der Ganzheitlichkeit verbietet jede isolierte Funktionsförderung oder Therapie einer umschriebenen Störung, die nicht in den Gesamtzusammenhang der physio-psychosozialen Situation des Kindes eingebettet ist.

Quelle:

A. Milani Comparetti: Von der "Medizin der Krankheit" zu einer "Medizin der Gesundheit"

Entnommen aus der Dokumentation: Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit - Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung von Prof. Milani Comparetti.

Herausgegeben von Edda Janssen und Hans von Lüpke im Auftrag des Paritätischen Bildungswerks Bundesverband e. V., Frankfurt; Dez 1996

(1985; 2. Erweiterte Auflage der Dokumentation 1986) S. 16 - 27

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.03.2005



[1] Von der "Medizin der Krankheit" zu einer "Medizin der Gesundheit"

[2] Vgl. hierzu Milani Comparetti u. Roser 1982.

[3] Milani Comparetti benutzt hier wie auch im Folgenden die Terminologie von Melanie Klein. Vgl. hierzu Klein 1972.

[4] Im Sinne von Allmachtsphantasie.

[5] Die kursiv gedruckten Begriffe beziehen sich auf die Tabelle, Abb.1.

[6] Vgl. hierzu Milani Comparetti, Fetal Movements ..., 1983.

[7] Auch dies ein von Milani Comparetti verwendeter Ausdruck aus der Terminologie von Melanie Klein. Nach dem bei uns üblichen Sprachgebrauch ist der Begriff mißverständlich. Zwar geht es hierbei um ähnliche Gefühle wie jene, die gemeinhin mit dem Wort der Depression in Zusammenhang gebracht werden, so z. B. Niedergeschlagenheit, Bedrücktheit, Schmerz und Trauer. Jedoch handelt es sich bei der depressiven Position vor allem um ein Durcharbeiten dieser Gefühle, was zur Annahme des Leides, zum Akzeptieren der Realität führt. Man könnte auch von Trauerarbeit sprechen.

[8] Zur heutigen Konzeption der Teamarbeit siehe den Beitrag von Gidoni in diesem Band: Die Familie und das behinderte Kind

[9] Der Begriff System wird hier gemäß dem Konzept der Systemtheorie verwendet.

[10] So sind z.B. beim Fetus der 10. bis 12. Schwangerschaftswoche globale Sprünge sichtbar, die er dazu benutzt, seine Lage im Uterus immer wieder zu verändern. Zu den PA gehören auch die gemeinhin als "frühkindliche Reflexe" bezeichneten Bewegungsweisen. In Milani Comparettis Konzept der Bewegungsentwicklung kommt ihnen eine funktionelle Bedeutung zu. Er nimmt beispielsweise an, daß sie eine wichtige Funktion für den Verlauf der Geburt und die Anpassung an die extrauterine Umgebung haben.

[11] Milani Comparetti verwendet den Begriff "feed forward" bewußt als Gegenstück zum "feed back" der "Reflexologie", um sich deutlich von ihren Erklärungsmodellen zu distanzieren.

[12] Milani Comparetti, A.: Le proposte del bambino. Convegno su: "Il bambino come comunicazione", Fondazione J. A. Comenius, Milano 1981, S. 262)

[13] Als Beispiel für die Stimulation mit "nackten" Reizen führt Milani Comparetti die in den USA verbreitete Methode der "infant stimulation" an, bei der dem Neugeborenen (vor allem bei Frühgeburten) farbige Lichter, verschiedene Geräusche oder unterschiedliche Geruchstoffe in bestimmten Abständen dargeboten werden. Da für das Neugeborene keine Möglichkeit besteht, diese Reize in einen Beziehungskontext einzubetten und damit seine Beziehung zur Umwelt aufzubauen, führen sie eher zur Psychose als zur erwünschten Entwicklungsförderung.

[14] Vgl. hierzu Milani Comparetti [101].

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