Bewegende Selbstorganisation

Aspekte einer Entwicklungstheorie

Autor:in - Reinhard Burtscher
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Diplomarbeit
Releaseinfo: Diplomarbeit zur Erlangung eines akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, eingereicht bei Univ.-Prof. Dr. Helmwart Hierdeis, Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, Innsbruck, im April 1997
Copyright: © Reinhard Burtscher 1997

Einleitung

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Inzwischen habe ich zum zehnten Mal das Konzept der Diplomarbeit verändert, Forschungsfragen und Titel umgeschrieben, neue Autoren und ihre Theorien aufgenommen, andere wieder verworfen. Dieser gesamte Prozeß wird in dieser Arbeit kaum sichtbar, dennoch ist er von großer Bedeutung für das vorliegende Resultat. Zu Beginn stand keine fixe Fragestellung, sondern das allgemeine Interesse an Entwicklungsfragen. Die Annäherung erfolgt zuerst über die praktische Tätigkeit auf einer psychiatrischen Station. Wöchentlich arbeitete ich bei den Rhythmik-Stunden mit und versuchte den Blick zu schärfen für Veränderungen. Einerseits interessierten mich die Veränderungen bei den betroffenen Personen, andererseits versuchte ich Veränderungen an meiner Person festzustellen (Wie verläuft meine Entwicklung? Wie erreiche ich Handlungskompetenz? Was wird wichtig für meine Person?). So entstanden acht Beobachtungsprotokolle im Frühjahr 1995 und zehn weitere im Herbst/Winter 1996. Von neun Rhythmik-Stunden gibt es einen Videomitschnitt.

Der zweite Hintergrund, der diese Arbeit stark beeinflußt, ist ein theoretischer. Während des Studiums beschäftigte ich mich mit dem Gebiet der Behinderten- und Integrations-pädagogik, sowie mit verschiedenen Ansätzen in der Psychotherapie (im besonderen Psychoanalyse, Systemische Theorien). Die (Denk-)Arbeit in diesen Bereichen schärfte und prägte meine spezifische Wahrnehmung wesentlich.

Ein dritter und letztendlich kaum faßbarer Hintergrund ist die eigene persönliche Biographie. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf, geborgen in einer Familie, engagiert in einer offenen christlichen Jugendbewegung, vertraut mit Arbeiten auf dem Feld und in Fabriken, beeinflußt die Biographie die Sichtweise dieses Schriftstücks ganz wesentlich.

Spätestens mit der Theorie des Radikalen Konstruktivismus (vgl. Gumin 1985) wird klar: Es gibt keine objektive Wissenschaft. Jede Wahrnehmung des Menschen ist geprägt durch die Bedeutung der Dinge, durch den Sinn und den Wert, den wir ihnen zuschreiben. Wissenschaft ist nicht wertfrei. Indem ich meinen Hintergrund skizziere, gebe ich meine Wert- und Grundeinstellungen zu erkennen.

Thema

Zum Thema "Bewegende Selbstorganisation - Aspekte einer Entwicklungstheorie" versuche ich eine Zusammenstellung verschiedener mir wichtiger Erkenntnisse. Meines Erachtens genügt es nicht, sich auf einen eng begrenzten Fachbereich zu spezialisieren. Sowohl die Breite als auch die Tiefe gehören bei einer Entwicklungstheorie angesprochen. Aber: Wo beginnen und wo enden? Welche Vernetzungen und Verbindungen sollen aufgezeichnet werden? Wie, in welcher Form?

Ich betone ausdrücklich, daß die vorliegende Auffassung einer Entwicklungstheorie nicht die einzige Lösung sein kann. Die Ergebnisse sind aufgrund von Entscheidungen entstanden, die ich an verschiedenen Wegbiegungen gemacht habe. Leitendes Motiv war dabei meine persönliche Neugierde. Sie, als LeserIn, können ganz woanders hinkommen, wenn sie sich mit diesem Thema befassen. Weiters lasse ich mich von der Überzeugung leiten, daß nicht das Ergebnis, sondern der Weg das Entscheidende darstellt. Diese Einsicht wird vor allem durch meine Erfahrung gestärkt und drückt sich u. a. in folgendem Satz aus "Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun." (Maturana/Varela 1987, 32)

Während der Beschäftigung mit dem eigentlichen Thema haben sich vier Stichworte herauskristallisiert, die für mich in einem engen Zusammenhang stehen und sich ergänzen. Die menschliche Entwicklung beruht m. E. ganz wesentlich auf der Selbstorganisation, dem Dialog, der Bewegung und der Gemeinsamkeit. Der Zusammenhang ergibt sich dadurch, daß mit Hilfe dieser Stichworte menschliche Entwicklungsprozesse erklärt werden können. Entwicklung zu beschreiben oder zu erklären und Bedingungen für günstige Entwicklungsverläufe aufzuzeigen, ist ein schwieriges Unterfangen. Dieses Vorhaben erscheint mir deshalb schwierig, weil ich von einer Vorstellung einer linearen Entwicklung abweiche. Entwicklung verläuft m. E. nie eindimensional, d. h. in eine Richtung, sondern multidimensional, verbunden mit Sprüngen, Pausen, Brüchen und Widersprüchen (Paradoxien).

Dem eigentlichen Themenbereich von Entwicklung habe ich ein Kapitel über Erkenntnis vorangestellt. Dieses Kapitel hängt insofern mit Entwicklung zusammen, weil dadurch eine ganz spezifische Sichtweise von Entwicklung zustandekommt. Obwohl ich die Stichworte in einer bestimmten Reihenfolge darstelle, gibt es unter ihnen keine Rangordnung. Eigentlich müßten sie wie das Universum aufgezeichnet werden, mit Verbindungen und Ausläufern nach allen Richtungen. Für mich zeigt sich, in Analogie zum Universum, folgendes Bild:

Abb. 1: "Spiralnebel Entwicklung" - eine Modellvorstellung

Jedem Kapitel stelle ich eine These voran. Dann versuche ich, die eingeschlagenen Spuren nachzuzeichnen. Das Ziel ist eine möglichst vielfältige Stützung durch wissenschaftliche Literatur. Obwohl die These am Anfang steht, ist sie bereits Produkt einer langen Beschäftigung im Vorfeld der Verschriftlichung. Die Thesen waren Wegweiser, können aber zugleich als Ergebnis betrachtet werden. Aneinandergereit bilden sie eine Zusammenfassung dieser Diplomarbeit. Am Ende zeige ich anhand eines Interviews den Entwicklungsverlauf einer Gruppe von Menschen in der Psychiatrie auf.

Noch eine letzte Anmerkung: Die Schwierigkeit in der Aufzeichnung einer Entwicklungstheorie liegt in der Vernetzung und Überlappung von einzelnen Aspekten. Sie finden zwar einen linearen fortlaufenden Text vor sich, doch sollte klar sein, daß dieser "rote Faden" nur ein künstlicher ist. Es gibt eine zweite Wirklichkeit, die dahinter steckt und die verknüpft ist mit vielen anderen Gebieten. Das Modell von Hyperlinks bei verschiedene Softwareprogrammen wird zum Teil diesen Verbindungen gerecht. Durch Anklicken eines definierten Wortes (Symbols) eröffnen sich neue Wege. Diese neue Lese- und Schreibart findet sich bei elektronischen Medien, doch bis jetzt ist es nicht gelungen, eine Form des nicht-linearen Schreibens bzw. Lesens auf einfachem Papier zu entwickeln. Vielleicht gelingt es einmal, die starke Begrenzung, die dieser Textform zugrundeliegt, zu überwinden. Ich muß (bis dahin) mit diesen Begrenzungen und Einschränkungen leben. (Ein neuer Ansatz läßt sich bei Georg Pleger finden, der derzeit versucht, nicht-lineare Schreibarten zu entwickeln.)

Danksagung

Viele haben mich bei dieser Arbeit begleitet und unterstützt. Ich danke besonders

- Mag. Sigrid Köck-Hatzmann für die letzten zwei aufregenden (Lehr-)Jahre

- Dr. Helmwart Hierdeis für seine fachlichen Hinweise, Anregungen und Korrekturen

- Hubert und Christian für die moralische Unterstützung und die Diskussionen im Café

- Angelika für die Überarbeitung des Interviews

- meiner Familie, die ein tragfähiges Fundament für meine Entwicklung bereitet haben.

Erkenntnis

Nur im Tun kann ich zu Erkenntnis gelangen. Ich, als Beobachter, erschaffe das, was ich beobachte. Die Bedeutung, Wert und Sinn, die ich der Wirklichkeitssicht zuschreibe, ergibt sich aus meiner individuellen Geschichte.

"Das Unheil menschlicher Existenz beginnt, wenn das wissenschaftlich Gewußte für das Sein selbst gehalten wird, und wenn alles, was nicht wissenschaftlich wißbar ist, als nicht existent gilt." (Jaspers in Watzlawick 1992, 191)

Wie erkennt der Mensch? Wie kommt er zu dem Weltbild, daß er vertritt? Was ist wirklich? Seit den 50er Jahren gibt es eine veränderte Vorstellung von Wirklichkeit, die besonderes im Radikalen Konstruktivismus vertreten wird. Diese neue Art der Vorstellung oder Konstruktion von Welt möchte ich kurz darstellen.

Modelle und Experimente der Physik standen am Beginn einer Entwicklung, die allmählich auch in der Biologie, Soziologie und anderen wissenschaftlichen Zweigen zur Anwendung kamen. Hauptvertreter des Radikalen Konstruktivismus (vgl. Gumin 1985) sind Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick, Humberto R. Maturana (1987), Francisco J. Varela (1987). Viele andere haben die Ideen aufgenommen und in ihren Arbeiten eingebunden wie z. B. Gregory Bateson (vgl. Marc 1991), Fritz B. Simon (1992), Hans von Lüpke (1994), Reinhard Voß (1994), Georg Feuser (1995).

Subjektive Wirklichkeit

Die entscheidende Rolle spielt der Beobachter und seine Erkenntnis, daß die Wahrnehmung der Wirklichkeit individuell unterschiedlich ist. Die "Welt an sich" kann nicht auf ihre einzig-gültige Wirklichkeit überprüft werden, weil zur Prüfung von Welt immer ein Beobachter notwendig ist. "Realität wird als eine interaktive Konzeption verstanden, in der Beobachter und Beobachtetes gegenseitig und strukturell miteinander gekoppelt sind." (Baumgartner 1994, 107)

Die Unmöglichkeit der realen Trennung zwischen dem Subjekt (dem Beobachter) und dem Objekt (dem zu Beobachtenden) läßt eine besondere Welt hervorbringen. Sie bietet Raum für mehrere Wirklichkeiten, indem selbst Widersprüche und tragische Ereignisse einer veränderten Bewertung unterzogen werden können. Das Resultat ist eine neue Weltsicht, die in ihrer Auswirkung tiefgreifende Spuren hinterläßt. Der Radikale Konstruktivismus will m. E. nicht Skepsis und Resignation vermitteln, weil der Mensch nicht im stande ist, Wahrheit oder Wirklichkeit zu erfassen, sondern dazu beitragen, der (erfahrenen) Wirklichkeit die passende Konstruktion zu vermitteln, eine Konstruktion, die vielleicht besser geeignet ist, um damit zu (über-) leben.

Diese Herangehensweise an eine neue Art der Wirklichkeitsauffassung hat in der praktischen Umsetzung beachtliche Erfolge.Simon (1992) arbeitet z. B. in seiner psychotherapeutischen Praxis mit Familien, bei denen es immer wieder darum geht, die familiär konstruierten Wirklichkeiten zu verändern und neue, konstruktive Wirklichkeiten einzubauen.

Harte und weiche Wirklichkeit

Bevor ich zum Prozeß des Erkennens und damit zu den verschiedenen Wirklichkeiten komme, ist es wichtig, die Prämisse des Konstruktivismus klarzulegen. Wie Glasersfeld (vgl. Gumin 1985, 21) betont, ist der Konstruktivismus eine Theorie des Wissens. Der Konstruktivismus gibt uns brauchbare Modelle, mit der wir Welt erklären können. Diese Theorie ist keine Theorie des Seins. Die Existenz eines Ding-an-sich wird nicht geleugnet, allein es gibt keine Möglichkeit, sie festzustellen. Weil keine Beobachtung ohne Beobachter gemacht werden kann und weil jeder Beobachter ein einzigartiges Geschöpf darstellt, kommt es zu vielen verschiedenen Sichtweisen von Wirklichkeiten.

Annäherungen in den Sichtweisen gibt es dennoch. "Mehrere Menschen können immer dann zu einer übereinstimmenden Sicht der Wirklichkeit gelangen, wenn sie ähnliche Verhaltensweisen zeigen, die bei ihnen zu ähnlichen Erfahrungen und Beschreibungen der Realität führen - und umgekehrt." (Simon 1992, 56).

Simon beschreibt die Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen,... als Wirklichkeiten, denen man sich nicht entziehen kann, will man überleben. Jeder Mensch muß sich diesen Bedürfnissen widmen, doch wie er dies tut, ist für das Überleben belanglos. Als Österreicher ist es üblich, mit Messer und Gabel zu essen, in China wird mit Stäbchen gegessen; ihre Erfahrung mit z. B. einem Schnitzel wird wahrscheinlich völlig anders ausfallen als meine in Österreich. Anders ausgedrückt: Durch unsere körperliche Begrenztheit ist es relativ einfach zu klären, was alles nicht sein kann bzw. nicht geht. Zu bestimmen, was möglich sein könnte, ist wesentlich schwieriger, wenn nicht unmöglich.

Konstruktivisten unterscheiden zwischen härterer ("objektivere") und weicherer ("subjektivere") Wirklichkeit, wobei diese Unterscheidung relativ und nur im Vergleich miteinander gemacht werden kann. Die Übereinstimmung ist, genauer betrachtet, eine scheinbare, weil die Basis einer Wirklichkeit einzigartig mit dem Erleben des Individuums verbunden ist. Erleben ist wiederum nicht zu trennen von dem damit einhergehenden Prozeß der Bewertung eines Ereignisses aufgrund der vorgehenden Geschichte (Biographie). Die Bedeutung, der Sinn oder Wert beeinflußt die Sichtweise von Wirklichkeit ganz maßgeblich.

Simon geht auf dem Weg der Erkenntnis einen Schritt weiter und sagt: "Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Verhalten und der Erkenntnis." (Simon 1992, 56) Um etwas zu Erkennen muß man etwas Bestimmtes tun, wobei man sich nicht nicht verhalten kann (auch das Nichtstun ist ein Verhalten). Möchte ich z. B. den Geschmack einer exotischen Frucht kennenlernen, dann muß ich sie probieren und erlange dadurch Erkenntnis über die Frucht. Werde ich das nicht tun, dann wird mir selbst durch eine gute Beschreibung die eigentliche Erkenntnis fehlen, ich könnte höchstens zu der Erkenntnis kommen, daß ich über den Geschmack der Frucht keine Erkenntnis habe (vgl. Simon 1992, 55).

Konstruktivisten sehen im Wissen über die Welt nicht ein Bild oder eine Widerspiegelung der Wirklichkeit, sondern stets nur eine Möglichkeit von mehreren. Es ist ihre Erlebniswelt und nicht die Welt-an-sich.Watzlawick (vgl. Gumin 1985, 72) erklärt an einem Beispiel die Bedeutung der Zuschreibung bzw. Bewertung: Der Optimist wird der Meinung sein, daß eine bestimmte Flasche Wein zu einem bestimmten Zeitpunkt noch halb voll, der Pessimist dagegen, daß sie halb leer sei.

Ist die Flasche Wein ein Beweis für nicht-konstruierte Dinge? Noch einmal - es gibt keine Möglichkeit festzustellen, ob die Flasche wirklich (ein Ding-an-sich) ist oder nicht. Der Beschreibende macht das Ding zu dem, was er beschreibt. Ein Chemiker sieht in der Flasche vielleicht etwas ganz anderes, etwa ein aus glutflüssiger Schmelze erstarrtes Glas mit den Bestandteilen Kieselsäure, Metalloxiden und Schwefeltrioxid.

An diesem Beispiel läßt sich auch die Unterscheidung von Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung aufzeigen. Wirklichkeit erster Ordnung bezeichnet die Flasche mit Wein, sie gilt als die härtere Wirklichkeit. Wenn sich zwei Menschen über deren Realität streiten würden, käme es durch andere Personen verhältnismäßig schnell zur Festlegung, daß derjenige recht habe, der die Wirklichkeit der Flasche mit ihrem Inhalt nicht anzweifle. Die Wirklichkeit zweiter Ordnung definiert sich durch die Zuschreibung und Bewertung. Die halbvolle Weinflasche gilt für den Optimisten als angenehmes Lebenselexier, er kann sich noch einige Gläschen gestatten. Beim Pessimisten gibt es nur noch wenige Gläschen, er trinkt und ärgert sich, daß nicht mehr viel vorhanden ist. Beide haben die selbe Ausgangslage - eine Flasche mit Wein (Wirklichkeit erster Ordnung), mit der Bewertung (Wirklichkeit zweiter Ordnung) ergibt sich für beide eine völlig andere Realität.

Eine bestimmte Sicht von Wirklichkeit (Erkenntnis) ist an die Person gebunden, die sie macht und hat in diesem Rahmen Gültigkeit. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das entscheidende Kriterium läßt sich mit den Begriffen "brauchbar" oder "passend" definieren (vgl. Gumin 1985, 17ff). Solang eine Vorstellung paßt, besteht auch kein Problem. Erst wenn die Vorstellungen von Wirklichkeit in Ungereimtheiten oder Widersprüche geraten, beginnen Fragen und Zweifel. Neue Anpassungen bzw. Veränderungen sind notwendig oder es kommt zu ernsthaften Schwierigkeiten.

Entstehung von Wirklichkeit

Die Entstehung bzw. der Aufbau einer neuen Wirklichkeit schildert Ernst von Glasersfeld an folgendem Beispiel:

"Beim Zusammenklauben von Marbeln klaubt ein Kind auch einen glänzenden, blauen Mistkäfer auf, spürt aber dann ein Krabbeln in der Hand, das mit seiner Vorstellung von Marbeln nicht vereinbar ist, und läßt ihn fallen. Angenommen, das Kind schenkt nun seine Aufmerksamkeit dieser widerspenstigen 'Marbel', so kann es eine neue Kategorie von Dingen schaffen - Dinge, die obgleich sie zuweilen wie Marbeln ausschauen, kleine Krallen haben, sich von selbst fortbewegen und darum nicht in einer Schachtel ohne Deckel aufbewahrt werden können. Zwar hat das Kind noch keinen Namen für die neue Kategorie, doch es könnte nun - wenn wir diese fiktive Entwicklung weiterverfolgen wollen - dieser Kategorie der 'selbstbewegenden' Dinge eine Reihe anderer Gartenerlebnisse zuordnen, zum Beispiel Heuschrecken, Frösche und kleine Eidechsen. Wollte es nun einen Frosch oder eine Eidechse fangen, so käme es zweifellos bald darauf, daß man da mehr Aussicht auf Erfolg hat, wenn man annimmt, daß diese Dinge nicht nur sich spontan bewegen können, sondern auch sehen und vielleicht sogar hören." (Gumin 1985, 22)

Die Erfahrungen mit diesem bewegenden "Marbeln" würde wahrscheinlich als Fehlleistung in Vergessenheit geraten, käme es nicht zu wiederholenden Begegnungen ähnlicher Art. In der Wiederholung gewinnt die erste Erfahrung immer mehr an Realität. Es ist erstaunlich und doch oft ganz selbstverständlich, welche große Anzahl an Fähigkeiten notwendig ist, um dem Prozeß der Erkenntnis (dem Aufbau einer Wirklichkeit) zu folgen. Das Kind lernt zu unterscheiden zwischen sich bewegenden und nicht bewegenden "Marbeln" durch sein Verhalten. Es vergleicht seine eigenen Fähigkeiten mit dem Neuen und kommt so zu seiner Vorstellung von Welt. Dieses Vergleichen des Außen mit sich selbst bedarf einer hohen Kompetenz des Kindes. Gleichzeitig mit der Aus-einander-setzung wächst das eigene Erkennen über sich selbst.

Glasersfeld spricht davon, daß das Kind in die Lage kommt, "sein eigenes subjektives Handeln und Denken einem anderen zu 'unterschieben'". (Gumin 1985, 22) Diese Fähigkeit beruht unter anderem auf dem Wunsch jedes Menschen nach Sicherheit. Sicherheit ergibt sich daraus, daß man immer wieder bemüht ist, eine kohärente (zusammenhängende) und stimmige Weltsicht zu erschaffen. Maturana/Varela (1987) zeigen, daß dieses Streben nach Struktur - und Sicherheit ist nichts anderes als ein strukturbildender Prozess - einem biologischen Grundsatz entspricht. Man baut sich ein Modell von Welt auf mit vielen Kategorien, die immer wieder bestätigt, verändert und erweitert werden. Die eigene Struktur des Menschen ordnet und organisiert die Erlebnisse in sich selbst. Die Benennung der Kategorien werden mit den kulturellen und sprachlichen Ausdrücken der näheren Umgebung übernommen.

Für eine gefestigte (harte oder "objektive") Erkenntnis von Welt ist, neben der Wiederholung einer persönlichen Erfahrung, ganz wesentlich "die Bestätigung von Anderen durch sprachliche Interaktion und die erfolgreiche Interpretation der Handlungen anderer mit Hilfe eigener kognitiver Strukturen" (Gumin 1985, 23). Sprache bildet eine große Rolle in der Theorie des Konstruktivismus. Sie ist nicht als Austausch von Informationen oder gar Wissen zu sehen, sondern als Medium, das Wirklichkeit erschafft.

Ein kleines Experiment verdeutlicht die Bedeutung von Sprache. Schließen Sie jetzt die Augen, und denken Sie an das, was Sie gerade beschäftigt. - [ Unterbrechung ] - Sie werden feststellen, sie denken in Wörtern, in Sprache. Ohne dieses Werkzeug "Sprache" hätten sie keine Gedanken! In letzter Konsequenz wüßten sie nichts von ihrem Dasein, sie hätten kein Bewußtsein, weder von sich - noch von anderen Dingen.

Jeder Mensch macht mittels Sprache Unterscheidungen und damit Beschreibungen. Sprache ist Beschreibung von erzeugten Beschreibungen. Was heißt das? "Kommt alle her, wir gehen zu Tisch!" In diesem Satz verwende ich den Begriff "Tisch". Jede/r wird wissen, was damit gemeint ist und wahrscheinlich bei einem Fest der Aufforderung folgen. "Tisch" beinhaltet nun zwei Beschreibungen. Zum einen ist das Ding mit der Holzplatte und den vier "Beinen" gemeint, und zum anderen stecken in dem Wort "Tisch" Handlungen, die bei Tisch gewöhnlich gemacht werden. "Tisch" beschreibt und koordiniert die Handlung für die anderen Menschen, in diesem Falle das Festessen (vgl. Maturana/Varela 1987, 226). Wäre diese Beschreibung von "Tisch" für die anderen nicht existent, dann könnten kaum passende Handlungen vollzogen werden. Die zweite Schlußfolgerung lautet: Sprache wirkt innerhalb der menschlichen Gattung als handlungsrelevantes Element.

Konstruktivisten sehen den Erkenntnisprozeß des Menschen als ein in sich geschlossenes System, das sich nur selbst aufbaut und erweitert. Die Sprache, die von außen kommt (also von anderen Menschen gesprochen wird) hat keinen Informationsgehalt für den Hörenden, wenn nicht bereits die bestimmten Worte einschließlich ihrer Bedeutung vorhanden sind. Nur durch ihre eigenen Erkenntnisse können sie zu neuen Erkenntnissen gelangen. Kurz formuliert:

"[Ich kann] nicht steuern, wie meine Worte wirken: Jeder liest, was er oder sie liest, dafür trage ich keine Verantwortung! Nicht dieser Text legt fest, was Sie lesen, sondern Ihre Struktur, Ihre jeweilige Befindlichkeit. Dabei obliegt es jedoch allein mir, keinen Unsinn zu verzapfen, denn ich bin selbst verantwortlich für das, was ich schreibe - bloß bin ich nicht verantwortlich für das, was Sie lesen." (Maturana 1994, 36)

Selbstorganisation

Der Mensch ist ein sich selbst organisierendes System. Wie jedes andere lebende System, entwickelt er sich durch ständige Selbsterschaffung, Strukturveränderung, und Anpassung. Die genaue Bestimmung einer Entwicklungsrichtung ist nicht möglich. Daraus ergibt sich ein Leitprinzip für die pädagogische Praxis: Es gilt, den Kontext zu schaffen, der einem System erlaubt, seine eigene Gestaltung zu finden.

Ich stelle in diesem Kapitel die Theorie der Selbstorganisation vor. Sie ist Teil eines Konzeptes in den Sozialwissenschaften, und m. E. besonders wichtig für das Thema Entwicklung. Wenn in der Pädagogik auf die Frage von Entwicklung (aber auch Leben, Lernen, Behinderung) eingegangen wird, bedarf es der Offenlegung des zugrundeliegenden Weltbildes. Ein Weltbild kommt zustande, indem sich der Mensch, aufgrund seiner subjektiven Erfahrung, ein Bild von der Welt macht. Das Weltbild beeinflußt in hohem Maße die Art und Weise wie andere Menschen wahrgenommen werden und wie mit den anderen Menschen umgegangen wird. Es besteht ein sehr komplexer Zusammenhang von Weltbild, Menschenbild und Pädagogik, den ich hier aber nicht genauer aufzeichnen werde. Ich skizziere lediglich die Ansätze des Idealismus, Materialismus und Postrelativismus, weil sie m. E. die bedeutendsten Weltbilder der Geschichte und Gegenwart hervorgebracht haben. Als jüngste Denkrichtung muß sich der Postrelativismus erst (weiter-)entwickeln und behaupten. Inwieweit er eine annähernd ähnliche Bedeutung für die Wissenschaft erlangt, wie der Idealismus und der Materialismus, ist noch nicht abzusehen.

Idealismus

"Der Idealismus als philosophische Kategorie bezeichnet all jene philosophischen Positionen, die dem Denken oder einem geistigen Prinzip gegenüber der Materie und dem Sein Priorität zuschreiben" (Labica 1985, 505). Im Idealismus bestimmt das Bewußtsein das menschliche Sein. Die getrennte Existenz (Dualismus - Auffassung) von Leib und Seele wird erklärt mit dem Verweis auf eine selbständige, objektiv existierende Wesenheit (z. B. Gott), oder wie bei Descartes mehr nach der Seite der Vernunft ("cognito ergo sum" - " ich denke, also bin ich"). Die idealistische Philosophie bevorzugte vor allem die herrschenden Schichten, denn diese konnten z. B. durch die absolut gesetzte Idee eines "Gottesplans" ihre Machtstellung legitimieren. Gottesplan meint, daß Gott bestimmt hat, wer als Herr oder Knecht geboren wurde. Diese Idee überging die von Menschenhand hervorgerufene Unterdrückung.

Materialismus

"Der Materialsimus umfaßt alle Weltanschauungen und philosophischen Auffassungen, die im Gegensatz zum Idealismus davon ausgehen, daß die Materie gegenüber dem Bewußtsein das Primäre, das Grundlegende, das Bestimmende ist" (Buhr 1979, 203). Alles entstammt der Materie, auch die Ideenwelt des Menschen, und unterliegt einer Entwicklung. Indem das Bestehende durch den Blick auf die Vergangenheit dialektisch beschreib- und erklärbar wird, enthält die Zukunft die Möglichkeit zur Veränderung. Das gesellschaftliche Sein oder anders ausgedrückt die materielle Produktionsweise bestimmt das Bewußtsein des Menschen. Die massenhafte Verarmung und Ausbeutung der Arbeiterklasse während der Industrialisierung führte zu einem starken Aufschwung des Materialismus, besonders durch Marx und Engels. Die erfolgreiche Veränderung der Gesellschaft erstarrte allerdings bald in einer materialistischen Position, die auch schwere Verbrechen gegen die Demokratie rechtfertigte.

Postrelativismus

Der Postrelativismus entstand in diesem Jahrhundert aufgrund neuer Erkenntnisse in der Physik, Chemie und Biologie. Er entwickelte sich aus der Tradition des Materialismus. Die große Veränderung ergab sich mit der Entwicklung einer Physik der Moleküle, Atome und Elementarteilchen. Die moderne Technik macht es möglich, in einem mikroskopischen Bereich in der Größenordnung von 10 -15 cm und in Zeiten von 10 -22 sec zu forschen (vgl. Prigogine/Stengers 1993, 9). In der Quantentheorie (und ihren nachfolgenden Entdeckungen) kamen die Physiker zum Schluß, daß es keine Möglichkeit der exakten Beschreibung geben kann. Die Quanten als Elementarteilchen der Natur haben die Eigenschaft, sowohl Welle als auch Teilchen zu sein. Viele Physiker sind der Überzeugung, daß es nicht an der Begrenzung der Meßapparate liegt, sondern an der Eigenschaft des Beobachtbaren im Zusammenhang mit dem Beobachter. Heisenberg (1901 - 1976) formulierte in der Mikrophysik die "Unschärferelation", die besagt, daß die Messung das verändert, was gemessen werden soll (vgl. Personenlexikon 1990, 173). Prigogine (1979) hat aufgrund der Quantentheorie und im Zusammenhang mit der Theorie der Thermodynamik eine "Physik des Werdens" postuliert, die die "Physik des Seins" ablösen soll.

Der zentrale Grundgedanke dieser Arbeit über Entwicklung besteht darin, "daß die biologische Evolution nur in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der ihr vorausgehenden und sie hervorbringenden physikalischen und chemischen Evolution erfolgen kann und folglich auch der Versuch, zu analysieren und zu verstehen - so komplexe Prozesse wie Wahrnehmen, Denken und Bewußtsein eingeschlossen -, nur mittels Verständnisses dieser Gesetzmäßigkeiten erfolgen kann" (Feuser 1995, 85). Ich beschreibe im weiteren Verlauf einige Beispiele aus der Physik und Chemie, die auf den ersten Blick nichts mit der menschlichen Entwicklung zu tun haben. Aber wenn man diese fundamentale Regeln anerkennt, dann gelten sie auch für den Menschen.

System, Organisation und Struktur

Mit der Selbstorganisation ist der Begriff "System" verbunden. Ein "System" geht auf "das aus mehreren Teilen zusammengesetzte und gegliederte Ganze" zurück (Duden 1989, 730). Es bildet eine Einheit und ist unterscheidbar zu anderen Einheiten. Ihre jeweils spezifische Organisation und Struktur kennzeichnet das System (vgl. Maturana/Varela 1987, 54). Unter Organisation verstehen Maturana und Varela die Bestandteile und ihr Verhältnis zueinander. Die Struktur erfüllt den Zweck, den ein bestimmtes System zu dem macht, was es ist. Der Spülkasten eines Wasserklosetts z. B. ist ein System mit den Bestandteilen: Schwimmer, Wasserzuflußventil und Hebel. Wird nun der Hebel gedrückt und das Wasser im Spülkasten entleert, dann gibt der Schwimmer das Signal für das Zuflußventil und Wasser rinnt nach. Wenn der Spülkasten gefüllt ist, dann wird der Wasserzufluß gestoppt. Das System reguliert sich selbst mit Hilfe der Organisation und Struktur. Die Organisation des Spülkastens muß immer die gleiche bleiben, die Struktur kann sich unterscheiden. Es ist für das Funktionieren des System belanglos, ob die Einzelteile aus Kunststoff oder Holz bestehen. Dieses einfache mechanische Beispiel läßt sich auf kompliziertere Systeme in der Physik, Chemie und Biologie ebenfalls übertragen.

Selbstorganisierende Systeme finden sich in allen Bereichen der Welt. Ein Beispiel für ein selbstorganisierendes System ist die Belousov-Zhabotinskii-Reaktion (vgl. Feuser 1995, 111f). Diese chemische Reaktion ist in vieler Hinsicht interessant. Durch Erwärmen der Flüssigkeit (= Energiezufuhr = Störung eines im Gleichgewicht befindlichen Systems) entstehen spontan verschiedenste Strukturen in Form von winzigen Kreisen und Farbveränderungen. Nach der Erwärmung erfolgt entweder eine gleichmäßig wechselnde Farbänderung von Weiß-Rot-Weiß-Blau oder Weiß-Blau-Weiß-Rot. Wie die Reaktion beginnt, ist nicht vorherzubestimmen, allein man weiß um diese Mehrfachlösungen. Das Wechseln (Oszillieren) der Farben stellt die strukturbildende Integration der Störung dar. Weil diese Veränderung nicht willkürlich erscheint, muß der Reaktion eine Art von "Gedächtnis" innewohnen. Dieses eigentümliche Gedächtnis "erinnert" sich nicht nur an das letzte Ereignis, sondern geht zurück an den Anfang. Hätte die chemische Reaktion immer nur die letzte Farbe in Erinnerung, wüßte sie nicht die Ordnung einzuhalten. Nach der Farbe Weiß kann Rot, aber auch die Farbe Blau auftreten. Erst durch Betrachten des Anfangszyklus wird kenntlich, welche Farbe nach Weiß auftreten muß. Anders ausgedrückt zeigt die BZR zu Beginn einen Zustand der Ordnung, durch Energiezufuhr kommt das gesamte System aus dem Gleichgewicht in ein Chaos. In diesem Ungleichgewicht wird die Störung strukturbildend integriert, daraus entsteht für das System eine neue Form der Ordnung.

Ein weitere Feststellung ist zu treffen: Damit die Ordnung möglich wird, müssen die einzelnen Moleküle ihre Identität gleichzeitig verändern - sonst könnte für den Beobachter keine einheitliche Farbe erkannt werden. Es ist ein Mechanismus von "Kommunikation" notwendig (vgl. Prigogine 1993, 22). Die Moleküle kommunizieren untereinander, ohne daß man genau weiß, wie das funktioniert. Diese Kommunikation ist nur unter gleichgewichtsfernen Bedingungen beobachtbar. In homogenen Systemen braucht es diese Abstimmung nicht, weil sie von vornherein gegeben ist. Prigogine/Stengers (1993, 23) sprechen von einem "vorbiologischen Anpassungsmechanismus". Die Eigenschaft der Anpassung eines Systems findet sich also nicht nur in der Biologie wieder. Die Anpassung ist deshalb keine ausschließliche Qualität des biologischen Systems, sondern kommt bereits eine Stufe davor in chemischen Systemen vor. Diese Leistung kommt durch die Integration der äußeren Bedingung (der Erwärmung) zustande. Die Struktur, die sich gerade erst neu gebildet hat, verändert sich in Richtung einer Ordnung.

Chaos und Zeit

Ordnung und Chaos sind eng miteinander verbunden. Nach der Chaostheorie (vgl. Ravn 1995, 25) kann jede Ordnung bei einem kritischen Zeitpunkt in Chaos umschlagen und, umgekehrt, Chaos in Ordnung. Die Bedingungen dafür sind vielfach unbekannt, doch werden beide Prozesse für die Vielfalt und Formen der Welt verantwortlich gemacht. Eine der ersten Erkenntnisse der Chaostheorie war, daß kleinste Veränderungen zu großen Auswirkungen führen können. Diese Auswirkung nannte der Meteorologe Edward Lorenz "Schmetterlingseffekt" (vgl. Ravn 1995, 201). Er erklärte, daß bereits der Flügelschlag eines Schmetterlings ausreiche, um in einer langen Reihe von Transformationen an einem anderen Ort einen Orkan auszulösen.

In der Chaostheorie spricht man auch von einem "deterministischen Chaos". Damit meint man ein System, das unregelmäßigen bzw. chaotischen Verhältnissen unterworfen ist, obwohl eindeutige Regeln das System beschreiben. Ein Beispiel aus dem Alltag ist die Teigknetmaschine. Obwohl die Bewegung der Maschine immer gleich abläuft, bewegen sich die Teile im Teig (z. B. ein Zuckerbrösel) unbestimmbar. Es ist nicht vorherzusagen, welche Bahnen ein bestimmtes Teilchen einschlagen wird. Chaotische Systeme sind "im Sinne von Berechnung irreduzibel (nicht verkürzbar) - es gibt keinen kürzeren Weg, Informationen über das System zu erhalten, als den, es sich selbst entwickeln zu lassen" (Ravn 1995, 26).

Eine Konsequenz aus der Chaostheorie ist das Aufheben von Vorhersagbarkeit und Determinismus (Bestimmbarkeit). Diese These wird durch die Quantentheorie, einen neuen Zeitbegriff und die Erkenntnisse in der Thermodynamik gestützt. In der klassischen Mechanik (bzw. Physik) bestand die Auffassung, daß nur deterministische Gesetze über die Beschreibung der Natur akzeptiert werden können, alles andere war unzulänglich, falsch oder einfach nicht wissenschaftlich. Eindeutige Gesetze bedurften allerdings einer starken Vereinfachung der Natur. Heute hat sich das Interesse verlagert auf die Komplexität der Natur. Der Zufall und die Unbestimmtheit wird in die Forschung miteinbezogen, z. B. in Form von Wahrscheinlichkeitsberechnungen.

"Zeit" ist ein besonderes Phänomen. Spätestens seit Einstein (vgl. Hermann 1994) taucht der Zeitbegriff nicht mehr in einer einheitlichen Definition auf. Zeit ist untrennbar mit Bewegung verbunden. Sie entsteht nur, wo sich etwas bewegt und umgekehrt: Bewegung produziert Zeit, ein Vorher und Nachher.

Zeit taucht in vielen Bedeutungen auf, Vier davon möchte ich kurz hervorheben:

A) Zeit als lineare Bewegung: Diese Definition gilt als die klassische Beschreibung von Zeit in der mechanischen Physik. Ein reibungsloses Pendel ist ein System, dessen Schwingung genau beschrieben werden kann. Durch eine klare mathematische Formel kann man den exakten Zustand in der Vergangenheit bestimmen oder auf die Zukunft schließen. Das ganze System ist reversibel. Vergangenheit und Zukunft sind umkehrbar, bestimmbar. Die Mondlaufbahn (vereinfacht ausgedrückt) ist eine anderes Beispiel für die Vorhersagbarkeit bzw. Bestimmbarkeit. Der Kalender zeigt klar und eindeutig, wann sich Vollmond und Neumond ergeben.

B) Zeit in der Thermodynamik: Mit dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik (Wärmelehre) ist die Zeit nicht mehr umkehrbar, sie ist irreversibel. Dieser Hauptsatz besagt, daß in einem geschlossenen System die Unordnung (Entropie) steigt (vgl. Ravn 1995, 49). Gerade diese Unordnung macht eine lineare Rückführung der Zeit unmöglich. Das Verhalten des Systems wird zu komplex, als daß ein längerfristiges Vorher und Nachher bestimmt werden könnte. Die Gesetze der Thermodynamik sind vielschichtig. Um das Beschriebene zu verdeutlichen, gibt es folgendes Experiment: "Denken Sie an kleine Bälle [Gasmoleküle in einem kleinen Behälter], die sich gegenseitig anstoßen und von der Wand abprallen. In der Mitte des Behälters gibt es einen Schieber. Die Hälfte der Box (auf der einen Seite der Trennwand) ist mit Sauerstoffmolekülen gefüllt, die andere Häfte mit Stickstoffmolekülen. Wenn man den Schieber hochzieht, beginnen sich Sauerstoff und Sticksoff zu vermengen. Bald wird in beiden Hälften eine fast gleichmäßige Molekülenmischung sein - und damit ein weniger geordneter Zustand im Vergleich zu vorher, als die Trennwand noch vorhanden war. Die Entropie, die Unordnung, hat sich erhöht" (Ferguson 1993, 92). Die Komplexität des gesamten Vorgangs läßt keine zeitliche Rückführung zu. Obwohl der gesamte Prozeß aus vollständig reversiblen Einzelprozessen besteht, ist, im Ganzen betrachtet, eine Umkehrung zurück zur Ausgangslage nicht mehr möglich. Cramer (1993, 47) schreibt in diesem Zusammenhang: "Der Übergang von einem geordneten in einen ungeordneten Zustand ist die Quelle der Irreversibilität."

C) Zeit als lebensgeschichtlicher Prozeß: In diesem Zusammenhang bekommt die Zeit eine Bedeutung, die sich in der individuellen Biographie des Einzelnen niederschlägt. Die Zeit als Prozeß verweist auf etwas, das noch nicht abgeschlossen ist. Dadurch wird die Zukunft und das Werden wichtig. Systeme in der Physik, Chemie und gerade in der Biologie treffen - hin und wieder - auf Verzweigungspunkte. Die Bifurkation (lat. bi: zwei + furca: Gabel) ist ein entscheidender Einschnitt und ergibt sich an einem Punkt, bei dem ein stabiler Zustand in einen kritischen Zustand übergeht (vgl. Ravn 1995, 19). Das Ausmaß und die Bewertung des kritischen Zustands ist individuell verschieden. Angenommen ein schwerer Autounfall (Bifurkationspunkt) führt dazu, daß der Mensch danach einen Rollstuhl benützt. Das stabile System "Mensch" (vor dem Unfall) beschreitet durch den Unfall (Bifurkationspunkt = kritischer Zustand) einen neuen Lebensweg, der durch die neuen Bedingungen geprägt ist (von zwei Wegen wurde einer unumkehrbar eingeschlagen). Das Angewiesensein auf den Rollstuhl sagt nichts darüber aus, was alles für den Menschen noch möglich sein kann. Er kann aufgrund seiner jetzigen Bedingungen nicht mehr dasselbe werden wie vorher, aber trotzdem auf anderen Wegen, durch weitere Bifurkationspunkte, zu einem ähnlich hohen Niveau aufsteigen, wie vor dem Unfall. Wollte der betroffene Mensch ein Tänzer werden, wird es durch seine Lähmung im klassischen Sinn nicht möglich sein. Unter Einbeziehung der Behinderung und deren Umsetzung in eine neue Form ist der Wunsch, Tänzer zu werden, durchaus realistisch (z. B. ist innerhalb der Tanzbewegung "Danceability" Emery Blackwell sehr bekannt, der aufgrund seiner spastischer Lähmung den Rollstuhl benützt). Der Zeitbegriff, auf die Biographie eines Menschen angewendet, ist unumkehrbar.

D) Zeit als Eigenzeit: Jeder Mensch, jedes offene und sich in Bewegung befindliche System hat eine ihm spezifische Eigenzeit. Zeit untergliedert die inneren Prozesse, d. h. Zeit übernimmt die Funktion des Strukturierens. Erst durch die Struktur wird Entwicklung möglich. Weil kein lebendes System ohne Struktur existieren kann, ist Zeit lebensbestimmend. Das Erkennen der verschiedenen Eigenzeiten und das in-Verhältnis-setzen zueinander bildet die Grundlage für ein gemeinsames menschliches Verständnis. Einstein entwickelte durch die Zeitdilatation (Zeitausdehnung) ein Drei-Zeiten-Modell, das in der Pädagogik durch Analogiebildung große Erklärungsmöglichkeit bietet (vgl. Feuser 1995, 94ff). Dabei geht es um eine intrinsische System-Eigen-Zeit (= meine Zeit), eine extrinsische System-Eigen-Zeit (= Zeit des Anderen) und um eine Verhältniszeit. Um sich begegnen zu können, muß man die verschiedenen Zeiten synchronisieren. In der Raumfahrt z. B. können zwei unterschiedlich schnell bewegende Raumschiffe nur dann in Kontakt treten, wenn sie sich auf eine Synchronzeit (Verhältniszeit) einigen. Begegnung bzw. Dialog zweier Menschen ist nur dann möglich, wenn sie sich aufeinander abstimmen. Alles andere bleibt erfolglos.

Lebende Systeme - Autopoiese

Die Selbstorganisation im Zusammenhang mit lebenden Systemen wurde durch Maturana und Varela (1987) grundlegend bestimmt. Sie definieren Lebewesen als Einheiten, die sich immer wieder selbst erzeugen (vgl. Maturana/Varela 1987, 50). Die Biologen gaben diesem Prozeß der Selbsterschaffung und damit Selbsterhaltung den Namen "Autopoiese" (griech. autos = selbst; poiein = machen).

Jedes Lebewesen gilt demzufolge als System, das ständig aktiv damit beschäftigt ist, zu (über-) leben. Leben (Selbsterschaffung) bedeutet Entwicklung. Diese Entwicklung erfolgt durch Strukturveränderungen innerhalb des jeweiligen Systems. Nur das System selbst kann den Wandel der Strukturen durchführen. In diesem Sinn bildet es eine geschlossene Einheit; Maturana und Varela (1987) bezeichnen das als "operationale Geschlossenheit". Jedes lebende System ist autonom. Autonom kommt vom Wortursprung aus dem griechischen und meint "nach eigenen Gesetzen lebend" (Duden 1989, 96). Weil es sich durch seine autonome Struktur bestimmt, ist es - anders ausgedrückt - strukturdeterminiert. Die Veränderung der Struktur geschieht ständig, und solange die Organisation aufrecht bleibt, lebt das System als solches. Der Antrieb der Strukturveränderung ergibt sich durch eine Form der Störung[1] durch das umgebende Milieu. Die Strukturveränderung wird nicht durch das Milieu verursacht (das würde der operationalen Geschlossenheit widersprechen), sondern lediglich durch sie ausgelöst. Aufgrund der eigenen Dynamik des Systems entstehen neue Verbindungen der Strukturen. Diese neuen Strukturen führen zu weiteren Strukturen usf - Entwicklung erfolgt, und sie erfolgt immer gegenseitig. Indem sich ein System entwickelt, beeinflußt diese Entwicklung das umliegende Milieu, das sich deshalb wiederum entwickelt ... Entwicklung ist immer Ko-Entwicklung, das gilt für Einzelne genauso wie für die Evolution. Evolution ist immer Ko-Evolution (vgl. Maturana/Varela 1987).

Abb. 2: Strukturkoppelung des selbstorganisierenden Systems Mensch (Feuser 1996, 8)

Diese biologische Erkenntnis von Strukturdeterminiertheit und Entwicklung läßt sich im pädagogischen Bereich nützen, z. B. in Form eines veränderten Lernmodells. Das Kind gilt nicht mehr als ein Objekt, das 1 : 1 aufzunehmen hat, was ihm vorgegeben wird. Das ist, wie oben beschrieben, gar nicht möglich. Vielmehr wirkt das Aufgenommene als Auslöser neuer Strukturverbindungen. Diese neue Zusammensetzung bestimmt das Wissen des Kindes. Es ist nicht die Information des Lehrers, sondern es ist die eigene, aktive Fähigkeit des Kindes, Neues zu erzeugen. Gleichzeitig ist der Lehrer nicht mehr die Person, die alles wissen muß, um optimale Lernentwicklung zu ermöglichen, sondern er kann sich mit dem Kind auf den Weg machen. Im gegenseitigen Austausch entwickeln sich Schüler und Lehrer gemeinsam.

Wenn Entwicklung immer eine Ko-Entwicklung, einen wechselseitigen, sich steigernden Vorgang darstellt, dann läßt sich eine weitere Konsequenz ableiten. Je vielfältiger (heterogener) das Umfeld, um so größer ist die Möglichkeit zur Entwicklung. Umgekehrt heißt das: Je einheitlicher (homogener) das Umfeld, um so geringer ist die Möglichkeit zur Entwicklung. Die Auswirkung dieser Aussage ist gesellschaftspolitisch brisant. Die Schule müßte sich komplett umstellen auf heterogene Gruppen. Die Integration von (sogenannten) behinderten Kindern wäre eine Selbstverständlichkeit. Heime und Krankenhäuser müßten anders gebaut werden, Gefängnisse und Betriebe müßten ihre Konzepte überarbeiten, und es gibt genügend andere Bereiche, in denen eine Umdenken erforderlich wäre.

Ich möchte noch einmal zurück zur Integration von Störungen. Um sich entwickeln zu können, ist für das lebende System die Integration der Störung notwendig. Störungen treten allerdings in verschiedenen Formen auf. Je nachdem wie die Störung vom System gesehen wird, sind die Auswirkungen unterschiedlich. Eine Störung kann

a) zu gering sein, als daß sie irgendwelche Veränderungen auslöste. Das ist auf längere Sicht gefährlich, weil kein Antrieb zur Strukturveränderung erfolgt. Das kann den Tod des lebenden Systems bedeuten.

b) zu stark sein. Das lebende System bricht auseinander, was ebenfalls dem Tod des Systems gleichkommen kann.

c) zu Strukturveränderung und damit zu Entwicklung führen. Solange ein System lebt, integriert es Störungen. Das ist ein notwendiger Anpassungsmechanismus, der Leben garantiert.

In "Der Baum der Erkenntnis - Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens" haben Maturana und Varela (1987) die Erkenntnisse der Autopoiese, Strukturdeterminiertheit und Anpassung zuerst an einfachsten Lebewesen aufgezeigt. Danach beschrieben sie die komplexeren, lebenden Systeme (Metazeller, Tiere und Menschen). Überall finden wir die gleichen, primären Grundlagen des Lebens.

Feuser (1995, 1996) hat in seinen Arbeiten immer wieder darauf hingewiesen, daß Krankheit oder Behinderung einer ganz bestimmten Entwicklungslogik folgen. Die betroffene, lebende Person besitzt die biologische Kompetenz zur Integration der Störung. Aufgrund ihrer Ausgangs- und Randbedingungen (aufgrund ihrer inneren Struktur und ihrem äußeren Milieu) ist die Anpassung an das Leben eben "nur" unter ihrer spezifischen Ausprägung möglich. "Nur" steht deshalb unter Anführungszeichen, weil wir als Außenstehende diese Erklärung abgeben. Wir definieren und beurteilen, was gut oder schlecht, gesund oder krank ist. In diesem Verhalten übersehen wir völlig, daß wir eigentlich gar keinen Orientierungsmaßstab haben, außer den des (Über-)Lebens. Der beschriebenen Entwicklungslogik folgend ist Gesundheit genau so "normal" wie Krankheit.

Schlußfolgerung

In den Naturwissenschaften Physik, Chemie und Biologie gibt es erstaunliche Beobachtungen, die grundlegend für eine neue Sichtweise der Welt sind. Der Mensch, der sich aus diesen Bausteinen zusammensetzt, kann nicht unabhängig davon betrachtet werden. Er ist auf jeder Stufe mit diesen Eigenschaften ausgestattet.

Obwohl mich heute dieses Wissen fasziniert, bleibt klar, daß sich alles wieder verändern wird. So wie sich die Struktur eines lebenden Systems ständig ändern muß, so muß sich auch dieses Wissen ständig verändern - das bedeutet Entwicklung.

"Die Entdeckung der Komplexität ist vor allem eine Herausforderung. Sie erinnert uns daran, daß unsere Wissenschaften noch immer in ihren bewegten, bisweilen aber auch dogmatischen Anfängen stecken. Heute erkennen wir langsam, was eine innerlich aktive Welt bedeutet, und damit begreifen wir allmählich, wie unwissend wir noch immer sind. Doch diese Komplexität, die wir jetzt entdecken, berechtigt uns auch zu Hoffnungen. Jenseits der falschen Klassifikationen, der Verbote, der kulturellen, politischen und ökonomischen Zwänge stehend, gibt es für die Wissenschaften theoretisch nur eine Grenze: die der menschlichen Kreativität. Die Wissenschaften liefern keinen unerbittlichen Zwang, dem wir uns zu unterwerfen hätten, sondern nur Zwänge, die einen Sinn hervorbringen, den wir unaufhörlich erschaffen und den wir so erschaffen sollten, daß wir nicht gegen die Wissenschaften, sondern mit ihnen die neuen Wege des Dialogs zwischen den Menschen und der von ihnen bewohnten Welt bauen" (Prigogine/Stengers 1993, 310).



[1] Maturana und Varela nennen diese Form der Störung "perturbación". Perturbation meint eine "Zustandsveränderung in der Struktur eines Systems, die von Zuständen in dessen Umfeld ausgelöst werden" (1987, 27).

Dialog

Entwicklung verlangt und erfordert den Dialog. Sowohl biologische als auch philosophische Konzepte kommen zu diesem Schluß. Der Mensch entwickelt sich im Spiegel des Dialogpartners. Um sich optimal entwickeln zu können braucht der Mensch viele (quantitative) und besondere (qualitative) Dialogmöglichkeiten.

Der Dialog, wie ich ihn verstehe, ist eine spezifisch menschliche Fähigkeit der Kommunikation und meint primär eine Beziehungsform. Die Dialogpartner tauschen sich in vielfältigster Form aus. Sie befinden sich dabei in einem raum-zeitlichen Bezugssystem und erleben sich gegenseitig. Der Dialog hat im Vergleich zur Kommunikation und Interaktion eine besondere Beziehungsqualität. Bei der Interaktion handelt es sich ebenfalls um einen Austauschprozeß, jedoch existiert nicht zwingend der qualitative Beziehungsaspekt, wie z. B. bei der Kommunikation. Ich kann mit anderen kommunizieren durch Austausch von Zeichen (verbal, non-verbal, mittels Schrift, Bilder, ...), aber um die Kommunikation zum Dialog werden zu lassen, braucht es eine bestimmte Beziehungsqualität. Die Beziehung kann sich unterschiedlich gestalten. Primär beinhaltet sie ein Vertrauen gegenüber dem Dialogpartner. Bereits der Säugling bringt dieses (Ur-)Vertrauen seiner Bezugsperson entgegen, wenn er in seinem Erkundungsverhalten nicht enttäuscht wird. Seine Aktionen und Reaktionen sind nicht nur Interaktionsformen, sondern bereits das Dialogangebot an die Bezugsperson. Im Wahrnehmen des Angebots entwickeln sich beide Dialogpartner.

In diesem Kapitel zeige ich den Zusammenhang von Dialog und Entwicklung auf. Anfangs nehme ich Bezug auf naturwissenschaftliche Grundlagen, wie sie von Feuser (1994) und Spitz (1988) ausgearbeitet wurden, dann argumentiere ich mit Hilfe von geisteswissenschaftlichen (philosophischen) Einsichten. Es erscheint mir besonders wichtig im Bereich menschlicher Entwicklung, neben den "harten" Wissenschaftsdisziplinen, eine ergänzende "Weisheit" einzubinden. Buber (1994) hat dazu m. E. Beachtliches beigetragen.

Verschiedene Dimensionen

Der Mensch kann nur als eine Einheit aus Biologischem, Psychischem und Sozialem betrachtet werden. Er hat einen Körper, mit dem er wahrnimmt, empfindet, denkt und handelt. Durch diese Kompetenz kann er mit anderen in Beziehung treten, d. h. sich sozial verhalten. Die Gesamtheit des Biologisch-psycho-sozialen charakterisiert das menschliche Leben. Ihre Beziehung zueinander folgt einer hierarchischen Ordnung. Die jeweils höhere Ebene bleibt die führende, solange keine Beeinträchtigung vorhanden ist. Mit ihren spezifischen "Eigenschaften" erfüllt sie die für das Leben erforderlichen Aufgaben. In dieser Modellvorstellung der Ebenen darf nicht übersehen werden, daß die führende Ebene nur mit Hilfe der darunterliegenden Ebene existiert. Als Einheit von Biologischem und Psychisch-Sozialem repräsentiert sich eine Eigenschaft nicht nur auf der obersten (sozialen) Ebene, sondern immer auch in der untersten (biologischen Ebene), allerdings in einer anderen Form. Die beeinträchtigte Ebene bleibt, auch wenn ihre Eigenschaften in der gewohnten Weise nicht mehr beobachtbar sind, wichtig für die Funktion des System-Ganzen. Es gilt zu beachten, daß die Einheit des Menschen nie geteilt werden kann, und die Trennung in drei Ebenen nur ein theoretisches Hilfskonstrukt darstellt. Die Gesamtheit des Systems bildet den Möglichkeitsraum des Menschen. Der Möglichkeitsraum ist eingebettet in ein raum-zeitliches Kontinuum.

Feuser (1995) arbeitet mit Menschen, die auf der psycho-sozialen Ebene verstummt sind. Auf der Intensivstation mit einem komatösen Patienten zu sprechen erscheint sinnlos. Er gibt keine Antwort im üblichen Sinn. Dennoch: bei genauem Blick existiert sie auch in diesem Bereich. Selbst der Schwerstkranke (-verletzte, -behinderte) gibt Antwort, reagiert; allerdings können wir in diesem Zustand nur auf der biologischen Ebene Äußerungen wahrnehmen, z. B. durch den Ausschlag der Herzfrequenzkurve, die Linien der Gehirnströme oder der unterschiedliche Spannungszustand der Haut. Diese Äußerungen sinnvoll interpretiert, ermöglichen es, einen Dialog mit dem Patienten aufzubauen.

"In schweren Fällen der Beeinträchtigung, denken wir z. B. an eine schwere Hirnschädigung (z. B. Koma, apallisches Syndrom), kann die psycho-soziale Ebene in ihrer führenden Rolle blockiert sein bzw. diese partiell auch eingebüßt werden. Dann wird die biologische Ebene verstärkt in die führende Rolle der Selbstorganisation des Systems einbezogen. Solange der betreffende Mensch lebt - und sei es mit Hilfe apparativer Unterstützung -, realisiert nun diese Ebene in Kooperation mit den noch möglichen Funktionen der anderen Ebenen auf ihre Weiseund mit ihren Mitteln (!) alle Funktionen, die für die Aufrechterhaltung der Lebensprozesse unter den eingetretenen, neuen 'Rand'-Bedingungen erforderlich sind; ... Systemeigenschaften, die für das 'Leben' grundlegend sind, wesentlich die zur Führung des 'Dialogs' mit der Umwelt, treten auf jeder Ebene auf, haben aber auf jeder Ebene sozusagen ihr eigenes Gesicht. Oder: Eine dominant auf der psycho-sozialen Ebene erforschte und entsprechend begrifflich gefaßte Systemkomponente tritt auf der biologischen Ebene in völlig anderer Weise in Erscheinung, leistet aber auf dieser in gleicher Weise wie auf höherer Systemebene die für das gesamte System unter seinen Randbedingungen fundamental bedeutsame Funktion des Dialogs" (Feuser 1995, 90; 92).

Aufgabe des Dialogpartners (Arzt, Therapeut, Pädagoge) ist es, den Schlüssel zum richtigen Verständnis der Äußerungen zu suchen. Der zu knackende Code ist individuell verschieden; er ist begründet im Lebenszusammenhang und in der Biographie des betroffenen Menschen. Nicht das Unvermögen des Patienten gilt es zu analysieren (es ist nicht sein Unvermögen, sondern seine besondere Fähigkeit in diesem Zustand zu kommunizieren), sondern das Unvermögen des Dialogpartner, ihn zu verstehen. Die eigene Begrenztheit des Verstehens darf nicht zur Begrenztheit des Patienten werden. Feuser weist auf diesen Mechanismus hin (vgl. Feuser 1995, 86).

Funktionen des Dialogs

Spitz (1988, 61ff) untersuchte in den 50er Jahren die "Evolution des Dialogs" und stellte fest, daß die Säuglinge unbelebte Nachbildungen von echten Gesichtern wahrscheinlich durch die Gegenseitigkeit unterscheiden lernen. Bei unbelebten Nachbildungen fehlt die unsichtbare Verbindung zwischen den Betreffenden, es fehlt die Beziehungs- und Bindungsqualität. Selbst wenn von der Nachbildung eine mechanische Reaktion ausgesandt wurde, genügte das nicht, um die Lächelreaktion auszulösen. Spitz erkannte, daß der Dialog einen wechselseitig stimulierender Rückkoppelungsprozeß darstellt, bei dem die emotionale Seite eine große Rolle spielt. Der Dialog ist subjektiv sinngebend und durch den Bindungs- bzw. Beziehungsaspekt wichtig für die gesunde Entwicklung des Kindes.

"Es ist ein Dialog des Tuns und Reagierens, der in Form eines Kreisprozesses innerhalb der [Mutter-Kind] Dyade vor sich geht, als fortgesetzter, wechselseitig stimulierender Rückkoppelungsstromkreis. Um den Puristen unter meinen Lesern entgegenzukommen, bin ich bereit, diese Interaktion einen Vorläufer des Dialogs, eine archaische Form des Gesprächs zu nennen. Denn ich gebe zu, daß es fast einer Simplifizierung gleichkäme, schon von 'Aktion und Reaktion' zu sprechen. Es kommt ja noch das Emotionale hinzu (...).

Das ist aber kein repetitiver [wiederholender] Prozeß. Im Gegenteil, die psychische Reaktionen, die in der Mutter durch die Initiative des Kindes und die beim Kinde durch das ausgelöste Verhalten der Mutter erzeugt werden, bewirken immer neue Konstellationen von zunehmender Komplexität. Bekanntlich sind es Konstellationen und Strukturen, die sich aus der Energieverschiebung ergeben. Jeder dieser Kreisprozesse mündet in irgendeine Befriedigung oder Versagung und hört dann auf. Es bleiben jedoch Spuren davon in der Psyche und im Gedächtnis beider Partner erhalten. Diese Spuren modifizieren dann den nächsten Kreisprozeß schon zu Beginn in der Form, dem Ablauf oder dem Ziel, das er erstrebt, so daß der Dialog dauernd an Komplexität gewinnt" (Spitz 1988, 14).

Die bedeutenden Funktionen des Dialogs für den Menschen lassen sich gar nicht zu hoch einschätzen. Der Dialog führt zu "Befriedigung und Versagung, Libido und Aggression" (Spitz 1988, 15); er wird notwendig für die Entwicklung einer eigenen Identität. Als Arzt und Psychoanalytiker bedient sich Spitz der Terminologie dieser Disziplinen. Er ist überzeugt, daß über den Dialog der libidinöse und aggressive Trieb[2] sowie das Angstpotential in ein erträgliches Maß verwandelt werden. Der Dialog gilt zuerst einmal in der Mutter-Kind-Dyade als lustvolles Erlebnis. Weiters wird mit Hilfe des Dialogs die Angst vor der eigenen (zerstörerischen) Aggression vermindert bzw. umgewandelt in eine Vielfalt von Formen, die sich für die die kindliche Ich-Integrität nicht bedrohlich auswirken. Diese Aggressionsumwandlung erfolgt dadurch, daß die Mutter keine uneingeschränkte Abfuhr von Aggression erlaubt (im Gegensatz zu einem unbelebten Objekt). Die Restriktionen der Mutter geben dem Kind die Möglichkeit, "den Trieb in einer sozial annehmbaren Weise abzuführen". Sie hilft dem Kind durch einen fortlaufend geführten Dialog zudem, "den Triebdruck zu reduzieren, so daß das Kind lernt, sich gegen angsterweckende Situationen zu schützen". Der Dialog ist also ein Mittel der Triebbefriedigung. Zugleich durch die sozial angemessene Triebabfuhr werden Versagung, Hilflosigkeit und Angst vermindert (vgl. Spitz 1988, 22; 75).

Die Funktion des Dialogs ist neben der Lebenserhaltung, "der Beitrag der Umwelt zu Entstehung, Entwicklung und schließlich Festigung von Ich, Selbst, Charakter und Persönlichkeit. Kann man mehr verlangen?" (Spitz 1988, 22). Dort wo der Dialog nicht ermöglicht wird, entstehen schwere pathologische Erscheinungsformen, die bis zum Tod führen können. Formen davon sind z. B. Stereotypien und selbstverletzende Verhaltensweisen.

Entgleister Dialog

Die Bedeutung und Folgewirkungen des Dialogs lassen sich positiv, aber auch negativ feststellen. In den frühen Arbeiten von Spitz (1945, 1946) untersucht er den "Hospitalismus" in verschiedenen Säuglingsheimen. Die Ursache, dieser im Endstadium tödlichen Entwicklungsstörung liegt seiner Auffassung nach im nicht ausreichend vorhanden Dialog und dem damit verbundenen Liebesentzug (affect deprivation). Die Säuglinge weisen eine erhöhte Anfälligkeit für allgemeine Erkrankungen auf und haben Rückstände in der körperlichen und motorischen Entwicklung. Der "totale affektive Mangel" führt bis zum Marasmus, zu einem völligen geistig-körperlichen Kräfteverfall.

Doch gibt es auch ein "Zuviel" bzw. eine "emotionale Überforderung". Spitz (1988) ist der Auffassung, daß der Dialog aus kleineren Einheiten und Elementen ("Aktionszyklen") zusammengesetzt ist. Der Säugling bemüht sich, selbständig und auf seinem jeweiligen Niveau, diese Dialogteile für ihn sinnvoll zu einem Ganzen werden zu lassen. Wenn dieser "Ganzheitseffekt" nicht erfolgt, d. h. die Aktionszyklen ständig unterbrochen werden, kommt es zu Unlust, Frustration und Angst. Schritt für Schritt führt das zum Zusammenbruch der Kommunikation. Der Dialog entgleist.

Die Unterbrechung der Zyklen ergeben sich daraus, daß die primäre Bezugsperson ihre Aktion nicht zu Ende verfolgt, sondern irgendwann mit einer weiteren Aktion einsetzt. Das Kind, das auf die erste Aktion reagieren möchte, wird in seinem Vorhaben gehindert, weil bereits eine weitere Aktion erfolgt. Es kann nicht angemessen antworten; der notwendige Dialog wird unklar, Verwirrung entsteht.

Meist kommt hinzu, daß die Handlungen dieser primären Bezugsperson nicht den Bedürfnissen des Kindes entsprechen. Nach der Geburt bedarf es eines gewissen Einfühlungsvermögens der Bezugsperson, um mit dem Kind in einen Dialog treten zu können. Das Kind kann sich anfangs nicht in das Seelenleben des Anderen einfühlen. Dieses Nicht-einfühlen-können ist ein natürlicher Schutz des Neugeborenen gegen äußere Reize; er nimmt allmählich ab, und "zwar im Verhältnis der Entwicklung des Ichs, das die Aufgabe übernimmt, die Reize zu beurteilen und zu verarbeiten". Die Bezugsperson mit gutem Einfühlungsvermögen gibt eindeutige Signale an das Kind weiter. Widersprüchliche Signale führen das Kind in den Zustand der Verwirrung. Für das Kind wird der Dialog bedeutungslos, weil es keinen Sinn erkennen kann - der Dialog verliert sich, und die weitere Entwicklung wird negativ beeinflußt (vgl. Spitz 1988, 97).

Als weitere Beispiele von Dialogstörungen können Stereotypien (S) und selbstverletzenden Verhaltensweisen (SVV) angesehen werden. Feuser (1991, 1996) hat dazu eine Basistherapie entwickelt, die sich "Substituierende Dialogisch-Kommunikative Handlungstherapie" nennt, kurz SDKHT. Seiner Überzeugung nach entwickeln die Betroffenen S und SVV aufgrund hoher Isolation, verursacht durch eine schwere Störung des Dialogs. Die Betroffenen können aufgrund äußerer oder innerer Umstände keine kooperativen Prozesse mit anderen Menschen eingehen. Äußere Umstände liegen vielfach im Mangel an Möglichkeiten, z. B. durch Anstaltsunterbringung, mechanische oder medikamentöse Fixierung, restriktive Pädagogik- und Therapieformen; innere Umstände hängen u. a. mit Wahrnemungsstörungen zusammen, mit schwersten organischen und hirnorganischen und -physiologischen bzw. psychischen Beeinträchtigungen wie z. B. Autismus und Psychose. Mit einer schweren Dialogstörung verliert der Betroffene das menschliche Gegenüber. Der Andere ist nicht mehr als Spiegel seiner selbst vorhanden, der Betroffene kann sich im Anderen nicht mehr seiner eigenen Identität versichern. Das ist das Drama dieser Menschen. Der gestörte Austauschprozeß führt zur Isolierung; um aber sich selbst zu erkennen braucht er ein Gegenüber.

Austauschprozesse sind immer auch Informationsprozesse. Indem neue Informationen an den Menschen herankommen, werden innerhalb des Menschen Strukturbildungen ermöglicht. Anders ausgedrückt: Entwicklung und damit Leben wird notwendigerweise durch Informationszufuhr aus der Umwelt gesichert (vgl. Kapitel: Selbstorganisation). Menschen, bei denen der äußere Austauschprozeß nicht gewährleistet wird, finden S oder SVV, als eine Möglichkeit, sich selbst Informationen zukommen zu lassen. Das Schaukeln oder Schlagen auf den Kopf wird zur überlebenswichtigen Aufgabe. Jeder Schlag könnte dann heißen: "Ja, ich bin noch da ... !" Der Betroffene hat eine selbtsorganisierende interne Strukturbildung entwickelt. Unter seiner gegenwärtigen Situation, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und Randbedingungen, hat er eine Überlebensmöglichkeit gefunden.

"Bezogen auf die angeschnittenen Zusammenhänge sind aus der Sicht des inneren Beobachters unter den Bedingungen gestörter, zusammengebrochener oder verunmöglichter Kooperationsprozesse die diagnostizierten Behinderungen, Entwicklungsverläufe und psychischen Beeinträchtigungen entwicklungslogische Produkte der internen Strukturbildung auf der Basis eben dieser quantitativ wie qualitativ unzureichenden Austauschqualitäten. Mithin sind die resultierenden Handlungen nicht "Symptome", sondern, wie wir sehen werden, Kompetenzen, hoch zweckmäßig und intelligente Versuche der Sicherung der eigenen Existenz, auch wenn diese, wie im Falle schwerster SVV selbst den Tod bedingen können. Das ist kein Widerspruch, sondern Ausdruck von Lebensbedingungen, die Leben nur unter Zufügung solcher Verletzungen noch aufrechtzuerhalten erlauben, die selbst tödlich enden können" (GF-Vor/SDKHT-1; 2).

In der Basistherapie[3] geht es darum, dem Betroffenen ein angstfreies Gegenüber zu erwirken, und eine neue Lebensperspektive, einen neuen Lebensplan, zu ermöglichen. "In Ko-operation mit einem gemeinsamen Gegenstand", von dem und über dem sich Beziehung und Bindung anbahnt, entwickelt sich der Mensch "unter dem Aspekt, daß die kooperative Tätigkeit subjektiv Sinn macht". In der Basistherapie werden ungünstige Bindungsqualitäten ersetzt, gleichzeitig werden neue Beziehungsmöglichkeiten erarbeitet. Der Betroffene bleibt dabei stets aktiv handelndes Subjekt (vgl. GF-Vor/SDKHT-1).

Das dialogische Prinzip von Buber

Neben einem notwendigen quantitativen Beziehungsangebot unterstützt eine gute qualitative Beziehungsform die menschliche Entwicklung ganz wesentlich (z. B. verweisen viele humanistische Psychotherapieschulen darauf, daß weniger die Methode sondern die Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten den Ausgang einer Psychotherapie bestimmen). Martin Buber hat m. E. in seinen Arbeiten über den Dialog einen besonderen Beitrag zum qualitativen Aspekt der Beziehung geleistet, deshalb stelle ich seine Grundaussagen kurz vor. In seinem Hauptwerk "Ich und Du" (erstmals veröffentlicht 1923) beschreibt er die Grundworte "Ich-Du" und "Ich-Es". Diese Grundworte bilden jeweils eine Einheit. In jedem gesprochenen Ich ist das Du oder das Es mitgesprochen. Im "Ich-Du" eröffnet sich das dialogische Prinzip; im "Ich-Es" wird es verletzt.

"Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. - Alles wirkliche Leben ist Begegnung" (Buber 1994, 15). Das Grundwort "Ich-Du" wird mit dem ganzen Wesen gesprochen und stiftet die Welt der Beziehung. Das "Ich-Es" hingegen ist nur Etwas, ohne Beziehung. Buber geht es um die Ganzheitlichkeit des Menschen. Ganz bei der Sache sein können, sich ganz dem Anderen widmen können - das zählt zu seinem dialogisches Prinzip. Wer dem Anderen ungeteilt begegnet, erkennt durch ihn sich selbst. Wesentlich ist dabei der Zwischenraum zwischen seiner und meiner Person. Der Dialog bezeichnet, was zwischen Zweien ist.

Das Grundwort "Ich-Du" beschreibt die wirkliche Begegnung. Wenn ich einem Menschen wirklich begegne, dann werde ich zum ganzen Wesen. In der Gegenseitigkeit zum Anderen hin vollendet sich die Ganzwerdung. " Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du. (...) Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie; und das Gedächtnis selber verwandelt sich, da es aus der Einzelung in die Ganzheit stürzt. Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme" (ebd. 15). Die Ganzwerdung spielt sich nach Buber im "Zwischen" ab, sie ist unmittelbar, d. h. unsagbar, in der Beziehung zum Anderen aufgehoben.

"Ich werde am Du." Im Zusammenhang jeder Separierung von Menschen erhält diese Aussage des Religions- und Sozialphilosophen schweres Gewicht. Die Isolierung von kranken, behinderten oder anderen Menschen in Heimen, Krankenhausanstalten und Spezialabteilungen verhindert Begegnung bzw. schränkt diese drastisch ein. Wirkliche Begegnung macht den Menschen zum Menschen. Wo soll sie in einem isolierten Zimmer stattfinden, neben anderen beeinträchtigten Menschen?

Ich habe zu verdeutlichen versucht, daß die Disposition zum Dialog in jedem Menschen, unabhängig von seiner Beeinträchtigung vorhanden ist. Als pädagogisch-therapeutische Aufgabe muß höchste Vielfalt an Möglichkeiten zum Dialog geschaffen werden. Neben diesem quantitativen Aspekt beschreibt die Philosophie von Buber (1988) den qualitativen Aspekt des Dialogs. Dabei geht es ihm um die Qualität einer Beziehungsform, die sich nur im "Dazwischen" des Dialogs verwirklichen läßt.

Die besondere Qualität der "Ich-Du" Beziehung kann aus menschlicher Sich nicht dauerhaft erreicht werden. Das ist wichtig zu erkennen, um keiner Illusion hinterherzulaufen. Buber (1994) gibt mehrere Hinweise darauf, daß eine dialogische "Ich-Du"-Beziehung in seinem Sinn nur jeweils für kurze Zeit realisiert werden kann. Die Begegnung im "Ich-Du" ist alles Bedeutende im Leben und doch läßt sich nicht nur in ihr leben. "Das aber ist die erhabene Schwermut unsres Loses, daß jedes Du in unsrer Welt zum Es werden muß. So ausschließlich gegenwärtig es in der unmittelbaren Beziehung war; (...) Echte Anschauung ist kurz bemessen" (ebd. 20-21).

Das "Ich-Du" ist etwas Unmittelbares, das geschieht. Es ist nicht zu benennen, ein "Zwischen", das sich ergibt und wieder verliert. Der Spannungszustand muß in der "Entspannung der Es-Welt einkehren" (ebd. 14). Das "Ich-Du" ist für Buber die Begegnung in der "Gegenwart, das Gegenwartende und Gegenwährende" (ebd. 17). Das Grundwort "Ich-Es" hat keine Gegenwart, nur Vergangenheit, und ist von einer Vielheit von verschiedenen Inhalten umgeben. "Der Mensch, der eben noch einzig und unbeschaffen, nicht vorhanden, nur gegenwärtig, nicht erfahrbar, nur berührbar war, ist nun wieder ein Er oder eine Sie, eine Summe von Eigenschaften, ein figurhaftes Quantum geworden. Nun kann ich aus ihm wieder die Farbe seiner Haare, die seiner Rede, die seiner Güte holen; aber solang ich es kann, ist er mein Du nicht mehr und noch nicht wieder. (...) Das Es ist die Puppe, das Du der Falter. Nur daß es nicht immer Zustände sind, die einander reinlich ablösen, sondern oft ein in tiefer Zwiefalt wirr verschlungenes Geschehen" (ebd. 21).

Und am Ende des ersten Teils schreibt er: "In bloßer Gegenwart läßt sich nicht leben, sie würde einen aufzehren, wenn da nicht vorgesorgt wäre, daß sie rasch und gründlich überwunden wird. Aber in bloßer Vergangenheit läßt sich leben, ja nur in ihr läßt sich ein Leben einrichten. Man braucht nur jeden Augenblick mit Erfahren und Gebrauchen zu füllen, und er brennt nicht mehr.

Und in allem Ernst der Wahrheit, du: ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch" (ebd. 38).

Ausblicke

Die gesellschaftliche Tendenz von Ein-Personen-Haushalten und der ständig steigende Gebrauch von elektronischen Medien können zu dialogischen Defiziten führen, wenn nicht der Dialog aktiv gesucht wird bzw. neue Möglichkeitsräume für den Dialog geschaffen werden. Weniger Dialog bedeutet weniger Entwicklungsmöglichkeiten für den Menschen. Aber es kommt noch etwas dazu: Für mich besteht ein enger Zusammenhang im Dialogdefizit und einem Defizit im zwischenmenschlichen Bereich. Nur durch die bewußte Entscheidung, dialogische Beziehungsformen anzubieten, kann ich dieser Tendenz entgegentreten und zu einer menschenwürdigen Gesellschaft beitragen. Rousseau hat 1762 ein Plädoyer geschrieben, das nach wie vor gilt: "Menschen, seid menschlich, das ist eure vornehmste Aufgabe! Seid menschlich gegen jeden Stand, gegen jedes Alter, gegen jeden, der Menschenantlitz trägt. Welche Weisheit gibt es noch außer dieser Menschlichkeit?" (Rousseau 1991, 55)



[2] Trieb: Dynamischer, in einem Drang bestehender Prozeß (energetische Ladung, motorisches Moment), der den Organismus auf ein Ziel hinstreben läßt. Nach Freud ist die Quelle eines Triebes ein körperlicher Reiz (Spannungszustand); sein Ziel ist die Aufhebung des an der Triebquelle herrschenden Spannungszustandes; am Objekt oder dank diesem kann der Trieb sein Ziel erreichen.

Libido: Von Freud postulierte Energie als Substrat der Umwandlung des Sexualtriebs im Hinblick auf das Objekt (Verschiebung der Besetzungen), im Hinblick auf das Ziel (z. B. Sublimierung), im Hinblick auf die Quelle der sexuellen Erregung (Vielfalt der erogenen Zonen).

Aggression: Tendenz oder Gesamtheit von Tendenzen, die in realen oder phantasierten Verhaltensweisen aktualisiert werden und darauf abzielen, den anderen zu schädigen, ihn zu vernichten, zu zwingen, zu demütigen usw. (aus: Das Vokabular der Psychoanalyse; Laplanche/Pontalis 1991)

[3] Hier können nur einige Stichworte aufgegriffen werden. Im Gesamten ist die SDKHT ein hochkomplexes Arrangement, in dem der Betroffene und ein Team zusammen arbeiten. Detaillierte Kenntnisse über den Lebenszusammenhang und die Biographie sind ebenso unverzichtbar wie eine stabile raum-zeitliche Gliederung des Ablaufs und eine entsprechend systematische didaktische Aufbereitung unter neuesten lernpsychologischen Gesichtspunkten.

Bewegung

Entwicklung basiert auf der Grundlage von Bewegung. Die Bewegung ist nicht eindimensional charakterisiert, sondern folgt einem rhythmischen Prinzip des Hin und Her, Vor und Zurück, Auf und Ab. Diese Dynamik mit flexiblen Polen ermöglicht Entwicklung. Die menschliche Bewegung ist immer in Verbindung mit der Sinnesempfindung und -wahrnehmung, deshalb erhält auch dieser Bereich hohe Bedeutung für die Entwicklung.

Die umfangreiche Bedeutung der Bewegung in der Natur und im speziellen im menschlichen Leben erkannte ich erst, nachdem ich mich bewußt damit auseinandergesetzt hatte. Seither begegne ich dem Phänomen Bewegung - salopp formuliert - "auf Schritt und Tritt in jeder Lebenslage". Während des Schreibens gab es immer wieder Zeiten, in denen ich keine klaren Gedanken zusammenfassen konnte. Das beste Hausmittel dagegen war ein gemütlicher Waldlauf. Ich weiß nicht weshalb; aber in vielen Fällen ordneten sich dann zwanglos meine Gedanken und neue Ideenblitze tauchten auf. Diese persönliche Erfahrung erstaunte mich immer wieder. Was ereignete sich während des Laufens in mir? Und warum konnte ich in und durch die Bewegung klarer denken? Diese Fragestellungen brachten mich dazu, das Phänomen Bewegung genauer zu betrachten, und als einen wichtiger Aspekt einer Entwicklungstheorie einzubauen. Jene Aspekte, die für mein Verständnis von Bewegung, bedeutsam wurden, habe ich im folgenden niedergeschrieben; sie beschreiben nur einen geringen Teil dessen, was Bewegung ausmacht.

Bewegung kommt vor, wo Zeit existiert und umgekehrt. In unserer Kultur dominiert eine lineare Zeitvorstellung. Es gibt ein Vorher und Nachher, Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft. In diesem Raum muß sich alles bewegen. Wer sich nicht mehr bewegen will, muß die Zeit anhalten, und das ist in unserer realen Denktradition nicht möglich. (Religiöse Vorstellungen, etwa von der Ewigkeit oder vom Nirwana, können hingegen die Zeit aufheben. Auf diese Vorstellungen gehe ich jedoch nicht ein.)

Bewegung, Raum und Zeit treten nur gemeinsam auf. Alle drei Phänomene bedingen sich gegenseitig. Zeit gibt es, wenn sich etwas bewegt. Raum ist vorhanden, wenn sich etwas den Raum durch Bewegung erschafft. Der Tanz ist ein gutes Erklärungsbeispiel: Ich laufe durch den Raum und schaffe durch die Bewegung den Raum und die Zeit. Im Stehen gibt es weder Raum noch Zeit. Ich stehe still - die Zeit scheint angehalten zu sein. Wenn ich von da nach dort gehe, dann brauche ich Raum. Ich muß den Raum haben, um mich bewegen zu können. Bereits in dieser Alltagserfahrung wird die Bedeutung von Freiraum im Zusammenhang mit Bewegung sichtbar. Auf die entwicklungsmäßige Bedeutung des freien Raums für das Kleinkind gehe ich später noch ein.

Entwicklung beruht auf Bewegung. Oder grundsätzlicher: Alles Leben drückt sich durch Bewegung aus. Leben, Bewegung und Entwicklung unterliegen einem kontinuierlichen Prozeß der Veränderung. Nichts existiert ohne Bewegung, weder im Mikro- noch im Makrobereich. Sowohl die kleinsten Teilchen bewegen sich im Modell um einen (Atom-)Kern, als auch die Planetensysteme im Weltall. Wenn wir den Menschen betrachten, können wir viele Bewegungsvorgänge beobachten, z. B. die verschiedenen Formen der Muskel- und Zellbewegungen. Für viele Vorgänge haben wir uns Erklärungsmodelle der Bewegung zurechtgelegt, z. B. bei der geistigen Beweglichkeit oder wenn wir im molekularen Bereich des Menschen forschen. Ich komme zum Schluß: Wir können uns nicht nicht bewegen.

Aufgrund meiner praktischen Erfahrungen während des Studiums stellte ich mir die Frage nach der Bedeutung der Bewegung im Zusammenhang mit menschlicher Entwicklung. Ich beschäftigte mich besonders mit drei Aspekten der Bewegung. Die Konzepte (Theorien), die diese Aspekte beschreiben, entstanden durch die jeweilige Bewegungspraxis der einzelnen PädagogInnen. Ich beschreibe im folgenden:

- Die Bewegungslehre von Moshé Feldenkrais

- Die kindliche Bewegungsentwicklung (Emmi Pikler, Anna Tardos, u. a.)

- Rhythmik als Attraktor für Entwicklung (vgl. Scheiblauer, Muischneek, Feuser u.a.)

Die Bewegungslehre nach Feldenkrais

Nach Feldenkrais (1978) besteht der Mensch aus dem Nervensystem, dem Körper (Skelett, Viscera = Eingeweide, Muskeln) und der Umgebung (Raum, Schwerkraft, Gesellschaft). Vererbung, Erziehung und Selbsterziehung prägen den Menschen. Feldenkrais bezieht sich bei seiner Methode auf die Selbsterziehung. Durch das bewußte körperliche Training erzieht sich der Mensch zu einer reifen Persönlichkeit, die lernt mit Zwängen besser umzugehen und die gleichzeitig die Möglichkeit zu spontanem Handeln erhält. Ziel ist "das starke Selbst" (1992), die Entwicklung dorthin bedeutet ein lebenslanger Prozeß. Das Selbst, also das Ich-Bild des Menschen, besteht aus vier Teilen des Tuns: Bewegung (mobilisierte Muskeln), Sinnesempfindung, Gefühl und Denken. Wie in der Sprache nur ein Wort auf das nächste folgen kann, so auch bei der Beschreibung von Bewegungsvorgängen. In Wirklichkeit besteht kein Teil allein oder losgelöst von den anderen. Untereinander besteht eine gegenseitige Beeinflussung.

"Um nachzudenken, muß einer wach sein und wissen, daß er wach ist und nicht träumt; das heißt, er muß seine körperliche Stellung oder Lage im Verhältnis zum Schwerefeld empfinden und erkennen können. Das bedeutet aber, daß am Denken auch Bewegung, Sinnesempfindung und Gefühl beteiligt sind.

Um Ärger oder Freude fühlen zu können, muß einer in einer bestimmten Haltung sein und in irgendeiner Beziehung stehen zu einem anderen Lebewesen oder Gegenstand. Das heißt, zum Gefühl gehört hier auch, daß er sich bewegt, daß seine Sinne empfinden und daß er denkt.

Damit einer sehe, höre, berühre oder Berührung merke, überhaupt mit und durch seine Sinne etwas empfinde und wahrnehme, muß sein Interesse, seine Aufmerksamkeit geweckt werden, muß er bemerken oder erkennen, muß etwas geschehen und an ihn kommen, das ihn angeht und bewegt. Zur Sinnesempfindung gehört hier auch, daß er sich bewegt, daß er fühlt und denkt.

Um sich zu bewegen, braucht er, bewußt oder unbewußt, mindestens einen seiner Sinne, und indem er ihn gebraucht, wird er notwendig auch fühlen und denken" (Feldenkrais 1978, 31ff).

Der Mensch ist der Schwerkraft unterworfen. Sein Skelett und seine Muskulatur ermöglichen ihm ein Aufrichten. Die Entwicklung des Kleinkindes ist eine Geschichte des Aufrichtens, vom Liegen zum Stehen, von der Abhängigkeit des Liegenbleibens zur Freiheit des Gehens. Die Schwerkraft beeinflußt jede Art von Bewegung. Feldenkrais (1978) beschreibt Beispiele für Bewegungen, deren der Mensch bedarf und gibt Lektionen, um günstige Bewegungen zu erwirken. Die Analyse des menschlichen Körpers bildet den Hintergrund seiner Bewegungslehre. Das Nervensystem ist vorwiegend mit Bewegung beschäftigt. Impulse werden im Nervensystem über eine Vielzahl von Rezeptoren aufgenommen für eine Strukturbildung im Gehirn (= Lernen), und ausgesandt an Muskelgruppen für ein bestimmtes Verhalten bzw. für eine bestimmte Handlung. Denken gilt daher als eine Funktion, die durch persönliche sensorielle und muskuläre Tätigkeit gebildet wird. Die Impulse für das Denken geschehen bewußt und unbewußt über die Körpererfahrung.

Muskeln sorgen dafür, ob eine Person lächelt oder weint, ob seine Haltung Lockerheit (Sicherheit) oder Anspannung (Unsicherheit) signalisiert. Sie lassen den Grad der Bewußtheit erkennen. Befindet sich der Mensch in Aufmerksamkeit oder kurz vor dem Einschlafen? Muskeln halten den gesamten Körper gegen den Zug der Schwerkraft aufrecht. Ohne Muskeln kann niemand seine Stimme benützen, hören oder sehen. (Muskeln sind z. B. notwendig um das Augenlid offen zu halten oder die Spannung des Trommelfells zu regulieren.) Kurz gesagt: Ob nun ein Gefühl, das Denken oder die lebensnotwendigen Funktionen des menschlichen Körpers gemeint sind, die Mobilisierung der Muskeln gehört immer dazu.

Feldenkrais (1992) nützt die Wechselwirkung von Bewegung, Sinnesempfindung, Gefühl und Denken, um die persönliche Entwicklung (Reifung) zu forcieren. Indem der Mensch die Bewegung in einer bestimmten Art und Weise einübt, beeinflußt er seine ganze Person. Primär werden bei Feldenkrais Körperübungen am Boden gemacht, speziell mit dem Becken. Dies hängt vorallem mit der physiologischen Bedeutung des Beckens zusammen und den frühkindlichen Erfahrungen, in denen unsere gewohnheitsmäßigen Bewegungen gelernt wurden. Das Gehirn hat durch die Körpererfahrung Bahnen und Schemata gebildet, die prägend für unsere Haltung waren. Ziel sind neue Verbindungen im Gehirn zu ermöglichen, d. h. von der gewohnheitsmäßigen Haltung zu einer guten Haltung zu gelangen. Mit der guten Haltung kommt es auch zur Verbesserung des Selbst. Allerdings geht es nicht einfach darum irgendein Detail in der Körperhaltung zu verändern, sondern es geht um einen Reifungsprozeß, d. h. um die Befreiung von den Affekten, die mit jeder Situation und Handlung verknüpft sind. Am Beispiel der Angst läßt sich das verdeutlichen.

Das Gefühl der Angst wird meist mit physiologischen Erscheinungen wie Herzklopfen, schnellerer Atmung, Übelkeit, Ohnmacht, usw. einhergehen. Jeder Mensch hat seine eigene Körperhaltung gelernt, in der sich Angst ausdrückt. Der Atem wird für kürze Zeit angehalten, die Bauchdecke spannt sich, der Kopf neigt sich, und es kommt zu einem Buckel. Die Liste der Erscheinungsformen läßt sich noch verlängern, doch ist bei aller Ähnlichkeit klar, daß die persönliche Körperhaltung bei jedem Menschen sich individuell aus seiner Erfahrung heraus entwickelt. All diese Haltungen wirken aufgrund einer ungünstigen Spannung (Muskelkontraktion). Anders ausgedrückt heißt das, daß das Gefühl der Angst sich in einer breiten Erregung der gesamten Muskulatur abbildet. In dieser Situation gibt es kaum eine Feinkontrolle, und der Spielraum für alternative Handlungen fehlt. Der betreffende Mensch agiert unter innerem Zwang. Er führt nun lediglich solche Handlungen aus, die in früheren Streßsituationen gelernt wurden. Diese Handlungen werden meist mit großer Kraftanstrengung unternommen, die Wirksamkeit der Leistung bleibt weit hinter den persönlichen Möglichkeiten zurück. Tatsächlich hindert die bestehende ungünstige Muskelkontraktion an der Ausübung einer reifen Handlung. In dieser Situation ist die Haltung verkrampft. Gute Haltung geht einher mit Gelassenheit, d. h. mit geistiger und gefühlsmäßiger Ruhe. Diese Haltung benötigt weder unmäßige Muskelanspannung noch übermächtige Gefühle, das Handeln erfolgt schnell, aber ohne Hast. "Gute Haltung bedeutet: über seine Kraft so verfügen, daß man sie der Absicht, den Mitteln und dem Zweck gemäß gebraucht, ohne dabei parasitäre Bewegungen auszuführen" (Feldenkrais 1992, 88).

Aufgrund einer genauen Analyse der physiologischen Eigenschaften des Menschen (vor allem des Nervensystems, des Gehirns, des Skelettaufbaus und der Muskulatur) zielt die Methode von Feldenkrais primär auf zwei Lernziele: Zum einen gilt es parasitären Handlungen zu hemmen, und zum anderen die Fähigkeit auszubauen, durch Selbsterkenntnis klare Motivationen zu lenken. Feldenkrais (1978) kommt zum Erfolg, indem er "Bewußtheit durch Bewegung" einübt.

"Bewußtheit durch Bewegung" ermöglicht ein starkes Selbst bzw. Ich-Bild, das spontan handeln kann. Bewußtheit meint, daß jemand das Bewußtsein bewußt wahrnimmt. Es ist also nicht nur ein Zustand des Wachseins, sondern das Lenken der Aufmerksamkeit auf das, was man gerade tut. "Bewußtheit ist Bewußtsein und das Erkennen dessen, was im Bewußtsein vor sich geht, oder dessen, was in uns vor sich geht, während wir bei Bewußtsein sind" (Feldenkrais 1978, 78).

Das Üben von Bewegungen hat gegenüber nicht körperorientierten (Selbst-) Erziehungsmethoden und Psychotherapierichtungen den Vorteil, daß die Qualität von Bewegungen relativ leicht zu erkennen ist. Im Vergleich zum Gefühl oder zum Denken kann in der Bewegung ein sichtbarer Maßstab angelegt werden, der sich an der natürlichen Bewegung orientiert[4]. Weil der Mensch als ein Ganzes handelt, beeinflußt die Bewegung die anderen Bereiche von der Sinnesempfindung bis hin zum Gefühl und Denken. Feldenkrais betont, daß es ihm nicht darum geht, eine bessere Macht oder Herrschaft über sich oder andere zu gewinnen. Vielmehr möchte er zur Spontaneität anleiten. "Begriffe wie Selbstkorrektur, Besserung, Training der Bewußtheit und andere beschreiben hier lediglich verschiedene Aspekte dessen, was wir Entwicklung nennen. Entwicklung betont das harmonische Zusammenwirken von Struktur, Funktion und Leistung. Harmonisches Zusammenwirken erfordert grundsätzlich, daß einer frei sei insofern, daß er keinen Zwang leide, weder von andern noch von sich selbst" (Feldenkrais 1978, 79). Anstelle einer zwanghaften Handlung sollte Spontaneität aufkommen - das bedeutet Reife im eigentlichen Sinn. Der reife Erwachsene hat nach Feldenkrais die Wahl zwischen verschiedenen Verhaltensweisen oder Handlungen.

Das Erlernen einer richtigen Bewegung oder Haltung erfolgt nicht plötzlich sondern prozeßhaft im Auskundschaften der Möglichkeiten des eigenen Körpers. Richtige Haltung ist daher nicht abhängig von der physiologischen Ausstattung eines Menschen - selbst ein Krüppel kann eine gute bzw. richtige Haltung erlernt haben - sondern vom persönlichen Reifegrad. Feldenkrais (1992) beschreibt vier Empfindungen, die bei einer gut gelernten Handlung auftreten. Diese Empfindungen sind ebenfalls bei der richtigen Bewegung als auch bei der richtigen Haltung spürbar.

1. Mühelosigkeit. Eine gute Handlung fühlt sich mühelos an, unabhängig davon, wie hoch der eigentliche Energieaufwand ist. Unmäßige Anstrengung bzw. Verkrampfung sind Kennzeichen einer ungünstigen Handlung. Sie verweisen darauf, daß neben der zweckmäßigen Handlung noch weitere unnötige Handlungen im Geschehen mitspielen. Erkennbar wird der unnütze Kraftaufwand z. B. in einem unregelmäßigen Atemrhythmus und in ungleichmäßigen und ruckartigen Bewegungen.

2. Widerstandslosigkeit. Es gibt Widerstände, die für den Menschen nicht zu überwinden sind. Selbst der einfallsreichste Plan läßt das Verschieben eines Gebäudes durch bloße Menschenhand nicht zu. Die Muskeln können höchsten Energieaufwand leisten ohne Wirkung. In diesem Fall erhält der Körper mit seiner Skelettmuskulatur zwei widersprüchliche Impulse. Einerseits einen Impuls des Wollens, der verantwortlich ist für die Verschiebung, andererseits den Impuls der harten Realität der Hauswand. Die ganze Handlung wird unsinnig.

Neben diesem Widerstand gibt es das Empfinden von Widerstand bei unterschiedlichen persönlichen Motivationen. Eine gute Handlung ist monomotiviert, d. h. sie entspricht einer einzigen und klaren Motivation. Oft gelingt eine Handlung deswegen nicht, weil mehr geleistet wird als für die Handlung notwendig ist. Das gilt vor allem beim Lernen von Neuem. Es kommt zu Anspannung und vielen unnötigen bzw. widersprüchlichen Handlungselementen[5]. Das Schwimmen z. B. könnte sofort gelingen, wenn alle widersprüchlichen Handlungen weggelassen werden, und wir nur die Bewegung machen würden, die in die gewünschte Richtung geht. Selbst der starke Wille nützt nur wenig. Feldenkrais meint, daß der Wille nur dann notwendig wird, wenn "eine unerkannte Motivation übers Kreuz im Spiel" (1992, 157) ist. Der reife Mensch geht nicht unrationell und verschwenderisch mit seiner Kraft um, sondern wendet Interesse, Notwendigkeit und Geschicklichkeit an. Die eindeutige Koordination von Motivation und Muskulatur bringt ihn ans Ziel.

Die Beschäftigung mit dem Widerstand ist wichtig, weil sie innere Unklarheiten oder Unsicherheiten erkennen läßt. Wenn der Widerstand nicht bewußt wird, kann er nicht bearbeitet und abgelöst werden. Die Ablöse erfolgt erst in dem Augenblick, in dem der Widerstand für den Menschen unnötig wird.

3. Umkehrbarkeit. Richtiges Handeln läßt sich jederzeit anhalten, fortsetzen oder umkehren. Dieses Kriterium kann als Maßstab für jede menschliche Tätigkeit herangezogen werden, selbst bei emotionalen Vorgängen. Wenn bei Zorn, Angst oder Ausgelassenheit die Umkehrung unmöglich wird, entsteht zwanghaftes Handeln, das eigentlich nicht mehr wünschenswert ist. Der Mensch verliert seine Kontrolle und damit den Spielraum seiner Wahlmöglichkeiten. Die Fähigkeit zur Umkehr verweist eindeutig auf eine richtige Handlung, Bewegung oder Haltung.

4. Atmung und Fehlhaltung. Das Anhalten des Atems weist auf ein nicht optimales Handeln hin. Unrhythmisches Atmen beeinflußt komplex andere Körperprozesse, insbesondere die Aufgaben des Blutes (z. B. Sauerstoff- und Kohlendioxidaustausch).

Die vier Eigenschaften richtiger Handlung, Bewegung und Haltung (nämlich: Mühelosigkeit, Widerstandslosigkeit, Umkehrbarkeit, Atmung und Fehlhaltung) setzen einen langen Lernprozeß voraus. Je besser es gelingt, ihnen gerecht zu werden, um so näher kommt man zum Ziel, zwanghafte Handlungsmuster von den Gefühlen zu lösen. Meist sind diese Muster früh in der Kindheit - also unter Abhängigkeit - erlernt worden. Der reife Mensch nach Feldenkrais kann seine Handlung auf Objekte eigener Wahl richten, die sich als zweckmäßig erweisen. In diesem freien Verhalten läßt sich auch viel leichter Verantwortung übernehmen, weil sich der äußere Druck und die Abhängigkeit von den Gefühlen aufgelöst haben.

Das alles geht nicht ohne notwendige Veränderung. Die hier beschriebene Methode setzt an in der Bewegung, damit die Entwicklung zum reifen Menschen unterstützt wird. Bei Feldenkrais geht es nicht darum, Macht über sich selbst zu erhalten oder ständig unter Kontrolle zu sein und damit in gewissem Sinne gefühlsarm zu leben. Er sucht vielmehr ein erfüllteres Leben, und dazu zählen auch gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen, eine bestimmte Form von Freude und Trauer, Liebe und Haß. "Aber um Reife zu erlangen, muß man bereit sein, Überzeugungen und Gewohnheiten aufzugeben, die man liebgewonnen hat, bereit, sich zu ändern. Natürlich bleibt es einem unbenommen, die alten Gewohnheiten wieder aufzunehmen, wenn sie einmal von ihrer Zwanghaftigkeit befreit worden sind" (1992, 243).

Exkurs: Sensomotorik

Die typischen menschlichen Fähigkeiten in körperlicher, emotionaler, kognitiver und sozialer Hinsicht sind immer mit Bewegung verknüpft (vgl. Krassnig 1996). Das sensomotorische System reagiert und sendet die Impulse weiter durchs Nervensystem. Das Nervensystem arbeitet durch Vernetzung von Nervenzellen, d. h. über interne Aktivitätsrelationen. Anders ausgedrückt hat die Entwicklung des Menschen mit Strukturveränderungen im Nervensystem zu tun, die durch Bewegungen zustande kommen. Die gesamte Lebensgeschichte des Menschen wird so in seinem Körper und Gehirn eingeschrieben. Entsprechend der Erfahrungen erlernt er seine ihm typischen Eigenschaften, die durch neue (Bewegungs-)Erfahrungen ständig erweitert und verändert werden.

Die Methode von Feldenkrais folgt dem sensomotorischen Lernen. Doch was ist die Sensomotorik? Bewegung (Motorik) und Wahrnehmung (Sinnesempfindung) hängen so eng miteinander zusammen, daß man von Sensomotorik oder auch von Motosensorik spricht (vgl. Zinke-Wolter 1991, 210). Die Wahrnehmung der Außenwelt erfolgt über die Sinne und ist verknüpft mit der Körperbewegung. Sinnesempfindungen und Körperbewegungen beeinflussen sich gegenseitig.

Inwieweit sich Wahrnehmung und Bewegung beeinflussen und bereichern, zeigt die folgende Aufgliederung (vgl. Zinke-Wolter 1991):

Gleichgewichtssinn: Durch den Vestibulärapparat (Gleichgewichtsorgan im Ohr) wird jede Körperwahrnehmung durch das Bewegen im Raum aufgenommen. Das Spiel mit dem Gleichgewicht ist eine wichtige Entwicklungsphase beim Kind (vgl. Pikler 1988).

Bewegungsgefühl: Das Bewegungsgefühl (Kinästhesie) bezieht sich auf die Muskelempfindungen des Menschen. Die Körperwahrnehmung wird beeinflußt durch die Rückmeldung der Bewegung der Körperteile zueinander.

Druckempfinden: Die Wahrnehmung wird aus dem eigenen Körper vermittelt (proprioceptiv), z. B. durch das Gefühl der Schwerkraft, den Gelenkdruck, das Gewicht auf der Unterlage und durch die tiefen sensiblen Druckwahrnehmungen in der Haut. (Gegensatz: exterozeptiv - Wahrnehmung, die von außerhalb des Organismus kommen, z. B. mittels Augen und Ohren). Diese Einflüsse beeinflussen unsere gesamte Körperbewegung.

Berührung: Die Berührung oder das taktile Wahrnehmen erfolgt durch die Haut. Das Fingerspitzengefühl, als Teil unserer Handmotorik, ist besonders sensibel für das Spüren und Tasten von Oberflächen. Ähnlich sensibel sind die taktilen Rezeptoren im Gesichtsbereich und im Mund.

Gehör: Körperbewegungen werden akustisch durch Raumwahrnehmung und Orientierung beeinflußt. Mundmotorik und Mimik erhalten akustische Einflüsse durch die feed-back Funktion bei der Lautgebung der Sprache.

Sehen: Durch die Augen kontrollieren wir visuell die Bewegung und Raumlage des Körpers. Ebenso können wir visuell z. B. die Feinmotorik der Hände kontrollieren und verbessern oder durch Nachahmung die Mimik und Mundmotorik bereichern. Menschen, die Beeinträchtigungen im Bereich des Sehens oder Hörens haben, können in ihrem Bewegungsverhalten gehemmt sein. Allerdings bilden viele von ihnen andere Sinnesempfindungen aus, die einen Ausgleich schaffen. Die besondere Fähigkeit dieser Menschen läßt darauf schließen, daß wir insgesamt mehr an Informationen aufnehmen, als uns im Augenblick bewußt wird.

Geruchs- und Geschmackswahrnehmung: Die Mimik und Mundmotorik werden durch die Aktivierung von olfaktorischer (geruchsmäßiger) und gustatorischer (geschmacksmäßiger) Wahrnehmung beeinflußt. Der Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung wird in diesem Bereich sofort erkennbar, wenn man z. B. in eine Zitrone beißt.

Wahrnehmung und Bewegung entwickeln sich beim Menschen innerhalb eines bestimmten genetischen Plans und durch die Fähigkeit des Lernens über die Umwelt. Sowohl die innere organische Körperwelt mit ihren Strukturen und Funktionen, als auch die äußere soziale Welt mit ihren Beziehungen sind dafür verantwortlich.

Die selbständige Bewegungsentwicklung

Die Bedeutung der aktiven Bewegung ist für die Entwicklung des Menschen allgemein anerkannt. Wie sich die Bewegung selbst entwickelt, zeigen uns Emmi Pikler, Kinderärztin, und Anna Tardos, Psychologin, (1988) durch ihre Forschungsergebnisse im Lóczy Säuglingsheim in Budapest.

Pikler hat dieses staatliche Säuglingsheim 1946 gegründet und bis 1979 geleitet; seither führt ihre Tochter Tardos diese Einrichtung. Berühmt wurde das Säuglingsheim durch seine Maßnahmen zur Verhütung des Hospitalismus und durch die Herausgabe von Fachbüchern. Zentrale Aufmerksamkeit bei ihren Arbeiten erhielt die Bedeutung der Beziehung im Zusammenhang mit der selbständigen Bewegungsentwickung des Kindes. Jedes gesunde Kind[6] lernt in einer sicheren und vertrauten Umgebung selbständig seine Bewegungen zu koordinieren und auszubilden, angefangen vom Liegen bis hin zum Gehen. Der Erwachsene ist in der Bewegungsentwickung nicht notwendig, sondern in vielen Fällen sogar hinderlich, wenn er eingreift. Er verhindert durchs Eingreifen die Möglichkeit einer eigenen Bewegungserfahrung. Das selbständige Ausprobieren und Spielen mit dem Gleichgewicht und die dazu passende Bewegungsempfindung sind für die weitere Entwicklung besonders wichtig und sollten nach den Ergebnissen von Pikler (1988) nicht gestört werden.

Pikler (1988) stellt fest, daß Kinder im Rahmen der selbständigen Bewegungsentwicklung sehr feine, gut koordiniert, ökonomische Bewegungen durchführen (vgl. die Ziele in der Bewegungslehre von Feldenkrais). Ausdauer, Umsicht und Lust am Experimentieren sind die vorrangigen Qualitäten beim Lernen von neuen Bewegungen. Ihre, zu betreuenden, Kinder lernen durch freies Spiel. Sie kommen so zu neuen Positionen und freuen sich über die erreichten Handlungen. Das freie Spiel beinhaltet ein ständiges zwangloses Üben einer Bewegung. Der Erwachsene ist dafür nicht erforderlich. "Unsere Kinder sitzen erst, nachdem, sie sich selbständig aufgesetzt haben, stehen erst, nachdem es ihnen bereits gelungen ist aufzustehen" (Pikler 1988, 43). Dadurch entsteht eine starke körperliche Sicherheit im eigenen Entwicklungsrhythmus; die Kinder lernen mit der Schwerkraft und mit ihrem Gleichgewicht umzugehen.

Die Kinder im Lóczy-Säuglingsheim werden nicht hingesetzt oder an der Hand geführt, bevor sie es nicht selbst erlernt haben. Pikler (1988) machte die Erfahrung, daß die Kinder gar kein Verlangen nach anderen Bewegungen/Positionen fühlen, bis sie es nicht selber erreichen oder ausüben können. Durch viel spielerisches Ausprobieren traut sich das Kind immer mehr an Bewegungen zu. Neue Bewegungsformen werden stufenweise angeeignet und die alten Formen stufenweise weggelassen. Das Frustrationspotential beim Nichterreichen einer neuen Position ist dabei viel geringer, als wenn die Aufgabe von außen dirigiert wird. Der Erwachsene freut sich mit dem Kind über die selbständigen Versuche, greift jedoch nicht in das Geschehen ein.

Pikler geht es bei ihren Überlegungen nicht allein um die Bewegungsentwickung des Kindes. Der Säugling lernt "im Lauf seiner Bewegungsentwicklung nicht nur sich auf den Bauch zu drehen, nicht nur das Rollen, Kriechen, Sitzen, Stehen oder Gehen, sondern er lernt auch das Lernen. Er lernt, sich selbständig mit etwas zu beschäftigen, an etwas Interesse zu finden, zu probieren, zu experimentieren. Er lernt Schwierigkeiten zu überwinden. Er lernt die Freude und die Zufriedenheit kennen, die der Erfolg - das Resultat seiner geduldigen, selbständigen Ausdauer - für ihn bedeutet" (Pikler 1988, 14). Ein kontinuierliches Aktionsbedürfnis in Richtung zunehmender Differenzierung und Vielfalt, in Richtung zunehmender Bewegungskontrolle und Autonomie zeichnet das Kleinkind aus.

Die Bewegungsentwicklung des Kindes erfolgt selbständig, dennoch bedarf es verschiedener Rahmenbedingungen. Das Kind muß sich in einer geborgenen Umgebung wohl fühlen. Die gute Beziehung zur Bezugsperson ist dabei charakterisiert durch Vertrautheit und Sicherheit. Der Erwachsene im Lóczy-Säuglingsheim stört oder beeinflußt das Kind nicht während des freien Spiels, sondern tritt in den Hintergrund. Er lehrt oder fördert das Kind nicht, d. h. er übt nicht regelmäßig bestimmte Bewegungen, damit es diese lernt. Der Aufbau und die Festigung der Beziehung zueinander erfolgt vorallem in der Pflegesituation beim Wickeln, Kleiden, Waschen, und Essen. Diese sich auf die Pflegesituation konzentrierende Verhaltensweise der Erwachsenen ist ungewöhnlich, doch sie unterstützt das selbständige und konzentrierte Spiel des Kleinkindes. Indem der Erwachsene nicht eingreift, entdeckt das Kind seine ihm entwicklungsmäßig entsprechende Welt. Natürlich wird der Erwachsene dann eingreifen, wenn sich das Kind in einer Notlage befindet. Doch das ist ein Teil der Sicherheit und des Vertrauens, das das Kind dem Erwachsenen entgegenbringt.

Das freie Spiel

Das freie Spiel ist ein wichtiger Faktor für eine selbständige Bewegungsentwicklung. Es umfaßt nicht nur das bewußte Spiel, also eine gerichtete und organisierte Tätigkeit. Vieles erleben wir Erwachsene nicht als Spiel, das dennoch als Spiel verstanden werden kann. Tardos (1995) bezeichnet in einer breiten Definition alle Dialoge und Tätigkeiten ohne größere Ziele als eine Form von Spiel[7]. Den Fuß in den Mund zu stecken, diese Bewegung auszuprobieren ist z. B. eine Form des Spiels, die Kleinkinder häufig versuchen. Das freie Spiel ist von Geburt an begleitet von Interesse und Neugier, die Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen, werden ständig erweitert, viele Spiele werden ständig wiederholt. Nach Tardos (1995) hängen Bewegungs- und Spielfreiheit eng zusammen. Sowohl das eine als auch das andere bedarf keiner Anleitung durch den Erwachsenen: "Wir glauben, daß das freie, selbständige Spiel ohne helfende Anleitung seitens der Betreuer - in der Familie ohne die Gegenwart der Bezugsperson - eine wichtige Grundlage der Entwicklung bildet. Wir möchten es die 'Hochschule der Säuglinge und Kleinkinder' nennen. Dies gilt natürlich nur dann, wenn die äußeren Möglichkeiten dazu fortlaufend geschaffen werden und wenn das Kind auch ohne Beteiligung des Erwachsenen aktiv und tätig ist" (Pikler 1988, 183).

Zu den äußeren Möglichkeiten zählt geeignete Kleidung, genügend Freiraum und geeignetes Spielzeug. Das verwendete Spielmaterial im Lóczy-Kinderheim ist einfach, spezielle Spielmaterialien werden den Erfahrungen nach nicht benötigt. Wichtig sind viele und unterschiedliche Materialien wie z. B. Bauklötze, Plastikkübel, Körbe, Bälle, Tücher, Töpfe, Ringe ... Dinge also, die ohne Hilfe von Erwachsenen angefaßt werden können und die zu Bewegung anregen. Für das freie Spiel ist der Garten mit Klettergeräten, Sandkasten und Planschbecken besonders geeignet. Die Bewegungsentwicklung wird günstig beeinflußt mit der Möglichkeit, Bewegungen durch das spielerische Tun auszuführen. Eine Hauptaufgabe des Erwachsenen ist, diese Möglichkeit zu schaffen.

Die Rolle des Erwachsenen

Der Erwachsene hat nach Pikler (1988) bei der selbständigen Bewegungsentwicklung direkt keine Aufgabe zu übernehmen. Indirekt beeinflußt er die Entwicklung sehr wohl und zwar durch die Beziehung zum Kind. Vom ersten Tag an informiert der Säugling uns durch Gesten und andere Verhaltensweisen über seine Befindlichkeit. Diese vielfältigen Signale zu verstehen und darauf zu reagieren ist eine wichtige Aufgabe des Erwachsenen. Sie beeinflussen die gegenseitige Beziehung wesentlich. Eine gute Möglichkeit für den Beziehungsaufbau ergibt sich durch die tägliche Pflege bei Kleinkindern. Wenn wir aufmerksam für die feinen Signale sind, dann kommt z. B. das Schreien oder Spucken beim Essen oder Trinken seltener vor. Zudem lernt es in dieser Zeit etwas, das es nur beim Erwachsenen lernen kann: freundliches und rücksichtsvolles Verhalten. Diese Vorbildwirkung darf nicht vergessen werden.

Bereits erwähnt wurde die Bedeutung von Sicherheit und Vertrauen. Der Erwachsene ist beim freien Spiel gegenwärtig und beobachtet aufmerksam das Geschehen. Er schützt vor Gefahren, die das Kind durch seine Erfahrung nicht bewältigen kann, greift ein, wenn es in außergewöhnliche Schwierigkeiten kommt, befreit es gegebenenfalls aus einer mißlichen Lage und beruhigt. Manchmal kommt es vor, daß sich ein Kind in eine Position bringt, aus der es sich nicht mehr herausbewegen kann. Doch geschieht das im Rahmen der selbständigen Bewegungsentwicklung selten. Ein Vergleich zu anderen Kindern zeigt: Das auf den Bauch gelegte, aufgesetzte, aufgestellte Kind lernt erst in späterer Phase sich in dieser Position zu behaupten. Für das Kind bedeutet das, daß es sich kaum bzw. gar nicht nach seinem Willen bewegen kann, ungeschickt verharrt es in der vorgegebenen Lage und kann nur indirekt durch einen Dritten eine Veränderung der Situation herbeiführen. Weinend macht es auf sich aufmerksam. Bei Kindern, die sich die Bewegungserfahrungen selbständig aneignen, kommt dieses Weinen nur selten vor, weil sie als Ergebnis ihrer eigenen Initiative eine neue Position erlangen. Viele Versuche und eine Reihe von Übergangspositionen führen dazu, daß dieses Kind, im Vergleich zum aufgesetzten Kind, wesentlich leichter die einmal eingenommene Position verläßt. Für den Erwachsenen bedeutet diese Kompetenz des Kindes eine Erleichterung während der Arbeit.

Anstatt dem Kind in seiner Bewegung zu helfen, übernimmt der Erwachsene die Aufgabe, die Umgebung kindgerecht zu organisieren, d. h. er ermöglicht das freie Spiel. Er legt Spielmaterial in Reichweite des Säuglings, oder achtet darauf, daß genügend Spielmaterial vorhanden ist. Außerdem sorgt er für genügend Bewegungsfreiraum. Bereits im Alter von vier, fünf oder sechs Monaten beginnt das Kind seinen Platz zu wechseln, sich auf die Seite, auf den Bauch zu drehen, zu rollen, später auf dem Bauch zu kriechen usw., dafür braucht der Säugling genügend Platz. Babywippen, Schaukeln oder Sitzgestelle bieten den erforderlichen Freiraum nicht. Ganz im Gegenteil: Sie verhindern die Möglichkeit, neue Bewegungserfahrungen zu machen. Pikler (1988) lehnt aus diesem Grund solche Geräte ab. Vielmehr legt sie Wert auf eine Unterlage, die nicht nachgibt. Das erleichtert das Rutschen, Krabbeln und Kriechen, die Bewegungsfähigkeit wird günstig unterstützt.

Säuglinge sind sehr aktiv und üben fortlaufend verschiedene Bewegungsaktivitäten. "Die Art, in der sie ihren Platz wechseln oder nach einem Spielzeug greifen, wie sie damit hantieren, all dies ändert sich im Laufe der Entwicklung. Aber die Freude der Kinder, der Wunsch, die Initiative zu ergreifen, bleibt unverändert" (Pikler 1988, 171). In dieser Situation ist der Erwachsene nur störend, wenn er eingreift. "Die Absicht des Erwachsenen zu 'Helfen' oder zu 'Fördern' verhindert geradezu, daß das Kind die Initiative ergreifen kann bzw. erlaubt ihm nicht, das Angefangene selbständig zu Ende zu führen. 'Ich helfe nur ein ganz klein wenig nach', mit dieser Einstellung kommt man dem um das Aufstehen bemühte Kind zur Hilfe und reicht ihm die Hand, damit das Aufstehen leichter gelingt. Diese Hilfe aber raubt dem Kind die Freude am selbständigen Gelinge, raubt ihm das Gefühl seiner Wirksamkeit" (Pikler 1988, 172).

Im Folgenden beschreibe ich die verschiedenen Entwicklungsstufen der selbständigen Bewegungsentwicklung. Die Bewegungsform verändert sich ständig, die Lust und Freude an der Bewegung bleibt aber, wie oben beschrieben, im Kleinkindalter vorhanden. (Meines Erachtens wird durch die Schule und durch die Arbeit, ja insgesamt durch unsere gesellschaftlichen Regeln und Verhaltensweisen diese Bewegungslust viel zu stark eingeschränkt. Wenn die Bewegung ein Grundbedürfnis des Menschen darstellt, das ihm einerseits Freude bereitet und andererseits in der allgemeinen Entwicklung vorantreibt, dann müßte darauf wesentlich mehr Rücksicht genommen werden.)

Entwicklungsstufen der Bewegungsentwicklung

Wie Pikler (1988) aufzeigt, entwickelt sich die Bewegung des Kindes in relativ klar unterscheidbaren Stufen. Die einzelnen Bewegungen folgen fast immer einer bestimmten Reihenfolge. Die Zeit um sie zu erlernen und die Zeit, in der das Kind die neue Bewegung verwendet, ist jedoch unterschiedlich. Besonderes Augenmerk erhalten im Verlauf vom Liegen - Sitzen - Stehen - Gehen die Übergangspositionen.

Übergangspositionen "bereiten den Organismus in einer seinem Entwicklungsgrad und seinen Anlagen gemäßen Weise und dem ihm entsprechenden Zeitmaß für die höher entwickelten Bewegungen vor. Diese Übergangs-Bewegungsformen sind: das Sich-vom-Rücken-auf-die-Seite-und-zurück-Drehen, das-Sich-auf-den-Bauch-und zurück-Drehen, das Spielen auf dem Bauch, das Walzen, das Rollen, das Kriechen auf dem Bauch und das Krabbeln auf Knien und Händen sowie die Übergangsformen des Sich-Aufsetzen und Sich-Niederlassen (Pikler 1988, 70). Diese Bewegungsformen ermöglichen es, Sicherheit im Gefühl für die nächste Position zu erlangen. Kinder, denen diese Übungsformen vorenthalten werden, indem man sie aufsetzt oder aufstellt, haben viel größere Schwierigkeiten mit ihrem Gleichgewicht. Sie sind insgesamt viel unsicherer in ihrer gesamten Stellung. Die Folgen sind für das Kind gravierend. Während sichere Kinder weiter ihrer Forscher- und Experimentierfreude nachgehen, sind die anderen nicht in der Lage, sich damit zu beschäftigen. Sie müssen irgendwie ihr Gleichgewicht aufrecht erhalten, ohne genau erfahren zu haben, wie das vor sich gehen könnte. Diese Unsicherheit verhindert und behindert weiteres Lernen.

Speziell bei Kinder mit auffälligem Entwicklungsverlauf sind Übergangsbewegungen kaum oder gar nicht vorhanden. Aly (1994) beschreibt u. a. zwei aktuelle Beispiele von Kindern mit auffälligem Entwicklungsverlauf. Sie betont, daß genügend Zeit notwendig ist, um die Übergangsbewegungen und insbesondere das Gleichgewichtsgefühl zu erlernen. Diese Zeit wird den auffälligen Kinder von Seiten der Eltern kaum zuerkannt. Häufig treibt die Angst vor einem "nicht-normalen" Kind dazu, dem Kind zu helfen und dabei werden diese erforderlichen Entwicklungsschritte übergangen. Nach Aly (1994) brauchen diese Kinder mehr eine Begleitung durch Beobachtung als eine Behandlung.

Pikler (1988) beschränkt sich auf die Großbewegungen des Kleinkindes. Ihre Absicht liegt darin, "durch eine genaue Beschreibung die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt der dem Säugling möglichen Alltagsbewegungen zu lenken, zu ihrer differenzierten Beobachtung anzuregen sowie zur Ausbildung einer einheitlichen Nomenklatur beizutragen ... Das Interesse [von Pikler] an der Bewegungsentwicklung nahm in dem Maße zu, in dem die Bedeutung der psychischen und somatischen Entwicklung im Säuglingsalter als Basis der späteren Persönlichkeit erkannt wurde. Durch die selbständigen Bewegungen lernt der Säugling seine Möglichkeiten und Grenzen in der ihn unmittelbar umgebenden Umwelt kennen. Er lernt, sich zu orientieren, zu handeln, und entwickelt dabei Umsicht, Ausdauer und Willen. Selbständige Bewegungen ermöglichen dem Kind auch, aktiv Kontakt mit dem Erwachsenen aufzunehmen" (ebd. 188ff).

Die statischen Grundpositionen in der Bewegungsentwicklung nach Pikler werden in vier Hauptgruppen aufgeteilt:

- Liegende Positionen: Rückenlage, Seitlage, Bauchlage (verschiedene Formen)

- Übergangspositionen: Seitlicher Ellbogenstütz, abgestützter Seitsitz, Knie-Händestütz,

Bärenstellung, Kniestand, Hocken

- Sitzen (verschiedene Formen)

- Stehen (verschiedene Formen)

Neben diesen statischen Grundpositionen gibt es viele verschiedene Formen der Bewegung. Es sind Bewegungen, die in der beschriebenen Position ausführbar sind, oder mit denen das Kind seinen Platz wechselt, oder mit denen das Kind seine Ausgangsposition ändert um direkt in eine andere Position zu gelangen (vgl. Pikler 1988, 190ff). Für die genaue Darstellung und Auseinandersetzung lohnt es sich m. E. in das Buch "Laßt mir Zeit - Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen" zu vertiefen.

In den Bewegungen des Kleinkindes werden immer wieder unterschiedliche Spannungszustände und Phasen sichtbar. Es wechseln Aktivität und Ruhe ab, Muskeln werden gespannt und gelöst, Bewegungen neu entdeckt, geübt und wiederholt, beibehalten oder weggelassen. Insgesamt läßt sich durch die Beobachtung ein rhythmisches Modell entwerfen. Das Kleinkind unterliegt sozusagen individuellen Entwicklungsrhythmen. Neben Pikler/Tardos (1988) betonen auch andere Autorinnen und Autoren wie Gidoni (1994) und von Lüpke (1994, 1996) die Bedeutung des zyklischen Wechsels der Bewegung für die Entwicklung.

"Nimmt man die psychomotorische Entwicklung als einen zyklischen Wechsel von aktiven und ruhigen Phasen, so kommt man zu einer neuen Wertschätzung der Phasen ohne sichtbare Fortschritte, jenem 'laßt mir Zeit', das Pikler (1988) fordert. Es scheint von großer Bedeutung zu sein, daß das Kind mit seinen motorischen Möglichkeiten Erfahrungen macht, bevor sich eine zielgerichtete Aktivität entwickelt. Strampeln oder andere 'sinnlose' Aktivitäten, die noch nicht an einem Ziel ausgerichtet sind, orientieren sich später auf dem Weg der Übergangspositionen (im Sinne von Tardos und David) auf ein Ziel hin. Ausprobieren, entdecken und immer wieder im Zusammenhang mit bereits Erinnertem auswerten: Das ist vermutlich die Voraussetzung dafür, daß die später resultierende Funktion mit einem Gefühl von Identität einhergeht" (von Lüpke 1996, 28).

Rhythmik als Attraktor für Entwicklung

"Rhythmik ist gar vielerlei", betonte Scheiblauer (1891 - 1968). Im allgemeinen ist Rhythmik die Lehre vom Rhythmus. Ein Attraktor bestimmt der Tendenz nach die Richtung und Geschwindigkeit, dem sich ein dynamisches System nähert. In chaostheoretischen Zusammenhängen haben Attraktoren ordnende bzw. strukturierende Funktionen (vgl. Raven 1995). Einige Überlegungen zum Bereich Rhythmik/Rhythmus in Verbindung zu Entwicklung werde ich im folgenden beschreiben.

Der Mensch ist während seines gesamten Lebens mit Rhythmen konfrontiert und durch sie bestimmt. Einerseits sind es Naturrhythmen außerhalb seines Körpers: z. B. Tag und Nacht, Sommer und Winter. Andererseits verlaufen viele rhythmische Prozesse in seinem Körper: z. B. Hunger und Sättigung, das Schlafen und Wachen. Bei den unterschiedlichen Rhythmen geht es immer um einen Spannungsbogen innerhalb von zwei Polen (vgl. Frohne 1981). Dabei sind diese Pole keine unverrückbaren Bestimmungsgrößen, sondern selbst variabel. Diese Variabilität bringt Entwicklung und letztlich Evolution hervor. "Der Rhythmus ist im Gegensatz zum monotonen Takt die qualitative Ordnung des Ähnlichen, da er keine exakte Wiederholung bedeutet, sondern vielmehr als ein flexibles Entwicklungsmodell begriffen werden muß, das in und mit der Veränderung Orientierung und Stabilisierung zu verleihen vermag (...) Die Rhythmik ist eine allgemeine Grundeigenschaft des Lebens und deren anorganischen Voraussetzungen. Unter Rhythmus ist das wiederholte Durchlaufen von Zuständen in etwa gleicher Ausprägung zu verstehen: Wiederholung des Ähnlichen und nicht des Gleichen, [anders formuliert eine] 'Wiederholung mit Variationen'" (Geißler 1995, 60; 62).

Beim Menschen ist nachweislich bedeutsam, daß seine organischen Rhythmen wie Herzschlag, Atmung und Regulation der Hormone nicht rigide verlaufen. Eine wichtige Voraussetzung für Gesundheit ist die Flexibilität dieser Rhythmen. Wenn Flexibilität nicht gelingt kommt es zu Störungen. Rigidität bedeutet ein höchstes Maß an Ordnung, das als Auslöser von krankhaften Zuständen angesehen wird. In der Medizin wird z. B. der epileptische Anfall als Erscheinen betrachte, "in dem das Gehirn von einem komplexen Handeln spontan in einen hochgeordneten synchronisierten Prozeß übergeht" (Rödler zit. nach von Lüpke 1996).

Durch den zyklischen Wechsel im Rhythmus entsteht Zeit, die sich untergliedert. Die Bedeutung der Zeit (ihre Funktion der Strukturierung und Ordnung) habe ich bereits im Kapitel Selbstorganisation anskizziert. Nun komme ich zu einer Behauptung, die differenzierter ist: Strukturierung und Ordnung erfolgt nicht ausschließlich durch Zeit, sondern durch eine rhythmische Bewegung, die sich hinter der Zeit verbirgt. Diese rhythmische Bewegung ist nicht punktgenau, sondern flexibel, sie formt eine gesunde Ordnung für den Menschen und ermöglicht Entwicklung. Ich nenne sie deshalb gesunde Ordnung, weil nicht jede Ordnung ein Zeichen von Gesundheit darstellt.

Auch Überlegungen von Feuser (vgl. 1995, 129ff) beschäftigen sich mit dem Spannungsbogen der Ordnung in Zusammenhang mit menschlichen Zuständen. Der Gegenpol zur Ordnung heißt dabei Chaos. Werden bestimmte Grenzen zwischen diesen zwei Bereichen überschritten, führt das unweigerlich zum Tod. Den Spannungsbogen, in dem der Mensch lebt, bezeichnet Feuser (1995) als "Phasenraum". Im Phasenraum gibt es "kritische Randzonen". Auf der einen Seite bedeutet die kritische Randzone eine immer stärker werdende Ordnung in Richtung eines Gleichgewichtszustandes, der "Singularität". In dieser kritischen Randzone könnte etwa ein Koma, ein apallisches Syndrom, schwere geistige Behinderung, Hospitalismus/Marasmus und Depression angesiedelt werden. Die andere Seite bedeutet eine immer stärkerer Zunahme von chaotischen Prozessen bis hin zur "Symmetrie". Mögliche Auswirkungen wären Autismus, katatone Psychose, Schizophrenie, Hyperaktivität und Epilepsie. In der Singularität ist aufgrund von zuwenig Bewegung alles in einem einzigen Punkt erstarrt. In der Symmetrie lösen sich wegen zuviel Bewegung die chaotischen Prozesse auf. In beiden Fällen entrhythmisieren sich die menschlich notwendigen Rhythmen. Als Folge tritt der Tod auf.

In der Pädagogik und Therapie geht es darum, dem Betroffenen zu ermöglichen, daß er aus der kritischen Randzone herauskommen kann. Dazu ist ein Dialog notwendig, der Bindungs- und Beziehungsmöglichkeiten eröffnet. Dialog gelingt durch einen "überindividuellen Phasenraum" indem die unterschiedlichen "Eigen-Zeiten" von Betroffenen synchronisiert werden (vgl. Kapitel Dialog). Bei behinderten Menschen kommt es häufig vor, daß über die Musik, über den musikalischen Rhythmus ein gemeinsamer Phasenraum entsteht. In diesem gemeinsamen Phasenraum synchronisiert der musikalische Rhythmus von außen die jeweiligen Eigenzeiten vom Behinderten und Betreuer. Die weit verbreitete Meinung, daß gerade behinderte Menschen eine besondere rhythmische Veranlagung besitzen, muß widersprochen werden. Vielmehr ermöglicht die Struktur der Musik oft erst den gewünschten und notwendigen Dialog (vgl. Feuser 1995).

Der Einfluß der Musik auf den Menschen wird für viele Bereiche genützt z. B. in der Musiktherapie, als Gefühlsstimulator im Film, gleich wie in der Propaganda. Wenn ich Rhythmik als Attraktor für Entwicklung bezeichne, dann meine ich neben der oben skizzierten biologischen Rhythmizität primär den positiven Einfluß des Lehrfachs Rhythmik im Bereich der Pädagogik. Die Rhythmik unterstützt als Erziehungshilfe und pädagogisches Arbeitsprinzip die menschliche Entwicklung.

Emile Jacques-Dalcroze (1865 - 1950) war im deutschsprachigen Raum der erste, der sich mit Rhythmik und Pädagogik auseinandersetzte. Er unterrichtete am Genfer Konservatorium und erlebte, daß sich einige Schüler einfach nicht konzentrieren konnten. Er ging davon weg, die Schüler immer und immer wieder dasselbe Stück am Klavier üben zu lassen, und führte hingegen einfache Körperübungen durch. Er ließ die Schüler sich frei zur Musik bewegen, tanzen und gestalten. Das Resultat war erstaunlich: Durch die freie Körperbildung verbesserte sich die Konzentration und damit das Lernen. Allmählich entwickelte sich aus dieser Erfahrung die rhythmische Gymnastik als neues pädagogisches Hilfsmittel, bis zuletzt nur noch von "Rhythmik" gesprochen wurde (vgl. Scheiblauer 1968).

Mimi Scheiblauer (1891 - 1968) gehörte zu den ersten Rhythmik-Schülerinnen von Jacques-Dalcroze. Sie verlagerte das Gewicht ihrer Arbeit von einem rein musikalischen Element hin zu einem allgemein erzieherischen Element. Sie hat die Rhythmik im Zusammenhang mit Kindern unterschiedlichster Begabung und Beeinträchtigung weiterentwickelt. Galten damals manche behinderte Kinder als bildungsunfähig, so zeigte sie deutlich, daß es Bildungsunfähigkeit selbst bei schwersten Behinderungsformen nicht gibt. Im Film "Ursula oder das unwerte Leben" (Regie Walter Marti und Reni Mertens, Zürich 1966) wird die Arbeitsweise von Scheiblauer dargestellt. In einem Bericht zu diesem Film steht in der Süddeutschen Zeitung: " Das Kind Ursula ist taub und blind, abgestempelt noch dazu als epileptisch und idiotisch. Dunkel, isoliert und zutiefst einsam vegetiert es dahin, von der Umwelt durch eine scheinbar unüberwindliche Mauer getrennt. Die Heilpädagogin unternimmt es, mit Hilfe der Musik, der Rhythmik und einer unendlichen Geduld, das Kind aus seiner Isolierung zu lösen. Der ebenso behutsame wie beharrliche Versuch wird schließlich belohnt. Der Film zeigt jedoch auch: Der Sieg über extreme geistige oder körperliche Unvollkommenheit muß jeden Tag neu errungen werden - durch das Kind wie durch seine Erzieher. - Auf eindrucksvolle Weise wird immer wieder die These bildlich dokumentiert: In jedem, auch noch so schwer behinderten Kind stecken Fähigkeiten des Verstehens, die ausgeschöpft werden können" (Scheiblauer 1968, 6).

Auf der Basis von Scheiblauer definiert Muischneek (1980, 76) die Rhythmik folgendermaßen:

- "Die Funktion ist eine allgemein pädagogische.

- Das Ziel ist eine ganzheitliche Erfassung und Bildung des Menschen.

- Die Mittel dazu sind Bewegung und Musik einerseits, sowie ein vielfältiges Material andererseits."

Die allgemein pädagogische Funktion bedarf keiner speziellen Sonderpädagogik, auch keiner Integrationspädagogik, sondern die Erfahrung, daß sich Rhythmik bei allen Kindern ohne Unterschied günstig für deren Entwicklung einsetzten läßt. Man muß weder getrennte Gruppen von behinderten und nicht-behinderten Kindern organisieren, noch eine geplante Integration durchführen. Die Rhythmik bietet durch ihre Variationsvielfalt für alle Kinder ganz individuelle Entwicklungsräume. Rhythmik ist Teil einer allgemeinen Pädagogik, die Humanisierung aufgrund von Nichtaussonderung und beste Entwicklungschancen aufgrund von Vielfalt ermöglicht.

Die "ganzheitliche Erfassung und Bildung des Menschen" erfolgt über Musik und Material. Sowohl die Musik als auch das Material vermag eine Bewegungen anzustoßen oder auzuslösen, zu steuern und zu führen, zu ordnen und zu strukturieren. Ein Beispiel: "Der Umgang mit einem leichten, weichen, durchsichtigen, schwebenden, Nylon-Georgettetuch bewirkt oft, daß Kinder, die auffallen durch ihre steifen Bewegungen, sich zu lösen beginnen; sie getrauen sich z. B. auf einem Stuhl stehend das herabgleitende Tuch so spät wie möglich zu fassen und merken dabei nicht, daß sie in die Hocke gegangen sind und sich anschließend wieder aufrichten" (Muischneek 1980, 77).

Rhythmik will Neugierde wecken, neue Möglichkeiten erproben und dabei Grenzen erfahrbar machen. Ein wichtiger Aspekt in rhythmischen Übungen ist der Spannungsbogen von Gegensätzlichem. Durch Bewegung und andere Ausdrucksformen werden gegensätzliche Pole gestaltet und neu entdeckt. Übungen zu Begriffspaaren wie schnell - langsam, eckig - rund, laut - leise, leicht - schwer, ... werden durch die Sinne verschieden aufgenommen. Hier nützt die Rhythmik die entwicklungspsychologische Erkenntnis, daß Kindern sich durch Sinneserfahrungen ihre Welt der Begriffe aufbauen. Scheiblauer spricht von einem dreifachen Prozeß: vom Erleben übers Erkennen (Transfer) zum Benennen (vgl. Muischneek 1980).

Rhythmik beinhaltet eine Schulung der Sinne und Übungen zur Begriffsbildung. Sie versucht die Anlage und Fähigkeiten des Einzelnen optimal zu fördern, und dabei Nährboden für Beziehung zu sein. In der Rhythmik geht es nicht nur um das Sehen, sondern um das Schauen, nicht nur um das Hören, sondern um das Horchen. Das bedeutet, Rhythmik möchte durch die Übungen eine Erziehungsform sein, die die Beziehung in den Mittelpunkt stellt. Zum einen ist das die Beziehung zum Material. Das Neon-Tuch interessiert mich, d. h. wird wichtig für mich, ich nehme eine Beziehung zu diesem Material auf. Zum anderen ergibt sich eine Beziehung zum anderen Menschen. Erziehung beruht immer auf einem wechselseitigen Prozeß innerhalb eines sozialen Gefüges. Rhythmik geschieht meist innerhalb einer Gruppe. Ein weiter Bereich umfaßt Partnerübungen indem z. B. Führen und Folgen, oder Durchsetzten und Nachgeben, ausprobiert werden. Es gilt u.a. Verantwortung zu übernehmen oder Vertrauen zu entwickeln. Kurz gesagt ermöglicht Rhythmik eine Brücke von Mensch zu Mensch zu schlagen. "Die Erziehung zur Beziehung"(Sieber nach Muischneek 1980, 84) wird in vielfältigster Form geübt.

Der Bereich Rhythmik bzw. insgesamt das Kapitel Bewegung im Zusammenhang mit menschlicher Entwicklung bietet ein weites unendliches Themengebiet. Ich hoffe, zumindest ansatzweise, verschiedene Verbindungspunkte und einzelne Erziehungshilfen aufgezeichnet zu haben. Platon (427 - 347 v. Chr.) hat in der ersten Akademie der Menschheitsgeschichte mit drei Unterrichtsfächern begonnen: Philosophie, Mathematik und Gymnastik (vgl. Gaarder 1993). Er hat damals schon erkannt, daß neben Geistes- und Naturwissenschaft die Bewegung als wichtiges Element für Entwicklung dazugehört. Heute im 20. Jhd. gilt diese Erkenntnis wie vor mehr als 2000 Jahren.



[4] Die natürliche Bewegung ist nach Feldenkrais die gute bzw. richtige Bewegung. Sie ist rationell und effektiv, d. h. sie bedarf keines unnötigen Energieaufwands. Grundsätzlich muß m. E. mit den Begriffen "gut" bzw. "richtig" vorsichtig umgegangen werden, denn sie erzeugen logischerweise die Begriffe "schlecht" bzw. "falsch". Tatsächlich gibt es nicht nur die gute oder schlechte Bewegung, sondern in vielen Fällen liegt sie irgendwo zwischen den zwei Polen. Für jeden Menschen ist die Bewegung, die er gerade macht, seine beste Möglichkeit. Aufgrund seiner Erfahrungen und seiner Lebensgeschichte hat er sie so erlernt und nicht anders. Allerdings muß die individuell beste Lösung einer Bewegung nicht gleich die natürlichste sein.

[5] Selbstexperiment bei Rückenschmerzen: Beobachten Sie sich einmal bewußt, wie sie im Moment sitzen. Welche Muskelgruppen sind gerade angespannt? Werden wirklich alle diese Muskeln benötigt oder könnten einige Muskelpartien, ohne das Sitzen aufgeben zu müssen, entlastet werden?

[6] Die hier angeführten Erkenntnisse beziehen sich primär auf gesunde Kinder. Kranke oder beeinträchtigte Kinder entwickeln sich grundsätzlich gleich, allerdings muß ihre individuelle Situation berücksichtigt werden. Die Arbeiten von Monika Aly sind dazu besonders empfehlenswert (z. B.: Verzögerte Entwicklung - Therapeutische Begleitung von Kindern mit Entwicklungsproblemen; in : von Lüpke/Voß (Hg.): Entwicklung im Netzwerk 1994.

[7] Dr. Anna Tardos: Den Weg mit Kindern gemeinsam gehen; Seminar im Haus der Begegnung am 2. Okt. 1995 in Innsbruck.

Gemeinsamkeit

Wir brauchen eine Gesellschaft, in der Rahmenbedingungen vorhanden sind, die allen Menschen ein Zusammenleben ermöglichen. Entwicklung bedeutet immer Ko-Entwicklung. Indem wir andere Menschen ausgrenzen, vermindern wir unsere Entwicklungschancen.

Dieses Kapitel beinhaltet den letzten Aspekt einer Entwicklungstheorie, der mir bedeutsam erscheint.. Mit der Überschrift "Gemeinsamkeit" beschreibe ich ein pädagogisches Leitprinzip. Wichtig in meinen Ausführungen ist die subjektive Innensicht von betroffenen Menschen. Ich beschreibe ein Erklärungsmodell, das den Mechanismus von Trennung und Aussonderung zeigt. Durch die Kooperation am gemeinsamen Gegenstand wird es möglich, gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Entwicklung voranzutreiben. Insgesamt möchte ich ein Modell vorstellen, das für alle Menschen - ob krank oder gesund, behindert oder nicht-behindert[8], - ihre individuelle Entwicklung maßgeblich unterstützt. Entwicklung bezeichnet dabei einen lebenslangen Prozeß des sich-entfalten-könnens.

Innen - Außen

ich dichte erst jetzt ein lied über die freude am sprechen

ein lied für stumme autisten zu singen in anstalten und

irrenhäusern

nägel in astgabeln sind die instrumente

ich singe das lied aus der tiefe der hölle und rufe

alle stummen dieser welt

erklärt den gesang zu eurem lied

taut die eisigen mauern auf

und wehrt euch ausgestoßen zu werden

wir wollen eine neue generation der stummen sein

eine schar mit gesängen und neuen liedern

wie es die redenden noch nicht vernommen haben

unter allen dichtern fand ich keinen stummen

so wollen wir die ersten sein

und unüberhörbar ist unser gesang

ich dichte für meine stummen schwestern

für meine stummen brüder

uns soll man hören und einen platz geben wo wir unter

euch allen wohnen dürfen

in einem leben dieser gesellschaft

(Birger Sellin am 21. Sep. 1992)

Sellin (1993) gilt als Autist. Mit 18 Jahren erhält er die Möglichkeit der sogenannten "gestützten Kommunikation" (facilitated communication). Seit dieser Zeit produziert er Texte, die seine Welt beschreiben. Sellin ist nur einer von vielen Autor/innen, die zur Innensicht von Betroffenen Gedichte, autobiographische Schriften, Erzählungen und Romane veröffentlichen (vgl. Donna Williams 1994, Georg Paulmichl 1994, Hannah Green 1994, Oliver Sacks 1995). Eines wird bei allen Autoren und Autorinnen deutlich: Niemand hätte je ermessen können wie und in welchem Umfang sie denken, fühlen und wahrnehmen. Wir Außenstehende erhalten erst durch diese Schriften eine Ahnung von ihrer Welt. Wir müssen uns eingestehen, daß unsere Wahrnehmung von ihnen nicht mit der Eigenwahrnehmung der Betroffenen übereinstimmt.

Feuser (vgl. 1995, 1996) bietet in diesem Zusammenhang ein erkenntnistheoretisches Modell. In einer Feststellung wie etwa: "Der ist geistigbehindert!" weist diese Stigmatisierung immer auf den Aussagenden zurück. Feuser (1996c, 4) schreibt: "Es gibt Menschen, die WIR aufgrund UNSERER Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem WIR sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den WIR als 'geistigbehindert' bezeichnen." Das heißt aber noch lange nicht, daß dieser Mensch auch wirklich geistigbehindert ist.

Im wesentlichen sind es drei Schritte, die zu solch einer Klassifizierung führen und in Folge eine Aussonderung bewirken.

1.) Im ersten Schritt beobachten wir bestimmte Merkmale und/oder Verhaltensweisen einer Person. Diese Merkmale werden zusammengefaßt und ergeben eine Klassifikation. Der Andere ist autistisch, geistigbehindert, psychotisch, usw. Wir legen einen eng eingeschränkten Raster durch diagnostische Verfahren an, und glauben dadurch, den anderen Menschen verstehen zu können. Wir übersehen, daß der Andere viel mehr ist, als wir tatsächlich erkennen können. Es ergibt sich ein Mechanismus bei dem die eigene Verstehensgrenze auf den Anderen projiziert wird. Die eigene Begrenztheit wird zur Begrenztheit des Anderen.

2.) Im zweiten Schritt werden die Merkmale, die uns auffallen, zum "inneren Wesen" des Anderen umgedeutet. Sie werden als "Eigenschaften" dem Anderen unterstellt. Der Geistigbehinderte ist dann aufgrund eines bestimmten Intelligenzquotienten lernbehindert, debil oder schwachsinnig. Wir sprechen ihm negativ bewertete Eigenschaften zu.

3.) Im dritten Schritt handeln wir nach unserer Vorstellung seiner Begrenztheit. Der andere wird in Sondereinrichtungen untergebracht und besonders gefördert. Das bedeutet, daß wir dem Behinderten von Anfang an weniger Lernangebote anbieten (vgl. Lehrpläne in Sonderschulen im Vergleich zu Gymnasien). Meist werden homogene Gruppen gebildet. Lerntheoretisch widerspricht das völlig dem Lernen am günstigen Vorbild. Zynisch gefragt: Was soll oder kann ein "Schwachsinniger" von einem andern "Schwachsinnigen" schon lernen? Vielleicht noch mehr auffällige Verhaltensweisen? Durch unsere Macht schließen wir sie in Systeme ein, in dem sie nicht anders sein können, als wir sie uns zu denken vermögen. Damit bleiben sie einfach "dumm". Sie werden zu jenen Menschen, für die wir sie immer schon gehalten haben.

Dieser für den Betroffenen verhängnisvolle Kreislauf entspricht einem linearen Denken, in dem keine Übergänge, Sprünge oder Widersprüche vorkommen. Das dazugehörende Verständnis von Krankheit oder Behinderung entspricht dem klassischen, vorrelativistischen Weltbild. Unter Einbezug der Selbstorganisation- und Ko-Evolutionstheorie, verknüpft mit der modernen Physik und Chemie, ergibt sich - dem entgegengesetzt - ein neues Verständnis.

Zwei Hauptaussagen aus meiner Diplomarbeit stelle ich voran: a) Selbstorganisierende lebende System sind immer damit beschäftigt das Leben abzusichern. b) Überleben erfordert notwendige Austauschprozesse. In Anlehnung daran und im Überspringen von einigen Zwischenschritten und Ausführungen kann Krankheit oder Behinderung folgendermaßen neu definiert werden:

"[Das] was uns als Krankheit körperlicher und/oder psychischer Art bzw. als Behinderung erscheint, [ist] Ausdruck systemintegrativer Balancierung von Ausgangs- und Randbedingungen eines sich fern vom Gleichgewicht organisierenden und strukturierenden lebenden Systems. Das heißt, bezogen auf das konkrete Individuum: Was wir als 'Behinderung' fassen und an einem Menschen gering achten oder gar abqualifizieren, in der Regel aber als defizitär betrachten, ist Ausdruck einer Kompetenz; Ausdruck der Kompetenz, (autokompensatorisch und autoregulativ) lebensbeeinträchtigende (bio-psycho-soziale) Bedingungen zum Erhalt der individuellen Existenz im jeweiligen Milieu ins System zu integrieren. Mithin ist jede Form von Behinderung, psychischer und auch körperlicher Krankheit menschlich und menschenmöglich und unter bestimmten Bedingungen existentiell notwendig" (Feuser 1996c, 12).

Krankheit und Behinderung können als Regulationsprozesse verstanden werden, die dafür sorgen, daß ein System unter den momentanen Bedingungen überlebt. Es gibt in diesem Sinn kein besseres oder schlechteres Überleben. Der Maßstab liegt allein im Leben oder Nichtleben. Wenn ein System überlebt, dann kann seine Anpassung unter den gegebenen Bedingungen als beste Möglichkeit seiner Entwicklung und Evolution angesehen werden. Im Spiegel dieser Theorie erscheinen Krankheit und Behinderung als ein "entwicklungslogisches (und nicht 'pathologisches') Produkt der Systemevolution eines Menschen" (ebd. 3). Sellin verhält sich aufgrund seiner organischen und sozialen Ausgangs- und Randbedingungen autistisch, das entspricht seiner entwicklungslogischen Geschichte. Diese Entwicklung folgt einer - von ihm - selbst organisierten Logik, die - für ihn - die derzeitig einzig mögliche Lebensperspektive darstellt. Autistisch zu reagieren macht für ihn Sinn, denn dadurch gelingt es ihm, trotz seiner hochgradigen Wahrnehmungsstörung lebensnotwendige Bindungs- und Beziehungsstrukturen herzustellen.

Unter Berücksichtigung des Vorangegangenen dürfen wir nicht nur das als gegeben ansehen, was wir erkennen. Wer hätte je die Gedanken, Ideen, Träume und Wünsche von Sellin erahnen können? Stephen Hawking (1988), einer der wichtigsten, lebenden Wissenschaftler im Bereich der Kosmologie, Physik und Mathematik, würde mit Sicherheit in einem Pflegeheim dahinvegetieren, weil er uns als schwerstbehindert erscheint. Wer käme auf die Idee mit ihm über aktuelle wissenschaftliche Probleme zu diskutieren? Weil wir ihn aber, u. a. durch seine Bücher kennen, führt er ein völlig anderes Leben. Als Professor, mit enormen apparativen und personellen Hilfen ausgestattet (er ist weitgehend bewegungsunfähig und ohne verbale Sprache) beschäftigt er sich mit der Quantentheorie, dem Phänomen der "Schwarzen Löcher" und der "Zeit".

Aus diesen Überlegungen kann ein Leitsatz abgewandelt werden: Jeder Mensch, gleichgültig wie hoch seine Behinderung auch sein mag, muß als mögliches Genie angesehen werden. Weil wir nie wissen können, was der andere zu denken, fühlen und wahrnehmen vermag, müssen wir ihm umfangreichste Fähigkeiten als Möglichkeit zuerkennen. Der (die) Betroffene sollte nicht von uns getrennt in Sondereinrichtungen untergebracht werden, sondern sich in unserer alltäglichen Gemeinschaft aufhalten. Wir können von ihm und ihr nur lernen, wenn er und sie unter uns leben.

Dieser humanistische Leitsatz ist nicht nur ethisch zu vertreten, sondern bringt Vorteile für alle Beteiligten. Maturana und Varela (1987) zeigen, daß Entwicklung immer Ko-Entwicklung bedeutet, Evolution immer Ko-Evolution. Je vielfältiger und umfassender die Umwelt ausgestattet ist, um so mehr an Entwicklung wird möglich. Heterogenität fördert Entwicklung mehr als Homogenität. Beste Entwicklungschancen für den Behinderten als auch für uns werden möglich, wenn es gelingt, Rahmenbedingungen und Begleitungsdienste so anzubieten, daß Behinderte in unserer Gesellschaft leben können.

Unter Berücksichtigung der Selbstorganisations- und Ko-Evolutionstheorie macht jede Veränderung eines Systems Sinn. Wir wissen aus unserer Alltagserfahrung, daß wir gut lernen, wenn uns etwas bedeutsam erscheint und subjektiv Sinn macht. Die Bedeutung und der Sinn kommen aufgrund unserer Erfahrung und deren Bewertung zustande. Dieses Prinzip gilt ebenso auf fundamentalstem (biologischem) Niveau. Das komplexe, lebende System Mensch entwickelt Krankheit, Behinderung und andere Reaktions- und Verhaltensweisen, weil es für sein Überleben Sinn macht, aufgrund seiner individuellen Erfahrung (Biographie) und seiner Erfahrung in der biologischen Abstammungslinie (Evolution). Der Sinn einer Veränderung kann entwicklungslogisch nicht zerstört werden. Was beim Menschen zerstört werden kann ist das Vertrauen gegenüber anderen Menschen.

Maturana und Varela (1987) führen eine logische Beweiskette, daß das Überleben des Lebendigen sowohl im onto- als auch im phylogenetischen Bereich nicht primär auf Konkurrenz angelegt ist. Nicht Darwins Sichtweise des"Gesetzes des Dschungels", in dem nur der Stärkere überlebt, erscheint für das Überleben primär von Bedeutung, sondern die Kooperation. In der Evolution hat ein selbstloses, gemeinsame Handeln in einer Gruppe, die gelernt hat sich anzupassen, vielfältigere Überlebenschancen als der Einzelkämpfer. Kooperation bedarf einer Abstimmung bzw. einer Art der Verständigung. Die Beteiligten müssen irgendwie in Beziehung miteinander sein und ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen aufbringen. Bei behinderten oder kranken Menschen, die wir nicht verstehen, besteht die Gefahr, daß ein gemeinsames Handeln nicht mehr erfolgt. Es heißt dann vielleicht: "Das kann der ja nicht verstehen!" Obwohl wir es objektiv nie wissen können, verhalten wir uns so, als ob dies eine Tatsache wäre. Dem Betroffenen werden dadurch notwendige Beziehungsmöglichkeiten entzogen. Weniger Beziehung bedeutet meistens auch weniger Verständnis und weniger Vertrauen. Das führt soweit, daß wir den entwicklungslogischen Sinn einer Krankheit oder Behinderung verkennen und nur noch das Leiden der beeinträchtigten Menschen als gegeben erachten. Unter diesen Bedingungen, bei dem nicht mehr mit, sondern nur noch über den betroffenen Menschen gehandelt (verhandelt, behandelt) wird, scheint es verständlich, warum einzelne Menschen es vorziehen, lieber nicht mehr zu leben. " Die Leiden, die schwerstbeeinträchtigten Menschen vor allem von den Euthanasiebefürwortern zugeschrieben werden und von denen sie nach deren Meinung aus Gründen der Menschlichkeit durch ihre Tötung befreit werden müßten, resultieren nicht primär aus ihrer Behinderung, auch nicht primär aus möglichen Schmerzzuständen, sondern wesentlich aus ihrer Ausgrenzung und aus dem Verlust des Vertrauens in ihre Mitmenschen" (Feuser 1995, 128).

Ich fasse zusammen und möchte folgendes ableiten: Entwicklung ist biologisch betrachtet primär von der Vielfalt und Komplexität der Umwelt abhängig. Sie ist abhängig von der Kooperation an einem gemeinsamen Gegenstand (damit können Probleme, Themen, Inhalte, Objekte gemeint sein). Über die Kooperation kann eine dialogische Beziehung geschaffen werden, die lebensnotwendige und mithin entwicklungsnotwendige Bedingungen erfüllt.

Die Kooperation bringt nicht nur aus biologischer Sicht Vorteile. Wesentliche Argumente für eine Kooperation ergeben sich auch aus einer psychologisch-soziologischen Sichtweise. Ich beschränke mich in diesem Rahmen auf ein Buch von Alfie Kohn (1989), der in vieler Hinsicht die Vorteile von Kooperation im Gegensatz zur Konkurrenz (Wettbewerb) herausgearbeitet hat.

Kooperation versus Konkurrenz

"Mit vereinten Kräften" heißt das Buch, in dem Kohn (1989) aus psychologisch-soziologischer Sicht beschreibt, warum die Kooperation der Konkurrenz überlegen ist. Er zeigt auf, daß Konkurrenz auf lange Sicht dem Erfolg kontraproduktiv entgegensteht. Ich möchte Erfolg in diesem Zusammenhang mit Entwicklung in Verbindung bringen und aussagen, daß Entwicklung gerade durch Kooperation ermöglicht wird. Seine Argumente für kooperativen Erfolg lassen sich m. E. gut auf Entwicklung umlegen.

Der allgemeinen Auffassung, daß Konkurrenz (Wettbewerb) für den Menschen häufig erfolgreiche Auswirkungen habe, widerspricht Kohn vehement. In der Konkurrenz werden Verlierer und Sieger voneinander getrennt. Der Verlierer gilt als Versager, der Sieger als Gewinner. Seine Analysen zeigen, daß der Erfolge, der durch Wettbewerb erreicht wurde, einen hohen und fragwürdigen Preis verlangt, z. B. in der Angst vor dem Verlust der errungenen Position, Einsamkeit und inneren Leere. Dem entgegen setzt er den Begriff der Kooperation.

"Die Rede ist hier von einem Zusammenhang, der nicht nur nicht konkurrent ist, sondern Zusammenarbeit erfordert, wenn wir unsere Ziele erreichen wollen. Strukturelle Kooperation heißt, wir müssen unsere Anstrengungen koordinieren, weil ich nur dann Erfolg haben kann, wenn auch Du Erfolgt hast und umgekehrt. Belohnt wird nur die kollektive Anstrengung. Ein Klassenzimmer ist nicht schon deshalb kooperativ, weil die Schüler in der Runde sitzen, oder miteinander reden oder auch Materialien gemeinsam benutzen, sondern erst dann, wenn die erforderliche Bewältigung der Aufgabe den Beitrag aller Schüler erfordert und es deshalb das Interesse eines jeden ist, daß die anderen Erfolg haben. (...) Die Annahme ist falsch, Wettbewerb sei deshalb erfolgreicher, weil er unsere Neigung auszunutzen weiß, sich an die Spitze zu setzen, während wir bei der Kooperation alle bereit sein müßten, einander helfen zu wollen. Die strukturelle Kooperation verweigert sich der gängigen Dichotomie Egoismus/Altruismus. Sie strukturiert die Situation so, daß ich mir selbst etwas Gutes tue, wenn ich Dich unterstütze. (...) Kooperation ist eine geschickte und äußerst erfolgreiche Strategie - eine pragmatische Entscheidung, aufgrund derer bei der Arbeit und in der Schule Probleme schneller und effektiver gelöst werden" (Kohn 1989, 8).

Die m. E. wichtigsten zwei Ergebnisse von Kohn sagen aus, daß durch Kooperation im Gegensatz zum Wettbewerb eine produktivere und kreativere Problemlösung ermöglicht wird (dadurch steigt auch die Selbstwertschätzung der Beteiligen) und positive zwischenmenschliche Konsequenzen entstehen können. Detaillierter ausgedrückt ermutigt Kooperation zu mehr Leistung, ermöglicht mehr Sensibilität für die Bedürfnisse anderer, die Beteiligten übernehmen eher die Perspektive des anderen, und insgesamt betrachtet verbessert Kooperation die Kommunikation und das Vertrauen des Einzelnen (vgl. Kohn 1989, 182f). Besonders die letzteren Aspekte scheinen mir besonders wertvoll, weil dadurch der Mensch in den Mittelpunkt rückt.

Kohn stützt sich bei seinen Aussagen u. a. auf die empirischen Forschungsergebnisse von David und Roger Johnson (1981) und deren Mitarbeiter. Sie verglichen Studien, in denen die Leistung in a) konkurrenten, b) kooperativen und c) individualistischen Strukturen zum Thema gemacht wurden. Das Ergebnis spricht eindeutig für Kooperation: 65 Studien kamen zum Schluß, Kooperation rufe höhere Leistungen hervor als Wettbewerb, 8 Studien sprachen dagegen und 36 fanden keine statistisch signifikante Differenz. Im Verhältnis Kooperation versus individualistische, unabhängige Arbeit schnitten 108 Studien besser ab im Bereich der Kooperation, 6 kamen zur gegenteiligen Ansicht und 42 Studien führten keinen statistisch signifikanten Unterschied an. Zusammenfaßt ist Kohn (1989, 56f) unter Berufung von Johnson & Johnson, folgender Ansicht: "Gegenwärtig gibt es keine Art von Aufgabe, bei der eine kooperative Herangehensweise weniger effektiv ist als ein konkurrenter oder individualistischer Ansatz, und bei den meisten Aufgaben (insbesondere den wichtigen Lernaufgaben wie Begriffsaneignung, verbale Problemlösung, Kategorisierung, räumliches Denken, Erinnern und Gedächtnis, Motorik, Erraten/Beurteilen/Vorhersagen) fördert Kooperation die Leistung."

Kooperation baut Brücken, und die Beteiligten neigen dazu, gegenseitig positive Gefühle zu entwickeln. Der Wettbewerb, bei dem es Erste und Zweite, einen Gewinner und viele Verlierer gibt, bietet dagegen ein äußerst schlechtes Klima, um Beziehungen gedeihen zu lassen. Diese Aussage bedeutet nicht, daß Kooperation einen Zustand steter Harmonie darstellt. "Echtes Lernen glättet nicht und überspielt nicht. Dasselbe gilt für effizientes Problemlösen: Die rigide Forderung nach Einigkeit hindert die Beteiligten daran, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse für das Gruppenziel fruchtbar zu machen. (...) Wir hegen positivere Gefühle füreinander, wenn wir unseren Meinungsverschiedenheiten Ausdruck verleihen als wenn wir Übereinstimmung vortäuschen. Aber wir müssen ihnen in einer Situation des miteinander, nicht des gegeneinander Arbeitens Ausdruck verleihen. Strukturelle Kooperation steht keineswegs im Gegensatz zu Konflikt. Sie schafft vielmehr den notwendigen Raum, in dem sich Konflikte ohne die giftigen Feindseligkeiten einer Gewinner-Verlierer-Situation produktiv lösen lassen" (ebd. 189; 191).

Erfolg nach Kohn kann als Ergebnis des gemeinsamen Arbeitens angesehen werden. Dabei müssen wir weder unsere Leistungsorientierung noch einen gesunden Egoismus hintanstellen; die Kooperation wird sowohl dem Einen als auch dem Anderen gerecht. (Auf die Problematik der immer schnelleren, immer höheren Leistungsorientierung und des Egoismus in unserer Gesellschaft gehe ich in diesem Zusammenhang nicht ein.)

Resümee

Nach den bisherigen Überlegungen können wir festhalten, daß Entwicklung besonders gut gelingt,

- wenn eine möglichst komplexe und heterogene Umgebung vorhanden ist und

- wenn die Kooperation an einer gemeinsamen Sache erfolgt.

Daraus ergibt sich die Frage nach der Legitimation von pädagogischen Einrichtungen, die behaupten, besondere Entwicklungsmöglichkeiten für spezielle Kinder und Jugendliche anzubieten. Worin liegt die besondere Förderung, wenn die natürliche Vielfalt ausgesperrt wird? Manchmal wird behauptet, diese Kinder bräuchten einen Schonraum, damit ihre Entwicklung günstig beeinflußt werden kann. Bietet ein Schonraum wirklich günstige Entwicklungschancen? Oder bietet er nicht vielmehr eine starke Einschränkung bzw. Reduktion von Beziehungs- und Lernangeboten. Sellin (um wieder zum Ausgangspunkt zurück zu kehren) in eine Sonderanstalt zu sperren bedeutet, ihn von unserer Gemeinschaft auszugrenzen und seine Entwicklungschancen zu minimieren. Obwohl wir vieles nicht verstehen können und sein Verhalten uns ungewöhnlich erscheint, braucht er nichts wesentlicheres als einen Platz unter uns. "uns soll man hören und einen platz geben wo wir unter euch allen wohnen dürfen in einem leben dieser gesellschaft." (Sellin am 21. Sep. 1992)

Die Arbeit gegen Ausgrenzung und für Integration kann als eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe unserer Zeit angesehen werden. In den letzten Jahrzehnten konnten immer mehr wissenschaftliche Studien die Bedeutung der Notwendigkeit von Integration aufzeigen. Die Notwendigkeit von Integration betrifft jede "totale Institution" (vgl. Goffman 1996), ob Schul- oder Altersheim, Internat oder Psychiatrie. Goffmans Klassiker "Asyle", erstmals erschienen 1961, war eine der ersten, umfassenden Untersuchungen zu diesem Thema. Er beschrieb das soziale Milieu speziell von psychiatrischen Klinikinsassen und zwar so, wie dieses Milieu von den Patienten subjektiv erlebt wurde. Er kam damals schon zur zentralen These, daß die wichtigsten Faktoren, die einen Patienten prägen, nicht die Krankheit, sondern die Institution darstellt.

Gegen Ende der 90er Jahren geht es nach wie vor darum, die vielfältigen Formen der Ausgrenzung zu überwinden und für Integration zu kämpfen. Die positiven Erfahrungen und Ergebnisse werden noch nicht durch die breite Bevölkerung gestützt. Vielleicht liegt es daran, daß es noch viel zu viel eingesperrte, abgeschobene, ausgegrenzte Menschen gibt. Wir sind m. E. alle aufgefordert täglich neu - und immer wieder - den Schritt der Gemeinsamkeit zu leben; das reicht zum Vorteil der Ausgestoßenen und zum Vorteil unserer eigenen Entwicklung.

Als Zusammenfassung folgen "Zehn Gründe für ein Leben ohne Ausgrenzung" von Inclusion International, eine von der UNESCO unterstützte Internationale Liga von Gesellschaften für Menschen mit geistiger Behinderung (ILSMH). Entnommen aus: Getting there - Nov. 1995.

Erziehung ohne Ausgrenzung ist ein Menschenrecht,

bedeutet gute Erziehung und ist sozial sinnvoll.

Menschenrechte

1.- Alle Kinder haben ein Recht darauf, miteinander zu lernen.

2.- Kinder sollten nicht aufgrund von Behinderung oder Lernschwierigkeiten abgewertet

oder diskriminiert werden, indem man sie aussondert oder abweist.

3.- Behinderte Erwachsene, die, nach ihren eigenen Worten, die Sonderschule "überlebt"

haben, fordern die Abschaffung der Segregation.

4.- Es gibt keine Rechtfertigung dafür, Kinder aus pädagogischen

Gründen auszusondern. Kinder gehören zusammen - zum Vorteil und Wohle aller. Man

muß sie nicht voneinander schützen.

Gute Erziehung

5.- Forschungen zeigen, daß sich Kinder in einer integrativen Umgebung intellektuell und

sozial besser entwickeln.

6.- Es gibt kein Unterrichts- oder Betreuungsangebot in einer Sonderschule, das nicht auch

in der Regelschule möglich wäre.

7.- Bei ausreichendem Engagement und Unterstützung nutzt

Erziehung ohne Ausgrenzung die vorhandenen Ressourcen besser und wirkungsvoller aus.

Sozialer Sinn

8.- Aussonderung lehrt die Kinder Angst und Unwissenheit und ist ein Nährboden für Vorurteile.

9.- Alle Kinder brauchen eine Erziehung, die ihnen hilft, Beziehungen zu entwickeln und ein Leben in der normalen Welt zu führen.

10.- Nur ein Leben ohne Ausgrenzung kann Ängste abbauen und Freundschaft, Achtung und Verständnis aufbauen.

Centre for Studies on Inclusive Education (CSIE) - Großbritannien 1995



[8] Mit der hier vereinfachten Trennung von krank und gesund, behindert und nicht-behindert muß vorsichtig umgegangen werden, denn diese Erscheinungen lassen sich m. E. nicht eindeutig bestimmen. Diese persönliche Einsicht stützt sich primär auf zwei Prämissen: 1.) Leben beinhaltet immer beides, wir leben nie ausschließlich in dem einen oder anderen, augenblicklichen Zustand. 2.) Die Entstehung der Begriffe folgt einer Klassifizierung gemessen an einer bestimmten Norm. Ich zweifle diese Norm(en) an.

Interview

Vorbemerkung

Mit dem Schlußkapitel kehre ich wieder zurück an den Anfang: Jedes Erkennen ist Tun und jedes Tun ist Erkennen. Das nachfolgende Interview erstellte ich, bevor alle anderen Kapitel schriftlich niedergelegt waren. Es kann daher als ein Ausgangspunkt angesehen werden. In meiner Studienzeit war es mir immer wichtig neben der Theorie, Erfahrungen in der Praxis zu sammeln. Die persönlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Arbeit in der Psychiatrie lenkten meine Aufmerksamkeit ganz wesentlich in die Richtung der Schlagworte Erkenntnis - Selbstorganisation - Dialog - Bewegung - Gemeinsamkeit.

Das Interview wurde am 16. Februar 1996 im Haus der Interviewpartnerin aufgenommen. Sie schildert die Situation einer Gruppe von Menschen in der Psychiatrie aus ihrer subjektiven Sicht. Ich habe aus meinen Aufzeichnungen über die Gruppe dieses Interview ausgewählt, weil darin verschiedene Entwicklungsprozesse der einzelnen Menschen anschaulich beschrieben werden. Die Aussagen der Interviewpartnerin lassen sich zum Großteil mit meinen theoretischen Aspekten in einen Zusammenhang bringen. Außerdem gibt das Interview einen Einblick in den psychiatrischen Alltag dieser Gruppe.

Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, habe ich die gesprochene Dialektform überarbeitet und die vorliegende Fassung geschaffen. Sie weicht inhaltlich nicht vom Interview ab, sondern ist lediglich in ein Schriftdeutsch umgesetzt worden. Bei einigen Aussagen, die die pädagogische Arbeit der Interviewpartnerin betreffen, bin ich anderer Meinung bzw. verfolge ich andere Ansätze. Diese verschiedenen Auffassungen haben mit dazu beigetragen, daß das Projekt "Rhythmik in der Psychiatrie" letztlich nicht den geplanten Ausgang nahm.

Zu Beginn der Arbeit setzten wir große Hoffnungen in das Ziel, mit der Gruppe den Schritt in ein ausgegliedertes Wohnprojekt realisieren zu können. Diese Pläne mußten bald auf unbestimmte Zeit verschoben werden, weil konkrete Vorhaben sich in Luft auflösten. Im Frühjahr 1996 waren wir - und damit meine ich insbesondere jene Personen, die an den Rhythmik-Stunden mitwirkten - in der Arbeit völlig demotiviert. Zudem führte in dieser Zeit ein dramatischer Zwischenfall innerhalb der Gruppe dazu, daß sich die erarbeitete Gemeinschaft auflöste. Die Gruppe schien wieder in beziehungslose Einzelwesen, innerhalb einer totalen Institution (vgl. Goffman 1996), zu zerfallen. Für uns entstand der Eindruck, wieder von vorne anfangen zu müssen. Im Juni 1996 beendeten wir das Projekt "Rhythmik in der Psychiatrie", ohne an die bereits erfahrenen Erfolge angeknüpft zu haben.

Zwei wesentliche Schlußfolgerungen möchte ich ein halbes Jahr nach der letzten Rhythmik-Stunde ableiten:

1.) Wir erfuhren, daß selbst bei scheinbar hoffnungslosen Fällen völlig unerwartete Entwicklungsschritte möglich sein können.

2.) Wir erfuhren aber auch, daß die gemeinsame Arbeit an Integration und Entwicklung viel mehr an Konsequenz und Ausdauer erfordert, als uns unter den vorgegebenen Bedingungen möglich war.

Interview

Interviewer: Es freut mich, daß wir dieses Interview führen können. Meine erste Frage bezieht sich auf deine Person: Was ist dein Hintergrund und was machst du?

MM: Ich arbeite momentan als Pädagogin mit einer Gruppe von sechs geistig Behinderten, die zum Großteil zwischen 10 und 40 Jahren in ...

Interviewer: 40 ?

MM: Ja, 40 ... in einer Anstalt leben oder gelebt haben. Und auch in verschiedensten Heimen, also nicht nur in psychiatrischen Anstalten, sondern auch in Behindertenheimen, Kinderheimen, Sonderschulen ... alles Mögliche in dieser Richtung. Sie sind jetzt in dieser Gruppe zusammen und uns geht es darum, so etwas wie eine Tagesstruktur zu schaffen und einfach ihren Lebensraum zu verändern, so daß es möglichst in eine "normale" Richtung geht. Wir sind dort zu dritt, zwei Pädagoginnen und eine Psychologin als hauptamtliches Team. Dazu haben wir noch einen Zivildiener und einen Praktikanten, und wir bekommen jetzt noch sogenanntes ungeschultes Personal dazu. Unsere Aufgabe bzw. auch meine ist es, die ganze Gruppe zu organisieren und dies vor allem auf unserem pädagogisch-psychologischen Hintergrund aufzubauen. Es geht uns sozusagen darum, die inhaltliche Leitung von dieser Gruppe zu übernehmen. Unser Schwerpunkt geht in Richtung Integration, was für uns momentan noch recht schwierig ist, weil wir einfach noch in einer Großinstitution sind und - ja - es läßt sich zwar einiges umsetzen, aber nicht so vollständig wie wir das gerne hätten. Unser Hauptziel ist es, daran weiterzuarbeiten, daß sich die Bedingungen für die Menschen dort wirklich so verändern, daß sie ein möglichst normales Leben führen können. Also, daß ihre Lebensbedingungen normal werden. Nicht, daß sie normal werden, sondern, daß sich ihre Lebensbedingungen grundlegend verändern.

Interviewer: Seit wann bist du in dieser Einrichtung der Psychiatrie?

MM: Ja, das ist so ziemlich genau ein Jahr und zwei Wochen.

Interviewer: Und hast du immer mit der gleichen Gruppe gearbeitet?

MM: Immer mit der gleichen Gruppe, wobei sie sich insofern verändert hat, als daß es zuerst eine Gruppe von sieben Leuten war, und dann eine Frau vor ca. vier Monaten ausgegliedert worden ist, d. h. sie ist in eine Wohngemeinschaft ganz nach draußen gekommen. Sonst hat sich die Gruppe nicht verändert. Sie wird sich jetzt dann vermutlich wieder verändern, weil der Platz von der Frau nachbesetzt wird und eine Frau wahrscheinlich bald, also in ein paar Monaten, auch wieder aus der Gruppe weggehen wird. Also insofern ist die Gruppe ein Stück weit in Bewegung. Aber ich glaube, man kann sagen, daß es eher eine stabile Gruppe ist - also es verändert sich nicht die ganze Gruppe.

Interviewer: Wie sieht es derzeit innerhalb der Gruppe aus? Was fällt dir innerhalb der Gruppe auf?

MM: Was mir im Moment am meisten auffällt ist - ich kann nicht den genauen Zeitpunkt sagen, ab wann das passiert ist, weil das immer so ein bißchen fortlaufend ist, daß vielmehr so ein Gruppengefühl entstanden ist. Am Anfang war es eher so, daß die Leute mehr oder weniger gezwungenermaßen in der Gruppe zusammen waren und nicht unbedingt allzuviel Beziehung miteinander hatten - außer, daß sie alle eine Anstaltsgeschichte haben und sich von dort auch ein bißchen kennen, aber es waren keine persönlicheren Bindungen da. Es hat sich nun in diese Richtung entwickelt, daß sie ganz anders aufeinander reagieren und einander auch in das ganze Geschehen einbeziehen. Wobei ich jetzt nicht genau sagen kann, woran das liegt, warum das so entstanden ist ... Ich denke mir, wahrscheinlich, weil wir den Tag miteinander verbringen, und es daher auch viel mehr Möglichkeiten gibt, daß etwas Gemeinsames entsteht. Vorallem merkt man es jetzt an den Personen, die sich verbal äußern können, und die einfach die anderen Gruppenmitglieder miteinbeziehen. Es hat nun einen Stellenwert bekommen, was der andere tut und wie es ihm geht. So etwas wie, ob der andere heute gut gelaunt ist oder ob er schlecht gelaunt ist, wird wichtig.

Auch die Sprache hat sich verändert. Das zeigt sich im Austausch mit anderen oder wenn über jemand anderen geredet wird - das war früher viel negativer. So hat z. B. die Helene früher über die Gabi immer gesagt: "Der Geier, die frißt so viel!" Und jetzt sagt sie, wenn sie die Gabi jemandem vorstellt: "Die Gabi ißt gerne, die mag einfach gerne essen." Es ist bei weitem nicht mehr so aufgeladen oder negativ besetzt - die Gabi ist für sie nun offensichtlich eine Person geworden, die nicht einfach ein "Geier" ist, sondern die halt gerne ißt.

Oder: Auch Wahrnehmungen in der Art wie: "Heute geht's der Gabi nicht gut!" bringen zum Ausdruck, daß sich das Verhalten der Gruppenmitglieder zueinander verändert. Es kann vorkommen, daß die Helene die Gabi an der Hand nimmt. Früher hat sie sie zwar auch an der Hand genommen, aber da hat sie sie eher gerissen. Jetzt gibt sie ihr die Hand und kann dann auch sagen: "Die Gabi freut sich, wenn sie mit mir gehen kann!" oder: "Die Gabi mag mich gerne!". Ich glaube, sie nimmt die Gabi nun ein Stück weit als Persönlichkeit wahr. Sie sieht die Gabi nicht mehr nur als ein Objekt, das man halt zieht und das dann halt mitgeht, sondern sie gesteht ihr Aktivität zu.

Auch Martin ist ein Beispiel dafür, daß sich einiges in der Gruppe verändert hat. Also der lacht, wenn ich komme, daß ich ihn ganz anders wahrnehme als früher. Früher stand er halt da und "fuchtelte", ohne daß ich einen Bezug herstellen konnte. Heute glaube ich, ihn zumindest manchmal recht gut verstehen zu können. Ich glaube auch, daß er sich viel mehr verstanden fühlt - das hat sich seit früher schon geändert. Auch beim Eugen ist das auffallend. Er kann es zwar nicht verbal ausdrücken, daß die Gruppe für ihn wichtig geworden ist. Es ist sehr auffallend, daß er die Leute in seine Aktivitäten miteinbezieht - nicht nur das Personal, das etwas mit ihm tut, sondern auch die anderen Gruppenmitglieder. Ein Beispiel: Seit zwei, drei Wochen bringt er dem Martin Geschenke. Die hat er sonst immer nur uns gebracht. Jetzt hat er auf einmal angefangen dem Martin sein Tuch zu geben. Ich glaube, es sind hier sehr große Schritte gemacht worden. Ich nehme in unserer Gruppe nicht mehr nur ein "Nebeneinander-Zusammensein" wahr, sondern ich glaube, es entstehen jetzt wirklich so etwas wie Gemeinsamkeiten.

Interviewer: Kann man die Entwicklung eines Gruppengefühls an irgendeinem Punkt z. B. vor einem halben Jahr, festmachen, oder geht die Entwicklung eher fließend vor sich?

MM: Ich kann nicht einen genauen Zeitpunkt angeben, an dem die Entwicklung begonnen hat - in diesem Sinne ist die Entwicklung sehr fließend. Aber wenn ich mich zurückerinnere, ist vor einem halben Jahr die Zeit gewesen, als wirklich massive Entwicklungen eingesetzt haben. Zuerst war es einfach so - wie ich schon gesagt habe - man war halt zusammen. Das war irgendwie ganz fein, aber es gab keinen Bezug zueinander. Und dann hat es ganz viele Kämpfe in der Gruppe gegeben. Ich glaube, durch diese Kämpfe haben sie uns alle ein Stück weit "getestet": Halten wir sie so aus, wie sie alle sind? In allen Facetten? Also z. B. bei der Helene war das sehr massiv, wirklich alles durchzuspielen; Andrea und auch Eugen mit tagelangem Schreien; Martin, der sich überhaupt nicht mehr von seinem Platz bewegt hat und nur sehr, sehr stur war. Mit der Zeit hat sich dann so etwas entwickelt wie ..: Jetzt sind wir da, sie nehmen uns so wie wir sind, sie können es aushalten, sie können uns aushalten. Es ist nicht das wiederholt worden, daß man wieder wegkommt, woanders hin, weil man nicht tragbar ist. Ich glaube, von da an war auch der Raum gegeben, so daß Entwicklung möglich war. Wann es genau angefangen hat, kann ich nicht sagen. Ich denke mir, vieles haben wir auch kaum wahrnehmen können wegen der Andrea, mit der wir oft so beschäftigt waren, daß wir oft gar nicht mitbekommen haben, was die anderen jetzt in der jeweiligen Konstellation noch tun können. Ich glaube, sie hatten trotzdem noch sehr viel Raum sich zu entwickeln. Obwohl es mit Andrea sehr schwierig ist, bin ich überzeugt, daß gerade sie für die Gruppe wichtig ist. Ich meine, man kann auch ganz viel von ihr lernen.

Interviewer: Kannst du das besser beschreiben? Was meinst du mit "schwierig"?

MM: Schwierig ist einfach, glaube ich, ihr - ich sage jetzt einmal - ihr unstillbarer Hunger nach Zuwendung, nach Aufmerksamkeit und ihr ständiges Gefühl, sie bekommt davon zuwenig. Ich glaube, daß das ein ganz berechtigtes Gefühl ist - nur ist es kaum möglich, diesen Hunger von Andrea zu stillen.

Interviewer: Ein konkretes Beispiel oder eine konkrete Geschichte würde mich interessieren.

MM: Ich erzähle dir jetzt eine Alltagsgeschichte, es ist keine dieser Spitzengeschichten, sondern ich erzähle dir einfach einen normalen Tag mit Andrea. Das beginnt um 7.00 Uhr in der Früh. Sie äußerst mindestens zehn bis fünfzehn Dinge, die sie haben will, die wir jetzt sofort für sie tun sollen. Das reicht von bügeln bis ihre Kleidung flicken bis ... und das alles sofort und jetzt und ja nicht sagen "ich habe jetzt keine Zeit" oder "ich muß zuerst für jemand anderen etwas tun"; das ist das eine. Dann geht es meistens weiter, daß sie einfach ständig nach jemandem von uns schreit. Sie braucht den ganzen Tag irgend etwas und meistens sind es Sachen, die in unseren Augen überhaupt nicht wichtig sind. Die Dinge sind wahrscheinlich auch für sie gar nicht wichtig, sondern es geht einfach darum, daß jemand einzig und ausschließlich für sie da ist. Und dann wird sie halt einfach irrsinnig schnell zornig und aggressiv. Sie lebt ihre Eifersucht und ihren Zorn dann bei anderen aus. Das ist auch ihr Druckmittel, glaube ich, dann gegen andere Leute aggressiv und auch wirklich tätlich zu werden. Sie kann wirklich massiv Gewalt ausüben. Wobei ich sagen muß, sie hat dazugelernt, das hat sich auch geändert. Sie geht nicht mehr nur auf andere Leute los, sondern sie agiert das auch anders aus, indem sie z. B. mit Sachen wirft oder solchen Dingen. Früher haben wir immer Angst haben müssen, daß sie wirklich jemanden würgt, diese Angst ist eigentlich nicht mehr da. Sie hat gelernt, daß das die Grenze ist, die sie absolut nicht überschreiten darf.

Ich denke mir, daß das für die anderen Personen in der Gruppe manchmal sehr belastend und schwierig ist, wenn die Andrea solche Sachen macht oder auch den ganzen Tag schreit. Umgekehrt haben sie durch Andrea gelernt, mehr zu fordern. Sie haben gelernt, wenn sie einfach still sind, und sozusagen "brav" sind, dann bekommen sie sicher zu wenig. Sie haben aber auch teilweise gelernt - ich nenne es einfach einmal so - in einer positiven Art zu fordern. Ich glaube, sie haben es miterleben können, daß wir anders reagieren. Wenn jetzt z. B. die Helene herkommt und sagt: "Ach bitte könntest du mich baden?", daß ich dann gerne mit ihr baden gehe. Hingegen wenn sie schreiend kommt: Du hast das und das und das nicht getan, daß ich's dann vielleicht auch mache, aber daß ich's einfach nicht mehr gerne mache. Oder z. B. der Eugen. Wenn der Eugen etwas will, der kann dich anlachen - ich meine, er schreit zwar dann, wenn er etwas nicht will, aber er vermittelt dir auch etwas sehr Positives. Ich glaube, da haben sie von der Andrea ganz viel lernen können. Sie haben auch miterlebt, daß die Andrea in unterschiedlicher Art und Weise fordert und wir dann unterschiedlich darauf eingehen. Das war für alle ganz wichtig - auch das, was sie durch ihr Verhalten einfach an Leben mithereinbringt. Sie kann ja auch irrsinnig lustig sein und es ist einfach bewegt mit ihr. Ich glaube, daß die Andrea für die Gruppe sehr wichtig ist, weil durch sie sehr viel an Leben in die Gruppe kommt. Das glaube ich schon, auch wenn es manchmal beängstigend ist. Aber ich glaube, inzwischen ist das Vertrauen so groß, daß alle anderen wissen, wir können sie auch vor Andrea schützen. Sie haben irgendwann im Lauf der Zeit die Sicherheit bekommen, daß ihnen eigentlich nichts passieren kann. Also, daß wir uns schon so irgendwie "dazwischen werfen". Sie haben gesehen, daß wir die Andrea auch dann, wenn sie ausrastet irgendwie "kontrollieren", so daß nichts Ernstes passiert. Also, daß es darauf hinausläuft, mit Möbel zu werfen oder verbal aggressiv zu sein, und daß sie sich nicht mehr traut, tätlich zu werden. Ich glaube, es war für die Andrea wichtig zu erleben, daß uns die anderen Personen so wichtig sind. Sie hat erlebt, daß sie sich nicht durchsetzt, wenn es um andere Gruppenmitglieder geht - daß wir bestimmte Dinge einfach nicht zulassen. Da ist eine Grenze und wenn sie die überschreitet - ich weiß nicht, welche Phantasie sie dazu hat - ich kann mir nur denken, daß sie wahrscheinlich eine Vorstellung hat, daß dann etwas Schlimmes passiert und daß sie dann vielleicht aus der Gruppe heraus muß. Andrea hat erkannt, daß wir uns das einfach nicht nehmen lassen, oder daß wir eine Gabi einfach in der Gruppe haben wollen. Sie kann es nicht erreichen, daß wir z. B. die Gabi wegen ihr aus der Gruppe nehmen. Oder daß wir es auch ausgehalten haben, wie damals noch die Hildegard in der Gruppe war, daß wir auch die Hildegard vor ihr geschützt haben. Ja, solche Dinge haben sich schon ein Stück weit verbessert. Es sind nach wie vor unheimliche Kämpfe, aber sie lernt und wir lernen dazu, und die ganze Gruppe profitiert von diesem Prozeß sehr viel. So schrecklich das manchmal erscheinen mag, und wie ermüdend es auch ist, aber auf der anderen Seite stecken ganz viele Möglichkeiten in dieser Situation.

Interviewer: Welche schönen Erlebnisse hat es in der letzten Zeit in der Gruppe gegeben?

MM: Ahm, (lächeln), da muß ich jetzt alle einzelnen Leute ....

Interviewer: Ja gerne, ich werde die einzelnen Personen dann anonymisieren ...

MM: Momentan ist der Eugen sicher das absolute Highlight. Er hat vor ein paar Monaten angefangen sehr aktiv zu werden und zu zeigen, was er gerne tut, was er alles kann und sich ganz massiv zu beteiligen. Angefangen hat das Ganze eigentlich mit dem "Tischabräumen". Nachdem der Zivildiener gekommen ist, hat der Eugen irgendwann angefangen Geschirr in die Küche zu tragen. Ich glaube, für Eugen war das männliche Gegenüber ganz, ganz wichtig, damit er in den Prozeß einsteigen hat können. Dann haben wir angefangen, dem Eugen immer mehr Aufgaben zu übergeben. Ich glaube, da ist so etwas entstanden, wo er auch gemerkt hat, er bekommt ganz viel von uns zurück. Er macht das ja auch unheimlich charmant und nett, wenn er da steht, lacht und etwa fragt: "Wo?"

Interviewer: Fragt der Eugen "Wo" verbal?

MM: Ja, ich versteh's einfach so. Ich meine, er sagt immer, wenn er etwas tut oder wenn er wohin geht - ja - er sagt immer "wu (...) wu". Ich glaube, er braucht das, daß man ihm einen Ort sagt, wo er sich einfinden kann. Im ganz praktischen Sinn kann das "wu" heißen: "Soll ich das nun in die Küche tragen?" Das wo kann auch heißen: "Ist der Sessel jetzt mein Platz?". So wie auch in den Rhythmik-Stunden, wo er einfach wissen muß, daß das sein Sessel ist. Da steht er auch und fragt wo, und wenn man dann den Sessel berührt und sagt, daß das sein Platz ist, dann erst kann er sich hinsetzen. Wenn man das nicht tut, dann setzt er sich auch nicht hin. Ich glaube, für ihn ist das wo auch die Frage: "Wo ist mein Ort, wo finde ich mich, wo gehöre ich hin?". Das ist für Eugen ganz wichtig.

Angefangen hat es damit, daß Eugen das Geschirr hin und her getragen hat, wo uns dann bewußt geworden ist, daß der Eugen - was wir davor wirklich nicht gewußt haben - ganz genau versteht, was man zu ihm sagt. Er kann ganz genau zuordnen. Wenn ich sage: "Eugen, trage das Glas bitte in die Küche!" Zuerst haben wir immer gemeint, der Eugen trägt Sachen in der Gegend herum, aber ohne Sinn oder Ziel ... Da war für uns zum ersten Mal wahrnehmbar, daß der Eugen das ganz gezielt machen kann, und daß er das ganz genau versteht, wenn ich sage: "Gib' das dem Siegfried!" oder "Trage das in die Küche!" Er fragt zwar wo, aber er weiß ganz genau, wann etwas in die Küche gehört oder nicht. Das mit dem Eugen hat uns unheimlich viel Auftrieb gegeben. Das war dann so der Punkt, wo wir angefangen haben, mit ihm auch viel mehr zu tun. Auch alltagspraktische Dinge, daß wir etwa einfach angefangen haben, "Eugen, zieh' deine Jacke aus!" Er zieht sie jetzt aus und hängt sie auf den Haken. Wenn du mich vor einem halben Jahr gefragt hättest, dann hätte ich gesagt: "Nein, der Eugen kann das nicht. Ich weiß nicht, ob er das jemals können wird ...!" Oder, daß er jetzt seine Schuhe auszieht. Bei ihm zeigt es sich für mich am eindrücklichsten, was es heißt, jemandem seine Zeit zu lassen und auf seinen Rhythmus einzusteigen, weil der Eugen für die Sachen sehr viel Zeit braucht. Du mußt immer wieder wiederholen, du mußt ihm einen Vorgang ganz genau Schritt für Schritt vorsagen. Wenn ich möchte, daß er seine Jacke auszieht, dann sage ich nicht: "Zieh' deine Jacke aus!", sondern ich sage: "Geh' einmal aus einem Ärmel heraus ...und dann tust du sie weg ... der Haken ist da ..." Der Ablauf muß man ganz genau erklären und oft wiederholen, und ja nie schnell. Alles was schnell geht, ist für den Eugen ganz schrecklich. Er hat einfach einen langsamen Rhythmus - er kann sehr viel tun, wenn er den Raum dazu hat.

Zufällig haben wir ein Fahrrad als Geschenk bekommen. Unser Gedanke war, daß die Andrea, die Helene und vielleicht auch der Martin das Fahrrad verwenden könnten. Aber wer hat sich auf's Fahrrad gestürzt? Das war der Eugen. Der hat das Fahrrad gesehen und wollte auf dem Rad sitzen. Das haben dann der Zivildiener und der Praktikant irrsinnig toll gemacht, wie sie dem Eugen gelernt haben, wie man auf ein Fahrrad steigt. Das hat dann etwa zwei Wochen gedauert, bis er den Ablauf konnte: Wo muß ich den Fuß hintun? Wo muß ich die Hände hintun? Was kommt zuerst? Wie steige ich auf? Inzwischen kann er das. Er tretet zwar nicht, aber er kann sich selber auf das Fahrrad setzen, und - ja - es gefällt ihm wahnsinnig gut. Diese Dinge gefallen dem Eugen ganz besonders. Er sitzt jetzt einfach gerne auf dem Fahrrad, läßt sich schieben und strahlt. Natürlich braucht er seine Zeit. Am Anfang hat es sicher eine halbe Stunde gedauert, bis er überhaupt auf dem Fahrrad gesessen ist. Jetzt weiß er schon genau, wie er tun muß.

Ähnlich war es auch mit dem Trampolin. Trampolin springen, das ist etwas, was er wahnsinnig gerne macht - es war für uns auch sehr überraschend, daß der Eugen so schnell auf neue Sachen einsteigt. Das, was die anderen einfach ignorieren, oder sagen: "Das mag' ich nicht - das kenn' ich nicht." Der Eugen probiert aus, und das mit Begeisterung. Das ist sehr faszinierend! Das haben wir am Anfang überhaupt nicht wahrgenommen, daß er sich in die Hängematte legt. Wir haben es schon irgendwie gesehen, aber daß das eigentlich eine unheimliche Fähigkeit von ihm ist, einfach die Hängematte auszuprobieren, daß er auch Angst haben könnte, das haben wir lange Zeit gar nicht bemerkt. Erst mit dem Trampolin und dem Fahrrad ist uns das allmählich bewußt geworden, daß der Eugen mit seinem Ausprobieren unheimlich viel leistet.

Ich glaube, es ist für ihn auch wahrnehmbar, daß wir natürlich dann für ihn viel Zeit haben und daß er jemanden ganz für sich hat. Denn wenn ich jetzt mit ihm Fahrrad fahre, dann rede ich mit ihm bis er oben sitzt. Ich berühre ihn, und der Eugen kann das auch zulassen, auch wenn er sonst eher Schwierigkeiten mit Berührungen hat. Die Berührungen sind dann mit einer Tätigkeit verbunden und in diesem Zusammenhang haben sie eben Platz. Und auch das ... ich meine, er hat schon immer gerne Musik gehört, aber - das hat er getan, denke ich - weil zum Teil keine anderen Angebote vorhanden waren. Er hat einfach Musik gehört. Jetzt merke ich, daß das Musik hören nur noch eine von vielen Aktivitäten ist. Früher gab es keinen Tag ohne Musik. Ich glaube, das hat damit zu tun, daß er jetzt Fahrrad fahren kann, den Tisch abräumen kann und ganz viele andere Sachen. Unlängst - das war ein totales Highlight für mich als wir die Küche eingeräumt haben. Wir haben erst kürzlich begonnen einmal im Tag für uns selbst zu kochen. Ich habe zuerst die eingekauften Nahrungsmittel mit Helene in den Kasten eingeräumt. Auf einmal steht der Eugen mit der Kakaodose da - ohne irgend eine Aufforderung! Er hat einfach gesehen, was wir tun und wollte mitmachen. Er kann sich jetzt selbst einbringen und offensichtlich weiß er genau, was um ihn herum geschieht und was er tun kann. Auch bei der Begrüßung und der Verabschiedung zeigt sich das: Er gibt mir jetzt immer die Hand, wenn ich komme und ebenso wenn ich gehe. Das Kommen und Gehen kann er jetzt genau zuordnen. Er weiß auch, wenn ich während des Tages ins Dienstzimmer gehe und dann mit Mantel oder Jacke herauskomme, daß ich dann nach Hause gehe. Er gibt mir z. B. nicht die Hand, wenn ich nur Mittagessen gehe, weil da ziehe ich meine Jacke nicht an, ich lasse auch die Hausschuhe an. Als ich das auf einmal erkannte, daß er diese Dinge wahrnimmt, war ich völlig von ihm fasziniert. Ich muß wirklich sagen, ich habe am Anfang völlig übersehen, daß er solche Dinge wahrnimmt.

Interviewer: War das deiner Meinung nach, am Anfang auch schon vorhanden, oder hat sich das im Verlauf der Zeit entwickelt?

MM: Ich weiß es nicht, ich traue mich das nicht mit Sicherheit zu sagen. Ich glaube, es war sicher schon einiges da, nur hatte er nie eine Chance, irgend etwas von dem umzusetzen. Das hatte ja nie einen Sinn, weil auf so einer Station ist es völlig egal, ob irgend jemand kommt oder geht. Das ändert gar nichts. Ich denke mir, bei uns in der Gruppe macht es sehr wohl einen Unterschied, ob ich komme oder gehe, wer kommt oder geht. Ich glaube, da hat es für den Eugen auf einmal Sinn gehabt, jemanden mit der Hand zu begrüßen, weil er etwas zurückbekommen hat. Das war davor nie der Fall. Wenn dort hin und wieder vielleicht einmal ein Pfleger auf so etwas eingestiegen ist, dann war das eher etwas Routinehaftes. Es hatte einfach keine Bedeutung, ob jemand begrüßt wurde oder nicht, es fehlte einfach die Verbindung. Auch die Geschichte vom Anfang und vom Ende, daß der Tag irgendwie beginnt und daß wir uns alle begrüßen, daß wir dann alle da sind, daß wir aber auch wieder gehen können und morgen wieder kommen. Ich glaube schon, daß der Eugen immer wahrgenommen hat, ob jetzt wer kommt oder geht. Nur hat es für sein Leben überhaupt keine Bedeutung gehabt und damit war es bedeutungslos, ob man ihm die Hand gegeben hat oder nicht.

Interviewer: Heißt das nun, daß Eugen schon vor einem halben Jahr die Hand gereicht hat oder hat er das vor einem halben Jahr bei dir noch nicht gemacht?

MM: Er hat schon die Hand gegeben, aber nicht in einer Zuordnung. Er hat sie einfach so gegeben oder auch nicht. Das war irgendwie oft ohne Bedeutung, jetzt hingegen macht er das gezielt. Jetzt weiß er ganz genau, wenn jemand kommt oder jemand geht, dann gebe ich ihm die Hand, aber ich mach's nicht dazwischen oder eine Stunde später oder so. Das hat einen Unterschied bekommen in der Qualität der Handlung, das ist sehr deutlich spürbar. Oder: die Sachen, die er jetzt bringt oder wegträgt, z. B. das Geschirr. Der Eugen hat immer Sachen genommen und sie irgendwem in die Hand gedrückt. Aber das hat nicht gestimmt. Entweder hat das der Person nicht gehört, oder er hat einfach, wenn irgend etwas am Tisch gelegen ist, das genommen und dir das gebracht. Du hast aber mit dem nichts tun können. Jetzt z. B., wenn er meine Zigaretten findet, dann gibt er mir meine Zigaretten. Er unterscheidet sie, er würde nie die Zigaretten von der Monika bringen. Er weiß ganz genau, daß ich etwas anderes rauche, daß die mir gehören, und daß die anderen der Monika gehören. Oder z. B. bringt er den Aschenbecher. Er hat noch nie - in den letzten paar Monaten oder Wochen - den Aschenbecher jemandem gebracht, der nicht raucht. Das war früher nicht, diese Qualität hat es nicht gehabt. Wenn etwa viele sagen: "Ja, ja - der Eugen hat das früher auch schon gemacht; er hat auch früher Sachen hin und her getragen" dann übersehen diese Leute, daß er es damals nicht gezielt einer Person bringen konnte. Er hat es nicht zugeordnet, jetzt tut er das ganz gezielt. Er weiß auch, daß der Kakao in die Küche gehört, daß in der Schachtel Kakao ist, und er weiß genau, daß das ein Lebensmittel ist. Er hat es nicht zum Geschirrschrank gebracht sondern zum Lebensmittelschrank. Bei diesen Sachen war für mich zum ersten Mal wahrnehmbar, wie viel der Eugen eigentlich wirklich erkennen kann. Dann haben wir begonnen, mit dem Eugen viel mehr zu reden. Wir sind viel genauer geworden und haben ihm auch viel mehr Dinge erzählt, die dann wieder zurückgekommen sind. Am Anfang haben wir das lange nicht so getan. Ich glaube, da ist jetzt sehr viel in Bewegung. Je mehr wir da einsteigen, um so mehr kommt von ihm. Das ist momentan eine ganz positive Wechselwirkung. Wir sagen dann immer - ja - : "Der Eugen ist im Moment unser Liebling!" Das merkt der Eugen natürlich ganz massiv, und auch, wie sehr wir uns freuen, das hat sicher noch einen zusätzlichen Stellenwert.

Interviewer: Wie sieht es mit anderen Personen aus, z. B. dem Markus?

MM: Der Markus - also. Der Markus ist sicherlich nicht, wie soll ich sagen, er ist nicht weniger wahrnehmbar wie jetzt der Eugen. Er ist auch viel mehr vorhanden als früher. Er nimmt von sich aus viel mehr teil, z. B. die Schritte, daß er seinen Platz verändern kann. In der ersten Zeit ist der Markus in der Früh gekommen, hat sich im Tagraum an seinen Tisch gesetzt und war nicht mehr davon wegzubekommen. Wir haben wirklich alles versucht - wir waren teilweise verzweifelt. Wir haben es sogar irgendwie mit "Gewalt" versucht, d. h. wir haben ihn einfach weggetragen, weil wir das Gefühl hatten, er muß doch einmal irgendwo teilnehmen. Er war aber so stur. Diese unheimliche Sturheit ist seine Fähigkeit. Wenn der Markus nicht will, dann geht nichts. Er ist nicht wegzubekommen. Er reagiert nicht mit Aggression, aber er macht sich steif, er macht einfach nicht mit und fängt an, nur mehr gegen seinen Kopf zu schlagen. Er weiß ganz genau, wie er sich präsent machen kann, und wie er sich so präsent machen kann, daß du's fast nicht mehr aushalten kannst.

Ein Punkt, an dem sich viel zum Positiven verändert hat war, damals die komische Physiotherapie, die wir - völlig unnötigerweise mit ihm machen haben müssen. Sie war rein vom Physiotherapeutischen her völlig unsinnig - nur hat sie dem Markus sehr gut gefallen. Er hat es einfach gerne gemacht. Ich glaube, ein Grund dafür lag darin, daß wir einfach für ihn da waren. Es waren zwei Personen mit ihm beschäftigt. Ich meine, wir haben das nicht so sehr physiotherapeutisch gemacht, da wir ja Gott sei Dank keine Physiotherapeutinnen sind. Wir haben eher mit ihm geredet und seine Füße bewegt. Ich glaube, es hat ihm sehr gefallen, da er sich nicht selber bewegen mußte, sondern daß wir das für ihn taten.

Interviewer: Es ist keine fremde Person gekommen, sondern ihr habt mit ihm ... ?

MM: Wir haben das mit ihm ... Es ist einmal eine Physiotherapeutin dagewesen, von der ich sagen muß, daß sie sehr nett war. Sie war überhaupt keine der herkömmlichen Physiotherapeutinnen. Sie hat uns einfach ein paar Dinge gezeigt, von denen sie glaubte, daß sie für den Markus angenehm sind, weil diese Übungen seine Muskulatur etwas auflockern könnten. Das haben wir dann mit ihm gemacht und dann haben wir schnell erkannt, daß er irrsinnig zu lachen beginnt. Das waren die ersten Male, wo der Markus schallend gelacht hat - so richtig im totalen Wohlbefinden. Daher haben wir das einfach gemacht. Aber das war weniger Physiotherapie. Sondern vielmehr haben wir uns einfach mit ihm beschäftigt.

Es ist dann schnell einmal passiert, daß andere Personen mitgemacht haben. Ich glaube, das war für den Markus insofern interessant, daß er dadurch der Ausgangspunkt dafür war, daß andere in etwas eingestiegen sind. Ich glaube, das war ein wichtiges Gefühl für ihn. Dann war aber nach wie vor immer dieses Problem vorhanden, daß er seinen Platz nie verlassen hat. Wir haben dann angefangen, unseren Morgenkaffee mit der ganzen Gruppe gemeinsam zu trinken. Es sind alle in das Zimmer gegangen, sogar die Gabi, nur der Markus nicht. Nicht um die Burg. Wir haben es dann verweigert, ihm draußen etwas zum Trinken zu geben. Wir haben einfach gesagt, daß er falls er etwas haben möchte, dann kommen solle. Aber er ist trotzdem nicht gekommen. Nachdem wir alles versucht haben, haben wir es schließlich aufgegeben. Wir haben dann gesagt, wenn es ihm draußen besser gefalle, dann soll er eben draußen sitzen bleiben. Dann sitzt er halt einmal allein, da können wir auch nichts machen. Wir haben schon noch gesagt: "Komm' herein!" aber wir haben nichts mehr getan - tja - und dann ist es gegangen. Dann ist er auf einmal gekommen. Was dann für ihn der wirkliche Auslöser war, ist schwer zu sagen. Manchmal denke ich mir, er hat in sich hineingeschmunzelt und hat sich gedacht: "So jetzt habe ich es euch gezeigt. Wenn ich nicht will, dann könnt' ihr tun was ihr wollt, dann will ich nicht." Wir haben dann beschlossen, ihm seinen Willen zu lassen. Dann hat er es tun können. Es kommt mir manchmal so vor, ich weiß nicht, ob es wirklich so ist, daß er sich jetzt gerne hereinsetzt. Er ist gerne herinnen und geht erst dann wieder hinaus, wenn es Mittagessen gibt. Ich glaube, es hat sicherlich auch damit zu tun, daß am Anfang das Essen für ihn sehr viel wichtiger war als es jetzt ist. Er ist in einer Position gesessen, von der er genau sehen konnte, wo es Essen gab und wann es gebracht wurde. Das ist ja bei vielen eine ganz große Schwierigkeit und einer der Hospitalismusschäden schlechthin - das Warten auf Essen als einzige Tagesstruktur. Das ist für Markus, nachdem er ja schon als ganz kleines Kind in die Anstalt gekommen ist und noch die schlimmsten Zeiten dort miterlebt hat, auch ein Faktor gewesen: "Das Essen kommt und wenn ich nicht da bin, dann bekomme ich nichts. Das ist das einzige, was ich bekommen kann, was mir auch niemand mehr wegnehmen kann." Ich glaube, das hat viel Stellenwert gehabt. Ich glaube, das Wissen, daß er sein Essen bekommt und er sich dennoch an anderen Dingen beteiligen kann, war schon ein Fortschritt für Markus.

Ähnlich war es auch mit der Rhythmik, wo er zuerst auch nicht in den Raum gehen und drinnen sitzen bleiben konnte. Das war auch der Punkt, an dem wir ihm seinen Willen ließen: "Wenn er lieber draußen zuhören möchte, dann soll er draußen zuhören." Und auf einmal wurde es für ihn möglich. Ich glaube, daß dies teilweise ein Spiel ist, das Markus auch jetzt immer noch gerne spielt. Zuerst weigert er sich und signalisiert etwa: "Ich muß wollen und du kannst mich nicht zu etwas bringen, das ich nicht will." Er muß das zeigen, damit er es dann tun kann. Es ist für ihn - glaube ich - auch ganz wichtig, aufgefordert zu werden. Denn er muß merken, daß es für andere wichtig ist, daß er teilnimmt. Das glaube ich, hat er ja nicht gekannt, daß jemand möchte, daß er kommt und ihn öfters auffordert. Ich meine - auf der Station ist etwa die Reaktion verbreitet: "Wenn er nicht will, dann soll er es lassen." Denn dort bemüht sich ja niemand um eine andere Person. Ich glaube, es war für ihn schon ein wichtiger Schritt zu sehen, daß da wirklich jemandem etwas daran liegt, daß auch er dabei ist.

Markus hat dann begonnen immer öfters total zu lachen, was auch zu den jeweiligen Geschichten paßte, wobei ich mir nicht im klaren bin, wieviel er wirklich versteht. Wenn ich beispielsweise zur Andrea sage: "Na - jetzt hast du dich wieder aufgeführt wie der letzte Mensch!" dann kann der Markus aber so zum Lachen anfangen, daß er sich völlig "kaputt lacht". Das paßt dann auch völlig zur Situation. Das tut er sehr, sehr oft, wobei mir oft überhaupt nicht klar ist, was er alles verstehen kann von dem, was um ihn herum passiert.

Interviewer: Hast du das früher bei ihm auch beobachtet?

MM: Hmm, hin und wieder, aber nicht so - es ist jetzt sicher mehr geworden, er ist jetzt auch viel mehr im Geschehen. Früher, dadurch daß er immer oder zumindest sehr oft allein im Tagraum war, hast du das selber oft gar nicht mitbekommen, es war ja dann wahnsinnig schwierig, ihn miteinzubeziehen. Ich denke mir, das kann früher genauso dagewesen sein, nur, daß wir das einfach nicht gesehen haben.

Oder: Der Markus nimmt z. B. auch ganz gerne den anderen das Essen weg. Wenn er etwas zum Essen sieht, dann will er es einfach haben. Unlängst hat das die Gabi gemacht, da hat die Monika geschumpfen und zur Gabi gesagt: "Das geht nicht, du kannst den anderen das Essen nicht wegnehmen!" Der Markus hat sich schiefgelacht, so richtig: "Ich tu das auch" und war so solidarisch mit der Gabi - das war gigantisch! Das sind Dinge, bei denen ich mir denke, er bekommt das mit, er weiß es ganz genau. Oder wie er jetzt sagen kann, ob es ihm gut oder schlecht geht, wo ich oft nicht weiß warum. Ich meine, er kann auch körperliche Schmerzen oder so etwas haben, das kann er ja nicht sagen, aber du merkst es schon in der Früh ganz genau, in was für einer Stimmung er ist, ob es irgendwie paßt oder nicht.

Ich meine, der größte Schritt, den ich bei Markus im Moment erlebe ist der, daß er auf's Klo geht. Das war auch ganz toll, weil wir einfach irgendwann beschlossen haben, das mit ihm zu probieren. Denn meistens ist er nach dem Mittagessen naß oder hat Stuhlgang. Wir haben einfach einmal probiert, ob er sich auf's Klo setzt. Es war ganz eigenartig. Es war eines der seltenen Male, daß der Markus selber gegangen ist, obwohl er sich normalerweise, wenn etwas Neues ansteht, sich ja irrsinnig sperrt und nicht mitgeht. Und da ist er gegangen und das Klositzen, das hat ihm sofort irrsinnig gefallen. Er ist am Klo gesessen und hat nur noch gelacht. Das war ganz eigenartig. Er ist auch nicht mehr aufgestanden, obwohl er ja selber aufstehen kann, wenn er das will. Dann hat er so angefangen, die ersten Male hineinzumachen. Das war das Erlebnis! Wie er zum ersten Mal Stuhlgang am Klo hatte, da hat der Markus überhaupt nur noch gelacht! Das mitzuerleben war für ihn und auch für uns ganz toll. Denn man muß bedenken, daß Markus zeit seines Lebens gewickelt wurde und nie jemand versucht hat, ihm den "Klogang" nahezulegen. Er hat jetzt auch angefangen, mit Kot zu schmieren. Ich glaube, der Freud hätte die größte Freude mit dem Markus (lacht). Aber ich glaube, das sind sehr, sehr wichtige Schritte, daß er auch genau weiß, ob er gemacht hat oder nicht. Wenn jemand so lange gewickelt worden ist, dann weiß man ja nicht ob er dafür wirklich noch ein Gefühl hat. Markus aber steht nicht vom Klo auf, bevor er nicht etwas gemacht hat. Da wehrt er sich, du hast keine Chance. Erst wenn er etwas gemacht hat, dann steht er auf. Erst dann bringst du ihn zum Aufstehen, auch wenn er zwei Stunden sitzt ... Es ist ganz stark, weil wir manchmal schon ein schlechtes Gewissen haben und ein Gefühl wie: "Na, jetzt sitzt er schon zwei Stunden, und die Klobrille wächst an" (lacht) ... Wir machen das jetzt mit dem Klogang, ich schätze so seit eineinhalb Monaten. Es ist zwei Mal vorgekommen, daß er nicht auf's Klo wollte. Dann lassen wir ihm auch seinen Willen. Ich meine, wir probieren es, aber wenn er signalisiert, daß er sich heute nicht auf's Klo setzen will, so ist das okay.

Interviewer: Ansonsten habt ihr nun eingeführt, regelmäßig mit dem Markus auf's Klo zu gehen?

MM: Ja - und zwar in einem Rhythmus, der immer gleich ist. Zuerst, nach dem Essen, bleibt er ein bißchen bei seinem Tisch sitzen, wir erledigen noch einige Dinge, und dann geht er auf's Klo. Das kennt er inzwischen genau. Wenn du zu früh kommst, steht er auch nicht auf, und du mußt immer schauen, daß die Zeit in etwa die gleiche bleibt. Das sind für den Markus und ich glaube für viele, ganz wichtige Abläufe, die einen bestimmten Sinn haben. Dadurch, daß sie sich wiederholen, geben sie einfach viel Halt. Das sichere Wissen, daß jetzt dieses oder jenes passiert, ist hier entscheidend. Ich denke, es ist für den Markus wichtig, daß wir ihm diese Räume bieten, in denen sich sinnvolle Dinge gleichbleibend wiederholen lassen.

Interviewer: Ich möchte nun langsam zum Schluß kommen. Im Hinblick auf die Entwicklung der Gruppe möchte ich dir aber noch eine Frage stellen: Falls du eine Million Schilling für die Arbeit mit der Gruppe erhalten würdest, was konkret würdest du dann verändern? Wie würdest du dieses Geld verwenden?

MM: Kannst du mir ein bißchen mehr geben (lacht)? Ich muß dir sagen, ich habe Schwierigkeiten mit der Million, die bringt mich irgendwie aus dem Konzept. Ich denke mir, wenn ich jetzt eine Million Schilling hätte, dann würde ich als erstes mit der Gruppe einmal wegfahren, so etwas wie Urlaub machen. Ich glaube, das wäre für alle sehr wichtig. Das wäre ein Teil, wobei ich da nicht so viel von der Million brauchen würde ...

Einiges vom restlichen Geld würde ich derart investieren, daß wir uns weiter von der großen Institution lösen könnten. Das, was wir zum Teil schon erreicht haben und auch sicher weiter betreiben werden, ist einfach der Traum, ganz nach draußen zu gehen, etwa in eine Wohngemeinschaft. Ich habe deshalb gefragt, ob es nicht etwas mehr sein könnte, denn dann könnten wir uns vielleicht eine Wohnung kaufen. Weiters würde ich einiges Geld in eine Ausbildung für die Andrea investieren. Es wäre ganz wichtig für sie, eine Lehre oder eine sonstige Berufsausbildung zu absolvieren. Wir würden uns auch etwa ein Auto leisten, damit könnten wir unsere Mobilität sehr erhöhen. Mit einer Million könnte ich zwar niemanden zusätzlich anstellen, aber ich würde schauen, das Geld so zu investieren, daß wir noch ein Stück aktiver nach draußen kommen.

Interviewer: Welche konkreten Ansätze gibt es, um das Ziel, nach draußen zu gehen, realisieren zu können?

MM: Ja ... Es gibt kleinere Schritte, und es gibt größere Schritte. Im Moment arbeiten wir wirklich ganz intensiv daran, daß wir mit der Gruppe, vielleicht auch mit einer anderen, das ist noch nicht ganz klar, daß wir in ein Wohnprojekt nach draußen gehen. Es gibt zwar schon ein Haus dafür, aber ich getraue mich noch nicht zu sagen, ob das Projekt verwirklicht werden kann. Es schaut momentan nicht so schlecht aus, aber es liegt natürlich am leidigen Geld, vor allem an der Bezahlung des Personals außerhalb der Psychiatrie ... Vielleicht gelingt es uns, uns durchzusetzen. Es ist unser Ziel. Sollte sich dieses Vorhaben in den nächsten Jahren nicht realisieren lassen - so habe ich meinem Vorgesetzten gesagt - werde ich wohl früher oder später kündigen.

Für die nächste Zeit ist ein Arbeitsprojekt geplant, das ich gemeinsam mit einer Frau aufbauen werde. Dieses Projekt ist sicherlich auch noch einmal ein Schritt nach draußen, weil es nicht in diese Institution eingegliedert ist und ...

Interviewer: Arbeitsprojekt - was bedeutet das?

MM: Es ist als "Werkstatt" geplant. Es wird eine Frau für diesen Arbeitsbereich eingestellt. Es ist noch nicht klar, in welche genaue Richtung jetzt das Arbeitsprojekt gehen wird. Man muß jetzt einfach schauen, was man daraus machen kann, denn die Mittel sind noch ziemlich gering. Aber es wird jetzt diese Frau angestellt, die jahrelang im Arbeitsbereich tätig war. Sie hat früher schon auf das Ziel hingearbeitet, die Betroffenen auf den freien Arbeitsmarkt vorzubereiten. Ich glaube, sie hat schon einen guten Hintergrund und bringt neue Chancen für unsere Leute mit. Es geht darum, zu lernen, was brauche ich für einen Arbeitsplatz, was muß ich tun, von der Pünktlichkeit bis zur Körperpflege, wie fahre ich mit dem Bus wohin, und so weiter. Es soll in diese Richtung gehen.

Mein Gedanke dazu war noch, so etwas aufzubauen wie eine Arbeitsassistenz. Das heißt, daß man die Leute, die Schwierigkeiten haben, zu den Arbeitsplätzen begleiten kann. Ich meine, ich habe das bei der Andrea schon versucht. Aber außerhalb so etwas aufzubauen ist kaum machbar. Es ist einfach so, daß niemand genügend Risikofreude hat, um so etwas einfach einmal zu probieren. Ich meine, die Andrea hat das meiste, das es in dieser Richtung gibt, schon probiert. Und immer ist sie durch ihre Aggressionen wieder hinausgeflogen. Die Andrea hat natürlich eine Lebensgeschichte, die das ganze unheimlich schwierig macht. Aber jetzt haben wir so etwas wie einen Arbeitsplatz für sie.

Ein kurzfristiges Ziel ist es, integrierte Theatergruppen, Malgruppen, etc. aufzubauen. Wir haben mit verschiedenen Vereinen Kontakt aufgenommen und manche haben durchaus Interesse gezeigt. - Eigentlich haben sie sich zuerst gemeldet. Da werden wir uns sicherlich beteiligen. Das ist noch einmal ein Schritt hinaus. Es ist ein Schritt in ein normales Umfeld, wo man gemeinsam aktiv werden kann. Das ist so das kurzfristige.

Interviewer: Ich bedanke mich für das Gespräch.

Rückblick auf die Theorie und Verbindungspunkte zum Interview

Im Rückblick auf die Diplomarbeit werde ich auf einige Aussagen des Interviews bezug nehmen und sie mit den theoretischen Kapiteln verbinden. Zuvor erwähne ich noch zwei wichtige Erkenntnisse, die aus dem Interview nicht hervorgehen.

  • Es darf nicht vergessen werden, daß neben der oben angeführten Gruppe von Menschen noch viele andere Langzeitpatienten in der Psychiatrie leben, die ein viel tristeres Dasein fristen. Es sind Patienten, die m. E. vor langer Zeit aufgegeben worden sind und nur noch verwahrt werden. Sie haben keine Chance, um sich entwickeln zu können. Diese Abteilungen sind nur karg ausgestattet. Die Patienten haben keine Möglichkeit zu einer sinnvollen Beschäftigung. Sie werden vollständig überwacht und haben keinen Privatbereich. Außerdem ist die Zahl des Hilfspersonals in diesen Abteilungen höher als in anderen Abteilungen der Psychiatrie. Ich habe in diesen Abteilungen jenen Einblick gewonnen, den Goffman bereits 1961 beschreibt und kritisiert. Seine Studie ist nach wie vor aktuell. Er schreibt u. a.: "Das 'schlimmste' Niveau sieht häufig nichts weiter als mit Holzbänken möblierte Räume, ein undefinierbares Essen und den Bruchteil eines Zimmers als Schlafstelle vor." (Goffmann 1996, 147).

  • Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Realität von Krankheit und Behinderung von vielen Faktoren bestimmt wird. Bei vielen Patienten ist nicht die Krankheit bedeutend, sondern ungünstige Zufälle, die zu einer "Krankheitskarriere" führen. Helene (siehe Interview S. 73) lebt z. B. in der Psychiatrie, nicht weil sie verrückt wäre, sondern deshalb, weil für sie kein anderer Wohnraum außerhalb der Psychiatrie vorhanden ist. Goffman verweist darauf, daß eine Vielzahl von Patienten an "Karriere-Zufällen" leiden. Einige der Zufälle, die einen Menschen zum Patienten machen sind: "der sozio-ökonomische Status, die Sichtbarkeit der Übertretung, die Nähe einer psychiatrischen Klinik, der Umfang der verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten, das gesellschaftliche Ansehen der Art der Behandlung, die in vorhandenen Kliniken möglich ist, usw." (Goffman 1996, 134). Und weiter schreibt Goffmann (ebd. 135): "Die offizielle Auffassung der Gesellschaft ist, daß Insassen von psychiatrischen Kliniken in erster Linie dort sind, weil sie an einer Geisteskrankheit leiden. In dem Maße jedoch, wie die 'seelisch Kranken' außerhalb der Kliniken zahlenmäßig diejenigen in den Kliniken erreichen oder übertreffen, könnte man behaupten, daß die Geisteskranken nicht an seelischen Krankheiten, sondern an Zufällen leiden."

Nun zum Interview: Das Interview beinhaltet eine Reihe von Diskussionspunkten und Details, auf die ich im Rahmen dieser Diplomarbeit nicht mehr eingehen werde. Ich halte lediglich einen Rückblick auf die vorangegangen theoretischen Kapitel und stelle exemplarisch einzelne Verbindungen her.

Erkenntnis

Die Interviewpartnerin erzählt von ihren Wahrnehmungen. Durch das aktive Handeln und durch die Beziehung zu den einzelnen Personen wird ihr viel mehr bewußt als zu Beginn ihrer Arbeit. Indem sie im nachhinein manchen Ereignissen eine bestimmte Bedeutung zuschreibt, schafft sie neue Wirklichkeiten, die für sie zuvor nicht beobachtbar waren (z. B. die Qualität des Händereichens von Eugen S. 77).

Selbstorganisation

Im Kapitel Selbstorganisation schreibe ich u. a. über lebende Systeme, über das Chaos und die Zeit. Zu Beginn der Arbeit schildert die Interviewpartnerin massive Kämpfe innerhalb der Gruppe (vgl. S. 71). Allmählich hat sich diese Situation eingependelt. Vielleicht stellt dieser Prozeß eine Entwicklung vom Chaos zur Ordnung dar. Anders ausgedrückt könnte das als Integration einer Störung betrachtet werden. Die neue Situation (die Gruppe hat sich erst mit dem Arbeitsbeginn von MM gebildet) könnte eine Störung gewesen sein und die einzelnen Gruppenmitgliedern mußten erst in sich eine neue Struktur bzw. Organisation aufbauen.

Die Interviewpartnerin weist mehrmals auf die Wahrnehmung von unterschiedlichen Zeit-Rhythmen hin (z. B. Eugen S.75). Außerdem spricht sie vom gegenseitigen Lernen, etwa wenn Helene von Andrea lernt, in einer positiven Art zu fordern (vgl. S. 73). Sie erwähnt auch die eigenen, ständig steigenden, Lernprozesse in der Auseinandersetzung mit Andrea (S. 74 " ... aber sie lernt und wir lernen dazu"). Wenn wir in diesem Zusammenhang Lernen mit allgemeiner Entwicklung gleichsetzen, dann zeigen diese Situationen, daß Entwicklung immer auch Ko-Entwicklung beinhaltet.

Dialog

Der Interviewpartnerin fällt auf, daß ein Gruppengefühl und ein stärkeres Miteinander vorhanden ist. Immer häufiger nehmen einzelne Gruppenmitglieder zueinander Kontakt auf (vgl. S. 70). Ich schließe daraus, daß sich die Bereitschaft zum Dialog in der Gruppe erhöht hat. Außerdem ist die Qualität der Beziehungen gestiegen. Aus "Der Geier, die frißt so viel!" wird "Die Gabi ißt gerne, die mag einfach gerne essen!" (S. 70). Durch die Möglichkeit, den Tag miteinander verbringen zu können, fühlen sich einzelne Personen besser verstanden (vgl. z. B. Martin und Eugen S. 71). Insgesamt scheinen die Gruppenmitglieder zufriedener und fröhlicher als vor einem halben Jahr (vgl. z. B. das Lachen von Eugen S. 76 und von Markus S. 80).

Bewegung

Das Interview zeigt, daß sich in der Gruppe mehr bewegt als vor einem halben Jahr. Eugen fährt mit dem Fahrrad (vgl. S.75), Markus hat gelernt auf die Toilette zu gehen (vgl. S. 81). Die Gruppe ist insgesamt flexibler und unabhängiger geworden. Sie trinken im "Wohnzimmer" gemeinsam den Morgenkaffee und haben begonnen, einmal am Tag für sich zu kochen (vgl. S. 79 und S. 76). Zudem ist ein Arbeitsprojekt geplant (vgl. S. 83) und eine stärkere Verbindung zu Vereinen außerhalb der Psychiatrie (vgl. S. 84). Insgesamt haben sich die Bewegungen vervielfacht.

Die wöchentlich abgehaltenen Rhythmik-Stunden waren ein Teil einer geschaffenen Tagesstruktur und haben vermutlich zur Steigerung der Beweglichkeit und Flexibilität beigetragen. Aus dem Interview läßt sich dazu jedoch keine direkt Folgerung ableiten.

Gemeinsamkeit

Wenn wir den jahrzehntelangen Aufenthalt einzelner Gruppenmitglieder betrachten, können wir den Mechanismus der Ausgrenzung bzw. Abschiebung in die Psychiatrie ganz deutlich erkennen (vgl. S. 69). Durch das gemeinsame Kochen oder die Rhythmik-Stunden wurden u. a. Möglichkeiten geschaffen, kooperativ an einem gemeinsamen Gegenstand zu arbeiten. Das Ziel "ganz nach draußen zu gehen" ist noch ein "Traum", doch versucht die Interviewpartnerin dieses Vorhaben weiter zu verfolgen (vgl. S. 83). Ein Schritt aus der Psychiatrie hinaus "in ein normales Umfeld, wo man gemeinsam aktiv werden kann" ergibt sich durch die Beteiligung an "integrativen Theatergruppen, Malgruppen, etc." (vgl. S. 84).

Anhang

Inhaltsverzeichnis

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Lebenslauf

1970

geboren in Bludenz

1976 - 1980

Volksschule Bings

1980 - 1984

Hauptschule Bludenz

1984 - 1989

Handelsakademie Bludenz

1989/90

Zivildienst beim Roten Kreuz

1990/91

Aufenthalt in den USA

- Internship in Echo Hill, Outdoorschool

- Internship bei Bread for the World, Washington D.C

1991 - 1997

- Studium Pädagogik / Psychotherapeutisches Propädeutikum

- Projektstudium: Ethnopsychoanalyse und Behindertenarbeit in Ghana (mit Aufenthalt an der University of Cape Coast)

- Psychiatrie-Projekt: Mitarbeit bei den Rhythmik-Stunden

- Studienrichtungsvertreter Pädagogik

Quelle:

Reinhard Burtscher: Bewegende Selbstorganisation. Aspekte einer Entwicklungstheorie

Diplomarbeit zur Erlangung eines akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, eingereicht bei Univ.-Prof. Dr. Helmwart Hierdeis, Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck, Innsbruck, im April 1997

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 13.07.2005

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