Unterstützte Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt

Die Arbeitsassistenz in der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen

Autor:in - Reinhard Burtscher
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Dissertation
Releaseinfo: Dissertation zur Erlangung eines akademischen Grades eines Doktors der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, eingereicht bei Univ.-Prof.Dr. Helmwart Hierdeis am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck. Tabellenbeschriftung wurde von bidok eingefügt. Die Tabellen wurden für Brailzeilenleser umgewandelt (d.h. komplexe Tabellen sind für den "normalen" Leser erhalten geblieben und anschließend wurde zusätzlich eine Tabelle für die Brailzeilenleser erstellt)
Copyright: © Reinhard Burtscher 2001

Inhaltsverzeichnis

Interviewauszug - Die andere Sicht

Mutter: Ich fühle mich einfach im Stich gelassen. Man rennt einfach gegen eine Mauer, sonst nichts. Man bietet mir die Geschützten Werkstätten an, ich aber möchte ihm einfach die Möglichkeit geben, dass er sich weiterbilden oder einen Beruf erlernen kann. Aber nicht in einer Geschützten Werkstatt, weil dort gehört er nicht hin ... Da passt er nicht hinein, da geht er nur unter.

Arbeitsassistentin: Nach der Pflichtschulzeit wird dem Jugendlichen das Recht auf Integration sozusagen wieder abgesprochen und man schickt sie zurück in die Sondereinrichtungen, in die sie einfach nicht gehören. Das passt für das Selbstverständnis der Jugendlichen nicht. Sie sind immer mit Nicht-Behinderten zusammen gewesen und sind gewöhnt den Kontakt zu haben. Sie haben von sich eine ganz andere Sicht, von dem was sie können oder wollen. Ich denke, da müssen einfach Möglichkeiten gegeben werden, dass auch diese Jugendlichen wirklich eine Chance bekommen.

(Ausschnitt ORF-Fernseh-Interview, Jänner 1999)

1 Einleitung

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema der beruflichen Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt[1]. Das Instrument der Arbeitsassistenz und die Methode der Unterstützten Beschäftigung (supported employment)[2] wird am Beispiel des Vereins "Integration Wien - Aktion: Gemeinsam Leben - Gemeinsam Lernen" untersucht. Als ich vor vier Jahren mit der ersten Planung begann, war der Begriff der Arbeitsassistenz kaum bekannt. Da und dort gab es einzelne Modellprojekte, die erste Erfahrungen dokumentierten. Sie standen unter dem Druck positive Ergebnisse vorzuzeigen, damit sie in eine Regelfinanzierung von Seiten staatlicher Finanzträger (Bund, Länder, Gemeinden) aufgenommen werden konnten. Heute ist klar, dass die Unterstützungsleistung der Arbeitsassistenz in Österreich aus dem Sozialbereich nicht mehr wegzudenken ist. Innerhalb weniger Jahre konnte sie ihre Stellung wesentlich ausbauen und festigen (siehe dazu im Internet: http://www.arbeitsassistenz.at/).

Der individuelle und integrative Ansatz der Arbeitsassistenz gab Eltern von behinderten Kindern neue Hoffnung, dass ihr Recht um Integration weiter durchgesetzt werden konnte. Während die Schule einen relativ klar eingegrenzten Weg darstellte, eröffneten sich nach der Pflichtschulzeit vielseitige Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Wie konnte es nun weitergehen? Die Herausforderungen für Eltern und IntegrationsbefürworterInnen wuchs mit den Kindern.

Nach der Durchsetzung von Integration im Kindergarten, dann in der Primarstufe und zuletzt in der Sekundarstufe formulierten Betroffene die Beschäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt als ein weiteres Ziel der Integration (vgl. Weißbuch Integration 1998). Als Ergebnis des vorangegangenen Prozesses schien es logisch ("integrationslogisch"), dass Kinder mit Behinderung nicht in einer Geschützten Werkstätte untergebracht werden wollten, sondern auf Arbeitsplätze strebten, die sich am freien Markt anboten. Dafür wurden neue Formen der Unterstützungsleistung benötigt, sowie ein neues Verständnis von beruflicher Beratung und Begleitung.

Die Arbeitsassistenz entwickelte sich anfangs als konkurrierende Alternative zu den bestehenden Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation u.a. von Geschützten Werkstätten und Beschäftigungstherapie-Einrichtungen. Das Spannungsverhältnis besteht weiterhin, jedoch ist in den wenigen Jahren der Etablierung eine beiderseitige Annäherung erfolgt. Große Projektträger, wie Jugend am Werk, die Lebenshilfe oder die Caritas bieten inzwischen eine Betreuungs- und Beratungspalette, die alle diese Angebote beinhalten. Die Qualität der durchgeführten Maßnahmen liegt dabei bei den MitarbeiterInnen und weniger am Namensschild der jeweiligen Einrichtung. Ein belegbares Beispiel ist die Umbenennung der "Geschützten Betriebe" in "Integrative Betriebe", zuletzt geändert im Behinderteneinstellungsgesetz (I 1999/17). Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der "Arbeitsassistenz". Es handelt es sich nicht um einen klar definierten Begriff, vielmehr ist auch hier ein unterschiedliches Verständnis von Integration zu erkennen.

Der 1. Teil dieser Arbeit beschreibt das theoretisches Umfeld in Bezug zur beruflichen Integration. Ausgangspunkt bildet eine Diskussion um die Zielgruppe der zu unterstützenden Personen (Kapitel 1). Mit der Durchführung der Integration in den Pflichtschulen sind Jugendliche herangewachsen, die nicht mehr in bestehende Regelungen passen. Sie sind arbeitswillig und bereit für den allgemeinen Arbeitsmarkt, haben aber aufgrund ihrer Behinderung eine Leistungsminderung, die über 50 % liegt. Eine Frage für den Gesetzgeber lautet daher: Welche grundsätzlichen Überlegungen sind in Zukunft anzustellen und zu berücksichtigen?

Die Bedeutung von Arbeit für das Individuum bildet den Inhalt von Kapitel 2. Neben dem Zusammenhang von Identitätsbildung und Erwerbsarbeit werden Fragen nach der Lebensqualität bzw. Fragen der Arbeitszufriedenheit diskutiert.

Kapitel 3 befasst sich mit dem theoretischen Verständnis der Arbeitsassistenz. In einer Gegenüberstellung von zwei Modellen werden Unterschiede herausgearbeitet und neue Begriffe im Zusammenhang der beruflichen Integration erläutert. Sie bilden die Basis für den empirischen Teil der vorliegenden Arbeit.

Der empirische Teil (2. Teil) beginnt mit der Beschreibung meines wissenschaftstheoretischen Ansatzes (Kapitel 4). Neben einer allgemeinen Erläuterung der Grounded Theory wird das Forschungsdesign und der empirische Forschungsinhalt aufgezeigt. Der Verlauf der beruflichen Integration von vier Personen mit Behinderungen wird über einen Zeitraum von 13 - 26 Monaten dokumentiert und interpretiert. Die Auswertung der Daten erfolgt aus vier Perspektiven: aus der Sicht der Hauptperson (= die Person mit Behinderung), aus der Sicht der Arbeitsassistenz, aus der Sicht des Betriebes und aus der Sicht der Eltern.

Die Verdichtung der Ergebnisse zu einer Gesamtkonzeption beschreibe ich in Kapitel 5. Mit den Interviews "Lernen und Arbeiten" und "Gewinnen mit neuer Qualität" schließt die empirische Datensammlung. Als Resultat ergeben sich vier Schlüsselkategorien, die in Kapitel 6 zu einer allgemeintheoretischen Abhandlung und Diskussion führen. Damit werden die wesentlichsten Bereiche der beruflichen Integration am Beispiel der Arbeitsassistenz beschrieben.

Im 3. und letzten Teil beschäftige ich mich mit Zukunftsperspektiven (Kapitel 7). Die Erfahrung der Arbeitsassistenz in Österreich zeigt eine Lücke des bestehenden Systems auf. Zwischen dem Ende der Pflichtschulzeit und einem möglichen Beginn in der Arbeitswelt fehlen noch fast überall integrative Angebote der Weiterbildung oder Qualifzierung. Als neue, vielversprechende Maßnahmen in dieser Übergangsphase scheinen sich die Zukunftsplanung mit ihrem methodischen Werkzeug, sowie Modelle der Integration in Berufsschulen gut zu eignen, um die Angebotslücke zu schließen. Beispielhaft werden diese Modelle dargestellt.

Der Abschluß der Arbeit orientiert sich an den Worten des Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter: "Bedenken gegen Anpassung" (1998). Viele Eltern und IntegrationsbefürworterInnen sind in ihrem täglichen Kampf um Nicht-Aussonderung müde geworden. Meiner Meinung nach verständlich, denn seit der ersten integrativen Schulklasse im Jahre 1984/85 in Oberwart/Burgenland mussten unzählige Diskussionen, Verhandlungen und Streitereien durchlebt werden. Die jeweilige politische Landschaft spielt dabei eine maßgebliche Rolle in der Durchsetzung von bestehenden Rechten und in der Gestaltung von neuen Rahmenbedingungen. Kompromisse und Anpassungen sind erklärbar, aber sind sie auch zielführend? Heute 2001 sind die Erfolge sichtbar (z. B. die 15. und 17. Schulorganisations-Novelle), die Zahl der Kinder in integrativ geführten Schulen wächst. Dennoch: das Ziel der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in dieser Gesellschaft ist noch Utopie.

Danke

In der Zeit von 1997 - 2001 haben mich einige Menschen bei der Arbeit begleitet, denen ich besonderen Dank ausspreche. Am Beginn nenne ich die Mitarbeiterinnen von "Integration Wien" im Bereich der beruflichen Integration: Christa Polster als Vorsitzende, Susanne Gabrle, Maria Scherzer und Marietta Schneider als Arbeitsassistentinnen. Sie hatten durch ihr offenes und freundliches Verhalten, wesentlichen Anteil an der Entstehung der Dissertation. Zahlreiche Gespräche und Begegnungen ließen mich die Faszination, aber auch die Schwierigkeiten ihrer täglichen Arbeit erkennen.

Bei der Auswertung und theoretischen Aufarbeitung gilt mein Dank drei KollegInnen aus Deutschland: Antje Ginnold aus Berlin, Ralf Wetzel aus Chemnitz und Susanne von Daniels aus Bremen. Die schriftlichen Diskussionen um einzelne Sichtweisen waren stehts spannend und motivierend, der inhaltliche und persönliche Austausch ein unbezahlbares Geschenk unter Freunden.

Als Betreuer und Gutachter dieser Arbeit danke ich Helmwart Hierdeis und Volker Schönwiese.

Zuletzt erinnere ich an die anonym gehaltenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ich in den Jahren der empirischen Untersuchung kennengelernt habe. Danke, dass ihr euch einverstanden erklärt habt, mir Einblicke in eure Lebensgestaltung zu geben.



[1] Mit dem "allgemeinen Arbeitsmarkt" bezeichne ich die Arbeit außerhalb von Sonderinstitutionen wie z. B. "Geschützten Werkstätten" und "Beschäftigungstherapie-Einrichtungen".

[2] Nach Adlhoch (1997, S. 15ff) kann "Unterstützte Beschäftigung" an vier Eckpunkten festgemacht werden, die sich im Vergleich zur klassischen beruflichen Rehabilitation unterscheiden. Unterstützte Beschäftigung ist demnach eine bezahlte, reguläre Arbeit in einer integrativen Arbeitsumgebung. Der Zugang ist unabhängig von Art und Schwere der Behinderung und bietet die Möglichkeit der dauerhaften Unterstützung.

2 Die "Behinderten" als Zielgruppe

2.1 Zur Beschreibung von Begriffen

Die Beschreibungen der Begriffe "die behinderte Person" oder "der Behinderte" unterscheiden sich je nach Kontext[3]. Ich konzentriere mich in dieser Arbeit auf pädagogische und juridische Folgen von Beschreibungen, die unmittelbar mit dem Thema der beruflichen Integration in Verbindung stehen. Das Ziel besteht darin, deutlich zu machen, dass der Ausdruck "Behinderte" eine relative Zuschreibung darstellt (vgl. Cloerkes 1997) und der/die "Behinderte" lediglich eine Konstruktion unseres Denkens ist (vgl. Roth 1999).

In der Pädagogik und in anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Medizin, Psychologie, Soziologie und Philosophie gab und gibt es immer wieder Versuche, die Zuschreibung des Begriffs "Behinderter" zu verändern (vgl. Eberwein, Sasse 1998). Das andere Verständnis drückt sich in den Bezeichnungen: "der Mensch mit Behinderungen", "der Mensch mit besonderen Bedürfnissen", "der Betroffene", "die Hauptperson" aus (vgl. Ginnold 2000). Trotz aller Veränderungsversuche bleibt ein Dilemma bestehen. Es liegt in einem Zuschreibungsvorgang, der auf Alltagserfahrungen (oder auch Nicht-Erfahrungen, Phantasien) und einer negativen Bewertung von Eigenschaften (Attributen) beruht. Wie auch immer diese Zuschreibung ausfallen wird, die Verbindung von Denken und Emotionen (im Sinne einer negativ verhafteten Emotion) lässt sich nicht einfach beseitigen. Ich versuche im Verlauf der Arbeit (speziell im empirischen Teil) nachzuweisen, dass sich diese Fremd-Erfahrung in der direkten Begegnung positiv verändern kann.

Cloerkes fasst diesen Umstand kritisch zusammen: "Zwischen Kontakt mit behinderten Menschen und den Einstellungen gegenüber Behinderten existiert eine Kausalbeziehung. Fraglich ist allerdings, ob Kontakt in dem Maße zu einer positiven Haltung gegenüber Behinderten führen kann, wie dies oft erwartet wird. Kontakt kann nämlich unter Umständen sogar negative Auswirkungen haben. Von entscheidender Bedeutung sind eine Reihe qualitativer Bedingungen des Kontakts. Sofern deren strikte Beachtung gesichert ist, dürfte der Kontaktvariablen - auch ergänzt durch andere Strategien - eine erhebliche Bedeutung zukommen" (Cloerkes 1997, S. 126).

Die Aussage wird durch Ergebnisse aus der Neurobiologie bekräftigt. Einflussfaktoren, die als "intervenierende Variablen" bedeutsam sind, "(beziehen) sich auf innere Zustände wie Vorwissen, Aufmerksamkeit, Erwartungshaltungen, Weltmodelle und Handlungsstrategien" (Roth 1999, S. 27). Die Gefühle gegenüber Menschen mit Behinderungen können sich verändern und verbunden damit auch die Zuschreibung des "Behinderten-"Begriffs, doch das Wie und Wodurch bleibt Vermutung: "Kognitive Leistungen sind aufs Engste verbunden mit Emotionen, die ihrerseits eine Brücke zum völligen Unbewussten in uns bilden. Dieses völlige Unbewusste ist keineswegs nur das Angeborene, Reflex- und Triebhafte, sondern der gewaltige Vorrat an Vorerfahrung, der aus dem aktuellen Bewusstsein abgesunken ist, aber dennoch - oder gerade deshalb - maßgeblich in die Steuerung unseres Denken und Handelns eingreift. Freilich sind diese Prozesse noch weitgehend unverstanden, und ihre Aufklärung wird eine der grössten Herausforderungen an die Wissenschaft sein" (Roth 1999, S. 9ff).

Cloerkes verwendet eine Beschreibung des "Behinderten-"Begriffs, die sich in der beruflichen Integration als passend erweist. Er unterscheidet zwischen der Behinderung und der Reaktion auf den "Behinderten". Diese Unterscheidung hat Auswirkungen beim Auffinden von Arbeitspätzen, bei der Arbeitsplatzgestaltung und -entwicklung und ist insbesondere beim Zugang zu finanziellen, materiellen und personellen Unterstützungsressourcen (vgl. empirischer Teil dieser Arbeit) von Bedeutung.

Cloerkes umschreibt folgendermaßen:

  • "Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird. ‚Dauerhaftigkeit' unterscheidet Behinderung von Krankheit. ‚Sichtbarkeit' ist im weitesten Sinn das ‚Wissen' anderer Menschen um die Abweichung.

  • Ein Mensch ist ‚behindert', wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktionen auf ihn negativ ist." (Hervorhebungen im Original; Cloerkes 1997, S. 6)

In diesem Kapitel wird auf die arbeitsrechtlichen Definitionen (juridische Definitionen im Bereich des Behindertenwesens) eingegangen. Zuvor jedoch werden drei wesentliche Konsequenzen, die sich aus Zuschreibungen ergeben können, behandelt. Ich habe mich für die Ausarbeitung dieser Themen entschieden, weil die Frage nach der Existenberechtigung behinderter Menschen jede Diskussion überschattet. Sie machen Überlegungen zur beruflichen Integration überflüssig, wenn sie nicht mit einem klaren "ja" beantwortet werden. Einen Impuls zum Einstieg gibt folgendes Gedicht:

OTHELLO oder DER MOHR IST SCHULDIG

WO MAN EINEN

DER ANDERS IST

BRAUCHT

UND IHN DULDET UND GELTEN LÄSST

UND IHM SCHMEICHELT SOLANG MAN IHN BRAUCHT

UND HINTERRÜCKS AUF IHN ZEIGT

UND VON IHM SPRICHT ALS VON DEM DA

DER ANDERS IST

WO MAN AUFBAUT UM IHN

SCHRANKEN UND MAUERN AUS LUFT

BIS ER UNSICHER WIRD UND WIRR

BIS ER UMFÄLLT

UND ANFÄNGT ZU RASEN

BIS ER KEINER MEHR IST DEN MAN BRAUCHEN KANN

SO DASS ES ZEIT WIRD

VON IHM ZU SAGEN

JETZT ZEIGT ER SEIN WAHRES GESICHT

DORT ÜBERALL WIRD OTHELLO DER MOHR VON

VENEDIG AUFGEFÜHRT

UND NICHT NUR AUF DEM THEATER

UND ER MUSS AUCH GAR NICHT NUR EIN MOHR SEIN

EIN NEGER

UND GAR NICHT WIRKLICH SCHWARZ SEIN NICHT EINMAL

BRAUN UND WIE EIN FREMDER SPRECHEN

ER MUSS NUR SO SEIN

DASS DIE ANDEREN IN IHM DEN ANDEREN SEHEN

KÖNNEN

DANN IST VON ANFANG AN SEIN ENDE SCHON VORBESTIMMT.

(Erich Fried 1972)

2.1.1 Der Andere und die Leidprojektion

"Er muss nur so sein, dass die Anderen in ihm den Anderen sehen." Der Andere wird erstmals erkennbar durch die Typisierung von Merkmalen. In der Medizin heißt das: Diagnostizierung (siehe dazu das Unterkapitel: Von der Selektions- zur Förderdiagnostik). Wenn eine psychologische Betrachtungsweise vom Gegenüber als Spiegel der eigenen Person ausgeht, dann kann bei Unterschieden die eigene Identität durch den Anderen in Frage gestellt werden. Durch ein verändertes Spiegelbild, ein Spiegelbild das nicht der Normalität des Durchschnittlichen entspricht, stellt sich die Identitätsfrage neu: Wer bin ich? Die äußere und die innere Begrenztheit des Menschen verweben sich in komplizierter Weise mit der individuellen Lebensgeschichte und der gesellschaftlichen "Normalität". Die äußere Begrenztheit des Menschen ergibt sich aus seiner physischen Beschaffenheit, schließlich dient die Haut als Oberfläche und Begrenzung eines in sich geschlossenen Systems (vgl. Maturana, Varela 1984). Als innere Begrenztheit können die Grenzen der Wahrnehmung und des Denkens angenommen werden. Kein Mensch weiß, wie er oder sie an der Stelle des Anderen fühlen und erleben würde, weil kein Mensch an die Stelle des Anderen treten kann.

Feuser formuliert die Unmöglichkeit eines Personenwechsels, indem er die Zuschreibungsmechanismen verdeutlicht: "Es gibt Menschen, die WIR aufgrund UNSERER Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem WIR sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den WIR als ‚geistigbehindert' bezeichnen." (Feuser 1996, www, Hervorhebung im Original). Durch eigene Erfahrungen von Schmerzzuständen, die ich im Anderen zu Erkennen glaube, ensteht psychisch häufig eine Leidprojezierung auf und in den Anderen hinein. Der Blick ist auf die körperliche Ebene konzentriert. Feuser betont neben der grundsätzlichen Kritik der Leidprojektion, dass: " ... Die Leiden, die schwerstbeeinträchtigten Menschen vor allem von den Euthanasiebefürwortern zugeschrieben werden und von denen sie nach deren Meinung aus Gründen der Menschlichkeit durch ihre Tötung befreit werden müssten, resultieren nicht primär aus ihrer Behinderung, auch nicht primär aus möglichen Schmerzzuständen, sondern wesentlich aus ihrer Ausgrenzung und aus dem Verlust des Vertrauens in ihre Mitmenschen" (Feuser 1995, S. 128). Eine derartige Sichtweise zeigt ein erweitertes Verständnis von Leiden auf. Nicht nur der Körper in seinem physischen Zustand wird betrachtet, sondern der Mensch als Ganzes in seinem bio-psycho-sozialen Bezug.

In Anlehnung an Roth (1999) und Feuser (1995, 1996) stelle ich die These auf, dass sowohl aus neurobiologischer und konstruktivistischer Sicht, als auch auf der Grundlage der Selbstorganisations- und Systemtheorie, das Leiden im Anderen nie verstanden werden kann. Als subjektive Erfahrung bleibt Leiden individuell. Letztendlich bleibt mir, wie bei allen anderen menschlichen Prozessen, der Zugang zum Inneren verschlossen.

Diese These wird bestätigt durch den Verstehensbegriff bei Waldenfels. Sie meint, dass das vermeintliche "Verstehen" eines anderen Menschen erstens eine Illusion, zweitens eine Bemächtigung und drittens eine Selbstberaubung ist (vgl. Waldenfels 1990, S. 33). "(Eine Illusion), weil es die letzte undurchdringliche Fremdheit und Einsamkeit noch im vertrautesten Umgang leugnet: Was ich vom anderen erfahren kann, ist nie dessen Erfahrung oder Befindlichkeit, sondern immer nur meine Erfahrung dessen, was er oder es von seiner Erfahrung oder Befindlichkeit kundtut oder preisgibt. ... (Eine Bemächtigung weil), es unterwirft den oder das andere unter mein Weltverständnis. ... (Eine Selbstberaubung), denn es bringt mich um die Begegnung mit Fremdem und friert meine Erfahrung auf dem Stand des Bekannten ein. Wofern nicht überhaupt die verstehende Negation des Fremden zugleich eine Negation des Eigenen ist, da sich das Eigene ja nur in der Differenz zum anderen herausbilden kann" (Waldenfels zitiert nach Gronemeyer 1996, S. 154).

2.1.2 Die Leidvermeidung und die Ausgrenzung

Gronemeyer kommt in ihrer Untersuchung zum Schluss, dass in der Beschleunigung des Lebenstempos die Leidvermeidung eine wichtige Rolle spielt. Die Gesellschaft mit ihrer Sucht nach Gewinnmaximierung gibt der Leidvermeidung einen neuen Stellenwert. "Der Zeitgewinn der rasenden Lebensart beruht gerade darauf, dass der Mensch die annehmlichen Seiten des Lebens abschöpft und die schmerzvollen eliminiert. ... Nicht nur Leid hat in dem Konzept der Gewinnmaximierung keinen Platz, sondern auch geringfügigere Beeinträchtigungen des Lebensgefühls nicht: Unbill aller Art, Trübsinn, Störungen, die die Pläne durchkreuzen, Missbehagen, Begrenzungen, Zweifel, Kümmernisse, Verdunkelungen. Die ganze Welt soll es sein, nur eben abzüglich alles dessen, worauf man nicht scharf ist: Leid, Krankheit, Scheitern Unsicherheit und Tod, ... Bei der Bilanzierung der kurzen Lebensfrist spielt also nicht nur das Verhältnis von gelebtem und ungelebtem Leben eine Rolle, sondern auch jenes von gut gelebtem und schlecht gelebtem Leben. ... Der Preis für diese Zuchtwahl der Lebensumstände ist unerwartet hoch. Die Beschleunigung, die darin besteht, dass man sich mit den leidvollen Seiten des Lebens nicht aufhält, endet in einer paralysierenden Berührungsangst, in einer selbstauferlegten Kontaktsperre gegenüber der leidträchtigen Welt. ... Bei jeder Berührung läuft er Gefahr, von ihrer düsteren Kehrseite ereilt zu werden und doch seine wertvolle Zeit an Unwürdiges zu verlieren" (Gronemeyer 1996, S. 122ff).

Fried spricht in seinem Gedicht von Schranken und Mauern. Die Schranken und Mauern sind physisch real in Form von Sonderinstitutionen und psychisch in den Köpfen der Menschen. Der Mechanismus der Rückkoppelung verstärkt diese Ausgrenzung. Je mehr der andere unsicher wird in seinen sozialen Beziehungen, desto mehr wird er ein "Behinderter", einer der den geltenden Normvorstellungen nicht entspricht. Durch Erfahrungswiederholungen wird die anfängliche Zuschreibung zur konstituierenden Eigenschaft einer Person (vgl. Feuser 1995, 47ff). Eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Anderen oder dem Fremden könnte die Zuschreibung wieder dechiffrieren. Die Versuchungen einer Gesellschaft, die nach einem maximalem Gewinnstreben ausgerichtet ist, erschweren allerdings dieses Vorhaben.

2.1.3 Verlust des Gebraucht-werdens und der Tod

Das Gebraucht-werden scheint eine notwendige Voraussetzung für die Existenzberechtigung in der Gesellschaft zu sein. Im Gedicht äußert sich nicht, worin sich das Gebraucht-werden ausdrückt, lediglich die Tatsache wird festgestellt. Solange man Othello braucht, geht alles scheinbar gut. Bei Behinderten kann sich das Gebraucht-werden m. E. zumindest auf zwei Ebenen zeigen: Auf der Ebene der rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung einerseits und auf einer psychischen Ebene in Beziehungsverhältnissen andererseits.

Der Behinderte wird gebraucht, um bestimmte Arbeiten zu verrichten. "Seit etwa dem 18. Jahrhundert begannen die Mediziner, die Krüppel zu trennen in körperlich Verkrüppelte, Schwachsinnige und Idioten. Ziel dieser Aufteilung war es, die verlässlichen und verwertbaren Krüppel von den wirtschaftlich Unbrauchbaren zu trennen. Gleichzeitig und mit demselben Hintergrund beginnt der Aufbau der Sonderschulen. Mit der politischen Stabilisierung des Deutschen Reiches verlangt die wachsende Industrie nach immer mehr Arbeitskräften. Die Nachfrage greift auf die Krüppel zurück, die zu diesem Zweck in den Sonderschulen eine Ausbildung erhalten. Aus der zunehmenden Spezialisierung der Anforderungen im Beruf ergibt sich die stetig voranschreitende Aufgliederung der Sonderschulen. Die Mehrzahl der Mediziner und Pädagogen sahen ihr höchstes Ziel erfüllt, wenn es ihnen gelungen war, einen Krüppel berufsfähig gemacht, d.h. auf eine bestimmte Funktion hin abgerichtet zu haben. Ein Scheitern der langjährigen Programme befleckte in erster Linie die Berufsehre; welche zerstörerischen Folgen sie in der Persönlichkeit des Krüppels hinterließen, interessierte zumindest selten. Im Mittelpunkt aller Bemühungen stand nicht der Krüppel, sondern der Helfer selbst, der den Verdienst seiner Taten einstreichen will" (Sierck 1987, www).

Sierck beschreibt in diesem Ausschnitt die angeführten zwei Ebenen aus der geschichtlichen Perspektive. Saal, Autor zahlreicher Schriften, selbst mit einer schweren spastischen Lähmung geboren, meint zum Gebraucht-werden im Allgemeinen. "Wer sich von ihm abhängig macht, steht eines Tages ziemlich verlassen da. Nein, viele Menschen, z. B. Schwerstmehrfachbehinderte, 'leisten' nichts. Sie wirken durch nichts als ihr Dasein, und dies, ob sie wollen oder nicht. Ohne Zweifel entwirft der Mensch sich selbst. Darum müssen wir höllisch aufpassen, dass er nicht vom anderen entworfen wird. Dabei ist eine nicht zu überschätzende Gefahr zu beachten: Würde und der würdige Abbruch eines 'würdelosen' und somit 'lebensunwerten' Daseins liegen gar nicht so weit auseinander. Kommt dazu auch noch über die Diskussion der 'Brauchbarkeit', die Kosten-Nutzen-Rechnung ins Spiel, fallen alle Elemente, die für das Lebensrecht jeden humanen Daseins sprechen" (Saal 1998, S. 65ff).

Die österreichischen Bestrebungen, im Rahmen der geplanten Behindertenmilliarde (im Jahr 2001 und 2002) behinderte Menschen auf den Arbeitsmarkt zu bringen, muss im Lichte dieser Gefahren reflektiert werden. Was sind die Vorstellungen und Bilder, die begleitend mit dem enormen Geldeinsatz einhergehen? Werden hier neue Gruppen geschaffen, jene der Arbeitsfähigen und Brauchbaren und jene der Nicht-Arbeitsfähigen und Unbrauchbaren?

Die zweite Ebene betrifft das psychische Gebraucht-werden der behinderten Person für den Helfer bzw. die Helferin. Der "Behinderte" stellt ein Subjekt dar, mit dem die eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen befriedigt werden können. Der Gefahr einer Missbrauchsdynamik lässt sich nur durch eine kritische Reflexion der eigenen Position entgegentreten.

Das Hervorheben der behinderten Person in der Öffentlichkeit ist häufige Praxis vieler Behindertenorganisationen. Jüngstes Beispiel dabei ist die Behinderten-Kampagne "Wir sind außer-gewöhnlich", initiiert vom Verein zur Förderung körperbehinderter Menschen in Tirol im Oktober 2000. Ein bekannter Spitzensportler sitzt neben einem 13-jährigen Schüler auf einer Parkbank. Neben dem Schüler ist ein Rollstuhl. In grosser Überschrift steht der Slogan: "Wir sind außer-gewöhnlich". Auf den ersten Blick ein freundliches Photo, aber mich irritiert die Überschrift. Was wird hier als "außer-gewöhnlich" dargestellt und welche Botschaft(en) wird (werden) vermittelt?

In der Liebestragödie "Othello" wird Heldentum, Eifersucht, Lüge und Wahrheit zum Hauptthema gemacht, vergleichbare Inhalte scheinen in der Behindertenpädagogik nicht gegeben. Die Geschichte von Othello endet, indem er, der Mörder seiner Geliebten, sich selbst tötet. Diese Dramatik spiegelt sich im Alltag behinderter Menschen wieder, wenn danach gefragt wird, aus welchen Gründen sich Menschen mit Behinderungen töten oder getötet werden. Was bedeutet das, wenn ein behindertes Kind plötzlich vor ein fahrendes Auto springt? Wenn selbstverletztende Verhaltensweisen bis zur Selbstzerstörung reichen? Wenn übermäßiges Essverhalten den totalen körperlichen Kollaps herbeiführt? Welche Zusammenhänge mit den Ausgrenzungsmechanismen lassen sich hersellen? Die vorliegenden Gedanken bleibt bruchstückhaft und unbeantwortet. Weitere Überlegungen z. B. nach der Frage der Schuld, Eifersucht oder Wahrheit, zählen zu bedeutsamen Themen der Behindertenpädagogik (vgl. Niedecken 1989, Cloerkes 1997), werden jedoch an dieser Stelle in Verbindung mit beruflicher Integration nicht näher ausgeführt.

2.2 Von der Selektions- zur Förderdiagnostik

Im Folgenden wird das Thema der Diagnostik aufgegriffen, das bereits im Unterkapitel "Der Andere und die Leidprojektion" erwähnt wurde. Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend:

  1. Die Bedeutung eines erweiterten diagnostischen Verständnisses in Form der Förderdiagnostik

  2. Das Dilemma der Zielgruppenausrichtung in Verbindung mit dem Prinzip "Integration ist unteilbar"

Die Diagnostik ist im Duden-Herkunftswörterbuch (1989) als "Fähigkeit, Lehre, Krankheiten usw. richtig zu erkennen" umschrieben. Die Diagnose wird aus dem zugrundeliegenden griechischen Verb als "durch und durch erkennen, beurteilen" abgeleitet. Die Diagnostik dient als Instrument zur Bestimmung von Behinderung und erlangt Bedeutung bei der Bestimmung einer Zielgruppe der "Behinderten". Die Zielgruppendiskussion ist mit der Ausweitung von Arbeitsassistenz-Projekten in Vereinen und Institutionen zum wichtigen Thema geworden. Es geht dabei um finanzielle Mittel, die von der Bundesregierung bereitgestellt werden.

Im Bereich der beruflichen Integration und Rehabilitation im Hinblick auf den allgemeinen Arbeitsmarkt finanziert die österreichische Bundesregierung verschiedene Maßnahmen. Bekannt sind in erster Linie jene im Rahmen der Einstellung von "Behinderten" nach dem Behinderteneinstellungsgesetz, sowie Maßnahmen im Bereich "Integrativer Betriebe" (vormals: Geschützte Werkstätten). Notwendige Voraussetzung ist ein Gutachten, das sich auf eine medizinisch-psychologische Diagnostik stützt. Solange der Mensch der definierten Zielgruppe entspricht, kann er die Leistungen in Anspruch nehmen, ansonsten bleiben ihm Förderungen verwehrt. Die Orientierung an dieser Zielgruppe lässt bei jenen Menschen, die wenig bzw. als zu stark behindert eingestuft werden und dennoch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt platziert werden möchten, eine Lücke im System offensichtlich werden.

Grundsätzlich dient die Diagnostik in den unterschiedlichen Disziplinen als Entscheidungsgrundlage für weitere Handlungsschritte. In der Schulmedizin wird aufgrund einer Diagnostik eine Operation durchgeführt oder ein bestimmtes Medikament verschrieben. Dieses Verfahren kann in vielen Bereichen als lineare Ursache-Folge-Wirkung zu gewünschten medizinischen Erfolgen führen. In der pädagogisch-psychologischen Diagnostik lässt sich eine klare Ursache-Folge-Wirkung kaum mehr beweisen. Die Person als Ganzes rückt in den Mittelpunkt, womit der Komplexitätsgrad an möglichen Faktoren fast unüberschaubar wird. Am Beispiel der pädagogischen Diagnostik werden nun Möglichkeiten eines erweiterten diagnostischen Verständnisses aufgezeigt. Das Ziel ist es, sich einer festschreibenden Diagnostik kritisch zu stellen und gleichzeitig alternative Handlungsspielräume zu entwickeln.

Zunächst wird anhand der Diagnostik im Schulbereich der Wandel dargestellt, anschließend wird die Diagnostik in der beruflichen Integration diskutiert. Nach wie vor gilt die Definition des Behinderteneinstellungsgesetzes (BEinstG) als Grundlage für die möglichen berufliche Integration. Ausgegangen wird von einer Arbeitsfähigkeit im Umfang von ca. 20 Wochenstunden. Doch durch die Entwicklungen in der integrativen Pädagogik, drängen immer mehr Jugendliche mit Behinderung auf den Arbeitsmarkt, die der Definition des Gesetzes nicht entsprechen. Daher müssen neue Konzepte erprobt werden, um die wachsende Lücke in der beruflichen Integration zu schließen.

2.3 Exkurs: Diagnostik in der Schule - ein Wandel durch die Integration

Die Diagnostik in der Schule erfüllte jahrzehntelang den Zweck eines Abklärungs- und Überweisungsverfahrens. Das separierende Schulsystem in der Grundstufe und Sekundar-stufe I hatte die Schwierigkeit, Auslesemechanismen zu finden, um die Schüler und Schülerinnen entsprechend einzuordnen. Der diagnostizierte behinderte Schüler gehörte in der Logik eines separierenden Schulsystems in die Sonderschule. Die Diagnostik erfüllte die Funktion der Legitimation (vgl. Kornmann 1994, S. 51). Mit Hilfe von standardisierten Testverfahren versuchte die Schulbehörde die Frage der Sonderschulbedürftigkeit zu entscheiden. Merkmale wie Intelligenz und Schulleistungen sollten erfasst werden, die Ursachen der schlechten Leistungen wurden an der einzelnen Person festgemacht. Der Umstand, dass der Mensch einem ständigen Entwicklungs-, Lern- und Interaktionsprozess unterliegt, spielte dabei keine Rolle.

Durch engagierte Eltern und BefürworterInnen der Schulintegration (Stichwort: Nichtaussonderung, gemeinsames Lernen aller Kinder) veränderte sich die Schullandschaft. In Österreich wird das durch Schulgesetze aus dem Jahr 1993 und 1997 belegt. Gemeinsamer Unterricht machte die Selektionsentscheidung mittels Diagnostik überflüssig. Es ging nicht mehr um die Frage der Aussonderung, sondern zunehmend gewann die Frage nach der bestmöglichen individuellen Förderung an Bedeutung. Wie Belusa/Eberwein (vgl. 1997, S. 260) ausführen, entwickelte sich als "Gegenbegriff" zur "Selektionsdiagnostik" die "Förderdiagnostik", die auch einen politischen Anspruch beinhaltet.

Bei der sogenannten "Förderdiagnostik" handelt es sich um eine Form der Diagnostik, "die nicht nur die Messung weitgehend unveränderbarer Persönlichkeitsmerkmale zum Ziel hat, sondern vor allem Verhalten und Lernen im sozialen und situativen Kontext zu erfassen versucht, um daraus individuelle Fördermaßnahmen abzuleiten. Im Gegensatz zur herkömmlichen normorientierten Diagnostik, die die Unterschiede zwischen den Menschen hervorhebt (interindividuelle Unterschiede) und so zur Intensivierung der zwischenmenschlichen Konkurrenz beiträgt, versucht die Förderdiagnostik zu erheben, was ein Kind kann und welche individuellen Fördermaßnahmen es für seine weitere Entwicklung benötigt. ... Ziel ist nicht mehr die Feststellung eines defizitären Bildes des Kindes im Sinne einer medizinischen Diagnose oder der Vergleich mit fiktiven oder realen Vergleichsgruppen, sondern das Erkennen der Zusammenhänge und Wechselwirkungen, das Erfassen der Hintergründe und Prozesse. Im Mittelpunkt steht die Bewertung der individuellen Veränderungen unter dem Einfluss einer individuell angepassten Intervention" (Wetzel/Ansperger 1999, S. 74).

In der Förderdiagnostik ist die Beobachtung das entscheidende Instrument zur Informationsgewinnung. Insgesamt werden qualitative Informationen den quantitativen vorgezogen. Anstelle von Test- und Befragungsmethoden treten "Methoden wie Unterrichts- und Verhaltensbeobachtungen (in natürlichen Situationen), informelle Gespräche, Tagebuchaufzeichnungen, Dokumentenanalysen usw. ..." (Belusa/Eberwein 1997, S. 261). Wenn Testverfahren eingesetzt werden, dann empfehlen die Autoren qualitative Gesichtspunkte aufzunehmen, "dass man über die in der Testanweisung enthaltenden Vorgaben hinausgeht, indem z. B. mehr Zeit eingeräumt wird, zwischendurch ermutigt wird, Rückfragen gestellt werden, Hilfestellungen gegeben werden, um auf diese Weise das Lernverhalten des Schülers besser beobachten und beurteilen zu können" (Belusa/Eberwein 1997, S. 263).

Hildeschmidt und Sander haben mit dem ökosystemischen Ansatz und der Entwicklung einer "Kind-Umfeld-Diagnose" die Förderdiagnostik methodisch bereichert. Aus system- und entwicklungstheoretischen Überlegungen stellten sie einen Leitfaden zusammen, der bei der Eingangsdiagnose als Grundlage dienlich sein kann. Beide betonen in ihrem Aufsatz, dass der so bezeichnete ökosystemische Ansatz nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann. Dem pädagogischen Alltag gilt es stets reflektierend zu begegnen, "um Lern- und Entwicklungsschritte des Kindes, das Auftreten neuer Needs [Bedürfnisse d. A.] im Kontext gemeinsamen Unterrichts von nichtbehinderten und behinderten Kindern zu erkennen und in der pädagogischen Handlungsplanung flexibel darauf reagieren zu können" (Hildeschmidt/Sander 1997, S. 271).

2.4 Diagnostik in der beruflichen Integration

Im beruflichen Kontext ist die Frage nach einer Diagnostik auf zwei Ebenen bedeutsam: zum einen, wie bereits angesprochen, bei der Festlegung des "Behinderten". Welcher Grad an Behinderung liegt vor? Zu welcher Zielgruppe kann die Person gezählt werden? Damit wird der Zugang zu Unterstützungsmaßnahmen geregelt. Zum anderen wird eine Form der Diagnostik verwendet, um bei der Erstellung eines Fähigkeits- und Arbeitsplatzprofils zu Grundaussagen zu kommen. Idealtypisch findet im Verlauf der Vermittlung zwischen den zwei Profilen eine Passung statt. In der beruflichen Integration können die verschiedenen angewandten Verfahren - ähnlich wie in der Schule - in eine Auswahl- und Selektionsdiagnostik eingeteilt werden, der eine prozessorientierte Förderdiagnostik gegenübergestellt wird. Der Gegensatz zeigt sich in der unterschiedlichen Herangehensweise an Integrationsprojekte.

In Deutschland hat die Hauptfürsorgestelle eine umfangreiche Untersuchung von Integrationsfachdiensten in Westfalen-Lippe durchgeführt. Im Kapitel Diagnostik untersuchten die AutorInnen drei verschiedene Vorgangsweisen im Integrationsprozess (vgl. Hauptfürsorgestelle 1999, S. 131ff). Eine Gruppe von Integrationsfachdiensten konzentrierte sich vollständig auf das Verfahren MELBA (Merkmalprofil zur Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit). Das Instrument ist standardisiert und soll bei der Beurteilung von Arbeitsanforderungen und -fähigkeiten klare Ergebnisse liefern. MELBA berücksichtigt Bereiche der Kognition, soziale Merkmale, Psychomotorik, Art der Arbeitsausführung, Kulturtechniken und Kommunikation. Die zweite Gruppe wendete MELBA flexibel und nicht streng nach den Empfehlungen der Entwickler an. Die dritte Gruppe erarbeitete ein individuelles, offenes Anamneseverfahren. Das Ergebnis der Untersuchung führte zur erwarteten Vorstellung: "Die Mitarbeiter, die die Möglichkeit nutzten, zwar auf einen differenzierten Beurteilungsraster zurückzugreifen, diesen jedoch flexibel und im Sinne eines Screeningverfahrens zur - eher groben - Orientierung einsetzten, arbeiteten hinsichtlich Betreuungsdauer am Ökonomischten. ... (Ein Verfahren wie MELBA d. A.) birgt zum einen die Gefahr in sich, dass durch eine allumfassende Abklärung einer möglichen Passung zwischen Fähigkeiten und Anforderungen sich der Blick nicht auf die relevanten Probleme konzentrieren kann, die sich z. T. durch die Rahmenbedingungen eines Eingliederungsversuchs ergeben (z. B. ein eher hemmendes als förderndes soziales Umfeld oder Skepsis, Vorurteile und Berührungsängste aufseiten der Kollegen). Zum anderen ist zu befürchten, dass die Entwicklungspotentiale und Kompensationsmöglichkeiten der Bewerber ebenso wie die Veränderungsbereitschaft der Betriebe außer Acht gelassen werden und so dem Bewerber bestimmte Tätigkeiten aufgrund einer - vermeintlichen - Diskrepanz zwischen Anforderungen und Fähigkeiten von vorneherein nicht zugetraut werden." (Hauptfürsorgestelle 1999, S. 142)

Die Erfahrungen mit der Zielgruppe der "Behinderten" führten zum Prinzip: "erst platzieren, dann qualifizieren". Anstelle einer Auslese- bzw. Selektionsdiagnose wird auf förderdiagnostische Instrumente zurückgegriffen (Begleitung und Unterstützung am konkreten Arbeitsplatz, "training on the job"). Dieses Prinzip stammt aus der Praxis der "Unterstützten Beschäftigung". (Eine ausführliche Darstellung "Unterstützter Beschäftigung" findet sich in Kapitel 3). Die Untersuchung der Hauptfürsorgestelle kommt zum Schluss, dass eine intensive zeitliche und instrumentelle Abklärung durch diagnostische Instrumente den entscheidenden Schritt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt eher verhindern oder verzögern; vor allem werden Entwicklungsmöglichkeiten und Rahmenbedinungen kaum miteinbezogen (vgl. Hauptfürsorgestelle 1999, S. 15). Gerade bei Menschen mit einer sogenannten "geistigen" Behinderung führt das zu Fehleinschätzungen und Unterforderungen. Wie im empirischen Teil noch aufgezeigt wird, trägt die Realsituation einer konkreten Arbeitsstelle zur Motivationssteigerung und Entwicklungsförderung eines Menschen mit Behinderung wesentlich bei.

2.5 Zum Behindertenbegriff im österreichischen Recht

Um Anspruch auf Unterstützungsmaßnahmen zu erlangen, ist der Rückgriff auf eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Die zugesprochenen Leistungen werden je nach Zuständigkeitsbereich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aufgeteilt. Eine einheitliche Rechtslage und Definition von Behinderung bzw. "Behinderte(r)" ist nicht gegeben. Das Behindertenwesen gilt wegen den unterschiedlichen Zuständigkeiten im juridischen Sprachgebrauch als "Querschnittsmaterie". Verschiedenste Gesetzesbücher und -Verordnungen finden in unterschiedlichsten Bereichen Anwendung.

Die Rechtslage in Österreich kennt folgende Begriffe im Behindertenwesen:

"Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, (körperliche) Gebrechen, Versehrter, Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Dienstbeschädigung, Gesundheitsschädigung, Beschädigte, sonderpädagogischer Förderbedarf, Menschen mit besonderen Bedürfnissen, pflegebedürftige Personen" (Steingruber 2000, S. 71).

Die dafür verantwortlichen Verordnungen und Gesetze sind geregelt im: Bundesrecht, Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB), Sozialversicherungsrecht (Kranken-, Unfall-, Pensionsversicherung: Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Rehabilitation), Behinderteneinstellungsgesetzt (BEinstG), Bundesbehindertengesetz (BBG), Bundespflegegeldgesetz (BPGG), Versorgungsrecht (Kriegsopferversorungsgesetzt - KOVG, Heeresversorungsgesetz - HVG, Verbrechensopfergesetz - VOG), Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG), Schulrecht, Landesrecht (Landesgesetzliche Regelungen der Behindertenhilfe, Landespflegegeldgesetze). (vgl. Inhaltsverzeichnis - Steingruber 2000).

Ich beschränke mich im Folgenden auf jene gesetzlichen Bestimmungen, die für die Platzierung am Arbeitsort entscheidend sind. Das Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) ist im Allgemeinen das bekannteste Gesetz in diesem Zusammenhang. Es ist ein Bundesgesetz und regelt z. B. die Beschäftigungspflicht für Dienstgeber, Fördermaßnahmen und Kündigungsregelungen.

Behinderung § 3. Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustand beruht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten (BGBI 1988/721). Der Personenkreis wird in § 2 geregelt. Verkürzt handelt es sich um Personen, die per Bescheid mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 v. H. ausgewiesen wird. Dieser Personenkreis wird dann als "Begünstigte Behinderte" definiert. Nicht zu diesem Personenkreis zählen nach § 2 (2) Personen, die:

  1. sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden oder

  2. das 65. Lebensjahr überschritten haben und nicht in Beschäftigung stehen

  3. nach bundes- oder landesgesetzlichen Vorschriften Geldleistungen wegen dauernder Erwerbsfunfähigkeit (dauernder Berufsunfähigkeit) bzw. Ruhegenüsse oder Pensionen aus dem Versicherungsfall des Alters beziehen und nicht in Beschäftigung oder

  4. infolge des Ausmaßes ihrer Gebrechen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit auch auf einem geschützten Arbeitsplatz oder in einem Integrativen Betrieb (§11) nicht geeignet sind. (BGBI 1973/329, 1979/111, 1988/721, 1999/17).

Unter Punkt d) ist in etwa eine Arbeitsleistung von 20 Stunden pro Woche zu verstehen (vgl. Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG) § 255 und § 273). Dieses legistische Verständnis stößt durch die Entwicklung von pädagogischen Maßnahmen auf Probleme in der Praxis. Wie kann eine sinnvolle Erwerbsarbeit, bei der nur 10 oder 15 Stunden geleistet werden geregelt werden, ohne im gesetzesfreien Raum zu sein? Im empirischen Teil weist das Beispiel M1 auf die Schwierigkeiten in der Praxis hin. Damit wird deutlich, wie sehr die politische Arbeit im Bereich der beruflichen Integration gebraucht wird, um Veränderungen durchzusetzen.

Das zweite bedeutsame Gesetz für das Behindertenwesen und die berufliche Integration findet sich in den jeweiligen Landesgesetzen. Im Tiroler Rehabilationsgesetz wird der Personenkreis in § 2 definiert: "Behinderte im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die wegen eines physischen oder psychischen Leidens oder Gebrechens in ihrer Fähigkeit dauernd wesentlich beeinträchtigt sind, ein selbständiges Leben in der Gesellschaft zu führen, insbesondere eine angemessene Erziehung, Schulbildung oder Berufsausbildung zu erhalten oder eine ihnen auf Grund ihrer Schul- und Berufsausbildung zumutbare Beschäftigung zu erlangen oder zu behalten" (LGBI. Nr.58/1983, 54/1989, 40/1993, 52/1993, 13/1996, 33/1998, 106/1998).

Das Tiroler Rehabilitationsgesetz regelt verkürzt formuliert a) medizinische Rehabilitationsmaßnahmen (z. B. Beschäftigungs- und Arbeitstherapie), b) pädagogische Rehabilitationsmaßnahmen: Hilfe zur Erziehung und Schulbildung, c) berufliche Rehabilitationsmaßnahmen: 1. Hilfe zur beruflichen Eingliederung, 2. Geschützte Arbeit und in Abschnitt d) soziale Rehabilitationsmaßnahmen (vgl. 1. Abschnitt § 4).

Mit dem Behinderteneinstellungsgesetz und dem jeweiligen Landesgesetz zur Rehabilitation sind die entscheidenden Leistungansprüche (individuell als auch für Leistungsträger bzw. Leistungsanbieter) in der beruflichen Integration geregelt. Seit dem Beitritt Österreichs in die Europäische Union stehen zusätzliche finanzielle Mittel für Initiativen zur Verfügung. Aktuell wird im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie das Programm EQUAL (2000 - 2006) geplant. Das Ziel liegt in einer transnationalen Zusammenarbeit zur Förderung neuer Methoden zur Bekämpfung von Diskriminierung und Ungleichheiten jeglicher Art auf dem Arbeitsmarkt. Ein thematischer Schwerpunkt beschäftigt sich mit dem Übergang Schule - Beruf. Für den Behindertenbereich wird dabei die Zielgruppe sehr weit gefasst. Das bietet die Möglichkeit für Projektträger, das Angebot dementsprechend breit anzusetzen. Aus einer Beilage des Bundessozialamtes Tirol vom 20.7.2000 geht hervor, das folgende Zielgruppe für den Übergang Schule - Beruf vorgesehen ist: "Jugendliche mit physischen bzw. psychischen Behinderungen (geistig- und lernbehinderte sowie sozial - und emotional gehandikapte Jugendliche, Jugendliche mit Sinnes- bzw. Körperbehinderungen) im Alter von 13 bis 25 Jahren, die bei der Eingliederung ins Berufsleben und in den allgemeinen Arbeitsmarkt mit Schwierigkeiten rechnen müssen" (S. 1).

Die "Behinderten" als Zielgruppe zählen auf dem Markt der gemeinnützigen Gesellschaften, Initiativen und Institutionen als wichtige budgetäre Einnahmequelle. Je nachdem, an welcher Zielgruppe sich der Anbieter von Maßnahmen orientiert, können die Einnahmequellen höher oder niederer ausfallen. Diese strukturelle Gegebenheit stößt in der Praxis pädagogischen Handelns der beruflichen Integration buchstäblich an Grenzen, die politisch und juridisch noch nicht entschieden sind. Ein Prinzip der Integrationspädagogik lautet: "Integration ist unteilbar" damit wird verstanden, "unabhängig wie schwer beeinträchtigt uns ein Mensch erscheint, haben alle das Recht auf Nichtaussonderung" (Ginnold 2000, S. 39; vgl. auch Feuser 1995, Schöler 1994).

Für die Schule konnten neue Schulgesetze erkämpft werden. Im Bereich der Arbeitswelt ist noch vieles ungeklärt. Während die Schule in ihrer Struktur und in ihrer Verbindlichkeit (Schulpflicht) einen relativ klar umrissenen Bereich darstellt, bleibt die Arbeitswelt mit ihrem vergleichsweise breiten Markt an Möglichkeiten offen. Ähnlich breit sind die Meinungen, Vorstellungen und Ansatzpunkte zur beruflichen Integration gestreut. Im Schulbereich konnte ein relativ einheitliches Grundverständnis unter den Eltern geortet werden (Gemeinsames Lernen aller Kinder, Nichtaussonderung). Für den Arbeitsbereich fehlt ein einheitliches Grundverständnis aufgrund von mangelnden Erfahrungen in der beruflichen Integration. Die bestehende Praxis von Beschäftigungstherapie und Integrativen Betrieben (vormals Geschützte Werkstätten) dominiert den Markt der Möglichkeiten. Neue Impulse könnten von der Gemeinschaftsinitiative EQUAL sowie der versprochenen Behindertenmilliarde der Bundesregierung im Jahr 2001 und 2002 ausgehen.



[3] Zur Relativierung der Begriffe setze ich sie in diesem Kapitel unter Anführungszeichen.

3 Arbeit und Lebensqualität

Die berufliche Integration ist m. E. in enger Verbindung mit dem subjektiven Wohlbefinden des Einzelnen zu betrachten. Die individuelle Einschätzung von Glück und Zufriedenheit hängt vielfach davon ab, inwieweit selbstbestimmt Lebensziele und Lebensweisen ausgewählt werden können. Diese Entscheidungsfreiheit setzt voraus, dass akzeptable berufliche Möglichkeiten gegeben sind und schließt die Entscheidung zur Nicht-Arbeit mit ein.

Ich beginne mit der Frage nach der individuellen Bedeutung von Arbeit und diskutiere dann den Zusammenhang von Arbeit / Nicht-Arbeit und Identitätsentwicklung. Der Abschluß des Kapitels beinhaltet die Frage nach der individuellen Zufriedenheit von Menschen in ihrer Arbeit. Ich orientiere mich deshalb an diesen Themenbereichen, weil sie im Begleitungsprozess mit Jugendlichen immer wieder aufgetreten sind.

3.1 Zur Bedeutung von Arbeit im engeren Sinn (Erwerbsarbeit)

Jahoda hat bereits in den 30er Jahren, gemeinsam mit Lazarsfeld und Zeisel, eine umfangreiche Studie zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit im Dorf Marienthal durchgeführt. Die Ergebnisse prägten jahrzehntelang die Diskussion zum Thema "Arbeit und Arbeitslosigkeit". 1983 konnte Jahoda die Auswirkungen in einer neuerlichen Studie untersuchen. In "Wieviel Arbeit braucht der Mensch?" wird zwar sichtbar, dass Arbeitslosigkeit heute viel weniger mit Hunger und Elend verbunden ist als in den dreißiger Jahren, die psychischen Folgen erscheinen jedoch gleichbleibend bzw. noch deutlicher sichtbar. Erwerbstätigkeit ist nach Jahoda "in zwei Aspekten praktisch unverändert geblieben: Zum einen ist sie das Mittel, durch das die große Mehrheit der Menschen ihren Lebensunterhalt verdient; zum anderen zwingt sie, als ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt ihrer Organisationsform, diejenigen, die daran beteiligt sind, bestimmte Kategorien der Erfahrung auf. Nämlich:

  1. Sie gibt dem wach erlebten Tag eine Zeitstruktur;

  2. sie erweitert die Bandbreite der sozialen Beziehungen über die oft stark emotional besetzen Beziehungen zur Familie und zur unmittelbaren Nachbarschaft hinaus;

  3. mittels Arbeitsleistung demonstriert sie, dass die Ziele und Leistungen eines Kollektivs diejenigen des Individuums transzendieren;

  4. sie weist einen sozialen Status zu und klärt die persönliche Identität;

  5. sie verlangt eine regelmäßige Aktivität" (Jahoda 1983, S. 136; Gliederung d. A.).

Jahoda gibt Hinweise darauf, dass Erwerbslose in diesen Kategorien eine psychische Verarmung erleben (ebd. S. 100) und trifft weiters die Unterscheidung zwischen Menschen, die einen Arbeitsplatz verloren haben und Jugendliche, denen beim Übergang ins Erwachsenalter der Zugang zu einem Arbeitsplatz verwehrt wurde. Insgesamt reichen die psychischen Folgen von Resignation (vorherrschende Reaktion in den 30er Jahren) bis hin zu psychologisch destruktiven und sozial besonders schädlichen Verhaltensweisen (vgl. ebd. S. 150).

3.2 Zusammenhang von Identität und Erwerbsarbeit

"Wer bist du?" Diese Frage wird im Alltag häufig dadurch beantwortet, dass mensch seinen Beruf nennt: "Ich bin Tischler. Ich bin Lehrer. Ich bin Rechtsanwalt." Fällt die klare Zuordnung zu einer Berufsgruppe weg, dann ist manchmal das Bedauern darüber zu erkennen: "Ich bin nur Hausfrau und Mutter". "Ich bin derzeit noch auf Arbeitssuche. (Aber morgen habe ich ein Vorstellungsgespräch als ...)" Die enge Verbindung von Identität und Erwerbsarbeit scheint als gegebener Umstand akzeptiert und tief in unser Verständnis als Person eingedrungen zu sein. Identität wird im Herkunftswörterbuch als "vollkommene Übereinstimmung zweier Dinge oder Personen", auch "Echtheit" (Duden 1989, S. 299) beschrieben. Es geht um eine [Wesens]einheit, die in einer Person sichtbar wird. Wie gelingt es einer Person, diese Stimmigkeit zwischen "innerer" und "äußerer" Welt herzustellen, wenn sich die Welt an sich als äußerst fragmentiert und widersprüchlich zeigt? Gibt es die eine Identität oder müssten wir nicht von mehreren Identitäten, vielleicht Teilidentitäten - je nach Bezugsrahmen - sprechen?

Im Folgenden stützte ich mich auf eine Längsschnittuntersuchung von Keupp et al. (1999). Sie dient als Grundlage für die dokumentierten Personengeschichten im empirischen Teil. Die Untersuchung ist die aktuellste und zugleich umfangreichste Arbeit mit einer Laufzeit von zehn Jahren. In "Identitätskonstruktionen - Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne" analysierten die Forscher und Forscherinnen Erwerbsverläufe von 152 jungen Erwachsenen im Alter von 17 bis 20 Jahren. Allein in den Jahren zwischen 1989 bis 1999 zeigt sich in der Literatur, wie stark sich die Lebenswelt der Arbeit und damit die Identitätsentwicklung der jungen Menschen verändert hat. "Zugespitzt formuliert, könnte man die Entwicklung in den letzten zehn Jahren so zusammenfassen, dass Arbeit in der wissenschaftlichen Diskussion weniger unter der Perspektive des Wertewandels, sondern wieder als Existenzproblem begriffen wird, für das es aber aufgrund des zwischenzeitlich stattgefundenen Wertewandels keine traditionelle Lösung mehr gibt" (Keupp et al. 199, S. 116).

Als Ausgangsthese formulieren Keupp et al. "dass in Zeiten sozialer und insbesondere wirtschaftlicher Unsicherheit das Offenhalten der eigenen Identität (Diffusion) und andere Identitätsstrategien wie die Übernahme von Traditionen (Foreclosure) oder auch das immer wieder Neu-Infragestellen bereits getroffener Festlegungen (Moratorium) möglicherweise funktionaler sind als das von Erikson favorisierte ‚Achievement', das Sich-Festlegen auf eine selbst erarbeitete Identität" (ebd. S. 118). Die Erwerbsverläufe in der Untersuchung zeigten sich jeweils sehr individuell und sind kaum zu kategorisieren. Entscheidender Faktor beim Wechsel von begonnen Prozessverläufen war die subjektive Sinnstiftung bzw. -findung. Die Erwerbsarbeit bleibt dabei nach den Befunden von Keupp et al. nach wie vor entscheidender "Stütztpfeiler der Identität".

Eine Erwerbsarbeit oder ein Beruf ist häufig nicht als "lebenslange Karriereplanung" organisiert, sondern erstreckt sich über "mittelfristige Projekte". Vom Standpunkt traditioneller männlicher Berufsbiographien aus gesehen, erscheint das risikoreich, jedoch beeinflussen drei Faktoren das "subjektive Gefühl von Sicherheit und Handlungsfähigkeit": Zum Ersten gibt es scheinbar "an jedem Schritt der Berufsbiographie alternative Optionen". Das hängt mit dem sich rasch wandelnden Arbeitsmarkt und mit den Möglichkeiten der sozialen Absicherung durch den Staat zusammen. Arbeitslosengeldbezug oder auch Sozialhilfegelder gelten als eine alternative Option. Zum Zweiten gelingt das Offenhalten auch, "weil die Berufsbiographie nicht isoliert wahrgenommen, sondern zu anderen Lebensbereichen in Beziehung gesetzt wird". Das Studium wird z. B. gewählt, weil damit bestimmte Freiheiten verbunden sind oder bei Frauen gibt es vielerlei Verknüpfungsversuche zwischen Beruf und Familie. Zum Dritten geht es "auch um die permanente Reflexion der eigenen Ressourcenlage". Damit ist die materielle ("von irgendwo gibt's schon noch Geld") als auch die Ebene der inneren psychischen Ressourcen ("Ich lass mich nicht hängen, ich suche, bis ich was gefunden habe") gemeint (vgl. ebd. S. 126ff).

Zusammenfassend kann folgendes festgestellt werden:

  1. "Angesichts einer zunehmenden Optionalität und einer gleichzeitigen Verknappung von Arbeit kommt es zur Destandardisierung von Erwerbsbiographien.

  2. Eine, an einem bestimmten Berufsbild und der Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe oder einem Betrieb orientierte, berufliche Identität wird zunehmend von einer, an bestimmten Arbeitsorientierungen, individuellen Kompetenzen und Sinn-Ansprüchen festgemachten, Arbeitsidentität abgelöst.

  3. Während die Ansprüche an Arbeit gestiegen sind und Erwerbsarbeit für Teile der Identitätsentwicklung sogar an Stellenwert gewonnen hat, verliert Arbeit im Kontext lebensweltlicher Verschränkung an Dominanz.

  4. Gerade weil die Teilhabe an Erwerbsarbeit und das damit verbundene Einkommen die soziale Position von Menschen in der Gesellschaft bestimmt, bleibt sie zentral in der Identitätsarbeit.

  5. Erwerbsarbeit vermittelt nicht nur zentrale Erfahrungen von Anerkennung, sondern auch von Selbstverwirklichung" (Keupp et al. 1999, S. 128ff).

Ganz im Trend der Fragmentierung und Widersprüchlichkeit der bestehenden Gesellschaft spiegeln sich die Merkmale in den Individuen wider. Erwerbsarbeit gilt als Schlüssel zum Eintritt in die konsumierende Gesellschaft, gleichzeitig besteht das Leben eben nicht nur aus Erwerbsarbeit. Zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten dominieren unterschiedliche Logiken (vgl. Keupp et al. 1999, S. 129).

Diese Beobachtungen bestätigten sich in den Erfahrungen der Arbeitsassistentinnen von Integration Wien. Wenn ein junger Mann in der beruflichen Integration, trotz anfänglichem Optimismus, eine definierte Arbeit einfach nicht mehr ausführen will, dann kann das mit der subjektiven Sinnsuche zusammenhängen (z. B. M2). Wenn eine junge Frau mehrere unterschiedliche Jobversuche unternimmt und schließlich ein mögliches Nicht-Arbeiten in Erwägung zieht, dann entspricht dies Teilen einer Identitätsentwicklung, in der Arbeit wichtig und unwichtig zugleich ist. Ist dadurch die Arbeit einer Beratungseinrichtung zur beruflichen Integration gescheitert? Ich zweifle. Durch einen erweiterten Blick auf die subjektive Lebensqualität erhalten diese Entscheidungen der Hauptpersonen eine neue Qualität.

3.3 Die Frage nach der Zufriedenheit

"Der Arbeiter verkauft dem seine Arbeitskraft, der ihn anheuert, und er tut, was ihm gesagt wird, als sei er ein Teil einer Maschine. Die Ware, die ‚er' produziert, steht über ihm und gegen ihn; er erfährt sich selbst nicht als ihren Schöpfer. Entfremdete Arbeit ist notwendigerweise langweilig, tut weh und ist unangenehm; ... Die Situation wäre vollkommen anders, wäre die Arbeit nicht entfremdet, das heisst, würde sie sich aus sich selbst lohnen, weil sie interessant, anregend und belebend ist; und die Situation wäre völlig anders, wenn man mit dem, was man tut, in verantwortlicher Weise an der Arbeitseinheit (Fabrik, Krankenhaus usw.) als einer sozialen Organisation Anteil hätte" (Fromm 1974, GA XII, S. 165).

Das Verständnis einer entfremdeten Arbeit hat inzwischen Eingang in verschiedene Organsiations- und Managementkonzepte gefunden. In der Betriebswirtschaftslehre stellt die Zufriedenheit von Arbeitern und Angestellten einen wichtigen Faktor in der Leistungsproduktion dar. Fromms Aussage zur nicht-entfremdeten Arbeit könnte sich in einem modernen Lehrbuch zur Betriebslehre wiederfinden. Trotz dieser Erkenntnis des Zusammenhangs von Zufriedenheit und Leistung scheint die Berücksichtigung in der Praxis schwierig. Während die physischen Belastungen in weiten Bereichen vermindert wurden, stiegen die Belastungen im psychischen Bereich: Dauerstress durch Zeitdruck, ein Zuwachs an Verantwortung, Überbelastung durch eine Vielzahl verschiedenster Aufgabenstellungen und der ständige Wechsel der Anforderungsprofile versetzen den arbeitenden Menschen in einen Zustand der Unruhe. Dabei bestehen branchenbedingte Unterschiede zwischen ArbeiterInnen und AngestelltInnen, Selbständigen und Unselbständigen. Der allgemeine Trend zur Überbelastung in der Arbeit kann als gesellschaftliches Phänomen gesehen werden (vgl. Sennett 1999, Forrester 1997).

Österreich scheint, betrachtet mensch das Jahr 2000, eine Ausnahme zu bilden. Seit 1997 gibt es den "Arbeitsklima-Index" (URL: http://www.arbeitsklima.at), der dazu dient, die Arbeitszufriedenheit zu messen. Ziel des Index ist es, die Befindlichkeit von ArbeitnehmerInnen in konkrete Zahlen zu fassen. Vierteljährlich wird 800 Menschen ein Katalog mit 25 Fragen vorgelegt. Die Fragen behandeln die unmittelbare Situation am Arbeitsplatz und im Betrieb, die Einschätzung des gesellschaftlichen Umfelds und die persönlichen Zukunftserwartungen. Nach dem Ergebnis dieser Befragungen wuchs in Österreich die Arbeitszufriedenheit im Zeitraum Frühjahr 1997 bis Herbst 2000 von 100 auf 113 Punkte. Gudrun Biffl vom WIFO in Wien findet die Erhebung zwar positiv, meint jedoch gleichzeitig, dass damit noch kein repräsentatives Bild gezeichnet werden kann. Allein auf die Frage: "Was ist Arbeitszufriedenheit?" kann keine allgemeine Antwort gegeben werden. Nach Biffl kann der Mensch nicht absolut zufrieden sein, sondern immer nur relativ, relativ zu dem was man in der Welt gerade hört, relativ zur Gesellschaft, in der man sich befindet. Konkret kann das bedeuten, dass sich die eigene Position zwar - aus welchen Gründen auch immer - verschlechtert, aber relativ zu den anderen, ist man zufrieden. Der Mensch passt sich den Umständen an (vgl. Ö1 Abendjournal vom 14. Feb. 2000). Eberhard Ulich beim Arbeiterkammer Symposium zum Arbeitsklimaindex im Februar 2000 unterscheidet ebenfalls mehrere Formen der Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit. "So gibt es beispielsweise auch eine ‚resignative Zufriedenheit', die ausdrückt, dass sich der/die Befragte einfach nicht mehr von seinem Arbeitsleben erwartet, während sich am anderen Ende des Spektrums ein ‚konstruktiv Unzufriedener' Hoffnung auf weitere Verbesserungen in seinem schon sehr guten Arbeitsumfeld macht." Diese zwei Aussagen zeigen stellvertretend, wie die subjektiv höhere Zufriedenheit der ArbeitnehmerInnen bei den ExpertInnen für Diskussionsstoff sorgt. Auf einen Nenner gebracht: Zufriedenheit ist nicht gleich Zufriedenheit, sondern hängt eng mit den Lebensumständen zusammen.

Zwei Fragen können im Hinblick auf die Zufriedenheit als entscheidend angesehen werden: Wie sehen die materiellen Ressourcen aus? Und inwieweit fühlt sich der Mensch als Teil der Gesellschaft? Das Risiko von Armut und Ausgrenzung ist ohne Erwerbsarbeit wesentlich höher als mit Erwerbsarbeit. Bezahlte Arbeit sichert Einkommen und soziale Akzeptanz, die wesentlich von der Teilhabe am Massenkonsum abhängig ist. In Österreich leben rund 900.000 Menschen (11 % der Gesamtbevölkerung) unter der Armutsgrenze. Diese Personengruppe muss mit einem Pro-Kopf Einkommen von maximal öS 8.600,-- pro Monat auskommen. Armutsgefährdung in unserer Zeit ist nicht gleichzusetzen mit Verelendung oder Hunger, sondern gilt als "Ausdruck der Ungleichverteilung" (vgl. Heitzmann 2000, S. 6). Armutsgefährdung bedeutet eine materielle Schlechterstellung, wohingegen Ausgrenzung eine multidimensionale Benachteiligung beinhaltet. Ausgrenzung wird "nicht nur in ökonomischer, sondern auch in sozialer, politischer, kultureller und/oder rechtlicher Hinsicht verstanden" (Heitzmann 2000, S. 6). Menschen, die sich nicht am Massenkonsum beteiligen können, weil sie das dafür notwendige Einkommen nicht zur Verfügung haben, müssen mit Ausgrenzungsmechanismen der Gesellschaft rechnen. Zwischen "dabei sein" und "nicht dabei sein" gibt es keine klare Trennung, sondern der Übergang verläuft fließend. Der Zwang zur Arbeit wird zwar nicht öffentlich proklamiert, dennoch entwickeln sich gesellschaftliche und psychologische Mechanismen, die zum Annehmen einer Arbeit führen. Die individuell möglichen Nachteile, die sich mit einer bestimmten Arbeitsaufnahme ergeben, bleiben unberücksichtigt.

Am Arbeitsmarkt setzten sich die sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeitbeschäftigung, geringfügiges Einkommen, befristete Arbeitsverträge) immer mehr durch. Das sind Arbeitsverträge, bei denen weder sozialversicherungsrechtliche Absicherungen noch das Einkommen als ausreichend bezeichnet werden können. "Man spricht vom Phänomen der ‚working poor'. Obwohl ‚flexible' Arbeitsverhältnisse in den meisten Fällen willentlich eingegeangen werden, hängt das vielfach damit zusammen, dass die Ausgrenzung durch die interne Positionierung im Arbeitsmarkt als weniger diskriminierend empfunden wird als die soziale Ächtung und der Einkommensverlust bei einem völligen Ausschluss vom Arbeitsmarkt" (Heitzmann 2000, S. 7). Ein Blick in die Statistik zeigt die wachsende Entwicklung. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse im Jahresdurchschnitt erhöhten sich im Jahre 1995 bei 136.462 auf 189.342 im Jahre 1999, der Frauenanteil liegt im letzten Jahr bei 136.498 oder 72 % (vgl. AK 2000, S. 146).

Eine Hauptursache von immer mehr atypischen Beschäftigungen liegt im gegenwärtigen Arbeitsmarkt, in einer ständig sich steigenden Arbeitsproduktivität. Nach einer Berechnung von Spitzley hat sich in Deutschland z. B. die Produktivität zwischen 1960 und 1994 um 233 Prozent gesteigert (vgl. Spitzley 1998, S. 160). Wer kann diese produzierten Waren noch konsumieren oder gebrauchen? Arbeit wird in vielen Bereichen relativ überflüssig, da übervolle Lager dem Absatz voraus sind. Wegen der Abnahme von Arbeit im Produktionsbereich und einer immer größer werdenden Bedeutung von Managementarbeit sprechen verschiedenste Autoren (vgl. Radermacher 1996, Spitzley 1998) von einer gespaltenen Gesellschaft, die "in Kernarbeiter, Rand-Jobber und Erwerbsarbeitslose" eingeteilt werden könne. Während eine vergleichsweise geringe Zahl von Kernarbeitern mit 60 Stunden und mehr pro Woche einer Beschäftigung nachgeht (gemeint sind vor allem Top-Manager und hochspezialisierte Personen), teilen sich die relativ auswechselbaren und mit wenig Qualifikationen ausgestatteten Rand-Jobber die immer weniger werdenden Niedriglohnjobs im Produktionsbereich. Die Erwerbsarbeitslosen, abhängig vom Arbeitslosengeld, der Sozialhilfe und Almosen, bilden die unterste Schicht der Gesellschaft (vgl. Spitzley 1998, S. 161).

Angesichts dieser Entwicklungen werden unterschiedliche Versuche unternommen, die Arbeit bzw. den Begriff der Arbeit neu zu bestimmen (vgl. Bierter/von Winterfeld 1998). Zum einen geht es darum, die Ausgrenzung von Menschen vom Arbeitsmarkt zu verhindern, indem durch Arbeitszeitverkürzung eine Umverteilung von Arbeit angestrebt wird. Zum anderen gilt es, ein Verständnis von gutem Leben mit weniger Arbeit ins Bewußtsein zu rufen. "Oft ist es gut, nichts zu tun und sich, andere Menschen und die Natur bewußt ‚in Ruhe zu lassen'. ‚Arbeit' und ‚Sein-Lassen' ergänzen einander. Mehr noch: ‚Sein-Lassen' ist häufig identisch mit dem Unterlassen von Zerstörungen an der eigenen Person oder der Mitwelt. In diesen Fällen führt ‚Sein-Lassen' zu besseren Ergebnissen als zerstörerische ‚Produktion'" (Spitzley 1998, S. 167). Enzensberger könnte recht haben, wenn er den neuen Luxus unserer Gesellschaft mit Werten wie "Zeit, Aufmerksamkeit, Raum, Ruhe, Umwelt und Sicherheit" beschreibt (zit. nach Spitzley 1998, S. 172). "Vielleicht werden neue Formen des Genießens, des Arbeitens und Lebens bald auch deshalb gewählt und Zukunft haben, weil sie einerseits mehr Freiheit von Erwerbsarbeit ermöglichen und andererseits ökologisch und gesellschaftlich verallgemeinerbar sind" (eda.).

In erster Linie bin ich ein Mensch, der nach Lebensqualität strebt. Inwieweit die Arbeit dazu beiträgt, hängt wesentlich von der gesellschafltichen Entwicklung ab. Zufriedenheit und steigende Lebensqualität abseits von zwingender Arbeit, ist das möglich? Kraml (2000, Referat) meint im Rückblick auf die Geschichte: "Ein römischer Bürger kannte nicht Arbeit im Sinne von labor, was zugleich auch ‚Mühe', ‚Anstrengung' bedeutet, sondern nur Tätigkeit, negotium, was den Gegensatz zu Müßigang und Langeweile bedeutet, aber nicht mit Mühe und Anstrengung sondern mit elegant künstlerischer Selbstentfaltung zu tun hat. Das Problem der Gegenwart mit dem Rückgang produktiver Arbeit und mit Arbeitslosigkeit ist nicht mehr das Problem der Existenzsicherung, sondern das Problem der sozialen Anerkennung in Form von Gegenleistungen, die nur auf der Basis geleisteter Arbeit erbracht werden. Das fortschreitende Schwinden der Erwerbsarbeit wird wahrscheinlich nur durch die Wiedereinführung von negotium samt dessen sozialer Anerkennung kompensiert werden können. Das wäre eine erfreuliche Aussicht."

Ich setze an das Ende des Kapitels ein Plädoyer, das sich an mögliche Bedürfnisse von Menschen richtet: Die Bedingungen und Bedeutungen von Arbeit bilden einen zentralen Bestandteil in der Auseinandersetzung mit beruflicher Integration, gleichzeitig darf aber der Menschen an sich nicht aus den Augen verloren werden. Letztlich geht es um den Menschen und seine Lebensqualität, unabhängig davon, ob eine Erwerbsarbeit zur Verfügung steht oder auch nicht. Berufliche Integration muss sowohl auf einer individuellen Ebene, als auch auf der gesellschaftlich-politischen Ebene behandelt werden. Wenn wir im Hinblick auf Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung die Frage der beruflichen Integration stellen, dann sollte es in erster Linie um die Frage verbesserter Lebensqualität im Erwachsenenalter gehen und erst in zweiter Linie um Fragen der Arbeit.

4 Variationen der Arbeitsassistenz

Im Leitfaden zum Behinderteneinstellungsgesetz heißt es unter Punkt 2 (Fördermaßnahmen): "Die Einstellung behinderter Personen wird vermehrt gezielt gefördert. Die bereits in den vergangenen Jahren erprobte Arbeitsassistenz zur besonders intensiven Betreuung und Beratung schwerbehinderter Menschen mit dem Ziel einer dauerhaften Eingliederung in das Berufsleben wird ab 1.1.1999 gesetzlich verordnet." (ARD 1999, S. 11) Im § 6 des BEinstG findet sich in Absatz (2) der Fördermaßnahmen die "begleitende Hilfe am Arbeitsplatz (insbesondere Arbeitsassistenz)" ausdrücklich formuliert. Eine genaue Definition des Begriffs erfolgt nicht. Eine Annäherung zu den Aufgaben von ArbeitsassistentInnen gibt es in den "Erläuterungen und Rechtsprechung": " (...) Die Arbeitsassistenten haben einerseits die Aufgabe, allfällige auf Arbeitgeberseite bestehende Vorurteile, vor allem psychisch behinderten Menschen gegenüber, abzubauen und andererseits behinderte Arbeitnehmer mit beruflichen und sozialen Problemen intensiv zu beraten und zu betreuen" (ARD 1999, S. 26).

Das Bundessozialamt hat aufgrund dieser gesetzlichen Basis mit den Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) verschiedenste Arbeitsassistenzprojekte in Österreich aufgebaut (siehe URL: http://www.arbeitsassistenz.at/). Derzeit git es, laut dieser Homepage, 77 Standorte in ganz Österreich (20. November 2000). Unter dem Slogan "Ressourcen nutzen, wirtschaftlich denken, sozial handeln" wird die Arbeitsassistenz als Einrichtung beschrieben, die die berufliche Integration von behinderten Menschen unterstützt. "Arbeitsassistenz bietet Beratung und Information für ArbeitnehmerInnen, ArbeitgeberInnen, Angehörige und BeraterInnen" (vgl. www - Einstiegsseite der Arbeitsassistenz).

Der Begriff Arbeitsassistenz ist mit dem Konzept der "Unterstützten Beschäftigung" von den USA in deutschsprachige Länder importiert bzw. übersetzt worden. Unterstützte Beschäftigung als "supported employment" wurde entwickelt, um versehrte Kriegsveteranen in den USA in Rehamaßnahmen aufzunehmen. Das Ziel bestand in der beruflichen Integration dieser Personengruppe. Das Konzept war erfolgreich und weitete sich bald auf andere Behindertengruppen aus. In den 80er Jahren tauchte der Begriff "Arbeitsassistenz" erstmals in Bayern auf und wurde im Zusammenhang mit der Zielgruppe der psychisch Kranken und deren Integration auf dem Arbeitsmarkt angewendet. In Österreich starteten die ersten zwei Arbeitsassistenzprojekte im Jahr 1992 (Standorte: Linz, Pro Mente Oberösterreich und Wolkdersdorf im Weinviertel, Insitut zur beruflichen Integration (IBI) Niederösterreich). Die Pilotprojekte befassten sich mit psychisch kranken Personen. Nach erfolgreicher Evaluation sollten die Arbeitsassistenzprojekte in ganz Österreich ausgedehnt werden, sowohl regional als auch auf die Gruppe der Menschen mit Behinderung im Allgmeinen (vgl. Kaukal 1999, S.38ff). Die Zielsetzung zur Ausweitung der Arbeitsassistenzprojekte ist im "Behindertenkonzept der österreichischen Bundesregierung" vom 22. Dez. 1992 beschrieben. Heute wird deutlich, dass diese Zielsetzung erfolgreich umgesetzt wurde (siehe Anzahl der Arbeitsassistenz Projekte).

Neben der gesetzlich knapp gehaltenen Erläuterung zum Begriff der Arbeitsassistenz findet sich eine ausführlichere Beschreibung von Arbeitsassistenz-Zielen im Bericht zur Lage behinderter Menschen (1996) Nr. 2 Berufsausbildung, Arbeit (Hrsg.: Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales):

  • "die (Re-)Integration von behinderten Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt - die begleitende Betreuung wird dabei als präventiver Prozess gesehen, d.h. den behinderten Menschen und das künftige Arbeitsplatzumfeld vorzubereiten, um einer Ablehnung durch Kolleginnen und Vorgesetzte vorzubeugen.

  • Die Erhaltung des Arbeitsplatzes. Oft sind es weniger die mangelnden fachlichen Fähigkeiten als vielmehr psychosoziale Probleme, die zum Verlust des Arbeitsplatzes führen. Arbeitsassistenz ist eine adäquate Möglichkeit, dem vorzubeugen.

  • Beratung und Hilfe für Arbeitgeberinnen. Erweitertes und verbessertes Informations- und Beratungsangebot für die Arbeitgeber sind zentrales Ziel der Arbeitsassistenz" (S. 55).

Im Bericht wird weiters angeführt, dass die Aufgaben der Arbeitsassistenz "im Sinne der Ganzheitlichkeit immer die Berücksichtigung aller drei Komponenten KLIENT + BETRIEB + UMWELT" beinhaltet (ebd.).

In der Praxis entwickelten sich Arbeitsassistenz-Projekte mit inhaltlich unterschiedlichen Orientierungen. Im Folgenden werden zwei Arbeitsassistenz-Modelle einander gegenübergestellt, um einzelne Merkmale herauszustreichen. Die zwei Modelle spiegeln das jeweilige Grundverständnis in der Arbeit wieder. Arbeitsassistenz-Projekte, die eher dem Modell A zuzuordnen sind, finden sich häufig im Bereich traditioneller Projektträger (z. B. Lebenshilfe oder Jugend am Werk), Modell B findet sich verstärkt bei Inititiven mit einer jungen Geschichte (Integration Wien, TAFIE Außerfern). Während die einen aus ihrer Tradition heraus auch Anbieter von Sondereinrichtungen sind, entwickelten sich die anderen direkt aus dem Anspruch der Nicht-Aussonderung bzw. aus der Integrationsbewegung.

4.1 Gemeinsamkeiten der Arbeitsassistenz-Modelle

Drei Aufgabenfelder erfüllen weitgehenst alle Arbeitsassistenz-Projekte. Sie bilden das gemeinsame Grundverständnis über die Tätigkeit innerhalb der Arbeitsassistenz.

  • Beratung und Untertützung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz

Die Arbeitsassistenz unterstützt arbeitssuchende behinderte Menschen mit dem Ziel, eine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Sie informiert über bestehende Möglichkeiten der Förderung und Qualifizierung. Sie berät die betroffenen Menschen, unterstützt bei Bewerbungsgesprächen und führt Erstgespräche mit dem Arbeitgeber. Manchmal wird in der Anfangsphase einer Beschäftigung eine individuelle Begleitung am Arbeitsplatz angeboten.

  • Beratung und Unterstützung von Dienstgebern

Die Arbeitsassistenz bietet darüberhinaus Informationen und Beratungen für Arbeitgeber an. Sie koordiniert ExpertInnen und Facheinrichtungen und gibt Hinweise für die Gestaltung von betrieblichen Strukturen und Kommunikationsprozessen, um die ArbeitnehmerInnen optimal einsetzen zu können. Die Arbeitsassistenz bezieht die organisatorischen und betriebswirtschaftlichen Erfordernisse des Unternehmens in ihre Bemühungen um berufliche Integration mit ein (vgl. http://www.arbeitsassistenz.at).

  • Krisenintervention bei der Gefahr des Arbeitsplatzverlustes

Die Arbeitsassistenz wirkt vermittelnd und helfend bei psychosozialen Problemen oder akuten Krisensituationen zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberIn, Vorgesetzten und KollegInnen. Sie klärt über die besonderen Bedürfnisse von behinderten Menschen auf, berät Dienstgeber über Einsatzmöglichkeiten und versuchen eine Brücke zwischen den Konfliktparteien zu bauen. Die Erhaltung eines Arbeitsplatzes ist ein wichtiges Ziel der Arbeitsassistenz (vgl. Kosovic 1995, www).

4.2 Unterschiede der Arbeitsassistenz-Modelle

Die verschiedenen Orientierungen innerhalb der Projekte sind in der untenstehenden Tabelle zusammengefasst. Die Merkmale sind zugespitzt dargestellt, um die Projekte tendenziell in einen eher rehabilitativen oder einen integrativen Ansatz einordnen zu können. In der Praxis haben sich im letzten Jahr Annäherungen beider Modelle ergeben. Da das "Arbeitsassistenz-Modell" noch eine sehr junge Geschichte hat, führen Erfahrungswerte relativ rasch zu Konzeptveränderungen innerhalb der einzelnen Einrichtungen. Der unsichere Arbeitsmarkt, sowie die politisch rasch wechselnde Landschaft, gekennzeichnet durch sich ständig verändernde Förderrichtlinien, treffen alle Arbeitsassistenzprojekte in gleicher Weise.

Tab.1: Unterschiede zwischen Modell A und Modell B

Modell A: Fürsorgeeinrichtung; Anlehnung an Versorgungseinrichtungen

Modell B: Anbieten von Dienstleistungen; Anlehnung an Selbstbestimmt-Leben Grundsätzen

Modell A: begünstigte bzw. begünstigbare Behinderte;

eingegrenzte Zielgruppe

Modell B: Menschen mit besonderen Bedürfnissen; keine Einschränkung

Modell A: Pflicht zur Arbeit

Modell B: Recht auf Arbeit

Modell A: Mindestleistungspotentiale beim Behinderten

Modell B: gemeinsam 100 % Leistungsfähigkeit

Modell A: Beratung primär im Bereich Erwerbsarbeit

Modell B: erweitertes Beratungsverständnis

Modell A: Diagnostik - Vergangenheit: Was konnte bisher geleistet werden? Anpassung an vorhandene Leistungen / Erfahrungen

Modell B: Schwerpunkt Zukunft: Welche Wünsche hat der/die Betroffene? Entwicklung von neuen Perspektiven / Utopien

Modell A: Qualifizierung ergibt Arbeit

Modell B: erst plazieren, dann qualifizieren

Modell A: Ergänzung zu bestehenden Einrichtungen (z. B. Geschützte Werkstätten)

Modell B: Alternative zur Geschützten Werksätten

Modell A: unpolitisch

Modell B: aktiv politische Arbeit

Modell A: Erfolgsmessung: quantitativ

Modell B: Erfolgsmessung: qualitativ

Modell A: Vermittlungsdruck

Modell B: bedürfnisorientiert; Versuch eines flexiblen Zeitrahmens, auch längerfristig

4.2.1 Modell A

Modell A arbeitet in der Tradition einer Fürsorgeeinrichtung, gekennzeichnet durch einen relativ großen institutionellen Rahmen. Als strukturell bedingtes Phänomen tritt häufig das Merkmal "Fremdbestimmung" auf. Im Mittelpunkt der Arbeit steht das Bemühen um Unterbringung bzw. Versorgung der KlientInnen. Aufgrund von Erfahrungswerten besteht die Gefahr, dass der oder die Arbeitsassistentin scheinbar weiß, was für die KlientInnen am Besten geeignet ist. Implizit kann eine Auffassung wirken, die verkürzt lautet: "Dir kann nicht geholfen werden, wenn du meinen Ratschlag nicht befolgst."

Behinderte werden nach dem Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) definiert. Wenn sie nicht zu diesem Personenkreis zählen, fallen sie aus der Zuständigkeit und den angegebenen Förderungen der Arbeitsassistenz heraus. Zu einer weiteren Differenzierung von Maßnahmen kommt es, weil einige KlientInnen von der Förderung ausgegrenzt werden. Daraus ergeben sich neue Arbeitsassistenz-Projekte, die mit einer neu definierten Zielgruppe operieren. So entstehen immer wieder neue Sondergruppen getrennt nach Art der Behinderung.

Im Modell A wirkt eher ein Pflichtverständnis zur Arbeit. Bei Chancenungleichheit und ungünstigen arbeitsmarktpolitischen Voraussetzungen für einen Arbeitsplatz, werden die KlientInnen angehalten, ihre Leistungen zu erbringen. Schönwiese formuliert die These, dass die Pflicht zur Arbeit systemisch notwendig scheint, weil ein sozial und ökonomisch abgesichertes Recht auf ein Leben ohne Arbeit bei einzelnen Bevölkerungsgruppen wie z. B. behinderten Menschen, zum Verfall von lebensgeschichtlich bedeutsamer Arbeitsmoral ganz allgemein führen könnte (vgl. Schönwiese 1995).

Die Mindestleistungspotentiale und Fähigkeitsanteile des Menschen mit Behinderung müssen eine Platzierung am allgemeinen Arbeitsmarkt rechtfertigen. Die KlientInnen sollen die arbeitsvertraglichen Verpflichtungen soweit als möglich selbst erfüllen können. Eine ständige Unterstützungsperson ist in diesem Modell der Arbeitsassistenz dauerhaft nicht vorgesehen. Als Minimum sollten die KlientInnen eine eigene Leistungsfähigkeit von mindestens 50 % Normalleistung erbringen (vgl. BEinstG).

Das Bundessozialamt schließt beim Instrument Arbeitsassistenz Beratung und Hilfe in anderen Lebensbereichen dezidiert aus. Unterstützung wird nur dann gewährt, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Erlangung und Erhaltung des Arbeitsplatzes besteht (vgl. Iser/Schmon 1998, S. 12).

Die Diagnostik im Vorfeld der Vermittlung erhält einen hohen Stellenwert. Die Orientierung richtet sich auf die Vergangenheit, indem bestehende Leistungen und Erfahrungen analysiert werden. Gegebenenfalls wird eine Ausbildung oder ein Qualifizierungskurs einem Arbeitsplatz vorgezogen, um die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Die Passung zwischen vorhandener Leistung und zukünftigem Arbeitsort gilt als wichtige Entscheidungsgrundlage bei der Arbeitsplatzaquisition.

Das Modell A versteht sich als Ergänzung zu Geschützten Werkstätten (Integrativen Betrieben), eine grundsätzliche Kritik am bestehenden System der beruflichen Rehabilitation wird nicht formuliert, das Angebot wird als ergänzende Leistung verstanden.

Die Arbeitsassistenz steht unter starkem Vermittlungsdruck von Seiten der Fördergeber. Der Erfolg wird an der Vermittlungszahl gemessen, unabhängig von den Bedürfnissen der zu beratenden Personen. Dieser Vermittlungsdruck unterstützt die Auslese von möglichen KlientInnen bereits im Vorfeld der Beratungstätigkeit. Menschen, die schwierigere Startbedingungen haben, müssen daher abgelehnt werden, um der Vermittlungszahl entsprechen zu können.

4.2.2 Modell B

(Die in kursiv ausgewiesenen Textzeilen beruhen auf Aussagen und Forderungen von Christa Polster und Marietta Schneider, Integration Wien 1998.)

Im Modell B sind die Wünsche und Bedürfnisse des Menschen Ausgangspunkt der Bemühungen. In einem kommunikativen, offenen Prozeß werden die Interessen spezifiziert und gemeinsame Vereinbarungen getroffen. Die Selbstbestimmung und die aktive Beteiligung des/der Arbeitsuchenden wird zum entscheidenden Baustein der Unterstützungsmaßnahmen. Der Projektträger versteht sich dabei als Dienstleistungsanbieter.

Das Modell B zielt darauf ab, keinen Menschen wegen seiner Behinderung abzuweisen. Der heterogene Personenkreis verlangt dem ArbeitsassistentInnen eine flexible und individuelle Herangehensweise. Sonderprojekte für neue Zielgruppen werden abgelehnt, da sie dem Prinzip: "Integration ist unteilbar" widersprechen. Indes werden gesellschaftliche und politische Gegebenheiten (Ausgrenzungsmechanismen / Solidaritätsbemühungen) in die Arbeit miteinbezogen, um Visionen und konkrete Perspektiven erarbeiten zu können.

Das Recht auf Arbeit und Ausbildung ist grundsätzlich für alle Menschen zu gewährleisten, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung. Unter einer erfüllenden Arbeit als Zielvorstellung wird eine individuell sinnvolle Tätigkeit verstanden, die Selbstbestätigung hervorbringt und zur Identitätsentwicklung beiträgt. Sie bedeutet Teilhabe am sozialen Leben. Chancengleichheit bedeutet, daß auch der Mensch mit besonderen Bedürfnissen hinsichtlich seiner Bildungs- wie Arbeitsplatzwünsche qualitativ vielfältige Möglichkeiten und Angebote vorfindet. In der politischen Arbeit wird die Verantwortung von öffentlichen und privaten Arbeitgebern aufgezeigt, die auch leistungseingeschränkten Menschen einen Platz im Arbeitsleben einzuräumen haben. Dazu ist auf den gesetzgebenden Ebenen (Bund und Land) eine grundlegende Veränderung notwendig, um die Leistungsausgleichszahlungen für Arbeitgeber offensiv und flexibel einsetzen zu können. Die Arbeitsaufnahme eines Menschen mit besonderen Bedürfnissen darf nicht seine Grundsicherung gefährden, aber auch ebensowenig den Arbeitgeber betriebswirtschaftlich beeinträchtigen.

Im Unterschied zu Modell A wird die Leistungsfähigkeit der KlientInnen zusammen mit der Leistungsfähigkeit der Unterstützungsperson gesehen und berücksichtigt. In einer optimalen Situation ergebt sie gemeinsam 100 %. Auch langfristige bzw. dauerhafte Unterstützungsleistungen gelten im Modell B als wichtige berufliche Unterstützungsmaßnahme.

Die Beratung erfolgt in einem umfassenden Zusammenhang. Die ArbeitsassistentInnnen unterstützen die KlientInnen in einem erweiterten Beratungsverständnis, wenn, durch die berufliche Integration ausgelöst, persönliche Lebensfragen von Menschen mit besonderen Bedürfnissen aktualisiert werden. Im Spannungsfeld von Arbeit und Herkunftsfamilie treten häufig Fragen nach neuen Wohn- und Freizeitformen, sowie nach Partnerschaft auf.

Ein wichtiger Bereich ist die individuelle Zukunftsplanung und -findung. Eine Forderung lautet daher: Individualisierung und Erprobung auf dem Weg ins Erwachsenenleben von Menschen mit besonderen Bedürfnissen brauchen mehr öffentlich gewollten und geförderten Raum. Der diagnostische Blick setzt vor allem auf mögliche Entwicklungpotentiale. John O'Brien (1998, S. 28) meint: "Der Mythos der niedrigen Erwartungen: Der Kenntnisstand über die Kompetenzen behinderter Menschen, vor allem schwerst mehrfachbehinderter Menschen, ist erschreckend gering. Ihr Entwicklungspotential, ihre Ressourcen werden deutlich unterschätzt". Die Arbeitsassistenz sucht und erprobt neue und unkonventionelle Methoden und Möglichkeiten. Neben Qualifizierung am Arbeitsplatz (training on the job) und den berufsbildenden Ausbildungen müssen in Zukunft auch berufsbildübergreifende Qualifizierungen möglich gemacht werden.

Modell B setzt auf das Prinzip: "Erst plazieren - dann qualifizieren". Eine erweiterte Ausbildung und Qualifikation wird als wichtig erachtet, aber ist kein Garant für eine Beschäftigung. Häufig verschiebt sich das Problem der Arbeitslosigkeit nur zeitlich, daher wird auf eine individuelle Arbeitsplatzentwicklung gesetzt. Die Qualifizierung direkt am Arbeitsplatz bringt zudem den Vorteil, dass Motivation und Lernprozesse durch die Realsituation intensiviert werden (vgl. Fehre 1998, S. 10ff).

Die Arbeitsassistenz sieht sich als Alternative zur Geschützten Werkstatt und übernimmt eine kritische Gegenposition ein. Das Ziel liegt in der Vermittlung und Begleitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt mit vertraglich abgesicherten Leistungen. Für bestehende "geschützte Einrichtungen" werden normale Arbeitsplatzverhältnisse gefordert (z. B. entsprechende Entlohnung, Mitbestimmungsrechte).

Die Öffentlichkeitsarbeit und politische Mitgestaltung in verschiedensten Gremien ist eine Notwendigkeit, um die berufliche Integration von Menschen mit besonderen Bedürfnissen umsetzen zu können. Gerade weil in vielen Bereichen der Umsetzung neue Entwicklungen angestrebt werden, sind politische Verhandlungen notwendig, um gesetzliche Rahmenbedingungen anpassen zu können. Mit gelungenen Beispielen wird versucht, Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung zu erlangen. Ein innovatives arbeitsmarktpolitisches Signal bzw. eine Antwort auf die Vernichtung von Arbeitsplätzen ist die Forderung der Arbeitsassistenz nach dem Ausbau von kleinen, kreativen sozialökonomischen Betrieben.

Die Arbeitsassistenz im Modell B setzt sich dafür ein, dass die Erfolgsmessung primär qualitativ durchgeführt wird. Die Heterogenität der Personen und deren individuelle Bedürfnisse verlangen eine differenzierte Überprüfung der Arbeitsergebnisse, die nicht ausschließlich durch die Vermittlungszahl ablesbar sind. "Arbeitsassistenz erfüllt eine Funktion analog zu schulischen Integration: Sie ist eine gute Rahmenbedingung und hat vor allem die Aufgabe, sich entweder überflüssig zu machen oder so zu tun, als wäre sie es. Das ist viel verlangt. Erfolgreiche Arbeitsassistenz widerlegt die Behauptung, die Integration sei gescheitert. Nicht die Integration ist gescheitert, es fehlen nur gute und geeignete Rahmenbedingungen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung ist die falsche Basis für die Diskussion über berufliche Integration. Der Wert der Arbeit von ArbeitsassistentInnen läßt sich nicht anhand von Vermittlungszahlen und volkswirtschaftlichen Effizienzrechnungen sichtbar machen" ( Löffler 1995, www).

4.3 Neue Begriffe im Zusammenhang mit Arbeitsassistenz

Mit den Modellen der Arbeitsassistenz entstand ein neues Fachvokabular im Bereich der beruflichen Integration. Zum Teil werden die Begriffe synonym und zum Teil unterschiedlich verwendet.

1. Unterstützte Beschäftigung - Supported Employment

Nach Adlhoch (vgl. 1997, S. 15ff) kann Unterstützte Beschäftigung an vier Eckpunkten festgemacht werden, die sich im Vergleich zur klassischen beruflichen Rehabilitation unterscheiden. Unterstützte Beschäftigung ist demnach eine

  • bezahlte, reguläre Arbeit in einer

  • integrativen Arbeitsumgebung.

  • Der Zugang ist unabhängig von Art und Schwere der Behinderung und bietet die

  • Möglichkeit der dauerhaften Unterstützung.

Die Arbeitsassistenz als Modell der individuellen Integration bezieht sich häufig auf diese vier Eckpunkte. Doch wann kann von einer bezahlten, regulären Arbeit in einer integrativen Arbeitsumgebung gesprochen werden? Welche Zugangsbedingungen (Barrieren) treten in dem einen oder anderen Projekt auf? Inwieweit wird eine dauerhafte Unterstützungsmaßnahme gesetzlich möglich? Im Vergleich zu den zwei herausgearbeiteten Arbeitsassistenz-Modellen verwirklicht Modell B die ursprünglichen Eckpunkte der unterstützten Beschäftigung präziser als Modell A.

2. ArbeitsbegleiterIn - Jobcoach (oder: Job Coach)

"Unter einem Job Coach ist eine Betreuungsperson zu verstehen, die dem behinderten Menschen beim Einstieg in die betriebliche Organisation hilft und auch Unterstützung bei der Unterweisung in die konkrete Tätigkeit am neuen Arbeitsplatz bietet. Der Job Coach ist im Gegensatz zum Patenschaftkollegen oder -kollegin eine externe Dienstleistung, die für die Einschulung eines Behinderten in Anspruch genommen werden kann" (esf-news 1998, S. 5).

Die ArbeitsbegleiterInnen gehen mit den KlientInnen in den Betrieb, um dort die Qualifizierung vor Ort zu unterstützen. Sie erfüllen die Aufgabe der Arbeitsplatzentwicklung, wenn der Schweregrad einer Behinderung eine umfassende Auftragsarbeit verhindert. Mit Arbeitsplatzentwicklung ist die Erschaffung von Arbeitsteilaufträgen für KlientInnen zu verstehen. In manchen Arbeitsassistenz-Projekten übernimmt der oder die ArbeitsassistentIn diese Aufgabe im Sinne einer ganzheitlichen Orientierung und Begleitung. In anderen Projekten wird eine Arbeitsteilung zwischen der Vermittlungs- bzw. Beratungsperson (ArbeitsassistentIn) und der oder dem ArbeitsbegleiterIn (Job Coach) im Betrieb vorgenommen. Die Begriffe ArbeitsassistentIn und Job Coach werden teilweise synonym gebraucht, wobei der erstgenannte eher als Oberbegriff zu verstehen ist. Weitere Bezeichnungen neben dem "job coach" lauten "job trainer" oder "job coordinator" (vgl. HORIZON 1995, S. 223).

3. Arbeitsbegleitung - Training on the job

Die Arbeitsbegleitung - Training on the job entwickelte sich aus der Erfahrung heraus, dass durch ein direktes Training am Arbeitsplatz (= Realsituation; im Gegensatz zu einer Übungswerkstatt) die Chancen der beruflichen Integration verbessert werden können. Die Arbeitsbegleitung "beinhaltet die nötige Unterstützung bei der Orientierung im Betrieb und das Training zum Zwecke der Aneignung der nötigen Fertigkeiten durch eine Fachkraft, den/die ArbeitsbegleiterIn. Ihre Intensität und Dauer wird vom Lerntempo des/der BewerberIn und von den Arbeitsanforderungen bestimmt. (...) Arbeitsbegleitung schließt die psychosoziale Unterstützung mit ein. Bestandteil der Arbeitsbegleitung ist auch die innerbetriebliche ‚Fürsprache' für den/die BewerberIn und die Suche nach ‚Paten', d.h. nach berieblichen MitarbeiterInnen, die sich das Integrationsanliegen zu eigen machen und unterstützen und sukzessive an die Stelle des/der externen ArbeitsbegleiterIn treten können." (HORIZON 1995, S. 223)

4.4 Zusammenfassung

In Österreich gibt es seit dem Jahre 1992 Arbeitsassistenz Projekte, die kontinuierlich ausgebaut wurden. Der zahlenmäßige Erfolg bei der Vermittlung von Menschen mit Behinderungen führte relativ rasch zur Aufnahme der Arbeitsassistenz in gesetzliche Regelungen. Begrifflich wird unter dem Wort "Arbeitsassistenz" in unterschiedlichen Kontexten, Verschiedenes verstanden, warum er auch eher vorsichtig verwendet und je nach Projektkonzept definiert werden sollte. Grundsätzlich kann zwischen einem rehabilitativen Ansatz (Modell) und einem integrativen Ansatz (Modell) unterschieden werden. Der rehabilitative Ansatz entspricht einem traditionellen Verständnis der (Wieder-) Herstellung eines angepassten Zustandes in die Arbeitswelt, ist problemzentriert auf das Indiviuum zugespitzt und unpolitisch. Der integrative Ansatz entwickelte sich aus dem Anspruch der Nicht-Aussonderung und agiert politisch mit dem Ziel einer vollen Teilhabe der Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft.

5 Empirische Daten und ihre Auswertung

5.1 Vorverständnis zum wissenschaftstheoretischen Ansatz

Die Entscheidung für einen qualitativen Forschungsprozess liegt im persönlichen Interesse an der direkten Auseinandersetzung mit der Praxis. Anstelle eines eher anonymen Zugangs zu Forschungsobjekten oder an der Bearbeitung statistischer Zahlenreihen suchte ich nach einer Begegnung vor Ort. Erste Kontakte zu Personen im Bereich der beruflichen Integration entstanden bereits 1996 am 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen in Innsbruck. Damals lernte ich Stefan Doose (Bundesarbeitsgemeinschaft Unterstützte Beschäftigung, Hamburg) und Marietta Schneider (Integration Wien) kennen. Fast zwei Jahre später intensivierte ich die Kontakte zum Verein "Integration Wien" und begann mit der Planung der vorliegenden Arbeit. Das ursprüngliche Interesse lag in der Frage nach der Arbeitsweise dieses Projektträgers und seiner Mitarbeiterinnen. Der Untersuchungsgegenstand wurde vorerst mit dem Stichwort "Arbeitsassistenz" eingegrenzt, ohne genau zu wissen, wie sich der weitere Verlauf entwickeln würde. Anstelle einer Modellbildung und Hypothesenüberprüfung, wie sie häufig von qualitativen ForscherInnen vorgenommen wird, orientierte ich mich an der Grounded Theory (Gegenstandsnahe Theoriebildung). "Dabei wird den Daten und dem untersuchten Feld Priorität gegenüber theoretischen Annahmen eingeräumt. Diese sollten nicht an den untersuchten Gegenstand herangetragen werden, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Feld und darin vorfindlicher Empirie 'entdeckt' und als Ergebnis formuliert werden" (Flick 1991, S. 151).

5.1.1 Zentrale Merkmale der Grounded Theory

Glaser und Strauss beschrieben 1967 im Buch "Discovery of Grounded Theory" zum ersten Mal den methodischen Ansatz. "Methodisch gesehen ist die Analyse qualitativer Daten nach der Grounded Theory auf die Entwicklung einer Theorie gerichtet, ohne an spezielle Datentypen, Forschungsrichtungen oder theoretische Interessen gebunden zu sein. In diesem Sinne ist die Grounded Theory keine spezifische Methode oder Technik. Sie ist vielmehr als Stil zu verstehen, nach dem man Daten qualitativ analysiert und der auf eine Reihe von charakteristischen Merkmalen hinweist: Hierzu gehören u.a. das Theoretical Sampling und gewisse methodologische Leitlinien, wie etwa das kontinuierliche Vergleichen und die Anwendung eines Kodierparadigmas, um die Entwicklung und Verdichtung von Konzepten sicherzustellen" (Glaser 1994, S. 29).

Unter Theoretical Sampling verstehen die Autoren ein Verfahren, bei dem sich der Forscher oder die Forscherin von der sich entwickelnden Theorie leiten lässt. Die kontinuierliche Datenerhebung (als Basis der Theorie) ist von Beginn an mit dem Kodieren der Daten, sowie dem Abfassen von Memos verbunden. Diese Basis führt beim Theoretical Sampling zur Kernfrage: "Welchen Gruppen oder Untergruppen von Populationen, Ereignissen, Handlungen (um voneinander abweichende Dimensionen, Strategien usw. zu finden) wendet man sich bei der Datenerhebung als nächstes zu? Und welche theoretische Absicht steckt dahinter?" (Strauss 1994, S. 70). Ziel ist, die Trias von Datenerhebung, Kodierung und Memoschreiben solange fortzusetzen bis eine gewünschte konzeptionelle Dichte (= die Menge von Kategorien und Eigenschaften und deren Zusammenhänge) erreicht ist. Das Endziel besteht in der Sättigung der Theorie, d. h. "wenn eine zusätzliche Analyse nicht mehr dazu beiträgt, dass noch etwas Neues an einer Kategorie entdeckt wird" (Strauss 1994, S. 49).

Die Grounded Theory ist ein Verfahren, bei dem die Forschungsphasen bis zum Schluß relativ offen gehalten werden. Damit wird versucht, den Blick auf den Untersuchungsgegenstand nicht zu hemmen und zu immer weiteren Fragestellungen und Erkenntnissen zu gelangen.

Vier zentrale Merkmale beschreibt Hillebrand im Vorwort zu den "Grundlagen qualitativer Sozialforschung".

  • "Der Fall als eigenständige Untersuchungseinheit."

Als "Fall" ist eine "autonome Handlungseinheit" zu verstehen, die durch identifizierbare Grenzen gekennzeichnet ist. Bewusst wird sie im Sinne einer theoriebildenden Absicht rekonstruiert. Der "Fall" kann sowohl ein Krankenhaus, eine Familie oder eine Person sein, es geht nicht um ein 1:1 Abbild der Wirklichkeit, sondern um eine theoriebildende Gestaltung der Wirklichkeit. "Forschung ist ein Interaktionsprozess zwischen Forschern und ihrem Gegenstand (‚etwas erscheint als etwas') und dieser Prozess ist geleitet von einem Erkenntnissinteresse auf Seiten des Forschers (‚für jemanden') (Glaser 1994, S. 12).

Grounded Theory verfolgt das Ziel, brauchbare bzw. nützliche Theoriebildung zu betreiben. Es geht nicht ausschließlich um die Theorie, sondern um die Zweckbestimmtheit des Gegenstandes.

  • "Sozialwissenschaftliche Interpretation als Kunstlehre."

Als "Kunstlehre" bietet die Grounded Theory das nötige Instrumentarium, um den "unvoreingenommenen Blick" und "das Gestalten der Wirklichkeit" zu unterstützten. Dezidiert werden die individuellen Begabungen und Interessen des Forschers bzw. der Forscherin als wichtiges Potential in der Generierung von Theorie genützt bzw. miteinbezogen (z. B. bei der Suche nach vergleichbaren Beispielen, Phänomenen, Erklärungsmustern).

  • "Kontinuität von alltagsweltlichen und wissenschaftlichem Denken."

Das Alltagswissen der beteiligten Personen am Forschungsprozess wird innerhalb der Grounded Theory systematisch einbezogen. Dadurch kommen wichtige theoretische Überlegungen zustande, gleichzeitig bietet sich ein Anknüpfungspunkt, bei dem der Forscher und die Forscherin mit PraktikerInnen in Beziehung treten (vgl. Glaser 1994, S. 14).

  • "Offenheit in der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung."

So wie sich die Wirklichkeit ständig verändert, so verändern sich auch die Theorien. "Die im Forschungsstil der grounded theory entwickelten Begrifffe, Konzepte und Kategorien müssen ihre Tauglichkeit zum wissenschaftlichen Erschließen alltäglicher Wirklichkeit in jeder Untersuchung neu erweisen" (ebd. S. 14).

In der Grounded Theorey geht es darum, Sinnstrukturen und Zusammenhänge zu entdecken, die trotz der Offenheit des Forschungsansatzes klar nachvollziehbar bleiben. Gerade in der qualitativen Sozialforschung ist die Nachvollziehbarkeit von Ergebnissen ein ungelöstes Problem des Forschungsprozesses (vgl. Flick et al. 1991, S. 169). Die Grounded Theory versucht hier klare Linien zu zeichnen, bei dem das Ergebnis über Zwischenschritte, wie etwa der Kategorienbildung, verdeutlicht wird. Die Kategorienbildung und die Verdichtung der Eigenschaften von Kategorien ist ein kreativer Prozess. Auch wenn es darum geht, Belege zu finden, die sich durch Häufigkeit auszeichnen, können Kategorien und ihr folgendes Konzept aus einer einzigen Tatsache gewonnen werden (vgl. Glaser/Strauss 1998, S. 33ff). Neue Einsichten bzw. Erkenntnisse resultieren nicht ausschiesslich aus der Häufigkeit ihres Erscheinens, vielmehr geht es darum eine Integration von Daten herzustellen, bedeutsam wird die Beziehung und der Zusammenhang zu den Daten (vgl. Glaser/Strauss 1998, S. 16).

5.2 Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit

Am Ausgangspunkt dieser Arbeit standen zwei Fragestellungen:

1.) Wie verlaufen Entwicklungsgeschichten von Einzelpersonen im Prozess der beruflichen Integration?

2.) Wie zeigt sich die Arbeitsweise der Arbeitsassistenz von "Integration Wien" und welche Erfahrungen machen die Arbeitsassistentinnen in diesem noch relativ jungen Arbeitsfeld?

Der methodische Zugang erfolgte über die Grounded Theory. Nach einem Vorbereitungstreffen im Juni 1998 folgten vier Wochen der teilnehmenden Beobachtung (Nov. 1998, Dez. 1998, April 1999, Juni 1999). In diesen Wochen lernte ich verschiedene Personen kennen, die von der Arbeitsassistenz unterstützt wurden. Ich führte Gespräche mit den Arbeitsassistentinnen, betroffenen Eltern, ArbeitgeberInnen und ArbeitskollegInnen. Beobachtungsprotokolle aus Beratungsgesprächen der Arbeitsassistentinnen und Betriebsbesuche, Interviews und ein Forschungstagebuch bildeten zusammen mit den Materialien der Arbeitsassistentinnen die Grundlage für diese Arbeit. Im Spätherbst 1999 erfolgte ein interner Zwischenbericht an die Arbeitsassistenz. Im Februar 2000 kam es zu einer weiteren Woche der teilnehmenden Beobachtung. Einzelne Ergebnisse des Zwischenberichts wurden korrigiert. Im Sinne einer Nachprüfung der Gesamtkonzeption verbrachte ich im Juni 2000 zwei abschließende Tage mit den Arbeitsassistentinnen.

Aus der Fülle des Datenmaterials wähle ich vier detaillierte Personengeschichten[4] aus. Die Begründung der Auswahl habe ich jeweils bei den Geschichten angeführt. Die Auswahlkriterien zu Beginn orientieren sich (a) an einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis und (b) am Grad der Behinderung (Aufnahme von sogenannten Menschen mit schwerer und leichter Behinderung). Das Ziel liegt darin, mögliche Unterschiede zwischen jungen Frauen und Männern zu entdecken bzw. ein neues Verständnis beruflicher Integration aufzuzeigen, indem grundsätzlich der Zugang zur Arbeitswelt für alle chancengleich geöffnet wird. Neben den Personengeschichten werde ich "Problemorientierte Geschichten" zu spezifischen Bereichen vorstellen, sowie eine Interviewzusammenstellung einer Arbeitsassisstentin.



[4] Anstelle von "Fallgeschichten" benütze ich den Begriff "Personengeschichten". Damit gehe ich ab von einem Objektbegriff "Fall" hin zu einem Subjektbegriff "Person". Ich will betonen, dass sich der Focus meiner Analysen auf die Person mit ihrer jeweils einmaligen Biographie und Entwicklung richtet.

6 Das Beispiel M1

6.1 Vorbemerkung

Das Beispiel M1[5] zeigt eine gelungene berufliche Integration. In der ersten Geschichte werden Auszüge aus folgenden Quellen verwendet:

2 Interviews mit Arbeitsassistentinnen im April und Juni 1999 (Dokument A)

1 Beispiel eines AMS-Vertrags über ein Arbeitstraining (B)

1 Schulungsplan von M1 (C)

1 Darstellung und Auswertung über die ersten drei Monate (D)

1 Dokumentation der Arbeitsassistenz (E)

1 Verlaufsbericht: Die Frage der Zuständigkeit (F)

1 Exkurs: Die finanzielle Sicht - Zukunftsperspektiven (G)

Ich habe M1 als Beispiel ausgewählt, weil er als Vorreiter in vielen Bereichen der Integration in Österreich angesehen werden kann. Die Geschichte um die berufliche Integration hat viele Beteiligte, die alle einen Beitrag zum beruflichen Erfolg leisteten: die Eltern, die Arbeitsassistentinnen, der Unternehmer und die ArbeitskollegInnen und - selbstverständlich - M1 selbst.

6.2 Rekonstruktion, offene Fragen und Kodes

6.2.1 Kennzeichen

Zur Person:

Mann bis 19 Jahre

Pflichtschulabschluss:

Integrationsklasse einer Fachmittelschule

Arbeits-/Berufserfahrungen:

nein

Beschreibungszeitraum:

Feb. 98 - Juni 99: 17 Monate

Status zu Beginn des Beschreibungszeitraums:

Übernahme von der integrativen Schulbegleitung zur Arbeitsbegleitung

Status am Ende des Beschreibungszeitraums:

Anstellungsverhältnis über 10 Stunden

Tätigkeitsfeld:

Gastronomie

6.2.2 Interview 1 (Dokument A)

Int: M1 gilt in vielerlei Hinsicht als Vorreiter. Kannst du darüber etwas erzählen?

Aass2: Ja. - Ich denke, M1 hat eine sehr engagierte Mutter. Er war einer der Ersten in einer tollen Integrationsvolksschule mit engagierten Lehrern. Weil sich die Volksschullehrer stark eingesetzt haben, dass das Projekt Integration weitergeht, und weil die Eltern so aktiv waren, ist er auch in einem ersten Integrationsprojekt einer AHS gewesen. Als die Zeit in der AHS vorbei war, besuchte er die Fachmittelschule, auch in einer Integrationsklasse. Die Eltern waren es wiederum, die sich bemühten, einen engagierten Lehrer zu finden. Insgesamt ist M1 sicherlich sehr gut gefördert worden, in der Schule als auch im Freizeitbereich. Es gab eine integrative Freizeitgruppe, die über die ganze Schulzeit hinweg existierte. Seine Mutter hat sich sehr engagiert und hat viel Zeit investiert. Ich denke, M1 war ein Vorreiter, weil er einer der ersten Integrationskinder war, aber er war auch Vorreiter, weil er in vielen Bereichen so gut gefördert und unterstützt worden ist. Im Freizeitbereich hat M1 Dinge gemacht, die andere nicht-behinderte Kinder und Jugendliche nie machen können, weil es dort das Engagement nicht gibt.

Offene Fragen: Wie kommt es zum betonten Engagement der Eltern und der Lehrer? Welche Rolle spielt M1 mit seiner Persönlichkeit, mit seinen Fähigkeiten? Wie sehen die unterschiedlichen Beziehungsverhältnisse aus? Welche Investitionen werden neben der Zeit getätigt, z. B. materieller Art wie Geld, immaterieller Art wie Ausdauer, Durchsetzungskraft, politische Arbeit?

Zentrale Themen (Kodes): Engagement der Eltern und Lehrer, Kontinuität von Integration in der Schule, umfangreiches Freizeitangebot, umfangreiche Fördermaßnahmen, Vorreiter. (A, Abschnitt 1[6])

Im beruflichen Bereich ist er sicherlich auch Vorreiter, weil M1 einer von den Jugendlichen ist, die ganz klar in der Beschäftigungstherapie gelandet wären. Es gab auch bei ihm die Empfehlung vom Stadtschulrat, sich an die Sondereinrichtungen zu wenden, weil man sich dort nicht vorstellen konnte, dass er beruflich integriert werden kann. - Wir haben auch gewusst, dass es nur möglich ist mit ganz intensiver Assistenz. M1 war es bis zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich, den Weg allein zu bewältigen, weil er überhaupt nicht gewöhnt war, allein unterwegs zu sein. Er hat in der Schulzeit zum Teil seinen Schulweg allein bewältigt, aber allein heißt in diesem Fall ohne Mutter, aber dafür mit Schulkollegen, die ihm geholfen haben. Er brauchte Unterstützung, weil er z. B. Probleme hatte, beim Ein- und Aussteigen bei der Strassenbahn. M1 hat motorisch wirklich Schwierigkeiten.

Als es sich entwickelt hat, dass er im Café beginnen konnte, da war klar, dass es viel Assistenz geben muss. Es war klar, dass es mehr Assistenz braucht, als der Verein - bzw. wir als Arbeitsassistenz - leisten können. So war M1 der Vorreiter zur Überlegung, dass man einen Pool von Menschen braucht, die unterstützend sind und die ihm bei der Wegbegleitung und beim Erlernen des Arbeitswegs helfen können. Da musste zeitintensiv gearbeitet werden, das von der Arbeitsassistenz allein nicht geleistet werden konnte.

Offene Fragen: Welchen Verlauf hätte die Entwicklung genommen, wenn M1 in einer Sondereinrichtung untergebracht worden wäre? Welche Einschätzung trifft der Stadtschulrat und welche Einschätzung hat die Arbeitsassistentin bzw. haben die Eltern? Ist es eine Frage der Einschätzung oder eine Frage des generellen Menschenbildes? Welches vorhandene Angebot gibt es, welche Innovationen sind denkbar? Übernimmt die Arbeitsassistenz einen Auftrag der Eltern? Die Arbeitsassistenz als Vertreter, als Anwalt der Eltern? - Wie sieht die Unterstützung von M1 im Detail aus?

Zentrale Themen (Kodes): Empfehlung in eine Sondereinrichtung zu gehen, zeitintensive Assistenz, unterschiedliche Einschätzung von Möglichkeiten, Wegbegleitung, starke Behinderung, Entwicklung neuer Rahmenbedingungen (Pool), (A, Ab. 2).

Int: Vorreiter war M1 auch immer wieder im juridischen Bereich. Derzeit sind - wieder einmal - Verhandlungen mit der MA 12 und dem AMS. Wie sieht die Situation aus?

Aass2: Nachdem M1 als sogenannter schwerstbehinderter Mensch gilt, hat sich das AMS anfangs gar nicht zuständig gefühlt. Die Unterstützung durch das AMS war nur möglich, weil es bereits einen Arbeitsplatz bzw. eine Praktikumsmöglichkeit gab. Da gab es die Vorgabe, dass die Menschen, die vom AMS unterstützt werden, beim Arbeitstraining 20 Stunden arbeiten müssen. Das war dann bei M1 sehr schwierig, aber möglich.

Nach dem Arbeitstraining, das vom AMS finanziert wurde, hat sich herausgestellt, dass der betriebliche Bedarf an konkreter Arbeit von M1 in 10 Wochenstunden bewältigt werden konnte. Das wäre sozusagen die reale Arbeitszeit, die vom Betrieb bezahlt würde. Nach dem Arbeitstraining und dem realen Angebot einer 10 Stunden Arbeit erklärte sich das AMS als nicht mehr zuständig. Generell gilt laut Gesetz, dass die Arbeitsleistung mindestens 50 %, derzeit also 20 Stunden, betragen muss, um als vermittlungsfähig zu gelten. Für das AMS war M1 nicht vermittelbar und daher auch nicht mit ihren Mitteln förderbar. Nun stellte sich die Frage, wie kann M1 - der von 10 Wochenstunden Arbeit nie leben wird können - wie kann er in Zukunft abgesichert werden? Da er geburtsbehindert ist, fällt er in die Zuständigkeit des Landes. Es gibt nun die Überlegung, dass das Land eine Förderung zahlen könnte. Die zweite Möglichkeit wäre, dass M1, der im nächsten Jahr 19 wird, die Dauerleistung bekommt, die ihm ganz sicher zusteht. Dauerleistungen können aber nur jene Personen beziehen, die nicht arbeiten. M1 hatte aber nun die Möglichkeit, nebenbei diese 10 Stunden zu arbeiten. Wie lässt sich das vereinbaren? Beides ist derzeit rechtlich nicht möglich, bzw. es gibt sehr unterschiedliche Meinungen dazu. Das muss jetzt mit der MA 12 wirklich ausdiskutiert werden. Das wäre dann nicht nur für M1, sondern gälte für alle Menschen, die weniger als 20 Stunden arbeiten. Eine heikle Angelegenheit für das Land, für das AMS und für das BSB, weil es um Menschen mit schwerer Behinderung geht, an die bisher nicht gedacht wurde, wenn es sich um den allgemeinen Arbeitsmarkt handelte.

Offene Fragen: Wie sieht die politische Arbeit der Arbeitsassistenz aus? Welche rechtlichen Grundlagen müssen geschaffen bzw. verändert werden? Wann wird im Gesetz von "Arbeit" gesprochen? Wie wird der Begriff der Arbeit in verschiedenen Kontexten definiert bzw. verwendet?

Zentrale Themen (Kodes): ungeklärte Rechtsgrundlage, Verhandlungen notwendig, Präzedenzfall, Dauerleistungsanspruch, Definition des Begriffs Arbeit: Vermittlungsfähigkeit, Frage nach einer abgesicherten Zukunft, Fördergeber offen, Ziel: allgemeiner Arbeitsmarkt (A, Ab. 3)

Int: Was bedeutet die Arbeit für M1.

Aass2: Für M1 bedeutet die Arbeit irrsinnig viel. Ich glaube, dass das am Anfang nicht war. Als er im Café begonnen hat, hatte ich nicht den Eindruck, dass das von ihm eine bewusste Entscheidung zur Arbeit war. Auch wenn man mit ihm daran war, das zu entwickeln, dass sich die Bedeutung der Arbeit in diesem Jahr entwickelt hat. Er hat unheimlich viel mitbekommen durch seine Arbeitskollegen. Er hat diese Wichtigkeit seines Arbeitsweges und dann auch den Genuss, den allein zu bewältigen oder zumindest weite Strecken allein zu bewältigen, total wahrgenommen und genossen. Er hat durch seine Kollegen mitbekommen, was eigentlich Arbeit heißt. Dieser Stellenwert ist - glaube ich - bei ihm in diesem Jahr gewachsen.

Jetzt ist es ganz klar, und es hat sich auch uns in der Beratung immer mehr gezeigt, dass er immer mehr Interesse gezeigt hat, für das, was rund um die Arbeit passiert. Also z. B. für unsere Arbeitsgespräche mit dem Chef, mit den Kollegen. Anfangs war er immer total unbeteiligt, das war ihm scheinbar vollkommen egal. Er hat eigentlich immer gekasperlt, wenn wir uns ernsthaft mit den anderen unterhalten haben. Es war relativ schwer ihn einzubeziehen, weil er hat das irgendwie nicht als seines betrachtet, dass es eigentlich um ihn geht. Das hat sich im Laufe des letzten Jahres total geändert. Gegen Ende vom Arbeitstraining, als es klar war, dass es darum geht, ob und wie es weitergehen kann - da hat M1 total reif reagiert und da hat er sich total eingebracht. Er hat mit den Kollegen geredet und mit dem Geschäftsführer. Auch danach, jetzt, da er warten muss, wie entschieden wird, da ist M1 einfach aktiv. Er telefoniert mit dem Geschäftsführer und er fragt nach, wie das nun ist und er interessiert sich für das, was die Arbeitskollegen tun und er sagt ganz klar, dass er das weitertun möchte. Er hat jetzt - nach dem die Verhandlungen schon länger dauern - die Zeit, die er zu Hause ist - es kommen ihm auch Zweifel, ob die ihn überhaupt wollen und wie es weitergehen kann ... Das kann er aber auch formulieren. Ich finde, er hat in dem Bewusstsein enorm dazugewonnen, dass die Arbeit wichtig ist und dass er das auch wirklich will.

Offene Fragen: Verstärkt die Erfahrung zu arbeiten die Bedeutung von Arbeit? Inwieweit spielt die altersspezifische Entwicklung im Gesamtprozess eine Rolle? Welchen Einfluss nehmen die ArbeitskollegInnen auf M1? Wie bedeutsam ist die Funktion der Beratung im Gesamtprozess einzuschätzen? Wie kommt es dazu, dass M1 immer häufiger selbständig aktiv wird?

Zentrale Themen (Kodes): Bewältigung des Arbeitsweges, mehr an Selbständigkeit, Modell Arbeitskollegen, wachsendes Interesse an der Arbeit, bewusster Wunsch, kasperln, aktiv-konstruktiv, Zweifel (= Zeichen von Selbstreflexion, Reife), Eigenaktivitäten. (A, Ab. 4)

Int: An welche Momente erinnerst du dich gerne zurück, und welche Erlebnisse stimmen dich traurig? Wann war die Zeit mit M1 nicht angenehm?

Aass2: Ich habe überwiegend erfreuliche Ereignisse mit M1 erlebt. Auseinandersetzungen gab es mit M1 wenige, ich kannte ihn schon von früher und da hat er mich schon besser einschätzen können. Die anderen Arbeitsassistentinnen, soweit ich das erfahren haben, hatten am Beginn der Begleitung stärkere Probleme, weil er einfach ein pubertierender Jugendlicher ist, der die Leute ganz gut austesten kann. Da hat es dann ein paar unerfreuliche Erlebnisse gegeben, wo er die Leute auf die Palme gebracht hat. - Es ist eine Art Spiel, denke ich mir, und er weiss ganz genau, wenn er jemandem zu nahe tritt.

Im Sommer letzten Jahres gab es eine Phase, wo er sehr provozierend und unfreundlich zu seinen Arbeitskollegen war. Meine Kollegin und ich mussten dann eine Entscheidung treffen, weil er wirklich zur Qual für die Anderen geworden ist. Wir entschieden uns, intensivere Beratungsstunden zu zweit durchzuführen. Wir waren unsicher über diese Lösung. Wird er dadurch überfordert? Wie wird die Beratung ablaufen? Bringt das die gewünschte Veränderung im Verhalten? Es war relativ kritisch, dann aber total positiv und es hat viel bewegt. Es hat uns erstaunt, wie vernünftig man mit ihm reden konnte. Er ist zum Teil wirklich geflohen in dem Sinne, dass er versucht hat, sich aus der Affäre zu ziehen. Aber relativ bald war auch klar, dass er reif genug ist. Er erkannte, dass es für ihn unangenehm wird, dass er sich nicht durch ein Kasperl-Spiel darüber hinwegsetzen kann. Für uns als Beraterinnen war das anstrengend. Immer mussten wir ihm erklären, dass das jetzt nicht geht. Immer wieder mussten wir seine Ablenkungsstrategien überwinden und zum eigentlichen Thema zurückkehren.

Unsere Art und Weise hat bewirkt, dass er recht schnell die Beratungssituation ernst genommen hat. Anfangs hat er den Spieß immer umgedreht. Bei den ersten Beratungen hat er immer die Rolle des Moderators übernommen (lachen). Wenn wir ein für ihn unangenehmes Thema begonnen haben, dann sagte er: "Ahm, und was meint die Kollegin dazu? Und was möchtest du noch sagen? Er nahm das Schreibbrett und tat dann immer so, als würde er mitschreiben. Er hat einfach die Rollen verdreht, das war sein Ausstieg aus dem Unangenehmen. Das hat sich gewandelt.

Bei den ersten Beratungen war er sehr nervös, inzwischen kommt er ganz locker zu uns, aber ich habe das Gefühl, dass er diese Zeit ernst nimmt. Sie scheinen ihm auch nicht mehr unangenehm oder bedrohlich zu sein. Das war anfangs der Fall, da hat er aber recht gute Mechanismen damit umzugehen.

Offene Fragen: Wie versuchte die Arbeitsassistenz die Arbeitskollegen zu entlasten bzw. vor den Provokationen von M1 zu schützen? Kann die Bearbeitung der Beziehungskonflikte im Betrieb durch die Beratung außerhalb des Betriebs gelingen? Wenn ja, wie? Inwieweit trägt die Beratung zur Sicherung des Arbeitsplatzes bei? Worin liegt das Gefühl der wahrgenommenen Bedrohung für M1? Was wird bedroht? Seine Identität? Sein Bild von sich und den anderen? Welches Bild hat er von sich und den Anderen? Welche Aufgaben sind zu erfüllen? Welcher Verantwortung muss sich M1 stellen? Was könnte geschehen, wenn ihm die Grenzen strenger bzw. weniger streng gezogen würden?

Zentrale Themen (Kodes): Pubertät, Grenzüberschreitungen, Qual für andere, Ablenkungsstrategien, verstärktes Beratungssetting, Kenntnis von Grenzen, nervös, unangenehm, Rollentausch, Beratung ernst nehmen, anstrengende Arbeit, verändertes Beziehungsverhätnis zu ArbeitskollegInnen und Arbeitsassistentinnen, positive Entwicklung (A, Ab. 5).

6.2.3 Zum Vergleich bzw. als Ergänzung: Interview 2

Aass3: M1 hat ein Jahr Arbeitstraining im Café gemacht, ursprünglich als Assistent des Tageskellners. Er hatte bis dahin keine Arbeitserfahrung und kam direkt aus der Schule. Er ist ein sehr charmanter junger Mann gewesen, der gewusst hat, wie man andere Leute einwickelt. Ich sage jetzt einmal sein ausufernder Charme hat oft zu Problemen bei der Arbeit geführt. Am Anfang hat es eigentlich recht gut geklappt. Er war irrsinnig motiviert dort zu arbeiten und Dinge zu lernen. Er hat sehr schnell seine Aufgaben gelernt, z. B. das Decken des Tisches oder das Reinigen der Serviertassen. Nach einigen Monaten ist ihm damit langweilig geworden. Er hat auch schon Beziehungen zu seinen Kollegen aufgebaut und wollte diese irgendwie intensivieren.

Es hat aber dann auf der Beziehungsebene sehr oft Streitereien gegeben. Er hat zum Teil die Arbeit nicht gemacht oder nicht ordentlich gemacht. Er wollte viel lieber plaudern und scherzen. Er war dabei auch ziemlich unmöglich. Er hat seine Kollegen beleidigt und hat geschaut, wie weit er bei ihnen gehen kann. Das Problem, daß meine Kollegin und ich als Arbeitsassistentinnen hatten, war das, dass ihm keine Grenzen gesetzt wurden. Sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten, wenn M1 sagt: "He, du bist blöd! Du hast einen Dickbauch, ha, ha, ha!" Es ist relativ schwierig für eine Arbeitsassistentin, einem Arbeitnehmer im Betrieb zu sagen, das kannst du dir nicht gefallen lassen. Von einem anderen Kollegen würdest du dir auch nicht sagen lassen, wie blöd du bist.

M1 hat diese Grenzüberschreitungen auch bei uns versucht und uns an unsere Grenzen gelockt. Wir haben versucht, M1 zu zeigen, dass er über eine gewisse Grenze nicht gehen kann.

Offene Fragen: Welche Formen von Beziehungsaufbau gibt es? Was ist für eine Kontaktaufnahme erforderlich? M1 sucht nach Kontakt, aber er findet nicht den rechten Zugang. Woran könnte das liegen? Fühlte er sich als "Unterlegener" in der Welt der Erwachsenen? Welches Bild haben die Arbeitskollegen von M1? Weshalb werden ihm im Betrieb kaum Grenzen gesetzt? Liegt es daran, dass er als jugendlicher Behinderter gilt? Liegt es daran, dass es keine bzw. kaum Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gibt? Ist das ein gesellschaftliches Phänomen? Eine falsch verstandene Rücksichtnahme, Schonung, zu wenig Zutrauen? Angst vor den eigenen Konsequenzen, die mit der Grenzsetzung ausgelöst werden könnten?

Zentrale Themen (Kodes): charmanter, junger Mann, erlernen und nicht-erfüllen von Arbeitsaufgaben, Beziehungkonflikte und Bewältigung, Langweile bei der Arbeit, Grenzüberschreitungen, Grenzen der Arbeitsassistenz, Beratung von ArbeitskollegInnen. (A, Ab. 6)

Im Sommer ist ihm in der Arbeit einfach langweilig geworden, und er hat angefangen zu kasperln, zu schauen, was bei den Kollegen möglich ist. Er hat auch uns Arbeitsassistentinnen probiert auszutesten. Er hat sich an getroffene Vereinbarungen nicht mehr gehalten, z. B. war klar, dass M1 in der Früh, bevor er beginnt, einen Tee oder einen Saft trinken kann. Die Wegbewältigung zum Arbeitsort war für ihn körperlich recht anstrengend, deshalb gab es auch eine erste Pause vor Arbeitsantritt, die er versucht hat auszudehnen. Die Vereinbarung war, dass er eine viertel Stunde mit seinen Kollegen zusammen sitzen kann und dann beginnen muss zu arbeiten. Er hat versucht, diese Pausen hinauszuzögern, sich noch ein Glas Saft und noch eines zu holen, obwohl er eigentlich nicht mehr trinken wollte. Er hat seine Getränke weggeschüttet, was die Mitarbeiter offensichtlich geärgert hat, auch den Chef. Aber das wurde nie erwähnt. Er hat dann seine Arbeit schlampig gemacht und hat irgendwie auch darauf gewartet, was die anderen sagen, wenn er das tut. Er hat die Kollegen von der Arbeit abgehalten, ist frech geworden und sehr grenzüberschreitend.

Betreffend der Grenzüberschreitungen bei den Kollegen ist der Arbeitskollegin und mir aufgefallen, dass die sich sehr viel von ihm gefallen lassen. Wir haben dann versucht, dem Betrieb zu zeigen, wie Grenzen gesetzt werden können, indem wir M1 gegenüber gesagt haben: "So geht das nicht. - Auf der Ebene reden wir nicht mehr mit dir. Und beleidigen lassen wir uns von dir nicht." Die Mitarbeiter haben zuerst einmal komisch geschaut. Ich habe einmal ein Gespräch mit einer Kellnerin geführt, die bei den Beziehungskonflikten sehr aufmerksam war. Sie hat gemeint, das kann ich doch nicht. Ich kann ihm doch nicht sagen: "So geht das nicht." Oder: "Ich kann ihn doch nicht anschreien". Wir waren der Meinung, wenn M1 unmöglich sein kann, dann kann man ihm sehr wohl dagegensetzen, ihn nicht anschreihen, aber ganz klar sagen, dass das nicht geht. Das wird er überleben und das ist total wichtig. Es hat auch viel mit ernst nehmen zu tun, weil man sich von einem Kollegen normalerweise nicht beschimpfen lässt. Sie war dann die erste, die toll auf die Situation reagiert hat. Die beiden haben dann eine recht gute Arbeitsbeziehung miteinander gehabt. Wenn sie zusammen gearbeitet haben, dann hat es einfach funktioniert. Zwischendurch wurde schon gescherzt, das war auch okay. Die beiden haben die Vereinbarung getroffen, dass wenn der erste Teil der Arbeit erledigt ist und beiden Zeit bleibt, sie sich auf ein zweites Glas Saft zusammensetzen, um zu plaudern. Im Herbst war es dann so, dass auch die anderen Mitarbeiter sich leichter damit getan haben M1 zu sagen, so weit kannst du bei mir gehen und jetzt ist aber Schluss.

Offene Fragen: Welche Aufgaben/Rollen übernimmt die Arbeitsassistentin im Betrieb? Die Arbeitsassistentin als Behindertenpädagogin, die sowohl M1 als auch seinen ArbeitskollegInnen neue Formen des Umgangs aufzeigt? Wie werden Grenzen gesetzt und wie könnten Grenzen gesetzt werden? Wer im Betrieb wird zuerst darauf aufmerksam? Wie kommt es zu einer Verbesserung der Situation? Weshalb können die Mitarbeiter im Herbst leichter mit M1 umgehen? Wie sieht das generelle Betriebsklima aus? Gibt es ein einheitlich getragenes betriebliches Selbstverständnis?

Zentrale Themen (Kodes): Aufstellen von Vereinbarungen und Missachtung, Bestärkung von ArbeitskollegInnen, unausgesprochener Ärger, Grenzen setzen lernen, ernst nehmen, offenes Betriebsklima, Scherze, plaudern bei der Arbeit (A, Ab. 7).

Im Sommer hat es so ausgeschaut, als würde es mit M1 nicht lange weitergehen. Die Mitarbeiter waren genervt, haben das aber nicht gesagt, und unterschwellig waren die Aggressionen total zu spüren. Der Chef war der letzte, der sich getraut hat, M1 gegenüber auch einmal nein zu sagen. Im Herbst hat sich die Situation stabilisert. Mit der Unterstützung einer Arbeitsassistentin aus dem Pool hat er seine Arbeiten zunehmend besser erledigt und ist eigentlich immer selbständiger geworden. Wenn ich vergleiche, wie kasperl-mässig M1 im Frühjahr und Sommer teilweise war und wie souverän er sich jetzt verhält, z. B. in Beratungsgesprächen oder in dieser ungewissen Situation, wo unklar ist, ob er im Café weiterarbeiten kann oder nicht, da merke ich einfach, wie viel er dazugelernt und wie er sich weiterentwickelt hat.

Es ist die Frage, wie man Erfolg definiert. Wenn M1 nicht weiter im Café arbeiten kann, dann ist er nicht erfolgreich vermittelt, aber was sich in diesem Jahr an Entwicklungsschritten getan hat, das ist wirklich phänomenal. Insofern würden wir das Jahr sicher als erfolgreich bezeichnen.

Offene Fragen: Warum setzt der Chef erst sehr spät klare Grenzen? Der Chef als Entscheidungsträger. Hatte er sich vor den möglichen Konsequenzen, z. B. einer androhenden Entlassung gescheut? Kommt es zu einem moralischen, sozialen, ethischen Druck? Wie könnte die betriebliche Verantwortung gegenüber der Anstellung von M1 aussehen? Wie würde Misserfolg aussehen? Welches Verhalten würde Misserfolg provozieren? Welche Faktoren könnten für den Erfolg verantwortlich sein?

Zentrale Themen (Kodes): unausgesprochener Ärger, die Rolle des Chefs, Entwicklung, unvergessliche Momente, Ernsthaftigkeit bei der Arbeit, Erfolg, neue Ausgangsbasis, Zuwachs an Selbständigkeit, unsichere Zukunft (A, Ab. 8).

Interview 2: Ende - Fortsetzung Interview 1

Int: Woran denkst du, wenn du bei M1 in die Zukunft blickst? Wohin könnte es noch gehen? Was würdest du dir wünschen?

Aass2: Aktuell brauchen wir eine Lösung, bei der M1 arbeiten gehen kann und trotzdem eine Grundsicherung erhält. Ich bin einfach überzeugt, dass M1 enorm entwicklungsfähig ist. Wenn er die Chance der beruflichen Integration bekommt - und für M1 ist es nicht vorstellbar, in eine Sondereinrichtung zu gehen - dann kann sich in Zukunft unheimlich viel ergeben. Er hat im letzten Jahr selber Ideen entwickelt über Dinge, die er gerne erlernen möchte bzw. noch anschauen will. In einem Reflexionsgespräch hat er selber gesagt, dass er auch in der Küche arbeiten möchte. Zu Hause kocht er sehr gerne, er hilft mit und ist unheimlich interessiert. Ein anderer Bereich ist der Bio-Bauernhof, er kennt da jemanden und das gefällt ihm. Ausserdem würde er gerne Botengänge erledigen.

Ich denke mir, er ist so neugierig, und er nimmt unheimlich toll wahr, was rundherum noch geht. Es kann sein, dass er einmal sagt, er möchte etwas ganz anderes tun als im Café zu arbeiten. Er lernt einfach so viel dazu, z. B. an selbständigem Unterwegs-Sein. Er interessiert sich für alles so, dass er es ganz genau wissen möchte. Sein Interesse für Technisches und seine Vorliebe für's Zerlegen von technischen Dingen, um zu begreifen, wie die innen aussehen und funktionieren. Ich denke, da kann noch unheimlich viel kommen. Zum Teil haben wir in diesem Jahr gemerkt, dass ihm sehr schnell langweilig wird bei Dingen die er total gut kann. Für ihn waren diese Aufgaben im Café rein motorisch schwer zu erlernen. Er tut sich wirklich schwer damit. Wenn er sie aber beherrscht, dann sind sie eigentlich nicht mehr wahnsinnig spannend. Er möchte einfach immer wieder Neues dazulernen.

M1 ist für mich ein typisches Beispiel für gelungene Integration. In seinem Denken ist überhaupt nicht vorhanden, dass er vielleicht in irgendeiner Sondereinrichtung oder nur mit Behinderten zusammen sein könnte. Er ist so integrativ aufgewachsen, dass das für ihn keine Vorstellung ist. Er präsentiert das auch. Er ist stimmig darin, dass das auch total auf die anderen Leute wirkt. Wenn man rein von seiner Geschichte oder auf dem Papier über ihn lesen würde, dann gäbe es ganz viele Menschen, die sagen, M1 wäre sicherlich in einer Sondereinrichtung wesentlich besser aufgehoben. Aber wenn man ihn kennenlernt und mit ihm redet und kommuniziert, dann merkt man irrsinnig schnell, dass das überhaupt nicht stimmt. Er ist sicher ein Beispiel für einen sogenannten schwerbehinderten Menschen, der aber überhaupt nie in eine Sondereinrichtung passen würde. Der hat auch selber dieses Bild nicht. Er ist so ungemein kommunikationsfähig. Er schafft es eigentlich mit allen Menschen irgendeine Basis herzustellen, wo er sich mit ihnen unterhalten kann, auch wenn die vorher noch nie etwas mit einem Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu tun gehabt haben. Auch wenn er manchmal nicht so leicht zu verstehen ist.

Offene Fragen: Was macht eine Sondereinrichtung zu einer Institution, die Menschen vom Alltagsleben und der Gesellschaft ausschließt? Wie müsste sich eine solche Einrichtung wandeln? Woher kommt die Neugierde, das Interesse und der Wunsch von M1, immer wieder Neues zu lernen? M1 schafft es, motorisch schwierige Aufgaben zu bewältigen. Woher kommt die Motivation? Wer oder was ist dafür verantwortlich? Was fördert bzw. unterstützt die Kommunikationsfähigkeit eines Menschen?

Zentrale Themen (Kodes): Zukunftsperspektive, mögliche neue Arbeitsorte, Notwendigkeit von Arbeit plus Grundsicherung, Kompetenzen von M1: Kommunikationsfähigkeit, Neugierde, Interesse, Neues zu lernen, Motivation, Fremd- und Selbsteinschätzung, Sondereinrichtungen versus integratives Aufwachsen, Authentizität von M1, Entwicklung zutrauen. (A, Ab. 9)

Int: Was ich erfahren habe ist, dass M1 ja sehr gut mit dem Chef kann. Der Chef macht sich ja jetzt in der Phase der Entscheidung auch sehr stark für ihn.

Aass2: Das hat sich positiv verändert, anfangs war es, meiner Einschätzung nach, eher auf der Ebene von Mitleid. Im Betrieb hat sich aber durch M1 total viel verändert. Am Anfang war er quasi geduldet, sein Mentor tut etwas mit ihm, das ist dann schon okay. Da sagt man nichts dagegen. - M1 hat dann aber sehr provoziert und genervt, es kam irgendwie zu Auseinandersetzungen. Da hat sich dann bei den Leuten sehr viel getan. Ich denke, sie sehen ihn auch nicht mehr so als Behinderten, sondern sie sehen ihn jetzt als M1, der diese und jene Eigenschaften hat. Er ist so und so, aber sie sehen eigentlich nicht mehr die Behinderung im Vordergrund. Am Anfang war das sehr wohl. Es zeigte sich, dass sie der Meinung waren, er ist der Arme und man muss ihm alles nachsehen, man muss ihm alles verzeihen, egal wie er sich benimmt. Ich glaube, da hat sich wirklich im Laufe des Jahres unheimlich viel getan. Zuerst kamen die Kollegen zu uns, dann sagten sie es M1 direkt, dass es nun reicht und dass er ihnen total auf die Nerven geht und dass es eben so nicht funktionieren kann. Aber sie konnten ihm auch sehr wohl positiv vermitteln, dass sie das toll finden, was er leisten kann. Da muss man bedenken, dass im Café viele nicht so gut qualifizierte Leute arbeiten. Durch die vielen Saisonkräfte kommen auch immer wieder neue Leute. Im Sommer gibt es viel mehr Personal als im Winter und dann sind Leute in den Prozess eingestiegen, die vorher noch nie etwas mit Behinderung zu tun gehabt haben. Es war immer sehr dynamisch. Ich glaube, M1 hat da sehr viel Positives bewirkt, durch seine Art, selbstverständlich auf Leute zuzugehen und mit denen zu reden. Er lässt oft den Leuten gar nicht die Chance, ihm aus dem Weg zu gehen, weil er einfach auf die Leute zugeht.

Offene Fragen: Wodurch kommt es zu einer Veränderung der Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung? Worin liegen die Chancen und Risiken einer sich ständig wechselnden KollegInnenschaft? Wie entscheidend ist eine feste Belegschaft für das Gelingen der beruflichen Integration? Welche positiven Faktoren im Prozess der beruflichen Integration sind zu erkennen?

Zentrale Themen (Kodes): Mitleid, Anerkennung der Arbeit, Dynamik, Zusammenhang von Provokation und Veränderung der Arbeitsbeziehung, Arbeitsassistentin in der Vermittlerrolle, Wechsel von MitarbeiterInnen, Kommunikationsfähigkeit, Zugehen auf Menschen, Veränderung der Einstellung (A, Ab. 10).

6.2.4 AMS - Vertrag über ein Arbeitstraining (B)

Die Firma ... verpflichtet sich mit Hrn./Fr.

Paul Mustermann

  • ein Arbeitstraining nach beiliegendem Schulungsplan von ... bis ... durchzuführen,

  • eine Anwesenheitsliste zu führen,

  • eine vorzeitige Beendigung der Maßnahme und

  • eine Unterbrechung der Maßnahme unverzüglich dem Arbeitsmarktservice zu melden.

Das Arbeitsmarktservice gewährt Hrn./Fr. ... für die Dauer des Arbeitstrainings Deckung des Lebensunterhalts nach § 35 AMSG.

Gemäss § 35 Abs. 2 AMSG sind Personen, die eine Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes beziehen, in der Arbeitslosen-, Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung pflichtversichert.

Für die Firma

Für das Arbeitsmarktservice

Offene Fragen: Worin liegen die Vorteile bzw. Nachteile des Vertrags? Wer profitiert davon? In welcher Form? Welche anderen Möglichkeiten könnte es noch geben?

Zentrale Themen (Kodes): Vertrag, Verbindlichkeit, Deckung des Lebensunterhalts, Beitrag zu Pflichtversicherungen (B).

6.2.5 Schulungsplan für M1 (C)

Geschäftsführung: ...

Innerbetrieblicher Mentor: ...

Arbeitsassistenz: ...

Arbeitszeit: Mo - Fr: 8 Uhr 30 bis 12 Uhr 30

1. Grundlernschritte:

  • Was ist Zeit? Was ist Arbeitszeit?

  • Wie unterscheidet sich das Lernen mit Herrn ... vom Lernen in der Schule?

  • Wie werde ich immer selbständiger in der Bewältigung meines Arbeitsweges?

  • Wer sind meine KollegInnen, welche Aufgaben haben sie?

  • Welche Aufgaben habe ich verlässlich zu lernen und zu meistern?

2. Erste Lernschritte zum Beruf des Kellners:

Vorbereitung des Caféraumes, der Caféräume

  1. Reinigung der Ankündigungstafel

  2. Menükarten: alte Tageskarten herausnehmen - Menükarten feucht und trocken reinigen - neue Tageskarte einlegen

  3. Salz und Pfeffer nachfüllen und bestücken

  4. Stühle von den Tischen geben - Tische feucht reinigen - weisse Stoffservietten in der Mitte des Tisches auflegen, Papierservietten darüberlegen - der Reihe nach: Tischschmuck, Salz und Pfeffer, Bierdeckel, Spezialkarte draufstellen - Besteckteller auf eine ganz bestimmte Art und Weise vorbereiten und auf die Tische verteilen.

  5. Bei Schönwetter die Tische im Garten eindecken

  6. Flaschen vom Vortag sortieren

Offene Fragen: Worin können generell Grundlernschritte der Arbeit bestehen? Mit wem und wo werden Grundlernschritte der Arbeit erlernt? Was sind Vorteile und Nachteile einer individuellen Anpassung einer Qualifizierung (Schulung)?

Zentrale Themen (Kodes): Schulungsplan, Zielformulierung, Arbeitsplatzbeschreibung (C).

6.2.6 Darstellung und Auswertung (D)

der ersten drei Monate "Arbeitstraining" von M1 im Café ...

(Auszug eines Berichts an das AMS, verfasst von der Arbeitsassistentin)

Dauer:

16. Feb. - 15. Mai

Arbeitszeit:

8 Uhr 30 bis 12 Uhr 30

Setting:

Zwei innerbetriebliche Mentoren: ....

Arbeitsassistenz durch ...

Bezugenehmend auf die im Schulungsplan verankerten (Grund-)Lernschritte kann festgestellt werden:

Der Aufgabenbereich von M1 als Assistent des Tageskellners umfasst derzeit vor allem folgende Tätigkeiten: Reinigung der Ankündigungstafel, Austauschen der Tagesmenükarten, das vollständige Decken der Tische in der Gaststube, die Pflege der Balkonpflanzen sowie die Reinigung der Tabletts.

(...) M1 weiß, wo die von ihm benötigten Mittel und Gegenstände zu finden sind und ist auch in der Lage, sich diese in Eigenregie zu beschaffen, wenn sie sich nicht an den dafür vorgesehenen Orten befinden. Neben den genannten fixen Zuständigkeiten wird M1 je nach betrieblicher Erfordernis mit unterschiedlichsten Aufgaben betraut: dem Herrichten der Gartentische bei Schönwetter, Teller schlichten, Flaschen sortieren u.v.m.

Seine Arbeiten werden von M1 mit großem Eifer, ständig wachsender Selbstsicherheit und zunehmender Ausdauer erledigt. Voraussetzung dafür waren und sind klare Arbeitsstrukturen, insbesondere die Abklärung der Zuständigkeit von M1 und klar definierte Arbeitsaufträge: Was ist meine Arbeit, was ist die Arbeit der ArbeitskollegInnen? An wen wende ich mich, wenn ich Hilfe brauche, und der innerbetriebliche Mentor nicht da ist?

M1 genügt es nicht, die Inhalte seiner Tätigkeiten vermittelt zu bekommen, er möchte darüber hinaus immer über den Zweck informiert werden: Wozu muss der Tisch heute so festlich gedeckt werden? Eine Hochzeitsgesellschaft?

(...) Die aufmerksame Haltung seinem Arbeitsumfeld gegenüber äußert sich aber auch darin, dass M1 die Arbeitsweisen seiner KollegInnen sehr genau beobachtet und anfallende Arbeiten ausserhalb seines Zuständigkeitsbereichs zunehmend wahrnimmt und mit enormer Geschicklichkeit erprobt (Ende des Auszugs).

Offene Fragen: Welche Bedeutung erhält die Auswertung als Reflexionsinstrument für die Arbeitsassistentin bzw. für M1? Ist der Bericht nur für das AMS gedacht? Welche Auswirkungen ergeben sich für weitere Planungsschritte im Prozess der beruflichen Integration?

Zentrale Themen (Kodes): Bericht als Beurteilungsinstrument, großer Eifer, wachsende Selbstsicherheit, zunehmende Ausdauer, Voraussetzung: klare Arbeitsstrukturen und klare Zuständigkeiten, wachsende Aufmerksamkeit in Bezug zu KollegInnen und Arbeit (D).

6.2.7 Dokumentation der Arbeitsassistenz im Betrieb (E)

Durchschnittlich wurde M1 über das Jahr zu 74 % am Arbeitsort durch die Arbeitsassistenz begleitet. Nach den ersten zwei Monaten von je 100 % Begleitung pendelte sich das Niveau bei 69 % im November und Dezember ein. Eine Ausnahme bildet der Februar. In diesem Monat führte die Arbeitsassistentin intensive Verhandlungen mit dem AMS. Die Begleitung im Betrieb musste dementsprechend reduziert werden.

Zeitraum: 16.Feb. 1998 - 15. Feb. 1999

Tab.2: Dokumentation der Arbeitsassitenz im Betrieb (E)

Monat

Arbeits-tage lt. Kalender

Begleitung durch Aass

(Tage)

Tage ohne Begleitung

Erholungs-tage

(= Urlaub)

Kranken-stand

% der Begleitung[a]

Feb.

10

10

-

-

-

100

März

22

22

-

-

-

100

Apr.

22

17

5

-

-

77

Mai

19

12

7

-

-

63

Juni

20

11

9

-

-

55

Juli

23

13

4

5

-

72

Aug.

21

6

3

12

-

67

Sep.

22

12

3

4

3

80

Okt.

21

18

3

-

-

86

Nov.

21

11

5

-

5

69

Dez.

19

11

5

3

-

69

Jän.

Betriebsurlaub im Café[b]

         

Feb.

11

5

6

-

-

45

             

Gesamt

231

148

50

24

8

74

[a] % der Begleitung: Verhältnis der Begleitung der Arbeitsassistenz im Betrieb zu den tatsächlichen Arbeitstagen von M1. Ausgangspunkt = Arbeitstage laut Kalender minus den Erholungstagen minus Krankenstand

[b] Nachdem die Erholungstage bereits von M1 eingelöst wurden, "schenkt" ihm der Betrieb diese freien Tage

Tab.2 umgewandelt für Brailzeilenleser:

Monat Februar: 10 Arbeitstage lt. Kalender, 10 Tage Begleitung durch Ass., 0 Tage ohne Begleitung, 0 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 100% der Begleitung[a]

Monat März: 22 Arbeitstage lt. Kalender, 22 Tage Begleitung durch Ass., 0 Tage ohne Begleitung, 0 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 100% der Begleitung

Monat April: 22 Arbeitstage lt. Kalender, 17 Tage Begleitung durch Ass., 5 Tage ohne Begleitung, 0 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 77% der Begleitung

Monat Mai: 19 Arbeitstage lt. Kalender, 12 Tage Begleitung durch Ass., 7 Tage ohne Begleitung, 0 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 63% der Begleitung

Monat Juni: 20 Arbeitstage lt. Kalender, 11 Tage Begleitung durch Ass., 9 Tage ohne Begleitung, 0 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 55% der Begleitung

Monat Juli: 23 Arbeitstage lt. Kalender, 13 Tage Begleitung durch Ass., 4 Tage ohne Begleitung, 5 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 72% der Begleitung

Monat August: 21 Arbeitstage lt. Kalender, 6 Tage Begleitung durch Ass., 3 Tage ohne Begleitung, 12 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 67% der Begleitung

Monat September: 22 Arbeitstage lt. Kalender, 12 Tage Begleitung durch Ass., 3 Tage ohne Begleitung, 4 Erholungstage (=Urlaub), 3 Tage Krankenstand, 80% der Begleitung

Monat Oktober: 21 Arbeitstage lt. Kalender, 18 Tage Begleitung durch Ass., 3 Tage ohne Begleitung, 0 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 86% der Begleitung

Monat November: 21 Arbeitstage lt. Kalender, 11 Tage Begleitung durch Ass., 5 Tage ohne Begleitung, 0 Erholungstage (=Urlaub), 5 Tage Krankenstand, 69% der Begleitung

Monat Dezember: 19 Arbeitstage lt. Kalender, 11 Tage Begleitung durch Ass., 5 Tage ohne Begleitung, 3 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 69% der Begleitung

Monat Jänner: Betriebsurlaub im Cafe[b]

Monat Februar: 11 Arbeitstage lt. Kalender, 5 Tage Begleitung durch Ass., 6 Tage ohne Begleitung, 0 Erholungstage (=Urlaub), 0 Tage Krankenstand, 45% der Begleitung

 

Gesamt: 231 Arbeitstage lt. Kalender, 148 Tage Begleitung durch Ass., 50 Tage ohne Begleitung, 24 Erholungstage (=Urlaub), 8 Tage Krankenstand, 74% der Begleitung

[a] % der Begleitung: Verhältnis der Begleitung der Arbeitsassistenz im Betrieb zu den tatsächlichen Arbeitstagen von M1. Ausgangspunkt = Arbeitstage laut Kalender minus den Erholungstagen minus Krankenstand

[b] Nachdem die Erholungstage bereits von M1 eingelöst wurden, "schenkt" ihm der Betrieb diese freien Tage

Offene Fragen: Wie kann die Anzahl der Krankenstandstage bewertet werden? Ist der Krankenstand im Sommer unmittelbar mit der Krise von M1 im Betrieb in Verbindung zu bringen? Welches Verhältnis lässt sich durch das "Geschenk" des Betriebs ableiten? Wie wird die Begleitung in Zukunft aussehen? Ist eine Reduktion auf einen Tag pro Woche (20 %) erstrebenswert? Wie kommt es zu der erst abnehmenden und dann wieder zunehmenden Intensität der Begleitung?

Zentrale Themen (Kodes): hohe Frequenz der Begleitung, Geschenk des Betriebes, geringe Krankenstandstage (E).

6.2.8 Die Frage nach der Zuständigkeit (F)

Die Arbeitsassistentin hat während der Abschlussphase des Arbeitstrainings von M1 vielfältige organisatorische und politische Aufgaben erfüllt, um eine passende Lösung zu finden. Die Geschäftsleitung und der Chef des Betriebs machten das Angebot einer Anstellung über 10 Stunden, wenn ein Lohnkostenzuschuss gewährleistet wird. Noch während die Verhandlungen mit AMS und MA 12 abgeschlossen waren, endete das Arbeitstraining laut Vertrag. Auf Empfehlung des REHA-Beraters im AMS wurde ein Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt.

Am 10. März erfolgte ein ablehnender Bescheid des AMS: M1 erhält kein Arbeitslosengeld, "mangels Erfüllung der Anwartschaft". Die arbeitslosenversicherungspflichtigen Zeiten des Arbeitstrainings gelten nur zum Teil für die Anwartschaft, daher fehlen M1 Anrechungszeiten für das Arbeitslosengeld. Außerdem kann M1 aufgrund des Grades der Behinderung nicht vom AMS vermittelt werden. Er hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, weil er grundsätzlich nicht zu den vermittelbaren Personen zählt.

Bescheidauszug: "Begründung: Gemäss § 7 Abs. 1 Z.2 A1VG ist eine der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes die Erfüllung der Anwartschaft. Gemäss § 14 Abs. 1 zweiter Satz A1VG ist bei einem Arbeitslosen, der das Arbeitslosengeld vor Vollendung des 25. Lebensjahrs beantragt, die Anwartschaft erfüllt, wenn 1. der Arbeitslose in den letzten 12 Monaten vor Geltendmachung des Anspruches (Rahmenfrist) insgesamt 26 Wochen im Inland arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt war, wobei höchstens 16 Wochen arbeitslosenversichungspflichtiger Zeiten nach § 35 Abs. 2 des Arbeitsmarktservicegesetzes, BGB1. Nr. 313/1994 (Bezug einer Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes) herangezogen werden dürfen, und 2. ihm das Arbeitsmarktservice auch unter weitestmöglichem Einsatz von Förderungsmassnahmen keine zumutbare Beschäftigung vermitteln kann (Hervorhebung R. B.), wobei diesbezüglich der Regionalbeirat anzuhören ist.

Es fehlen Ihnen 91 Tage arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigung. ..."

Da es noch keine geregelte Lösung gab, wurden die Verhandlungsgespräche fortgesetzt. Nach dem Durchspielen mehrerer Varianten/Möglichkeiten von Lösungsansätzen ist letztlich die folgende Frage, in der Zuständigkeit der MA 12, übrig geblieben:

Ist ein Lohnkostenzuschuss zu einem freien Dienstvertrag (geringfügig Beschäftigte) nach dem Behindertengesetz möglich? - Es stellte sich die grundsätzliche Frage, ob es im Sinne des Gesetzes ist, Lohnkostenzuschüsse für ein Arbeitsverhältnis zu bezahlen, das nicht den Lebensunterhalt des Behinderten deckt, er aus diesem "Arbeitsverhältnis" keine Kranken- und Pensionsversicherungsleistungen beziehen kann und er auch nicht dem Arbeitsrecht unterliegt.

Ende Mai kam es schließlich zu einer verbindlichen Zusage der MA 12. Einem Lohnkostenzuschusses bei geringfügiger Beschäftigung stand nichts mehr im Wege. Die Voraussetzungen für eine geförderte Anstellung (50 % der Lohn und Lohnnebenkosten) von M1 waren gegeben. Im Juni willigte die Geschäftsleitung in ein festes Dienstverhältnis von M1 ein. M1 begann regulär zu arbeiten.

Offene Fragen: Welche Regelungen unterstützen die berufliche Integration von Menschen mit schwerer Behinderung? Wer übernimmt die Aufgabe der Durchsetzung? Wie könnten neue juridische Lösungen aussehen?

Zentrale Themen (Kodes): Politische Arbeit, Verhandlung, Zuständigkeit, Arbeitslosengeld, Lohnkostenzuschuss, Deckung des Lebensunterhalts, nicht vermittelbar und dennoch ein Dienstverhältnis (F).

6.2.9 Exkurs: Die finanzielle Sicht - Zukunftsperspektiven (G)

Das Beispiel von M1 stößt in der Frage nach dem Lebensunterhaltsanspruch auf bestehende Grenzen in der gesetzlichen Regelung. In Zukunft (sobald er mit 19 Jahren Anspruch auf Dauersozialhilfeleistungen hat) ist die berufliche Integration für M1 aus finanzieller Sicht ein Nachteil, da er weniger Geld bekommt, als wenn er nicht arbeiten würde.

Berechnungsmodell für M1

Derzeitig erhält M1 in geringfügiger Beschäftigung S 3.800,--. Das Land Wien zahlt als zuständige Stelle für diese Beschäftigung 50 % Lohnkostenzuschuß. In wenigen Monaten wird M1 19 Jahre alt, damit hat er Anspruch auf eine Dauersozialhilfeleistung, die in Wien bei S 8.000,-- liegt (= erhöhter Satz aufgrund der Behinderung). Durch die geringfügige Beschäftigung hat M1 jedoch nur Anspruch auf einen Richtsatzausgleich für Arbeitsfähige (ca. S 5.000,--) und auf die erhöhte Familienbeihilfe. Insgesamt schneidet er wesentlich schlechter ab, als wenn er z. B. in eine Beschäftigungstherapie gehen würde.

Berechnung der erhöhten Familienbeihilfe (eFb):

Ab 19 Jahren

2.000,--

Erhöhte Fb

1.650,--

Summe

3.625,--

Minus

825,-- (Abzug, weil er Pflegegeld bezieht)

Restsumme

2.800,--

M1 in der Arbeit

 

Geringfügige Beschäftigung

3.800,--

Richtsatzausgleich auf S 5.000,--

1.200,--

eFB

2.800,--

Summe

7.800,--

M1 z. B. in der Beschäftigungstherapie (Bth)

 

Dauersozialhilfeleistung

8.000,--

eFB

2.800,--

Summe

10.800,--

ev. Taschengeld Bth

600,--

Monatsmarke

500,--

Summe

11.900,--

Die Berechnung ergibt eine Differenz von S. 4.100,--. Das bestehende System benachteiligt Menschen mit Behinderung finanziell drastisch. Diese Situation hat für viele einen großen Einfluss bei der Frage nach einer Arbeitsaufnahme.

Offene Fragen: Inwieweit ist eine Erhöhung des Richtsatzausgleichs für Menschen mit Behinderung erstrebenswert? Was passiert bei einer Lohnerhöhung? Welche Funktion erfüllt die Familienbeihilfe bei erwachsenen Personen? Wie würde sich ein akzeptierter Zusatzverdienst zur Dauersozialhilfeleistung auf die berufliche Integration auswirken?

Zentrale Kodes (Themen): Finanzielle Schlechterstellung durch Arbeit, Veränderung gesetzlicher Bestimmungen (G).

6.3 Interpretation bezogen auf die Hauptbeteiligten

6.3.1 Interpretation bezogen auf M1

M1 wird als "charmanter junger Mann" (A, Ab. 6) beschrieben, der zu Beginn des Arbeitstrainings mit großem Eifer an die Arbeit herangeht. Er kommt direkt aus der Integrationsschule und hat keine Arbeitserfahrung. Als Assistent des Tageskellners lernt er unterschiedliche Arbeitsaufgaben zu erfüllen, trotz seiner relativ schweren motorischen Beeinträchtigung. Wachsende Selbstsicherheit und zunehmende Ausdauer kennzeichnen die erste Phase. Nachdem M1 die Aufgaben beherrscht, kommt es zu einer Verhaltensänderung. M1 beginnt zu kasperln und nimmt seine Verantwortung nicht mehr in gewünschtem Ausmaß wahr. Er beginnt im betrieblichen Umfeld zu provozieren. Vereinbarungen werden nicht mehr eingehalten, er ärgert ArbeitskollegInnen. Diese kritische Zeit erreicht im Sommer einen Höhepunkt. Die Arbeitsassistentinnen intensivieren die Beratungsgespräche. Bei der Unterstützung im Betrieb setzen sie M1 klare Grenzen. Sie bekräftigen gleichzeitig die ArbeitskollegInnen von M1, ähnlich zu handeln. Die gesetzten Maßnahmen wirken. M1 lässt sich auf die Auseinandersetzung ein, er beginnt sein Verhalten zu überdenken. Während dieser schwierigen Zeit fühlt er sich offenbar selbst unzufrieden mit der Situation. Die Arbeitsassistentin spricht davon, dass M1 sich vom Beratungssetting bedroht fühlt. Abwehrmechanismen treten auf z. B. wechselt er in Beratungsgesprächen von der Klientenrolle in die Beraterrolle. Ein wichtige Funktion erfüllen die ArbeitskollegInnen, die ihn mit ihren Rückmeldungen unterstützen. Einerseits erhält M1 Lob und Anerkennung, andererseits lernt er durch die KollegInnen die Bedeutung von Arbeit ganz allgemein besser zu verstehen. Schließlich kommt es zur Intensivierung von Beziehungen im Betrieb. Von Seiten M1 können folgende wesentlichen Faktoren genannt werden, die im Prozess der beruflichen Integration bedeutsam waren: Fähigkeit und Freude an Kommunikation, Neugierde, Offenheit, Erkennen von Grenzen, Reflexionsbereitschaft.

M1 befindet sich in der Pubertät. In dieser Zeit fordern Jugendliche in vielfältiger Weise ihr soziales Umfeld heraus. Darin unterscheiden sich Jugendliche mit Behinderung nicht von anderen Jugendlichen. Die Reaktionen auf das Verhalten von M1 sind jedoch anders. Der Betrieb hatte keine Erfahrung mit Jugendlichen mit Behinderung, das könnte zu einer Verunsicherung im Umgang mit dem Jugendlichen geführt haben. Statt bald nach dem Auftreten des provozierenden Verhaltens klare Grenzen zu setzen, wurde die Aggression unterdrückt. Mitleid schien die geforderte Reaktion zu bremsen. Durch die Unterstützung der Arbeitsassistenz wurde das Verhalten der Arbeitskollegen angesprochen und entsprechend korrigiert.

Das Selbstverständnis von M1 ist durch seinen lebenslangen Integrationsprozess bestimmt. Das Engagement der Eltern und Lehrer ermöglicht für M1 einen breiten Entfaltungsraum in der Schule und in der Freizeit. Am Arbeitsplatz ist es die betriebliche Bereitschaft zur Auseinandersetzung, das Angebot zur Erprobung unterschiedlicher Tätigkeiten und die Dynamik der verschiedenen Beziehungsverhältnisse. Die äusseren Lebensbedingungen sind durch einen klaren familiären Rahmen abgesichert. In der Arbeit existiert ein Vertrag mit dem AMS zur Absicherung des Lebensunterhaltes. Ein Schulungsplan sowie individuell-mündliche Vereinbarungen bilden einen Rahmen, in dem die Beteiligten M1 bestimmte Fähigkeiten zutrauen. Diese positive Erwartungshaltung trägt zur Entwicklung von M1 ebenso bei, wie der eigene Erfolg, eine Arbeit bewältigt zu haben. Seine Lernschritte sind gekennzeichnet durch die Motivation, neue Dinge zu lernen, Neugierde und einer aufmerksamen Haltung gegenüber seinem Arbeitsumfeld. M1 ist während des gesamten Jahres lediglich 8 Tage im Krankenstand. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Lebensbedingungen in einen guten Rahmen eingebettet sind.

Für M1 wächst die Bedeutung seiner Arbeit mit der Dauer seiner Anstellung. Zu Beginn brachte er sich in die Besprechungen kaum ein. Er war dabei, aber er verhielt sich wie ein Unbeteiligter. Als es darum ging, eine unbefristete Anstellung zu erwirken, wurde sein verändertes Verhalten deutlich sichtbar. Er stellte Rückfragen und machte sich Sorgen über den Ausgang der Verhandlungen. Er drückte Zweifel aus und war bemüht, immer wieder Kontakt zu den Verantwortlichen aufzunehmen. Sein gesamtes Verhalten wirkte passend und der Situation entsprechend. Es ging um seine Zukunft und er redete mit. Sein Bemühen und das Bemühen aller Beteiligter wurde belohnt: Die unbefristete Anstellung erfolgte.

6.3.2 Interpretation bezogen auf die Arbeitsassistenz

Aass2 hat "überwiegend erfreuliche Ereignisse mit M1 erlebt" (A, Ab. 5). In der Begleitung der beruflichen Integration sucht und schafft sie gemeinsam mit den Eltern neue Möglichkeiten, denn eine Sondereinrichtung widerspricht dem Grundverständnis und der Lebenspraxis von M1. Es ist selbstverständlich, dass er am allgemeinen Arbeitsmarkt eine Stelle sucht. Von Beginn an wird eine intensive Assistenz als Voraussetzung für das Gelingen der beruflichen Integration angenommen. Ein AssistentInnen-Pool wird aufgebaut, mit der die hohe Frequenz der Begleitung im Betrieb abgedeckt werden kann. Mit dem AMS kommt es zu einem Vertragsabschluss, der ein Arbeitstraining für M1 beinhaltet. Das Arbeitstraining gilt als Schulungs- bzw. Qualifizierungsmaßnahme und bietet eine Reihe von Vorteilen für die berufliche Integration. Auf der Seite des Jugendlichen gewährleistet der Vertrag die Abdeckung des Lebensunterhalts, gleichzeitig ist er in der Arbeitslosen-, Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung pflichtversichert. Zusätzlich erhält er die Möglichkeit, die ausgewählte Arbeit und das damit verbundene Berufsbild zu erproben und erste Erfahrungen in der Arbeitswelt zu sammeln. Die im Schulungsplan angeführten Ziele bilden eine Basis für weiterführende Ausbildungsmöglichkeiten wie z. B. den Einstieg in eine Berufsschule.

Das Arbeitstraining bietet Raum und Zeit an einer individuellen Arbeitsplatzentwicklung und -gestaltung zu arbeiten. Der Betrieb kann sich mit dem Jugendlichen und seinen Fähigkeiten vertraut machen, ohne dass zusätzliche Gehaltsaufwendungen notwendig würden. Im Vergleich zu mündlichen Vereinbarungen stärkt die schriftliche Form die Verbindlichkeit und Verantwortung des Betriebs gegenüber der Hauptperson. Da das Arbeitstraining befristet ist und bei Verlängerung maximal bis zu einem Jahr gehen kann, resultieren daraus keine weiteren gesetzlichen Verpflichtungen. Die Auswertung des Arbeitstrainings erfolgt in regelmässigen Abständen und wird von der Arbeitsassistentin verfasst. Ein schriftliche Darstellung erhält das AMS alle drei Monate.

Die Arbeitsassistentin tritt als Pädagogin auf, die M1 klare Grenzen setzt und gleichzeitig im Betrieb zeigt, wie wichtig gesetzte Grenzen sein können. Ihr Modell wird übernommen und die Beziehungsverhältnisse stabilisieren sich. Der sensible Umgang mit Grenzen erfordert ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, da zwischen eigenen und fremden Anteilen unterschieden werden muss. Die passende Einschätzung der einzelnen Bereiche macht eine gelungene Krisenbewältigung aus.

Die politische Arbeit der Arbeitsassistentin zeigt sich darin, dass im Bereich der beruflichen Integration viele Fragen zum ersten Mal gestellt werden. In Verhandlung mit den zuständigen Behörden müssen oft neue Regelungen ausgearbeitet werden. Als Anwältin des Jugendlichen versucht sie, eine passende Lösung zu finden. Allein die Frage welches Gesetz Anwendung findet ist oft schwierig zu beantworten und erfordert juristische Kenntnisse bzw. ein umfangreiches Verständnis der konkreten Sachlage. Die Praxis der beruflichen Integration überholt hier gewissermaßen die gesetzlichen Bestimmungen. Das Beispiel von M1 zeigt, wie eine Anstellung möglich wird, obwohl er von Seiten des AMS als "nicht vermittelbar" klassifiziert wurde (A, Ab. 3).

In der Beantwortung nach Zukunftsperspektiven beschreibt die Arbeitsassistentin, dass der berufliche Weg von M1 noch längst nicht abgeschlossen ist. Ihre Einschätzung der Möglichkeiten von M1 ist offen, ihr Zutrauen in M1 gekennzeichnet vom Grundverständnis hoher Entwicklungsfähigkeit.

Die Aufzeichnung der Assistenz im Betrieb dokumentiert eine intensive Unterstützung. Die berufliche Integration von Menschen mit schwerer Behinderung verlangt diese Maßnahme insbesondere dann, wenn immer wieder neue Tätigkeiten erprobt, angelernt und entwickelt werden. Kommt es zu einer längerfristigen Anstellung mit einem klaren Aufgabengebiet, wird nach der Einarbeitungszeit bei vielen Personen eine Reduzierung möglich sein. Die flexible Handhabung der Unterstützung bis hin zu einem Angebot der dauerhaften Begleitung wird gerade bei der beruflichen Integration von Menschen mit schwererer Behinderung erforderlich sein. Im Konzept der Unterstützten Beschäftigung (supported employment) wird diese Möglichkeit mitbedacht (vgl. z. B. Stefan Doose‚ 1997).

6.3.3 Interpretation bezogen auf den Betrieb

Der Betrieb lässt sich auf das Experiment der beruflichen Integration mit M1 ein. Der Vertrag über ein Arbeitstraining wird unterschrieben und ein Schulungsplan erstellt. Beide Komponenten scheinen wichtige Voraussetzungen für das Gelingen des Integrationsprozesses zu sein. Zum einen stärkt die schriftliche Vereinbarung das Bewusstsein um die Verantwortung, zum anderen werden klare Arbeitsstsrukturen festgelegt. Der Jugendliche gerät durch den AMS-Vertrag in eine Rolle, die vom Unternehmer unterschiedlich genutzt werden kann. Der Jugendliche gilt nicht nur als Kostenfaktor innerhalb einer Schulungsmaßnahme, sondern ist gleichzeitig eine zusätzliche kostenlose Arbeitskraft für den Betrieb.

Im Café wird M1 anfangs "quasi geduldet, sein Mentor tut etwas mit ihm, das ist dann schon okay" (A, Ab.10). Die Verantwortung für den innnerbetrieblichen Prozess wird auf einen Mitarbeiter reduziert. Allmählich erweitern sich die Beziehungsverhältnisse von M1. Durch seine Provokation kippt die Situation. Den MitarbeiterInnen wird bewusst, dass sie Mitbeteiligte am Experiment der beruflichen Integration eines Jugendlichen sind. Es kommt zu heftigen Beziehungskonflikten, bei denen vieles unausgesprochen bleibt. Das Verhalten der ArbeitskollegInnen ist geprägt von "unterschwelliger Aggression" (A, Ab. 8). Sie wissen nicht, wie sie mit M1, als Jugendlichem mit Behinderung, umgehen sollen. Diese Situation deckt sich mit der generellen Beobachtung von Rathmayr bei Jugendlichen und Erwachsenen in nichtinstitutionellen Lebenswelten: "Erwachsene fühlten sich zwar häufig durch das Verhalten Jugendlicher gestört, sie äußerten ihren Ärger aber nicht direkt den Jugendlichen gegenüber, sondern in Form von missbilligenden Blicken, durch Körpergesten ausgedrücktem Abscheu oder durch Selbstgespräche" (Rathmayr 1994, S. 86). Rathmayr geht dabei nicht auf Jugendliche mit Behinderung ein; dass die Behinderung das "Vermeidungsverhalten" von Erwachsenen verstärkt und damit die direkte Auseinandersetzung (z. B. klare Grenzen zu setzen) nicht stattfindet, ist anzunehmen. Sowohl M1 als auch seine Umgebung von Erwachsenen, ist demnach mit einem doppelten Rollenverständnis konfrontiert:

  1. mit der Rolle des Jugendlichen

  2. mit der Rolle als Person mit einer Behinderung.

Die ArbeitskollegInnen hatten Schwierigkeiten mit den Grenzüberschreitungen von M1. Sie waren aber offen, in Gesprächen mit der Arbeitsassistentin ihr Verhalten zu überdenken und zu ändern. Ihnen wurde bewusst, dass sich die Aktionen und Reaktionen von M1 nicht von ihrem Verhalten trennen lässt. Die Auseinandersetzung mit dem "Jugendlichen" wird ebenso selbstverständlich, wie die Auseinandersetzung mit dem "Behinderten". Die Arbeitsassistentin berichtet, dass mit der Dauer der Erfahrung die Behinderung in den Hintergrund tritt. "Sie sehen ihn jetzt als M1 ..." (A, Ab. 10). Das Bild über M1 verändert sich positiv durch die direkte Erfahrung mit ihm.

Über das Betriebsklima wird von der Arbeitsassistentin nicht direkt gesprochen. Es wird berichtet, dass M1 unheimlich viel von seinen ArbeitskollegInnen mitbekommen hat. Ihm wird vermittelt, wie toll seine Leistung ist. Am Ende des Arbeitstrainings bemüht sich der Chef, die unklare rechtliche Situation in Richtung einer Anstellung zu beeinflussen. M1 erhält im Jänner Urlaub, obwohl er seine Urlaubszeit bereits aufgebraucht hatte. Dieses Verhalten ist meines Erachtens nur in einem generell guten Arbeitsklima möglich.

6.3.4 Interpretation bezogen auf die Eltern

Gerade am Beginn des Interviews wird vom großen Engagement der Eltern, insbesondere der Mutter berichtet. Die zeitlichen und finanziellen Aufwendungen um M1 decken alle Lebensbereiche ab und führen dazu, dass er Vorreiter in vielen Bereichen wird. Insgesamt kann auf eine tragfähige und gute Familienbeziehung geschlossen werden, die jedoch in der Rekonstruktion nicht sichtbar wird. Insgesamt bleiben in dieser Personengeschichte die Eltern im Prozess der beruflichen Integration im Hintergrund.

6.4 Kategorien in der Darstellung von M1 (Zusammenfassung)

Schulische Integrationslaufbahn

Engagement der Eltern (der Mutter)

Zutrauen in die Entwicklung

Freizeitangebot

Betriebliche Bereitschaft

Arbeitstraining und Schulungsplan (inkl. regelmäßige Auswertung)

Offenheit und Flexibilität im Prozessverlauf der beruflichen Integration (genügend Zeit)

ArbeitskollegInnen, die verantwortungsvolle Beziehungen eingehen

Hohe Assistenzfrequenz im Betrieb

Wegbewältigung

Krisenbewältigung durch intensivierte Beratung

Einstellungsänderung bei ArbeitskollegInnen

Verhandlungskompetenz der Arbeitsassistenz mit Behörden

Persönlichkeit und Fähigkeiten des Jugendlichen

Erleben eines Entwicklungsprozesses

Finanzielle Schlechterstellung durch berufliche Integration

Warnung

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[5] M1 = anonymisiertes Kürzel für eine männliche Person

[6] A, Abschnitt 1: Kennzeichen des Dokumentabschnittes

7 Das Beispiel F1

7.1 Vorbemerkung

F1[7] ist das Beispiel einer jungen Frau, die sich Schritt für Schritt von ihrer Mutter loslöst und nach Selbständigkeit strebt. Ihr Selbstverständnis, sowie ihre Versuche, Neues zu lernen, werden durch das Interview dokumentiert. Die Rahmenbedingungen sind ähnlich wie bei M1, d. h. Beratung und Begleitung durch die Arbeitsassistenz über einen längeren Zeitraum, AMS-Vertrag über ein Arbeitstraining, Schulungsplan, Mentorin im Betrieb.

Das Beispiel F1 zeigt eine weitere gelungene berufliche Integration im Bereich der Gastronomie. In der Darstellung der Geschichte wird ein Interview (Dokument H) mit der Arbeitsassistentin von F1 abgedruckt und ausgewertet. Das Interview erfolgte, nachdem ich an einem Vormittag F1 am Arbeitsplatz kennengelernt habe, wo ich ein entspanntes und heiteres Verhältnis der Kolleginnen zu F1 beobachten konnte. Es wurde bei den Arbeitsvorgängen gescherzt und gelacht. F1 fühlte sich offensichtlich wohl im Betrieb. Die Atmosphäre wirkte fröhlich. Ihr Chef äußerte sich zufrieden mit der Entwicklung von F1. Das Interview fand im Juni 1999 im Büro der Arbeitsassistentin statt.

7.2 Rekonstruktion, offene Fragen und Kodes

7.2.1 Kennzeichen

Zur Person:

Frau bis 19 Jahre

Pflichtschulabschluss:

Integrationsklasse einer Hauptschule

Arbeits-/Berufserfahrungen:

Behindertenwerkstatt, Berufsorientierungskurs

Beschreibungszeitraum:

Juni 98 - Juni 99: 13 Monate

Statuts zu Beginn des Beschreibungszeitraums:

Arbeitsplatzsuche am offenen Arbeitsmarkt

Status am Ende des Beschreibungszeitraums:

Unbefristetes Dienstverhältnis (16 Stunden)

Tätigkeitsfeld:

Gastronomie

7.2.2 Interviewauszug: (Dokument H)

Aass2: F1 habe ich im Sommer letzten Jahres kennengelernt. Vorher hat es noch keinen Kontakt zur Arbeitsassistenz gegeben. F1 war damals in einem einjährigen Berufsorientierungskurs für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Zuvor hat sie die Integrationslaufbahn in der Schule gemacht und war kurz in einer Behindertenwerkstätte. Nach Angaben der Mutter war sie dort aber total verzweifelt und hat nur mehr geweint. Sie wollte überhaupt nicht mehr in die Werkstatt, in der Früh war ihr immer schlecht und sie hat auch sonst ganz arge Probleme bekommen. Dann hat die Mutter sie aus der Behindertenwerkstatt herausgenommen und F1 besuchte dann den Berufsorientierungskurs.

Wie sie zu uns gekommen ist, das war so gegen Ende des Kurses, da war irgendwie klar, dass die Leute von dort gesagt haben: "Sie ist eigentlich zu schwach, um in einem normalen Arbeitsumfeld zu arbeiten." Man hat ihr nach diesem einen Jahr erklärt, dass sie in der Beschäftigungstherapie am Besten aufgehoben ist.

Offene Fragen: Welches Selbstbild wurde F1 im Umfeld der Behindertenwerkstatt vermittelt? Welcher Anteil an der Verzweiflung lässt sich durch die Werkstatt erklären? War es der Ausschluss vom Alltag, das Gefühl vom sozialen Ghetto, waren es die Menschen in der Werkstatt oder vielleicht die zu leistende Arbeit? F1 erhält das Signal "zu schwach zu sein". Welche Auswirkungen hat das auf ihre Identitätsentwicklung?

Zentrale Themen (Kodes): Integrationslaufbahn, Unzufriedenheit in der Werkstatt, körperliche Reaktionen, Verzweiflung, Fremdeinschätzung: "zu schwach", Verständnis der Mutter (H, Ab. 1).

Int: Worin liegt ihre Schwäche oder worin liegt das besondere Bedürfnis von F1?

Aass2: (Lachen). Sie selber formuliert das ganz gut. Sie selber pflegt zu sagen, dass sie nicht behindert ist, aber bei der Geburt zu wenig Sauerstoff gehabt hat - aber jetzt nicht mehr. Das hat sie bei ihrem Bewerbungsgespräch dem Geschäftsführer erklärt. Er hat sie nach einem längeren Gespräch gefragt, das er mit ihr sehr gut geführt hat: "Und was ist eigentlich Ihre Behinderung?" und sie hat geantwortet: "Ich habe bei der Geburt zu wenig Sauerstoff gehabt, aber jetzt nimmer." Das war's - Thema erledigt.

F1 hat eine geistige Behinderung. Sie hat viel Unterstützung und Förderung von zu Hause bekommen, auch in der Schule und im Berufsorientierungskurs, aber sie hat z. B. nie das Lesen und Schreiben erlernt. Sie kann ihren Namen in Druckschrift schreiben - manchmal aber verwechselt sie die Buchstaben. Motorisch hat sie arge Mühen. Sie kann ganz viele motorische Abläufe nicht. Das waren die Gründe, warum man beim Berufsorientierungskurs gesagt hat, dass sie in der Beschäftigungstherapie gut aufgehoben sei. F1 war darüber sehr unglücklich und die Mutter ziemlich verzweifelt, weil sie diesen Versuch der Beschäftigungstherapie schon gemacht hatten. Der Mutter war klar, dass F1 da auch nicht zurück kann, auch nicht in eine andere.

Offene Fragen: Wie muss ein Gespräch verlaufen, dass es "sehr gut geführt" ist? Welches Interesse hat der Geschäftsführer an F1? Welche Fähigkeiten bringt der Geschäftsführer im Umgang mit F1? Welche Fähigkeiten zeigt F1? Wie zeichnet sich die Beziehung zwischen Mutter und Tochter aus?

Zentrale Themen (Kodes): Selbstbild, Bewerbungsgespräch, viel Unterstützung und Förderung, Behinderung (Schwächen), Verzweiflung von Tochter und Mutter (H, Ab. 2).

Der Wunsch von F1 war klar: Sie wollte in einer Küche arbeiten. Da war nun einmal, dass sie das überhaupt interessiert und dass es in der Familie einen Cousin gibt, der Koch ist, auch noch jung ist und dass sie von ihm viel gewusst hat. Das hat sie einfach alles total interessiert. Ihr erster grosser Wunsch bei uns war dann auch, dass sie die Berufsschule kennenlernen wollte, wo Koch und Kellner ausgebildet werden. Wir haben organisiert, dass sie drei Tage in der Berufsschule mittun hat dürfen und wir haben sie dabei begleitet. Wir haben klar gesehen, dass sie nicht mitschreiben kann und, dass sie das aber irgendwie verleugnet. Sie setzt sich dann wirklich hin und tut so, als ob sie schreiben würde. - Damit tut sie sich unheimlich schwer. Ihr hat es in der Berufsschule total gut gefallen und sie hat sich dann zum Ziel gesetzt, dass sie dort einmal hingehen möchte.

Sie hat den Berufsorientierungskurs fertig gemacht, da gab's noch die Überlegung einen besonderen Kurs zur Qualifizierung im Büro zu beginnen. Die Aufnahmeprüfung dazu hat sie allerdings nicht geschafft und F1 war dann total enttäuscht. Irgendwie war es klar, dass sie F1 nicht nehmen - aber gut, sie hat den Versuch von sich aus gewagt. Es war sehr frustrierend, da die Organisatoren des Kurses erklärt haben, dass sie einfach zu schwach ist. - Die Rückmeldungen ihr gegenüber waren immer wieder auf dieser Schiene.

Offene Fragen: Welche Voraussetzungen werden benötigt, damit F1 die Berufsschule regulär besuchen kann? Welche Bedeutung hat das "als ob"-Verhalten von F1 im Unterricht? Ist das ihr Versuch mitzuhalten? Ein Lernversuch im Nachahmen der anderen? War es ihre Strategie, die Schreibschwäche zu überspielen? Wie geht F1 mit Entäuschung und Frustration um?

Zentrale Themen (Kodes): klares Interesse am Beruf, Berufsvorstellung durch Familienmitglieder erworben, Ermöglichung von Probetagen in Berufsschule, "als ob"-Verhalten, Eigeninitiative, Voraussetzungshürde: Aufnahmeprüfung, Rückmeldung: zu schwach. (H, Ab. 3)

Wenn wir in den ersten Beratungen zum Thema Arbeit vorgedrungen sind, dann hat F1 immer begonnen zu weinen und erklärt, dass sie in die Berufsschule gehen möchte. Da war nicht mehr möglich weiterzumachen, da musste sie sich erst einmal beruhigen. Die ersten fünf Beratungen waren sicherlich zur Hälfte verweint. Danach ist es immer besser gegangen. Zuerst war die Mutter in der Beratung dabei, später hat sie sich getraut, alleine zu bleiben - die Mutter hat draußen gewartet, noch einmal später hat die Mutter sie einfach gebracht und wieder abgeholt. Nach dieser ersten Zeit des Kennenlernens haben wir gemeinsam angefangen ganz normale Bewerbungsunterlagen zu erstellen. Sie hat es am Computer mit Unterstützung geschrieben und sie hat es mit Blockbuchstaben unterschrieben. Das haben wir dann an Gastronomiebetriebe verschickt. Wir achteten darauf, dass es keine Großküchen waren, sondern kleinere Betriebe.

Offene Fragen: Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen F1 und der Arbeitsassistentin? Das Thema Arbeit ist stark mit Gefühlen besetzt. Ist es die Unsicherheit vor dem Neuen? Die Erfahrung vergangener misslungener Versuche? Die Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen? Das Empfinden der unterschiedlichen Wahrnehmungen, der eigenen und der fremden?

Zentrale Themen (Kodes): Beratungssetting, verweinte Kennenlernphase, Beziehung zur Arbeitsassistentin, Fernbleiben der Mutter, Bewerbungsschreiben mit persönlicher Unterschrift (H, Ab. 4).

Eine Gastronomie hat sich gemeldet. Sie haben gesagt: Okay, aus den Bewerbungsunterlagen geht klar hervor, dass F1 eine Frau mit besonderen Bedürfnissen ist und trotzdem wollen sie einen Vorstellungstermin. Wir haben das dann vorbereitet. Wir haben ausgemacht, dass F1 und ich als ihre Arbeitsassistentin allein das Vorstellungsgespräch durchziehen - ohne Begleitung der Mutter. Ich selber war unsicher und habe mir gedacht: "Es kann sehr leicht sein, dass wir da hineingehen und nach der Begrüßung gibt's nur noch weinen. Es wird irgendwie schwierig." Vor dem Vorstellungsgespräch hat sie auch geweint, da war sie total nervös. Dann hat sie die Personen kennengelernt und die schienen ihr recht ungefährlich vorgekommen zu sein. Zuerst ist sie nur ganz ruhig danebengesessen und nur ich habe geredet. Irgendwann ist sie aber selber eingestiegen und hat sehr souverän geantwortet. Man hat die ganze Zeit gemerkt, dass sie wirklich kämpft, aber sie hat sogar Fragen gestellt, wie z. B.: "Ob sie ein Partyservice hätten?" ... Also, ich war wirklich total überrascht und habe mir gedacht ... wauh ... ja ... (lachen) ... dann hat man ihr alles gezeigt und sie hat mit dem Geschäftsleiter gesprochen. Da kam diese Frage von wegen Behinderung. Ich bin daneben gestanden und habe mir gedacht: "... jetzt aber ... jetzt ist es vorbei ... jetzt geht's nicht mehr ohne Tränen." Ich weiss nicht, woher sie diese Kraft genommen hat. Es war ungefähr eine halbe Stunde insgesamt und ich habe zehnmal gedacht: "Jetzt muss sie einfach weinen, so wie ich sie kennengelernt habe" - aber es war nicht.

Offene Fragen: Welche Motive hat der Geschäftsführer des Betriebs? Wie ist das Betriebsklima in diesem Lokal? Wie können "ungefährliche Personen" definiert werden? Woher nimmt F1 "die Kraft" für ihr Verhalten?

Zentrale Themen (Kodes): Vorstellungsgespräch, Unsicherheiten und Überraschungen, Kontaktaufnahme aus eigener Initiative, Kraft von F1 (H, Ab. 5).

Danach haben sie beschlossen, F1 kann's probieren. Wir haben ein Arbeitstraining (Teilzeit) vereinbart, finanziert durch das AMS. Dort war es am Anfang hart, weil das AMS Kontakt zum Berufsorientierungskurs hat. Die haben zuerst einmal gesag: "Es macht keinen Sinn." Sie wurde als nicht arbeitsfähig eingestuft. Trotzdem - wir konnten herausverhandeln, dass das AMS ihr drei Monate Zeit gibt, weil's bereits diesen konkreten Arbeitsort gegeben hat.

Wir haben mit viel Arbeitsassistenz begonnen, rasch hat sich herausgestellt, dass sie mit jedem Tag gewachsen war. Am Anfang gab's ein paar Tränen, in Situationen, die ihr zu steil waren. Sie hat relativ schnell gesagt, dass es für sie okay ist, dort auch alleine zu arbeiten. Auch für die ArbeitskollegInnen war das in Ordnung. Sie haben wirklich gemerkt, "die Frau, mit der kann man umgehen - mit ihr kann man reden, man kann ihr etwas erklären". Es gab zu Beginn Bedenken, wie man mit ihr kommunizieren könne und manchmal war F1 auch allein. Dann hat sich herausgestellt, wenn F1 allein war und nicht gewusst hat, was sie tun soll, dann hat sie nicht geweint, sondern ist auf die Toilette geflüchtet. Die Leute vom Betrieb machten sich ziemliche Sorgen, weil sie für eine halbe Stunde oder so nicht mehr wiedergekommen ist. Das hat sich mit der Zeit auch wieder gegeben. Man muss dazu sagen, dass alle MitarbeiterInnen wirklich sehr gut reagiert haben. Sie haben sich Sorgen gemacht und haben sie darauf angesprochen, aber sie haben es akzeptiert. Sie hätten ja auch sagen können: "Das ist unmöglich!" - sie haben das immer als Entwicklung gesehen. "Man wird schon sehen, es wird besser werden, und sie wird sich daran gewöhnen." Da war's dann relativ schnell vorbei. Beim Nachfragen hat sich herausgestellt, dass sie auch zu Hause stundenlang auf die Toilette verschwindet. Das ist offensichtlich ihr Fluchtpunkt, wenn ihr alle anderen auf die Nerven gehen, oder sie Ruhe haben möchte. Zu Hause macht sie das immer noch - im Betrieb kommt das fast nicht mehr vor.

Offene Fragen: Wer hat ein Recht auf Arbeit? Gibt es einen Rechtsanspruch für ein Arbeitstraining und wer hat diesen Rechtsanspruch? Wie ist das Betriebsklima einzuschätzen? Wodurch unterscheiden sich die Reaktionen der ArbeitskollegInnen gegenüber dem ersten Beispiel M1 und auf welcher Basis baut dieses Verhalten auf? Welche Funktion erfüllt der Aufenthalt auf der Toilette?

Zentrale Themen (Kodes): Verhandlung mit AMS, viel Arbeitsassistenz mit rascher Reduktion, Einschätzungsproblematik, Vertrauen in Entwicklungsprozess, verantwortungsvolle Grundeinstellung der ArbeitskollegInnen, Kommunikationsfähigkeit, Vermeidungsverhalten, (H, Ab. 6).

Nach dem dreimonatigen Arbeitstraining kam es zur Anstellung. Die Leute vom Betrieb haben gesagt, sie stellen F1 an, weil sie wirklich denken, dass sie einfach gut zu ihnen passt, dass sie etwas dazulernt, dass sie diese Chance wirklich haben soll. Die Gründe waren ganz klar soziale Gründe, nicht weil sie so großartig gearbeitet hat, sondern weil vor allem auf dem sozialen Sektor etwas passiert ist. In der Kommunikation war das ganz offensichtlich. Hingegen ihre motorischen Fähigkeiten sind einfach eingeschränkt. Man merkt, dass sich in diesem Bereich etwas tut, aber sie kann auch ganz viele Dinge einfach nicht. Es hat sich herausgestellt, dass sie viele Dinge, z. B. Gemüse schälen oder schneiden - vieles davon bringt sie nicht zusammen, weil ihre Bewegungen es nur schwer erlauben. Etwas in gleich grosse Stücke zu schneiden kostet sie wahnsinnig viel Konzentration. Aber sie haben im Betrieb immer Arbeiten gefunden, die sie zusammenbringt. Da sind die Leute sehr kreativ und bereit, sie alles ausprobieren zu lassen.

Offene Fragen: Welche Kompetenzen bringt F1 mit in den Betrieb? Worin liegen ihre Stärken und Schwächen? Worin liegen die Fähigkeiten der ArbeitskollegInnen? Welchen Gewinn hat der Betrieb durch F1?

Zentrale Themen (Kodes): soziales Engagement des Unternehmers, Chance ermöglichen, Entwicklung sozialer Kompetenzen, kreativ Arbeit finden und ausprobieren, Grenzen der Arbeitsleistung (H, Ab. 7).

Int: Kannst Du etwas über ihren Kontakt zu den Arbeitskolleginnen und -kollegen erzählen?

Aass2: Wichtige Kolleginnen waren zwei Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die zwei Frauen arbeiten als Köchinnen, sie können beide nicht besonders gut deutsch, aber haben eine sehr, sehr herzliche Art, mit F1 umzugehen. F1 hat sich anfangs sehr schwer mit ihnen getan, weil sie beide sehr laut sind. Wenn sie sich nicht einig sind, dann haben sie wirklich eine Lautstärke, die jeder andere für Streit halten würde - das ist aber ganz normal (lachen). Das hat F1 am Anfang oft irritiert. Aber die familiäre Atmosphäre hat das alles wieder aufgehoben. Weiters gibt es sehr wechselndes Personal, das serviert, aber auch eine Kellnerin, die schon sehr lange und beständig da ist. F1 hat sich recht schnell an den Leuten orientiert, die immer da sind. Wir haben befürchtet, dass dieser schnelle Personalwechsel für sie sehr schwer sein wird. Das war dann eigentlich nicht der Fall, weil es diese drei Personen gab. An denen hat sie sich orientiert und die anderen mehr oder minder links liegen gelassen. Ich denke, das ist eine gute Methode, damit umzugehen. Diese zwei Frauen sind unheimlich herzlich. Sie haben eine totale Fähigkeit in der Praxis. Sie haben immer gut im Blick, was heute passieren muss und was davon F1 übernehmen kann.

Ein Beispiel: Sie sagen eben nicht - und das haben sie von Anfang an nicht getan - "Geh' und wasche jetzt die Erdbeeren!" Sondern sie nehmen F1, sagen: "Komm' mit!" stellen die Erdbeeren her, stellen die Schüssel dazu, zeigen vor und sagen: "So macht man das." Das ist genau der Weg, wie es F1 gut verstehen kann. Es funktioniert einfach gut. Zusätzlich hat F1 viel an Arbeitsassistenz bekommen, dort wo ganz konkrete Arbeitsabläufe zu erlernen waren, da waren die beiden schon überfordert, das würde auch ihren Rahmen sprengen. F1 hat z. B nicht gewusst, wie sie eine Zwiebel schälen soll, das hat man wirklich mit ihr üben müssen, nicht nur einmal sondern relativ oft, bis sie es irgendwann selber konnte. Das habe ich anfangs gemacht und dann die Arbeitsassistentin aus dem Pool.

Offene Fragen: Die zwei Bezugspersonen in der Küche sprechen nicht besonders gut deutsch und gehören durch ihre Herkunft zu eine Minderheit (Randgruppe) in unserer Gesellschaft. Welche Bedeutung hat diese Tatsache für die Beziehung zwischen F1 und den Mentorinnen? Lassen sich Bindungen herstellen, die sich zurückführen auf die gemeinsame Erfahrung von Ausgrenzung und Schwäche? (Sprachverständnis als Schwäche der beiden Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien). Wie verkraftet F1 den ungeschützten Arbeitsort, oder gibt es für sie einen Schonraum, der nicht als solcher deklariert ist?

Zentrale Themen (Kodes): Herzlichkeit, familiäre Atmosphäre, Irritation durch fremdes Verhalten (fremde Kultur), Stammpersonal, konkrete Praxis, Revidierung einer Einschätzung, Lernen am gemeinsamen Gegenstand, Kombination von Mentorin und Arbeitsassistentin im Betrieb, Offenheit des Prozesses (H, Ab. 8).

Mit ihr hat sich überhaupt eine ganz tolle Beziehung entwickelt. Die haben miteinander gearbeitet, eher nebenbei erlernt, was zu arbeiten ist, und unheimlich viele Gespräche geführt. F1 ist am Anfang immer sehr schweigsam, später kommt aus ihr meist irrsinnig viel heraus. Mit Aass4 hat sie über Gott und die Welt diskutiert. Wann man allein fortgeht und so ... es haben sich sehr viele Ideen entwickelt, was sie alles allein können möchte. Mit der Zeit hat sie auch immer mehr Dinge kritisiert, die sie zu Hause nicht entscheiden darf. Jetzt sagt sie auch zu Hause verstärkt, was ihr passt und was nicht und sie fordert, zumindest gelegentlich, ein was sie haben möchte. Ihre Mutter kann das inzwischen als positive Entwicklung sehen - es war allerdings nicht immer einfach. Ein Großteil ihrer Forderungen bezieht sich auf mehr Selbständigkeit bis hin zum Wunsch von zu Hause auszuziehen und in einer eigenen Wohnung zu leben.

Offene Fragen: Welche Ziele werden in die berufliche Integration gesetzt? Inwieweit haben nicht-arbeitsspezifische Themen Raum? Inwieweit ist eine Trennung von beruflichen und privaten Themenbereichen sinnvoll, bzw. nicht sinnvoll und auch nicht möglich? Wo liegen die Grenzen der beruflichen Integration? Was kann bzw. muss eine Begleitung am Arbeitsplatz erfüllen? Welche Bedeutung kommt der Produktivität zu? Welche Bewertung erlangen Selbständigkeit, Entwicklung sozialer Kompetenz, gesteigertes Lebensinteresse und -qualität im Prozess der beruflichen Integration?

Zentrale Themen (Kodes): Beziehung zur Arbeitsassistentin aus dem Pool, Aktualisierung von Themen ausserhalb der Arbeit, mehr Selbständigkeit und Kritik, Auseinandersetzung mit der Mutter (H, Ab. 9).

Einen zweiten grossen Wunsch äußerte F1 mit dem Anstellungsverhältnis im Betrieb. Sie möchte lesen und schreiben lernen. In einer VHS hat sie dann ein Kursangebot speziell für Menschen mit besonderen Bedürfnissen besucht, wo in Kleingruppen z. B. mit dem Computer gelernt wird, oder eben lesen, schreiben und rechnen. Sie hat den Kurs einmal in der Woche besucht und ihre Mutter erzählte, dass sie auch zu Hause am Computer viel versuchte in dieser Richtung zu lernen. Da möchte sie unbedingt weitermachen. Es gab bereits mehrere Versuche, die aber alle nicht wirklich zufriedenstellend verliefen. Im Herbst letzten Jahres begann sie einen Alphabetisierungskurs in einer anderen VHS. Das hat nicht funktioniert, weil die Leute sie dort total abgelehnt haben. Sie konnte ausserdem einfach nicht mithalten. In diesem Kurs - jetzt - hat sie sich total wohl gefühlt. Es sind Kleingruppen, die recht gut begleitet werden, wo jeder auf seinem Niveau lernen kann, wo viel mit Computer und Spielen gemacht wird. Sie hat offensichtlich wirklich das Gefühl gehabt, etwas dazugelernt zu haben, obwohl sie immer noch nicht wirklich lesen und schreiben kann.

Offene Fragen: Woher kommt die Motivation, lesen und schreiben zu lernen? Welche Voraussetzungen sind günstige Bedingungen für den Lernerfolg von F1? Wie kam es zum Misserfolg im Alphabetisierungskurs? Wer waren die anderen TeilnehmerInnen?

Zentrale Themen (Kodes): Qualifizierung durch externe Kurse der Erwachsenenbildung, Eigenmotivation zu lernen, Ablehnung und Scheitern in einem Kurs, Kleingruppen mit Begleitung (H, Ab. 10).

Int: Von dir habe ich auf dem Weg zur Arbeitsstelle von F1 erfahren, dass sie viel gelernt hat, war unter den Bereich der "sozialen" Integration fällt. Das Leben in diesem Betrieb wurde von Aass4 als "pralles Leben" bezeichnet, weil die ArbeitskollegInnen und Gäste einfach ein bunter Haufen sind, die Arbeitsweise von manchen chaotisch abläuft und manchmal Hektik in der Gastronomie nicht zu vermeiden ist. Zu einem Mann hat F1 eine ganz besondere Beziehung - kannst du davon erzählen?

Aass2: Die Geschäftsleitung dieses Betriebs ist recht unkompliziert und in ihren Handlungen sozial engagiert. Sie beschäftigen immer wieder Menschen, die in Schwierigkeiten sind, um sie dadurch zu unterstützen. Einer davon ist ein junger Mann mit der Diagnose Schizophrenie. Er ist in ständiger psychiatrischer und psychotherapeutsicher Behandlung. Der Mann arbeitet phasenweise sehr gut und phasenweise wiederum nicht. Vom Aufgabenfeld hält er sich häufig dort auf, wo auch F1 arbeitet. F1 war irgendwie von ihm fasziniert, gleichzeitig sind sich die beiden immer wieder in die Haare geraten, weil sie sich offensichtlich nicht verstehen können. Der junge Mann ist sehr gewöhnt, über seine Krankheit zu sprechen, weil er auch ständig in Behandlung ist. Er hat in seiner Art F1 ganz klar darauf angesprochen, welche Behinderung sie habe. F1 war irrsinnig verärgert und wütend, weil sie sich selber ja nicht als behindert sieht. Er hat ihr in seinem Verständnis - und ich denke, da ist er einfach durch seine Erfahrung in und mit der Psychiatrie geprägt - erklärt, dass man ruhig darüber reden kann, dass das dazugehört und dass es dann quasi besser geht, wenn man darüber redet. F1 hat sich versucht dagegen zu wehren, das hat sie mir nachher erzählt, sie hat immer wieder verneint, dass sie behindert sei. Er aber hat immer wieder erklärt, dass sie das verdrängen möchte.

Er kann da ziemlich lange daran festhalten. Irgendwann aber hat er locker gelassen. Gelegentlich spricht er es noch an, oder er versucht einen Zugang zu ihr zu finden, wenn er "gut drauf" ist. Sie kann ihn allerdings nicht recht verstehen. Er macht Witze, die sie nicht als Witze empfindet oder wenn er schlecht drauf ist, gibt er ganz merkwürdige Antworten. Sie beobachtet ihn sehr, sehr genau, weil sie kann sehr viel über ihn erzählen. Ich denke, es ist eine witzige Beziehung zwischen den beiden. F1 kann einfach nicht nachvollziehen, worin die Schwierigkeiten dieses Mannes liegen, oder warum er so ist, wie er ist. Trotzdem interessiert er sie. Umgekehrt versucht der Mann immer herauszufinden, was F1 denn eigentlich für ein Problem hat und warum sie nicht darüber reden möchte. Aber ich vermute, dass er es eigentlich auch nicht versteht. Von Zeit zu Zeit gibt es leichte Eskalationen, wo es ihr dann reicht, wo sie auch sagt, dass sie nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten will. Trotzdem ist es immer so, dass eine besondere Spannung zwischen den beiden liegt.

Offene Fragen: Was beunruhigt F1 in der Beziehung zu ihrem Arbeitskollegen? Wird sie in ihrem Selbstverständnis verunsichert? Wie sehen ihre Schutzmechanismen aus? Braucht sie von außen Schutz? Was lernt F1 in der Auseinandersetzung mit diesem Arbeitskollegen?

Zentrale Themen (Kodes): soziales Engagement des Unternehmers, Konflikte zu Arbeitskollegen, Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung, dirkete Konfrontation (kein Schonraum), Selbstverständnis, besonderes Spannungsverhältnis (H, Ab. 11).

7.3 Interpretation bezogen auf die Hauptbeteiligten

7.3.1 Interpretation bezogen auf F1

F1 ist durch ihr Verhalten sehr aktiv am beruflichen Integrationsprozess beteiligt. Von Beginn an äussert sie ihre Bedürfnisse und Wünsche in non-verbaler und verbaler Form. Non-verbale Reaktionen von F1 waren, dass ihr "in der Früh immer schlecht war", dass sie häufig weinte, oder dass sie z. B. in unklaren Situationen auf die Toilette verschwand. Im Vergleich zu M1 zeigt sich ein Verhalten, das primär nach innen gerichtet ist. Bei der Darstellung von M1 kommt stärker ein grenzüberschreitendes, nach außen gerichtets Verhalten zum Tragen. Diese Unterschiede können sowohl indiviudell-personenspezfisch, aber auch geschlechtsspezifisch interpretiert werden. Zeigt M1 ein "typisch männliches Verhalten" und F1 ein "typisch weibliches Verhalten"? Oder liegen die Unterschiede bei den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen von M1 und F1?

Zum Selbstverständnis von F1 gibt es mehrere Hinweise. Sie nimmt sich als nicht-behindert wahr (vgl. Feuser 1996) und macht das z. B. im Bewerbungsgespräch deutlich. Die Selbsteinschätzung stimmt vielfach nicht mit der Fremdeinschätzung überein. Während sie vom AMS und Berufsorientierungskurs als "zu schwach" eingestuft wird, überrascht sie die Arbeitsassistentin und die Arbeitskolleginnen im Betrieb mit ihren Leistungen. Die Unterschiede in der jeweiligen Einschätzung zeigen eine Problematik auf, die sich zwischen einem theoretischen Durchspielen der Passung eines Arbeitsplatzes und der praktischen Wirklichkeit äußert.

Das Interview dokumentiert verschiedene Entwicklungsverläufe von F1. Die Beziehungen beinhalten jeweils dynamische Prozesse und Spannungsverhältnisse im "prallen Leben" der beruflichen Integration im Betrieb. Anfangs eher schüchtern und leise, gewinnt F1 mit zunehmender Zeit Sicherheit. Von den ArbeitskollegInnen wird ihre Entwicklung in der sozialen Kompetenz betont. Die Beziehungen zu Personen, die F1 durch den Prozess der beruflichen Integration kennenlernt, eröffnen neue Lebens- und Themenbereiche. Der Kontakt zu einem jungen Mann mit Schizophrenie entpuppt sich als faszinierend, verursacht aber auch ablehnende Gefühle.

F1 lernt unterschiedliche Arbeiten durch eine vorbereitete Umgebung und durch genaues Vorzeigen der Arbeitskolleginnen kennen. Sie lernt am gemeinsamen Gegenstand (vgl. Feuser 1989). Wiederholungen der Arbeitsabläufe werden mit Unterstützung der Arbeitsassistentin durchgeführt. In außerbetrieblichen Qualifzierungsmaßnahmen übt sie lesen und schreiben. Ihre Motivation ist ungebremst, auch nach dem Scheitern in einem Alphabetisierungskurs. Der zweite Kurs, organisiert in Kleingruppen, speziell für Menschen mit Behinderungen, entspricht ihren Bedürfnissen.

Das Beispiel F1 zeigt eine komplexe Welt, in der sie lernt, sich zurecht zu finden. Mit der Arbeitssuche und dem Arbeitsantritt hat sich die Anzahl der Beziehungen erweitert (quantitativer Aspekt), gleichzeitig zeichnen sich diese Beziehungen in spezifischer Art und Weise aus (qualitativer Aspekt). Es gibt keinen Schonraum oder Menschen, die sie vor Unerwartetem und unbekannten Gefahren schützen. Sehr wohl gibt es aber Menschen (die Arbeitsassistentin, zwei Mentorinnen im Betrieb, ihre Mutter), die für sie verfügbar sind, sie begleiten und unterstützen.

7.3.2 Interpretation bezogen auf die Arbeitsassistenz

Die Beratungsgespräche von F1 mit der Arbeitsassistentin beginnen in Begleitung der Mutter. Anfangs ist das Thema Arbeit mit hohen Belastungen für F1 verbunden; sie weint öfters in den Beratungsstunden. Nach der Phase des Kennenlernens stabilisiert sich das Verhalten von F1, allmählich bleibt die Mutter den Beratungsgesprächen fern. Gemeinsam mit der Arbeitsassistentin werden Zukunftspläne entwickelt und ausprobiert. Das Angebot der Arbeitsassistenz, durch das F1 konkrete Erfahrungen sammeln kann (in der Berufsschule, im Berufsorientierungskurs, im Betrieb, in Kursen der VHS), festigen das Bild über ihre beruflichen Möglichkeiten in der gegenwärtigen Situation. Erfahrungen in unbekannten Feldern zu sammeln, bedeutet ein Risiko einzugehen. Die Haltung der Arbeitsassistentin entspricht einer "dignity of risk" (wörtlich: die Würde des Risikos; im übertragenen Sinn "Wer nicht wagt - der nicht gewinnt"); sie traut F1 zu, ihre klaren Ziele und Wünsche anzugehen und unterstützt sie dabei. Die Arbeitsassistentin setzt auf ein Entwicklungspotential im offenen Lernfeld. Diese Offenheit schliesst ein mögliches Scheitern in einzelnen Bereichen nicht aus. Sie begleitet den Prozess der Unsicherheit. Gemeinsam werden Bewerbungsunterlagen verfasst. Die Erfahrung der Arbeitsassistentin fließt ein. Die Bewerbungsunterlagen werden an kleinere Betriebe versandt, weil bei kleineren Betrieben ein persönlicheres Betriebsklima erhofft wird und das für F1 hilfreich sein könnte.

Im Umgang mit den Schwächen von F1 unterscheidet sich die Haltung der ArbeitsassistentInnen und der ArbeitskollegInnen im Gegensatz zu den BeraterInnen im Vorfeld der Arbeitsassistenz-Kontaktaufnahme. Während die Arbeitsassistentin von negativen Rückmeldungen an F1 berichtet (bezüglich ihrer Lese- und Schreibschwäche, ihrer Motorik), finden die Schwächen am konkreten Arbeitsort vorerst kaum Beachtung. Die Arbeitsassistentin lässt sich immer wieder überraschen von den Fähigkeiten und Möglichkeiten von F1. Besonders augenscheinlich wird das während des Bewerbungsgesprächs mit dem Geschäftsleiter des Gastronomiebetriebs: "... jetzt aber ... jetzt ist es vorbei ... jetzt geht's nicht mehr ohne Tränen." Ich weiss nicht, woher sie diese Kraft genommen hat. Es war ungefähr eine halbe Stunde insgesamt und ich habe zehnmal gedacht: "Jetzt muss sie einfach weinen, so wie ich sie kennengelernt habe" - aber es war nicht."

Die Arbeitsassistentin verhandelt mit dem AMS um ein Arbeitstraining. Sie schlüpft in die Rolle einer Anwältin für F1. Die Verhandlungen erweisen sich als schwierig, weil F1 als "nicht arbeitsfähig" eingestuft wurde. Letztlich gelingt es trotzdem, die gewünschte vertragliche Vereinbarung zu erwirken, weil ein Arbeitsort zur Verfügung steht. Überraschend kann die Begleitung im Betrieb bald reduziert werden. F1 findet sich innerbetrieblich schnell zurecht.

Die Arbeitsassistentin Aass2 ist als hauptamtliche Angestellte erste Bezugsperson für die berufliche Integration von F1. Bald übernimmt jedoch die Arbeitsassistentin aus dem Pool (Arbeitsassistentin in geringfügiger Beschäftigung) die Begleitung von F1 im Betrieb. Es entwickelt sich eine freundschaftliche Beziehung. F1 und Aass4 führen viele Gespräche über das Leben. Mit der Arbeitsassistentin werden Themen diskutiert, die für das Erwachsen-werden wichtige Bedeutung haben, z. B. die Frage nach der Selbständigkeit, dem Ausgehen oder nach der Wohnform. Es scheint fast so, als ob zeitweilig die Arbeit zur Nebensache wird. Die Begleitung und Unterstützung beschränkt sich nicht auf den Ablauf und das Erlernen von Arbeitsprozessen, sondern stellt F1 mit ihren umfassenden Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Konzeptuell bedeutet das, dass die Arbeitsassistenz von "Integration Wien" den Übergang von der Schule (Jugendalter) hin zum Beruf und ins Erwachsenenalter begleitet.

7.3.3 Interpretation bezogen auf den Betrieb

Nach Einsicht der Bewerbungsunterlagen ist die Geschäftsleitung des Betriebs bereit, F1 für ein Vorstellungsgespräch einzuladen. Die Arbeitsassistentin beschreibt den Verlauf des gemeinsamen Gesprächs positiv: "Die Geschäftsleitung hat ein sehr gutes Gespräch geführt." Der Unternehmer muss sowohl Menschenkenntnis als auch Einfühlungsvermögen gezeigt haben, dass sich ein konstruktiver Gesprächsverlauf mit F1 entwickeln konnte (im Nachhinein erfahre ich, dass der Unternehmer selbst eine Tochter mit Behinderung hat). F1 kämpft in der Situation gegen ihre Nervosität an und fühlt sich gleichzeitig gestärkt durch eine betriebliche Atmosphäre, die sie positiv erlebt.

Im Betrieb erhält F1 zwei Mentorinnen als Bezugspersonen. Von ihnen bekommt sie die meisten Arbeitsaufträge und von ihnen wird sie hauptsächlich eingeschult. Die Einschulung von Seiten der Mentorinnen erfolgt hauptsächlich intuitiv, gelernt wird am gemeinsamen Gegenstand in einer vorbereiteten Umgebung. Das Anlernen erfolgt im Tun (handelnd). Arbeit wird kreativ für F1 gefunden. Die Mentorinnen haben den Mut, F1 Dinge ausprobieren zu lassen. Für sie ist diese Art und Weise sehr passend. Die familiäre Atmosphäre erzeugt Wohlbefinden. Das Interview lässt insgesamt den Schluss zu, dass im Betrieb ein gutes Klima vorhanden ist. Das soziale Engagement bzw. die Verantwortlichkeit der BetriebsmitarbeiterInnen und das Verständnis um Entwicklungsprozesse zeigt sich in mehreren Aussagen der Arbeitsassistentin. Ein Beispiel ist das ungewöhnlich lange Ausbleiben von F1 auf der Toilette. Die Arbeitsassistentin erklärt: "Das hat sich mit der Zeit auch wieder gegeben. Man muss dazu sagen, dass alle MitarbeiterInnen wirklich sehr gut reagiert haben. Sie haben sich Sorgen gemacht und haben sie darauf angesprochen, aber sie haben es akzeptiert. Sie hätten ja auch sagen können: ‚Das ist unmöglich!' - sie haben das immer als Entwicklung gesehen. ‚Man wird schon sehen, es wird besser werden, und sie wird sich daran gewöhnen.'"

F1 wird zuerst einmal in ihrem So-Sein akzeptiert, es wird ihr Zeit gegeben. Der Leistungsaspekt steht auch von Seiten des Betriebes nicht im Vordergrund. Im Mittelpunkt steht F1 als Mensch mit vielen Entwicklungspotentialen. Von den ArbeitskollegInnen werden die Entwicklungsschritte erkannt und gutgeheißen. Es ist ein Wechselspiel von Anerkennung und Stärkung des Selbstbewusstseins, das F1 in dieser Zeit erfährt. Bei Unklarheiten kommt es zu Aussprachen. Z. B. werden die Toiletten-Besuche in einer passenden Form wahrgenommen und angesprochen, so dass F1 davon ablassen kann.

Sie kommt mit Gästen mit ganz unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zusammen. Durch die Beratung und Begleitung der Arbeitsassistenz und durch die Beziehung zu ihren Mentorinnen ist sie dem "prallen Leben" im Gastronomiebetrieb gewachsen. Während meines Besuchs im Betrieb machte ich auf die hektischen und teils chaotischen Zustände aufmerksam. Als Außenstehendem schien mir wenig Systematik und Arbeitsstruktur erkennbar - trotzdem funktioniert die berufliche Integration, und trotzdem fühlt sich F1 im Betrieb wohl. Vermutlich trägt ein passendes Betriebsklima stärker zur erfolgreichen Integration bei, als eine bis ins kleinste Detail strukturierte Arbeitsumgebung. Diese Aussage bedeutet nicht, dass auf unterstützende Strukturhilfen verzichtet werden darf. Aber sie soll die Illusion nehmen, dass eine klare Struktur eine Garantie für den Erfolg darstellt.

7.3.4 Interpretation bezogen auf die Eltern

In der Geschichte von F1 wird nur die Mutter genannt, der Vater scheint nicht anwesend zu sein. Die Mutter bietet ihr viel Unterstützung und Förderung. Sie zeigt sich sensibel für die Bedürfnisse von F1. Nachdem F1 in der Beschäftigungstherapie sehr unglücklich ist sucht die Mutter nach Alternativen und nimmt Kontakt zur Arbeitsassistenz von Integration Wien auf. Nachdem der Erstkontakt gemeinsam mit der Mutter erfolgte, beginnt F1 immer selbständiger das Angebot der Arbeitsassistentin anzunehmen.

Durch die Arbeit von F1 werden Themen aktualisiert und nach Hause gebracht, die Auseinandersetzungen um Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zur Folge haben. "Mit der Zeit hat sie auch immer mehr Dinge kritisiert, die sie zu Hause nicht entscheiden darf. Jetzt sagt sie auch zu Hause verstärkt, was ihr passt und was nicht und sie fordert, zumindest gelegentlich, ein was sie haben möchte. Ihre Mutter kann das inzwischen als positive Entwicklung sehen ... ". Die Auseinandersetzungen können als Zeichen eines Loslösungsprozesses verstanden werden. F1 will erwachsen werden. Sie sucht nach eigenen Wegen. Am Anfang hatte die Mutter Mühen, aber nun begrüßt sie die Schritte ihrer Tochter in die Selbständigkeit. Auch wenn aus dem Interview nicht klar ersichtlich wird, so erfolgten ebenfalls begleitende Beratungsgespräche zwischen der Mutter und der Arbeitsassistentin.

7.4 Neue Kategorien in der Darstellung von F1

Die Tabelle ergänzt neue Kategorien (zu den ersten Kategorien: siehe M1) aus der Geschichte von F1. Nach der Rekonstruktion aller vier Beispielgeschichten erfolgt die komplette Aufstellung und Systematisierung aller Kategorien, aus denen ich dann Schlüsselkategorien[8] entwickle.

Erweiterung von Lebensthemen und -bereichen

Loslösungsprozess von zu Hause

Weitere Qualifikationswünsche

Arbeit wird als bedeutsam erlebt (innere Motivation)

Auseinandersetzungsprozesse, Konfrontationen

Spannungsverhältnis: Fremdbild - Selbstbild

Erfahrung von Stärken bzw. Schwächen (Überraschungen erleben)

Unterstützung durch Arbeitsassistentin aus dem Pool

Prinzip: plazieren und dann qualifizieren

Passende Beziehungsverhältnisse zu ArbeitskollegInnen

freundliches Betriebsklima

Hauptfaktor der Anstellung: individuelles Entwicklungserlebnis

Klein- bzw. Mittelbetrieb



[7] F1 = anonymisiertes Kürzel für eine weibliche Person

[8] Eine Schlüsselkategorie besteht aus ähnlichen Einzelkategorien und bildet eine übergeordnete Kategorie.

8 Das Beispiel M2

8.1 Vorbemerkung

Die Darstellung und Auswertung erfolgt aus der Sicht der Arbeitsassistentin. Persönliche Gespräche und Aufzeichnungen, Berichte an das AMS sowie Aktenvermerke bilden die Grundlage für die folgende Rekonstruktion. Nachdem sich abzeichnete, das M2 nicht im vorgesehenen Betrieb angestellt werden kann, wurden gemeinsam mit der Arbeitsassistentin neue Bewerbungsschreiben verfasst. Letztlich erhielt M2 einen Ausbildungsplatz als Landschaftsgärtner. Im Juni 1999 habe ich an einem Beratungsgespräch der Arbeitsassistentin mit M2 teilgenommen. Zwei Sequenzen aus dieser Stunde werden ebenfalls dokumentiert. Das Beispiel M2 zeigt, dass es nicht nur darum gehen kann, Arbeit zu finden, sondern auch darum, dass die angebotene Arbeit den Bedürfnissen der Person entspricht.

Quellenangaben:

Auszug aus den Darstellungen des Arbeitstrainings (Dokument I)

neues Bewerbungsschreiben (J)

Notizen, ein Beobachtungsprotokoll, eine Arbeitsbewertung (K)

Auszug aus Aktenvermerken der Arbeitsassistentin (L)

8.2 Rekonstruktion, offene Fragen und Kodes

8.2.1 Kennzeichen

Zur Person:

Mann bis 19 Jahre

Pflichtschulabschluss:

Integrationsklasse einer HS

Arbeits-/Berufserfahrungen:

nein

Beschreibungszeitraum:

Juli 1998 - Mai 2000; 22 Monate

Status zu Beginn des

Beschreibungszeitraums

Beginn des Arbeitstrainings; 20 Std./Woche

Status am Ende des Beschreibungszeitraums:

Ausbildungsplatz: Anlehre

Tätigkeitsfeld:

Landschaftsgärtner

8.2.2 Darstellung des Arbeitstrainings (I)

M2 besuchte die Integrationsklasse einer Hauptschule. In seiner Freizeit treibt er Sport, was ihn bis zur Teilnahme an den Special Olympics führte. Noch während der Schulzeit machte er ein Praktikum in einem Sportzentrum. Dort lernte er das Arbeitsfeld eines Platzwartes kennen. Mit Unterstützung der Arbeitsassistenz gelang es, nach Abschluss der Schule ein Arbeitstraining zu beginnen. Gemeinsam mit der Betriebsleitung und der Arbeitsassistentin wurde ein Schulungsplan erstellt und M2 begann für 20 Stunden/Woche zu arbeiten. Das vereinbarte Setting umfasste zwei innerbetriebliche Mentoren und die Begleitung durch die Arbeitsassistentin am Arbeitsort. Das Arbeitstraining dauerte - durch Verlängerung insgesamt 12 Monate. Ich beziehe mich im Folgenden primär auf die schriftliche "Darstellung und Auswertung des Arbeitstrainings".

Juli - September

In der ersten Phase wird M2 drei Mal in der Woche am Arbeitsort durch die Arbeitsassistentin unterstützt (12 Stunden). Er erlernt einfache Reinigungsarbeiten im Bereich der Sauna, der Garderoben und der Veranstaltungsräume. Diese Arbeiten werden nach der Einschulungszeit allein von ihm ausgeführt, alle nötigen Geräte und Putzmittel sind M2 bekannt. Ebenfalls selbständig säubert er die Anlage von Abfällen und leert die entsprechenden Behälter. Andere Arbeitsabläufe werden gemeinsam mit den Platzwarten ausgeführt, z. B. Rasenmähen, Düngen, Reparatur- bzw. Instandsetzungsarbeiten. Nach einem Monat Einarbeitungszeit reduziert sich die Arbeitsassistenz vor Ort auf einen Tag pro Woche. Diese Unterstützung wird in weiterer Folge flexibel angeboten, je nach Bedarf. Beim Erschließen eines neuen Arbeitsbereiches steigert sich die Begleitung am Arbeitsplatz bis zu drei Tage pro Woche.

Die Umstellung vom Schul- zum Arbeitsalltag wird für M2 dadurch erleichtert, dass er die Sportanlage bereits aus seiner Schulzeit kannte und ihm deshalb das Umfeld vertraut war. Den Arbeitsort erreicht er nach kurzer Zeit selbständig und pünktlich. Die innerbetrieblichen Strukturen und Zuständigkeiten wurden rasch selbstverständlich. Durch den Umstand, dass zwei Platzwarte die Anlage betreuen, lernt M2 unterschiedliche Arbeitsweisen kennen. Diese Differenz bereitet ihm anfangs Schwierigkeiten und wurde Thema in mehreren Gesprächen mit der Arbeitsassistentin. Die Auseinandersetzung finden sowohl innerbetrieblich, als auch außerhalb seiner Arbeitszeit, im Rahmen von Beratungsgesprächen statt.

In den ersten drei Monaten ist das Verhältnis von M2 zu seinen Arbeitskollegen unauffällig. M2 meint in einem Beratungsgespräch dazu: "Es passt eh!" Bei der Arbeit kristallisiert sich heraus, dass er sich besonders für alle Tätigkeiten im freien Gelände interessiert. In dieser Zeit nimmt er auch am Betriebsausflug teil und lernt die Kollegen außerhalb der Arbeitssituation kennen.

M2 kommt laut Anwesenheitsliste regelmässig zur Arbeit und ist nie krank.

Offene Fragen: Wie gestaltet sich die Beziehung zu seinen ArbeitskollegInnen? Worin liegen die Stärken und Schwächen von M2?

Zentrale Themen (Kodes): Aufgabenbeschreibung, Berufseinsteig durch Hobby, flexible Unterstützung, kennenlernen unterschiedlicher Arbeitsweisen, Schwierigkeiten, Teilnahme am Betriebsausflug, Interesse an der Arbeit im Gelände, lernt ständig dazu, nie krank (I, Ab. 1).

Oktober - Dezember

Den Arbeitsalltag bewältigt M2 erfolgreich. Die bereits erlernten Arbeitsabläufe werden mit wachsender Routine ausgeführt. Durch die Jahreszeit bedingt, fallen viele Arbeiten im Freien an (Laub entfernen, Laufbahnen von Unkraut befreien, Sand in Sprunganlagen nachfüllen, ...). Diese Arbeiten macht M2 sehr gerne. Als neues Aufgabengebiet wurde das "Abziehen" der Tennisplätze und das Aufbringen von neuem Sand erprobt. M2 lernt handwerklich (durch Instandsetzungarbeiten) sehr viel von den erfahrenen Platzwarten. Die intensiveren Reinigungsarbeiten im Winter lassen seine Vorlieben in der Arbeit erkennen. Er bevorzugt Arbeiten im Freien.

M2 wird von seinen Kollegen akzeptiert, das Betriebsklima ist gut. Er gewinnt an Selbstsicherheit, was sich u. a. daran zeigt, dass er sich erstmals entscheidet, an einem Arbeitsgespräch mit den beiden Mentoren und dem Leiter des Betriebs teilzunehmen. Die Gesamtentwicklung wird dabei von allen Beteiligten als sehr positiv geschildert. In Zukunft wird geplant, die Aufgabenbereiche von M2 noch klarer zu formulieren. Seine Verantwortlichkeit und Selbständigkeit erlaubt eine Reduzierung der Arbeitsassistez auf ein Mal pro Woche. Bei weiterem positiven Verlauf stellt die Geschäftsleitung erstmals eine Anstellung in Aussicht.

M2 kommt - auch in dieser Zeit - laut Anwesenheitsliste regelmässig zur Arbeit und ist nie krank.

Offene Fragen: Warum dauert es mehrere Monate, bis M2 zum ersten Mal an einem Arbeitsgespräch im Betrieb teilnimmt? Was ist das Besondere daran? Wie hat sich die Arbeitsassistentin bis zu diesem Zeitpunt verhalten? Hat sie einfach nur Zeit gegeben, damit er sich selbständig dafür entscheiden kann? Welche Grundhaltung steckt dahinter?

Zentrale Themen (Kodes): erfolgreiche Arbeitsbewältigung - Routine, Erweiterung des Aufgabenfeldes, lernt handwerklich viel von Arbeitskollegen, gutes Betriebsklima, Grundhaltung positiv, Anstellung in Aussicht, formulieren klarer Aufgabenbereiche (I, Ab. 2)

Jänner - März

Nachdem im Dezember eine Anstellung in Aussicht gestellt wird, erfolgt die konkrete Planung der nächsten Schritte. Die Arbeitsassistentin und die Geschäftsleitung besprechen die Möglichkeit einer Förderung des Landes (Lohnkostenzuschuss) und erstellten eine Kostenrechnung des Arbeitsplatzes. Die betriebliche Budgetplanung bringt das Ergebnis, dass eine Anstellung nur dann möglich wird, wenn M2 die nicht fix angestellte Reinigungskraft ersetzt. Er erhält den erweiterten Aufgabenbereich, alle anfallenden Reinigungsarbeiten in den Gebäuden zu übernehmen.

In einer Erprobungsphase wird ein klarer Putzplan erstellt und mit intensiver Begleitung der Arbeitsassistentin umgesetzt (drei Mal pro Woche). Aus dem Bericht an das AMS: " ... [M2] bemüht sich sehr, diesen neuen Anforderungen gerecht zu werden. Allerdings wurde schon bald deutlich, dass er mit seiner veränderten Arbeitssituation zunehmend unzufrieden war. Er hat immer besonders gerne im Freien gearbeitet und dass er nun fast ausschliesslich im Haus und zum Putzen eingeteilt wurde, war sehr frustrierend für ihn. In einigen Gesprächen mit ihm und seinen Angehörigen wurden Lösungsvorschläge gesucht. ... Es stellte sich heraus, dass [M2] sich nicht vorstellen kann, diese Tätigkeiten für die nächsten Jahre auszuüben."

Laut Anwesenheitsliste fällt in dieser Zeit M2 wegen Krankheit für sechs Tage aus.

Offene Fragen: Was kann geschehen, wenn die Passung zwischen Arbeitswirklichkeit und konkreter Arbeitsfähigkeit nicht übereinstimmt? Wird dieser Prozess der Abklärung als Misserfolg in der beruflichen Integration definiert? Wie und wo kann individuell sinnvolle Arbeit für Menschen mit Behinderungen gefunden werden?

Zentrale Themen (Kodes): Abklärung des betrieblichen Bedarfs, Festlegung des Aufgabenbereichs: Reinigung, intensive Begleitung, Unzufriedenheit und Frustration, Abklärung von Berufswünschen, Krankheit (I, Ab. 3).

8.2.3 Neues Bewerbungsschreiben (J)

Der Plan einer Anstellung nach dem Arbeitstraining musste wegen der Nicht-Passung des angebotenen Arbeitsfeldes aufgegeben werden. Neu intensivierte Beratungsgespräche der Arbeitsassistentin führten zur Anmeldung und Bewerbung an einem Gartenprojekt zur beruflichen Integration. M2 verfasste im März gemeinsam mit der Arbeitsassistentin das folgende Bewerbungsschreiben (Auszug):

"Seit ... arbeite ich im Rahmen eines Arbeitstrainings, das vom Arbeitsmarktservice ... finanziert wird. ... Die Arbeiten im Freien, die Betreuung und Säuberung der Grünflächen und Sportanlagen liegen mir besonders. Leider hat sich durch personelle Veränderungen mein Arbeitsfeld nun geändert und deshalb möchte ich gerne meinen Arbeitstrainingsplatz wechseln. Ich interessiere mich sehr für die Arbeit in Gärten und Grünanlagen, bin kräftig, ausdauernd und kann sehr gut mit Arbeitskollegen auskommen. ... Über ein persönliches Vorstellungsgespräch würde ich mich freuen."

Die Reaktion auf die Bewerbung verläuft positiv. Die bereits gemachten Erfahrungen im Gartenbereich kommen laut Auskunft des Projektleiters M2 zugute. Die Chancen auf Aufnahme sind für M2 sehr hoch, trotz zahlreicher Bewerber (ca. die Hälfte der Bewerber wird aufgenommen).

Nachdem neue Perspektiven auftauchen, kommt es im bestehenden Arbeitstraining zur Vereinbarung, M2 wieder vermehrt im Außenbereich zu Garten- und Reinigungsarbeiten einzusetzen. In diesem Bereich erweitert er nun seine Fähigkeiten. Gleichzeitig nützt er die Zeit und erhält für das nächste Arbeitsvorhaben eine passende Vorbereitung.

Offene Fragen: Woher nimmt M2 die Motivation, neue Arbeit zu suchen? Was erwartet er sich durch die Arbeit?

Zentrale Themen (Kodes): intensive Beratungsphase, neue Bewerbungen, erhöhte Chance durch Arbeitserfahrung, neue Vereinbarungen und Vorbereitung (J).

8.2.4 Abschlußphase - Notizen, ein Beobachtungsprotokoll und eine Arbeitsbewertung (K)

20.4.1999

Beratungsgespräch mit M2 (Notiz der Arbeitsassistentin): Das Thema bezieht sich auf die Arbeit und den verstärkten Einsatz im Freien. Mit einem Arbeitskollegen gibt es in letzter Zeit Schwierigkeiten. M2 spricht darüber, dass er immer wieder mit negativen Sprüchen belästigt wird. M2 erzählt weiters, dass sein Mentor mit ihm meist zufrieden sei. Derzeit will im Betrieb niemand über das Thema "Weggehen" reden. M2: "Ich auch nicht."

Auf das neue Gartenprojekt freut er sich.

6.5.1999

Beratungsgespräch mit M2 (Notiz der Arbeitsassistentin): Er spricht über einen Arbeitskollegen. Nachdem der Arbeitskollege herausgefunden hat, dass M2 kaum lesen und schreiben kann, gibt er "blöde Meldungen" von sich, z. B.: "Mit 30 bist Sandler am Westbahnhof!" - "Dein Hirn ist so winzig wie 'ne Haselnuss!" Die Mutter von M2 macht sich Sorgen. M2 nimmt die Situation eher gelassen und meint heute: "Dieser Kollege sei nicht ernst zu nehmen - sein Mentor sage das auch ..."

16.6.1999

Beratungsgespräch (Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll): M2 zeigt sich zufrieden und selbstsicher. Die Schwierigkeiten mit seinem Arbeitskollegen haben sich etwas gelegt. Die Inhalte des Gesprächs beziehen sich auf die kommenden Schnuppertage und dem Abschied vom derzeitigen Arbeitsort.

Arbeitsassistentin: "Was wir heute besprechen können, ob du vor deinem Weggang mit den Arbeitskollegen und der Geschäftsleitung noch einmal reden möchtest."

M2: [Stille] "Ja, wär' schon gut."

Die Arbeitsassistentin organisiert noch ein Verabschiedungsgespräch mit allen Beteiligten. Vom Arbeitgeber erhält M2 zum Abschied eine schriftliche Arbeitsbewertung: "(...) M2 hat sich nach einer kürzeren Einschulungsphase, in Begleitung mit den Mitarbeiterinnen von Integration Wien, im Bereich von Reinigungsdiensten und Gartenarbeiten im Rahmen einer großen Sportanlage als durchaus wertvoller Mitarbeiter bestätigt. Vor allem in direkter Zusammenarbeit mit den Platzbetreuern konnten vielerlei Arbeiten mit seiner Unterstützung rascher erledigt werden. Einige Aufgabenbereiche wurden ihm zur alleinigen Verantwortung anvertraut und von ihm auch über die gesamte Beschäftigungszeit anstandslos erledigt. Weiters zeichnete er sich als fröhlicher und liebenswerter junger Mensch aus. Wir wünschen ihm auf seinem Berufsweg viel Erfolg (...)".

Offene Fragen: Inwieweit verändert eine sichtbare Behinderung das Verhalten von ArbeitskollegInnen? Welche Vor- bzw. Nachteile ergeben sich für den Menschen mit Behinderung, wenn von Beginn an die Behinderung offensichtlich bzw. versteckt ist?

Zentrale Themen (Kodes): Belästigung durch Arbeitskollegen, Behinderung, Abschied, Sorge der Mutter, Stärkung durch Mentor, Gelassenheit von M2, offene Haltung der Arbeitsassistentin, Entscheidungsfreiheit von M2, Organisation - Vermittlung der Arbeitsassistentin (K).

8.2.5 Neubeginn - Zusammenfassung von Aktenvermerken

Nach dem Abschluß und den Schnuppertagen im neuen Gartenprojekt ist es Juli und damit Urlaubszeit. Die Entscheidung für die endgültige Aufnahme wurde bis Ende August in Aussicht gestellt. M2 entwickelt jedoch nach den Schnuppertagen ablehnende Gefühle den anderen ProjektteilnehmerInnen gegenüber. Deshalb beginnt die Arbeitsassistenin eine neue Arbeitsorientierung mit M2. An mehreren Terminen werden gemeinsam Zukunftsperspektiven erarbeitet, Arbeitsplätze gesucht und neue Bewerbungen aufgesetzt. Die Arbeitsassistentin organisiert für M2 eine Freizeitbegleiterin, gleichzeitig geht die Suche nach beruflichen Möglichkeiten weiter. Im Jänner kommt es zu einer vielversprechenden neuen Möglichkeit. M2 hat in einem Ausbildungsheim für Jugendliche eine Schnupperwoche zugesagt bekommen, die eine Lehre als Landschaftsgärtner anbieten. Nach intensiven organisatorischen Abklärungen (Organisation der Kostenübernahme durch die MA 12 gemäß §§ 9 und 24 des Wiener Behindertengesetzes - Hilfe zur beruflichen Eingliederung mit Internatsunterbringung) beginnt M2 Mitte Februar im Ausbildungsheim. Nach regelmäßigem telefonischen Austausch der Arbeitsassistentin mit M2, der Mutter und den Lehrern wird im April die Lehre in eine Anlehre umgewandelt (= Ausbildung ohne Leistungsdruck der Lehre). Im Mai wird die Begleitung von M2 unter der Kategorie "Clearing - Berufsausbildung" abgeschlossen.

Offene Fragen: Inwieweit zählt die Organisation einer Freizeitbegleitung zur Aufgabe der Arbeitsassistenz? Welche anderen Möglichkeiten gibt es, um eine Tagesstruktur zu gewährleisten? Wie könnte eine Nachbegleitung aussehen? Wann ist die Nachbegleitung notwendig bzw. überflüssig?

Zentrale Themen (Kodes): weitere Schnuppertage, intensive Beratungsphase, Erarbeitung von Zukunftsperspektiven, neue Bewerbungen, Freizeitbegleitung, Abklärung der Finanzierung, Lehre - Anlehre, Clearing Berufsausbildung (L).

8.3 Interpretation bezogen auf die Hauptbeteiligten

8.3.1 Interpretation bezogen auf M2

M2 findet seinen ersten Arbeitsplatz durch sein Hobby. Die Kontaktaufnahme erfolgte bereits in der Schule und wurde darüber hinaus von der Arbeitsassistentin begleitet. M2 zeigt keine sichtbare Behinderung. Er erlebt einen zufriedenen Arbeitseinstieg und fühlt sich offensichtlich wohl, wenn er Arbeiten im Freien ausüben kann. Öfters wird beschrieben, dass M2 in dieser Phase sehr viel von seinen Mentoren lernt, und dass immer wieder neue Arbeitsaufgaben von ihm übernommen werden. Bei der Konkretisierung eines Dauerarbeitsplatzes kommt es zu einer Verschiebung der Arbeitsaufgaben. Der Versuch im Reinigungsdienst weiterzuarbeiten, wird von M2 trotz intensiver Begleitung durch die Arbeitsassistenin abgelehnt. M2 zeigt durch seine Unzufriedenheit, dass er sich diese Arbeit für die Zukunft nicht vorstellen kann. Selbst mit dem Risiko keine neue Arbeit zu finden, entscheidet er sich gegen eine Anstellung im Betrieb.

Die nicht-sichtbare Behinderung konfrontiert M2 im Verlauf des Arbeitstrainings mit verbalen Attacken eines Arbeitskollegen. Mehrmals ist diese Auseinandersetzung Thema in der Beratung mit der Arbeitsassistentin, er bleibt dabei ziemlich locker. Insgesamt scheint M2 ein gutes Verhältnis zu seinen Mentoren zu haben, die ihm zur Seite stehen (z. B. Unterstützung in der Bewertung der negativen Sprüche des Arbeitskollegen). Der Chef beschreibt in der Arbeitsbewertung M2 als fröhlichen und liebenswerten Menschen, vielleicht ein Zeichen dafür, dass die beruflichen Beziehungen gepasst haben. Für das Abschlussgespräch entscheidet sich M2 bewusst, die offene Frage der Arbeitsassistentin beantwortet er klar mit einem Ja.

M2 ist nach seinem ersten Arbeitstraining einige Monate ohne Arbeit und damit auch ohne fixe Tagesstruktur. In dieser Zeit hat er Schnupperpraktikas und mehrere Bewerbungen durchgeführt. Mit der neuen Freizeitbegleitung wird vorläufig gemeinsame Zeit gestaltet, bis sich eine Ausbildungsmöglichkeit als Landschaftsgärtner anbietet. M2 wird in einem Ausbildungsheim aufgenommen und beginnt eine Lehre bzw. Anlehre.

8.3.2 Interpretation bezogen auf die Arbeitsassistenz

Die Arbeitsassistentin übernimmt die bereits bekannten Aufgaben im Prozess der beruflichen Integration: Beratung und Begleitung, vielfältige organisatorische Aufgaben, Arbeitsplatzeinarbeitung, Vermittlung zwischen M2 und dem Betrieb, gemeinsames Abwickeln von Bewerbungen. Neu in dieser Rekonstruktion ist der erweiterte Bezug der Arbeitsassistentin. Sie vermittelt eine Freizeitbegleitung für M2. Außerdem zeigt die Darstellung eine langfristige Begleitung von fast zwei Jahren auf. (Laut AMS werden Jugendliche ab einem halben Jahr als Langzeitarbeitslose gezählt, Erwachsene gelten ab einem Jahr als Langzeitarbeitslose. Statistisch gesehen verringern sich die Chancen auf einen Arbeitsplatz bei Langzeitarbeitslosen.) Die Arbeitsassistentin ist nicht darauf aus, M2 unbedingt auf einem Arbeitsplatz zu halten, sondern lässt ihm die Freiheit zur Entscheidung. Diese Grundhaltung der Wahlfreiheit für M2 zeigt sich auch im Beratungsgespräch. M2 erhält offene Fragen, die Arbeitsassistentin überlässt z. B. die Entscheidung eines Abschiedsgespräch dem Jugendlichen.

8.3.3 Interpretation bezogen auf den Betrieb

Das Betriebsklima kann als recht gut und offfen bezeichnet werden. Aus der Darstellung werden keine größeren Schwierigkeiten bekannt, M2 wird akzeptiert. Die innerbetrieblichen Mentoren erscheinen durchwegs als positives Vorbild. Am Betriebsausflug nimmt M2 mit Begeisterung teil. Nachdem versucht wird eine Anstellung durchzusetzen, muss jedoch erkannt werden, dass die vorgesehene Aufgabe M2 nicht entspricht. Wiederum bleibt der Betrieb offen und verändert das Arbeitsfeld von M2, damit er für die Zukunft eine passende Vorbereitung erhält (Wechsel von Reinigungsarbeiten zu mehr Aufgaben im Freien). Die Arbeitsbewertung am Ende des Arbeitstrainings ist in freundlichen Worten verfasst. In den Beratungen kommt eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten Arbeitskollegen, der abfällige Bemerkungen äußert, zur Sprache. Diese Peson wird selbst im Betrieb nicht ernst genommen und braucht vielleicht daher M2 als Gegenüber, das weniger kann (nämlich nicht lesen und schreiben).

8.3.4 Interpretation bezogen auf die Eltern

Die Mutter macht sich Sorgen wegen den abfälligen Äußerungen gegenüber ihrem Sohn, der selbst eher keine Probleme damit hat. Insgesamt tritt die Mutter in der Darstellung kaum in Erscheinung. (Die Gründe dafür liegen aber eher in der Auswahl der Daten und nicht in der tatsächlichen Abwesenheit. Laut Aktennotizen war die Mutter immer um die Fortsetzung der beruflichen Integration bemüht.) Erst am Ende des Begleitungsprozesses als sich M2 bereits im Ausbildungsheim befindet, wird sie wieder erwähnt. Die Arbeitsassistentin tauscht sich in dieser Phase einige Male telefonisch mit ihr aus. Durch die Internatsunterbringung ist M2 von zu Hause weggekommen, was einen möglichen weiteren Schritt zu mehr Selbständigkeit bedeuten kann.

8.4 Neue Kategorien in der Darstellung von M2

Arbeitsplatzwechsel - Klärung

Phase der Unzufriedenheit / Frustration / Krise

Differenz zwischen Arbeitsplatzangebot und -vorstellung

Nicht-sichtbare Behinderung

Langfristige Begleitung

Freizeitgestaltung - Unterstützung in der Tagesstruktur

Warnung

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9 Das Beispiel F2

9.1 Vorbemerkung

Das Beispiel F2 zeigt den Verlauf einer Arbeitssuche und die anschließende Aufnahme in einem großen Möbelhaus. F2 hat die "Allgemeine Sonderschule" absolviert und suchte eine Anstellung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Bisherige Vermittlungsversuche blieben erfolglos. Die Darstellung beschreibt den Veränderungsprozess von F2. Anfangs schüchtern und introvertiert, kann sie durch die Erfahrungen im beruflichen Leben ihr Selbstbewusstsein stärken.

Folgende Quellen werden für die Darstellung verwendet:

Interviewauszug mit der Arbeitsassistentin im April 1999 (M)

Auszug aus dem Arbeitszeugnis (N)

Verlaufsskizze aufgrund persönlicher Gespräche mit der Arbeitsassistentin (O)

Auszug eines Beobachtungsprotokolls aus einer Beratungsstunde (P)

Aufzeichnungen der Arbeitsassistentin (Q)

9.2 Rekonstruktion, offene Fragen und Kodes

9.2.1 Kennzeichen

Zur Person:

Frau bis 19 Jahre

Pflichtschulabschluss:

Allgemeine Sonderschule

Arbeits-/Berufserfahrungen:

ja

Beschreibungszeitraum:

Jän. 98 - März 00; 26 Monate

Statuts zu Beginn des Beschreibungszeitraums:

Arbeitsplatzsuche

Status am Ende des Beschreibungszeitraums:

30 Stunden Anstellungsverhältnis; 50 % Lohnkostenzuschuss

Tätigkeitsfeld:

Bistro in Möbelhaus

9.2.2 Erstes Arbeitstraining (M)

Interviewauszug mit der Arbeitsassistentin

Aass3: Als ich im Jänner 1998 angefangen habe zu arbeiten, ist auch F2 am Beginn der Begleitung gestanden. Meine Arbeitskollegin hat sie im Dezember kennengelernt. Ich habe F2 als eine sehr schüchterne, introvertierte junge Frau erlebt, die sich schwer getan hat mit einem für sie neuen Menschen Blickkontakt aufzunehmen. Sie hat ihre Mutter und Tante sprechen lassen, und F2 hat eigentlich nur durch Zucken der Augenbrauen oder Mundwinkel mitgeteilt, wenn sie mit irgend etwas nicht einverstanden war. Sie hat sehr gehemmt gewirkt. Das hat sich so schnell nicht geändert. Sie hat dann im Mai ein Arbeitstraining begonnen als Reinigungs- und Bürohilfskraft. Sie hat dort so positive Arbeitserfahrungen gemacht, dass sie einen Monat später ganz ein anderer Mensch war.

F2 hat sich selbst nicht viel zugetraut. Ich habe sie am Anfang in der Arbeit begleitet und sie war sehr unsicher. Wenn sie z. B. einen kleinen Fehler gemacht hat, dann hat sie sich sofort auf den Kopf gestoßen und gesagt: "Mensch, wie bin ich blöd." Ich habe sie primär bei den Bürotätigkeiten unterstützt. Die Kolleginnen waren wirklich toll. Sie haben F2 gezeigt, dass sie ihre Arbeit wertschätzen, sie haben sie gelobt und haben ihr gezeigt, dass sie ihr etwas zutrauen. Nach einem Monat habe ich gemerkt, dass F2 sich selbst mehr zutraut. Wenn sie in die Beratung kam, hat sie von sich aus begonnen zu plaudern. Sie war dann stolz, wenn sie etwas geschafft hat. Sie hat sich auch nicht mehr hassen müssen, wenn sie irgendwann einen Fehler gemacht hat. Das ist unheimlich schnell gegangen. Leider ist aus diesem Arbeitstraining keine Anstellung erfolgt.

Int: Was hat F2 im Büro gemacht?

Aass3: Im Büro hat sie kuvertiert, etikettiert, kopiert auf einem recht komplizierten Kopiergerät. Zum Teil hat sie Daten in den Computer eingegeben. F2 hatte überhaupt keine Computererfahrung und hat zuerst wahnsinnige Angst gehabt, den Computer auch nur einzuschalten. Der Computer ist dann einmal auch wirklich abgestürzt und sie hat gedacht, die Welt ist untergegangen. - Zum Schluss hat sie sogar allein das Lager aufgeräumt und Zeitschriften archiviert. Am Anfang hat sie irgendwie laufend die Bestätigung gebraucht, dass sie gut ist, dass sie die Dinge richtig macht. Im November, Dezember hat sie schon recht selbständig arbeiten können. Am Anfang war ich mehrere Monate ein bis zwei Mal in der Woche bei ihr am Arbeitsort.

Int: Wie hat der Chef die Zeit mit F2 bewertet?

Aass3: Wir haben ihn gebeten, F2 die Möglichkeit zu geben, dass sie ihre Fähigkeiten zeigen kann. Da er nichts dafür zahlen musste, hat er eingewilligt. Mir ist aufgefallen, dass er F2 während der Arbeit immer wieder beobachtet hat. Ich glaube, dass er zum Schluss wirklich überzeugt war, dass F2 wirklich eine gute Arbeitskraft für ihn sein kann. Er hatte nur nicht das Budget, noch eine Arbeitskraft aufzunehmen bzw. sein Anliegen war dann doch nicht so groß oder er hatte nicht wirklich die Courage, das durchzusetzen. Das ist mein ganz persönlicher Eindruck. Aber bei ihm hat sich sehr viel getan - glaube ich. Er hat sich sehr schwer getan, F2 abzusagen. Es ist auch so, dass sie jetzt in Evidenz ist. Ich halte das für ein ernst gemeintes Angebot. Wenn irgendwo ein Platz im Reinigungsdienst frei wird, dann hat man versprochen F2 anzurufen. Ich glaube, daß macht man dann auch.

Offene Fragen: Wie prägt die Sonderschule das Selbstverständnis von Menschen? Gibt es Unterschiede zu AbgängerInnen aus Integrationsklassen? Tritt Schüchternheit als frauenspezifische Eigenschaft auf oder liegt es an der jeweiligen Person? Inwieweit ist in der beruflichen Integration ein soziale Engagement des Unternehmers erforderlich?

Zentrale Themen (Kodes): schüchtern, introvertiert, unsicher, Beginn gemeinsam mit Mutter und Tante, positive Arbeitserfahrung, Stärkung des Selbstbewußtseins, wertschätzende KollegInnen, geringe Arbeitsplatzbegleitung, deutlich sichtbare Lernprozesse, Einstellungsänderung des Chefs, Skepsis wandelt sich in Zuversicht, ungünstige wirtschaftliche Lage, in Evidenz (M).

9.2.3 Auszug aus dem Arbeitszeugnis von F2 (N)

Eintritt: Mai 1998

Austritt: Dezember 1998

Beschäftigt im Rahmen einer Maßnahme des AMS zur beruflichen Rehabilitation

Aufgabengebiet:

  • Unterstützung des Reinigungspersonals

  • Leichte Bürohilfstätigkeiten: kopieren, kuvertieren, falten, etikettieren von Aussendungen, Mithilfe bei der Archivierung

F2 ist den ihr übertragenen Pflichten mit Fleiß und Verlässlichkeit nachgekommen. Sie war stets pünklich, freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend im Umgang mit Kunden und KollegInnen.

Aufgrund der Tatsache, dass im vorgegebenen Dienstpostenplan keine Stelle frei war und es uns nicht gelungen ist, eine Erweiterung durchzusetzen, konnte das Dienstverhältnis leider nicht fortgesetzt werden. Wir wünschen F2 alles Gute für ihren weiteren Lebensweg.

Der Geschäftsführer

Offene Fragen: Welches Verhalten ist generell in der Arbeit wichtig? Welche Arbeitstugenden sind in den unterschiedlichen Betriebspositionen notwendig?

Zentrale Themen (Kodes): Aufgabenbeschreibung, Arbeitstugenden, kein Geld für Anstellung (N).

9.2.4 Neue Arbeitssuche, Bewerbungen und die Anstellung (O)

Verlaufsskizze aufgrund persönlicher Gespräche mit der Arbeitsassistentin

Zu Beginn des Jahres 1999 wurden in mehreren Beratungsstunden neue berufliche Ziele erarbeitet. Daraus ergab sich der Wunsch, in einem Einrichtungshaus Beschäftigung zu suchen. Gemeinsam mit der Arbeitsassistentin wurden Bewerbungsunterlagen erstellt und im März versandt. Es erfolgten keine sofortigen Einstellungsgespräche, doch wurde die Bewerbung von F2 an einem Einrichtungshaus in Evidenz gehalten. Einen Monat später kam es zum Vorstellungsgespräch, zwei Monate später erfolgte eine Vollanstellung. Die Arbeitsassistentin begleitete F2 über diese Zeit, Vorbereitungen mussten getroffen und organisatorische Fragen abgeklärt werden, z. B. wer übernimmt die Begleitung vor Ort? Welcher Zeitaufwand wird dafür benötigt? In welcher Form und in welchem Umfang kann die Anstellung erfolgen?

Nach zwei Wochen des Kennenlernens und Arbeitens stellt die Geschäftleitung fest, dass F2 gut arbeitet, beliebt und total integriert ist. Sie stellen F2 vorläufig ohne Lohnkostenzuschuss an, weil sie ihr nicht den "Behinderten-Stempel" aufdrücken wollen. Während anfangs der Betrieb nach einer Förderung und Anstellung nach dem Behinderteneinstellungsgesetz strebt - der Betrieb spricht bei F2 von einer "Risikoanstellung" - erkennt man nun die erbrachte Arbeitsleistung von F2 voll an.

Offene Fragen: Wie rasch finden UnternehmerInnen zu einer stabile Einschätzung der Arbeitsleistung eines Menschen?

Zentrale Themen (Kodes): Erarbeitung beruflicher Ziele, zahlreiche Bewerbungen, schnelle Entwicklung zur Vollanstellung, Anerkennung der Arbeitsleistung, Risikoeinstellung, kein Behinderten-Stempel (O).

9.2.5 Arbeitsbeginn und Euphorie (P)

Auszug eines Beobachtungsprotokolls einer Beratungsstunde

Mitte Juni fand im Büro der Arbeitsassistenz eine Beratungsstunde statt. Die folgende Sequenz stammt aus dieser Stunde.

F2 erzählt von ihren zwei ersten Wochen im Einrichtungshaus. Sie ist von der Arbeit und den Kollegen total begeistert. Viele Witzchen und Späße begleiten den Arbeitsalltag. Im Moment wird der gesamte Betrieb umstrukturiert und neue Abteilungen und Lagerstandorte geschaffen. Ihre Aufgabe liegt vor allem darin, Material zu sortieren und einzuräumen. Bisher hat F2 den Bereich Textil, Beleuchtung und Kinderwelt kennengelernt. Sie arbeitet derzeit 8 Stunden täglich. Abends ist sie sehr müde, aber sie freut sich auf den nächsten Tag. Wenn sie sich nicht auskennt, dann fragt sie ihre Arbeitskollegin. F2: "Das ist alles kein Problem."

F2 wirkt sehr zufrieden, sie spricht viel und plant schon mit dem ersten Geld in den Urlaub zu fahren. Ihre Mutter erzählt vom ersten Tag und über das angenehme Betriebsklima. Sie schildert ein Beispiel: Jede Person hat sich in einer Runde von ca. 30 Personen vorgestellt, mit Namen und Wohnort. F2 war in dieser Runde die letzte. Da F2 nichts sagte, hat die Mutter sie vorgestellt und gemeint, F2 sei noch etwas schüchtern. Darauf der Chef: "Das wird sich schon noch finden." Laut Auskunft der Mutter wurde die Situation durch seine Haltung gut aufgefangen. Und ergänzend sagt die Mutter zu F2: "Tja, und bei der nächsten Vorstellung kannst du's dann allein, oder?" "Eh klar!" war die Antwort von F2.

Nach Angaben der Mutter und F2 ist der Chef mit der vollbrachten Leistung sehr zufrieden. In der Beratung wird vereinbart, dass die Arbeitsbegleitung vor Ort auf ein Mal in der Woche reduziert wird. Das nächste gemeinsame Treffen mit der Geschäftsleitung wird in drei Wochen geplant.

Offene Fragen: Wie fühlt sich F2 in der Begleitung ihrer Mutter z. B. im Betrieb oder in der Beratung? Verbessert die Phase der betrieblichen Umstrukturierung (Neuorganisation von Arbeitsaufgaben, Offenheit des Prozesses) die Chance der beruflichen Integration?

Zentrale Themen (Kodes): Euphorie durch Arbeitsbeginn, keine Probleme wahrnehmen, Zukunftsplanung, angenehmes Betriebsklima, Anstrengung (P).

9.2.6 Ernüchterung und Anpassung (Q)

Zusammenfassung von Aufzeichnungen der Arbeitsassistentin

Nach zwei Wochen waren F2 und ihre Mutter begeistert, jedoch wurden bald die persönlichen Grenzen erkennbar. Die Arbeit als Regalbetreuerin ist zu schwierig. Nach einem Monat kommt der Dienstgeber zum Schluss, dass die bisherige Arbeit für F2 eine Überforderung darstellt. Die Beratung der Arbeitsassistentin ermöglicht einen innerbetrieblichen Wechsel ins Bistro. Eine neue Probezeit als Restaurantmitarbeiterin wird vereinbart, 30 Stunden pro Woche. Zwei Mal pro Woche begleitet und unterstützt sie ein Arbeitsbegleiter (aus dem Pool) im Betrieb, ein innerbetrieblicher Mentor wird ebenfalls bereitgestellt. Schwierigkeiten treten auf, weil F2 sich gerne ablenken lässt und scheinbar Arbeitsaufträge vergisst. In verschiedensten Situationen zieht sie sich zurück bzw. versteckt sich vor den anderen. In der Analyse der Verstecksituationen wird erkannt, dass F2 meistens einen Auftrag hatte und gleichzeitig von einem weiteren Mitarbeiter einen zusätzlichen Auftrag zugeteilt bekam. F2 wagte häufig nicht den Doppelauftrag anzusprechen und wusste dann nicht was sie tun sollte. Sie zog sich dann zurück in eine ruhige Ecke und übernahm scheinbar unwichtige Arbeiten.

Mit Unterstützung des Arbeitsbegleiters wird ein detailliertes Tätigkeitsprofil erstellt und komplexe Aufgaben werden in einzelne Arbeitsschritte zerlegt. Gleichzeitig übt sich F2 in der direkten Konfrontation bei Doppelaufträgen. Es werden mögliche Antworten durchgespielt und ausprobiert. Gemeinsam mit dem Arbeitsbegleiter verbessert sich allmählich die Situation.

Die weiteren Arbeitsgespräche mit dem Unternehmen verlaufen zufriedenstellend. Ein befristeter Vertrag bis Ende des Jahres wird vereinbart. Gleichzeitig spricht sich der Unternehmer für den Antrag auf Lohnkostenzuschuss aus, um die Leistungsminderung von F2 ausgleichen zu können. Die Arbeitsassistentin berät F2 und ihre Mutter zu diesem Thema, worauf ein Antrag auf Behindertenhilfe (Landeszuschuss zur geschützten Arbeit) bei der MA 12 gestellt wird.

F2 erhält einen Lohnkostenzuschuss von 50 % von Seiten der MA 12. Dadurch kommt es innerbetrieblich zu einer Entlastung in den Anforderungen und zu einer Zusage eines unbefristeten Dienstverhältnisses im neuen Jahr. Anfang Dezember zieht sich der Arbeitsbegleiter zurück und F2 ist nun im Betrieb auf sich gestellt. Alle Beteiligten freuen sich über den Erfolg. Drei Monate später führen die Arbeitsassistentin und der Unternehmer ein Telefonat. Er berichtet, dass F2 ihre Arbeit gut erledigt und nun vermehrt im Kundenbereich eingesetzt wird. Außerdem gibt das Beispiel F2 den Anstoß zu einer weiteren Anstellung eines Menschen mit Behinderung in einer Filiale. Die Arbeitsassistentin führt im März 2000 noch ein Gespräch mit F2 und beschließt damit den Begleitprozess.

Offene Fragen: Wie und wodurch können Über- bzw. Unterforderungen von MitarbeiterInnen in einem Betrieb erkannt werden? Welche Fähigkeiten sind notwendig, um eine Entschlüsselung von Abwehrstrategien zu erreichen? Wie können Verhaltensänderungen herbeigeführt werden? Welche Instrumente der Unternehmerförderung (Anreize) sind in der beruflichen Integration denkbar, möglich und sinnvoll?

Zentrale Themen (Kodes): Überforderung, innerbetrieblicher Wechsel (2. Chance), Schwierigkeiten bei Doppelaufträgen, Unsicherheit und Verstecksituation, detailliertes Tätigkeitsprofil, Entwicklung von F2, Rückzug des Arbeitsbegleiters, Lohnkostenzuschuss und Zusage auf ein unbefristetes Dienstverhältnis, Ausweitung von Arbeitsaufgaben, erfolgreiche Anstellung, Folgeeffekt (Q).

9.3 Interpretation bezogen auf die Hauptbeteiligten

9.3.1 Interpretation bezogen auf F2

F2 zeigt sich am Anfang des Begleitungsprozesses sehr schüchtern und unsicher. Nach einem Monat Arbeit wird sie als ganz anderer Mensch beschrieben. Sie gewinnt an Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. In der Beratung ergreift sie z. B. selbst die Initiative und beginnt von sich aus zu erzählen. Das Arbeitstraining macht ihr offensichtlich Freude. Im Arbeitszeugnis wird F2 mit Arbeitstugenden beschrieben wie: fleißig, verlässlich, pünktlich, freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend. Insgesamt können diese Verhaltensweisen kennzeichnend für eine Person sein, die sich unterordnet, ganz brav sein will oder einfach nur Mühen hat in direkte Auseinandersetzungen zu treten. Die Sequenz mit den Doppelaufträgen an F2 bekräftigt die Schwierigkeit zu Auseinandersetzungen. Mit Unterstützung des Arbeitsbegleiters gelingt es F2 besser mit dieser Situation umzugehen. In der Rekonstruktion ihrer Geschichte wird ein Entwicklungsprozess erkennbar, der am Ende der Beschreibung mit einer Ausweitung des Arbeitsfeldes abschließt. Vielleicht ist es F2 gelungen, durch die Phase der Überforderung als Regalbetreuerin ihre Stärken und Schwächen klarer zu erkennen. F2 konnte vielleicht durch die Begleitung der Arbeitsassistenz und durch die 2. Chance im Betrieb bewusst eigene Grenzen kennenlernen.

9.3.2 Interpretation bezogen auf die Arbeitsassistenz

Die Arbeitsassistentin übernimmt mit F2 eine langfristige Begleitung, die zu einer erfolgreichen Anstellung führt. Sie arbeitet nach den typischen Aufgaben der Arbeitsassistenz, wie bereits in den vorangegangen Beispielen dargestellt.

9.3.3 Interpretation bezogen auf den Betrieb

Im ersten Betrieb fühlt sich F2 recht wohl. Wertschätzung, Lob und Zutrauen werden ihr entgegengebracht. Der Chef beobachtet sie genau bei der Arbeit und scheint zufrieden zu sein. Letztlich jedoch bleibt es beim Arbeitstraining, weil die finanziellen Voraussetzungen für eine Anstellung nicht gegeben sind. Als Beleg einer guten Zusammenarbeit kann die Tatsache bewertet werden, dass der Betrieb die Bewerbung von F2 in Evidenz hält.

Im zweiten Betrieb erfolgt zum Zeitpunkt des Eintritts von F2 eine innerbetriebliche Umstrukturierung, d. h. Arbeitsaufgaben werden neu aufgenommen, organisiert und verteilt. Der Unternehmer zeigt laut Auskunft der Mutter am ersten Arbeitstag ein gutes Gespür eine unangenehme Situationen aufzufangen. Für F2 bietet sich dann die Gelegenheit, als Regalbetreuerin tätig zu werden. Der erste Einsatzort muss aufgegeben werden, doch bietet der Unternehmer eine 2. Chance an. Die Möglichkeit weitere Einsatzorte ausprobieren zu können, wirkt sich positiv aus. Durch die Gewährung eines Lohnkostenzuschusses entschließt sich der Unternehmer zu einer unbefristeten Anstellung. Im Abschlußtelefonat berichtet er, dass das Beispiel F2 zu einer weiteren Anstellung eines Menschen mit Behinderung führte. Offensichtlich ist er um das Anliegen der beruflichen Integration bemüht und von der Sinnhaftigkeit der Maßnahme überzeugt.

9.3.4 Interpretation bezogen auf die Eltern

In der Darstellung tritt die Mutter und eine weitere Bezugsperson in Erscheinung, jedoch nicht der Vater. Diese Bezugspersonen sind in den Beratungen mit der Arbeisassistentin dabei und sprechen stellvertretend für F2. Der persönliche Einsatz der Mutter verweist darauf, dass sie sich sehr um eine Anstellung ihrer Tochter bemüht. Sie versucht F2 zu stärken und aufzubauen. "Tja, und bei der nächsten Vorstellung kannst du's dann allein, oder?"

9.4 Neue Kategorien in der Darstellung von F2

Beschreibung von Arbeitstugenden

"Risikoeinstellung" - Offener Ausgang im Prozessverlauf der beruflichen Integration

Erfahrung von Grenzen (Überforderung)

Unternehmensförderung - Lohnkostenzuschuss

Gewinn an Selbstsicherheit

Folgeeffekt - weitere Anstellung

Warnung

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10 Problemorientierte Geschichten

Innerbetriebliche Krise - Wegbewältigung - Zuspitzung

In den problemorientierten Geschichten versuche ich ansatzweise einzelne Bereiche anzusprechen. Die Anonymisierung und Verkürzung der Inhalte wurde bewusst verschärft, um die betreffenden Personen in ihrer Identität zu schützen. In den ersten beiden Geschichten kann von einer Problembewältigung in einem positiven Sinn gesprochen werden. Der Ausgang der dritten Geschichte bleibt offen.

10.1 Die Krise im Betrieb - Vorbemerkung (R)

Die hier abgedruckte Geschichte handelt von einem jungen Mann (M4) mit Behinderungen und seinem Mentor (Arbeitskollege: K2), der plötzlich fristlos entlassen wurde. Die Aufzeichnung schildert die Dynamik, die sich daraus ergibt. Durch dieses Ereignis greift M4 ganz neue Themen und Fragen auf, gleichzeitig verändern sich die Beziehungsverhältnisse der Arbeitskollegen zu ihm. Nach einer längeren Zeit der Unsicherheit und des Zweifels unterstützt letztendlich der Vorfall die Absicherung der beruflichen Integration von M4.

10.1.1 Interviewauszug mit der Arbeitsassistentin

Int: Was war damals mit dem Mentor K2?

Aass: K2 arbeitete vor allem im Lager dieses Kaufhauses. M4 kannte ihn von Einkäufen im Geschäft. K2 war ein Arbeiter mit oft recht derber Sprache. M4 mochte ihn aber irrsinnig gern (lachen). Die zwei verstanden sich sehr und daraus gründete sich die Idee eines Arbeitsplatzes für M4. K2 trug für die Arbeitsplatzentwicklung sehr viel bei. Als dann der Geschäftsführer überzeugt war, setzte eigentlich K2 das Projekt mit M4 um. Von unserer Seite unterstützten wir mit einer Arbeitsassistentin, aber K2 war einfach der, der innerbetrieblich Arbeit für M4 fand. Er war derjenige, der die meiste Kommunikation mit M4 führte. Er kümmerte sich eigentlich um alles. So sahen es auch die anderen Angestellten. K2 und M4 waren beim Arbeiten ein Team. Als Mentor sagte er, was zu tun war und M4 hat das getan. Die Arbeitsassistenz unterstützte M4 bei seinen Aufgaben. Das Ganze war eingespielt.

K2 ist dann von einem Tag auf den anderen fristlos entlassen worden. Anfangs waren die Gründe für uns nicht klar. Die Kollegenschaft wollte nicht darüber reden, sie verheimlichten das sehr. M4 war wirklich geschockt. K2 war auf einmal fort und er konnte den Grund überhaupt nicht verstehen. Wir versuchten alle einen Weg zu finden, damit umzugehen. M4 fragte in dieser Zeit ständig nach. Den Kollegen war das zum Teil sehr unangenehm, dass er immer wissen wollte, warum das geschah. Auf unseren Wunsch, sprach der Geschäftsführer dann mit M4 und er erklärte ihm die Entlassung von K2.

M4 erfuhr, dass K2 Geld aus der Kassa stahl und dass K2 - angeblich - ein Alkoholproblem hatte. Wir haben das eigentlich nicht bemerkt. Diese Themen waren für M4 völlig fremd, damit hatte er noch nie etwas zu tun. Er wollte wissen, was das heißt. Er verstand auch nicht, dass sozusagen sein K2, den er ja irrsinnig verehrte, den er ganz toll fand, dass der eben so etwas tut. Es waren diese zwei Dinge: Auf der einen Seite, dass K2 Geld genommen hat und auf der anderen Seite, dass sein Freund Alkoholprobleme hatte. Das war eine Geschichte, die wir M4 erst begreiflich machen mussten. M4 kann sehr emotional sein, er steigerte sich damals irrsinnig hinein. Er glaubte, dass K2 sterben würde, weil ihm irgend jemand im Laufe der Zeit versuchte zu erklären, dass das Alkoholproblem eine Krankheit ist. Da dachte M4, K2 wird sterben.

Er versuchte dann mit seinen Mitteln damit umzugehen. Seine Mutter bemühte sich sehr, ihn dabei zu unterstützen und ihm Dinge zu erklären. Wir von der Arbeitsassistenz sprachen uns dabei immer wieder mit der Mutter ab. Die Mutter fand mit ihm ihren Weg. M4 betete z. B. für K2. K2 ist sehr an Religion und Kirche interessiert und er unterstützte K2 einfach mit Gebeten. Er wünschte sich dann, mit K2 noch einmal zu reden. Das war aber nicht möglich. Nach der Entlassung ist es K2 sehr schlecht gegangen - es gab zwar über diverse Umwege noch Kontakt, aber irgendwie wollte K2 die Begegnung nicht. Er war in seiner Situation nicht in der Lage sich mit M4 auseinander zu setzen. Das konnte K2 nicht. Für M4 war das ziemlich lange ein Problem. Es wäre einfach ideal gewesen, wenn er sich von K2 verabschieden hätte können, oder wenn er noch mit K2 darüber reden hätte können. Es war klar, dass wir das nicht erzwingen konnten. Für K2 war das Treffen einfach nicht machbar. In dieser Situation sprach auch der Direktor des ganzen Unternehmens mit M4. Das war das erste Mal, dass sich der Direktor so ernsthaft mit M4 auseinandersetzte. Ich meine, er bemühte sich wirklich, nachdem er die Geschichte erfuhr.

M4 interessierte sich in der Folge dafür, was passiert, wenn er sich so und so benimmt. Wird er dann auch rausgeschmissen? Das war dann sehr oft Thema. Was bedeutet es z. B. wenn er die anderen beschimpft. Schmeißt ihn dann der Geschäftsführer raus? Was passiert, wenn er die Arbeit nicht macht? Er wollte das sehr, sehr genau wissen. Das war wirklich über ganz lange Zeit ein intensives Thema mit ihm. Er brauchte lange das zu verarbeiten. M4 fragte sehr viel nach, immer wieder kamen neue Fragen oder wurden alte Fragen noch einmal gestellt. Irgendwann aber verstand er und die Fragen wurden weniger. Man merkte ziemlich genau, welchen Teil er begriffen hatte und welchen Teil nicht.

Der positive Effekt dieser Geschichte mit K2 war, dass nach seinem Verschwinden eine Lücke entstand. Da waren die anderen Kollegen und die fühlten sich anfangs für M4 alle nicht zuständig. Bald aber begannen sie, sich sehr wohl zuständig zu fühlen. Es war eine lange Phase die für M4 sicherlich sehr schwer war. Im Endeffekt war es gut, weil sich nun nicht mehr ein Einzelner im Betrieb für ihn zuständig fühlte, sondern fast alle. Das war wesentlich günstiger als vorher mit K2. Wir bemerkten das oft, dass er als Anhängsel von K2 gesehen wurde. Die anderen waren einfach der Meinung, dass sie mit M4 einfach nichts zu tun haben. Sie waren nicht unfreundlich, aber sehr distanziert, weil es ihnen egal war. Dieses Verhältnis entwickelte sich nach dem Verschwinden von K2 sehr positiv.

Offene Fragen: Worin liegen die Vor- und Nachteile von Privatkontakten, die zu einem Arbeitsplatz führen? Wie wichtig sind Privatkontakte für eine Anstellung im Prozess der beruflichen Integration? Was könnten weitere Möglichkeiten der Krisenbewältigung in dieser Situation sein? Welches Verhalten charakterisiert eine menschenfreundliche Unternehmenskultur? Was bedeutet Mitverantwortung oder Solidarität in einem Betrieb? Wie können MitarbeiterInnen in den Prozess der beruflichen Integration miteinbezogen werden? Auf was ist dabei zu achten? Wieviel an Eigenverantwortung sollte den BetriebsmitarbeiterInnen überlassen werden?

Zentrale Themen (Kodes): Privatkontakte vor Arbeitsbeginn, gegenseitige Sympathie, Arbeit im Betrieb finden, Kündigung des Mentors, innerbetriebliche Geheimnisse, Alkoholismus und Diebstahl, Unverständis, Emotionalität, Erklärungen und Versuche zu verstehen, Wissensdurst, Absprache mit Mutter, unerfüllter Wunsch, lange ein Problem, Bemühen des Direktors, viele Gespräche, Krisenarbeit, Vermittlungsversuche, Erweiterung von Fragestellungen, Durchspielen von Verhaltensregeln, Grenzabklärung, -absteckung, wiederholtes Nachfragen, langsame Klärung, Abgrenzung der Mitverantwortung, Anhängsel, Einstellungsänderung, verantwortungsvollere Betriebsverhältnisse (R).

10.2 Interpretation bezogen auf die Hauptbeteiligten

10.2.1 Interpretation bezogen auf M4

Durch einen privaten Kontakt ergibt sich für M4 ein Arbeitsplatz. Zwischen seinem Mentor und ihn entwickelt sich eine ganz besonders enge Beziehung, andere MitarbeiterInnen bleiben auf Distanz. M4 fühlt sich offensichtlich wohl. Nach der Entlassung von K2 kann M4 nicht verstehen, was vorgefallen ist. Es kommt zur Auseinandersetzung mit dem Thema Alkoholismus und Diebstahl. M4 wird mit diesen Problemen konfrontiert, weil er durch die Integration an der allgemeinen Berufswelt teilnimmt. Die Auseinadersetzung dauert für das Verständnis der Arbeitsasssistentin lang, doch gibt es Hinweise darüber, dass sich in M4 viel bewegt. Er findet mit Unterstützung der Mutter seinen Weg der Bewältigung. Die Entlassung des Arbeitskollegen führt M4 zu neuen Fragen und Überlegungen, die ihn selbst betreffen. Was passiert z. B. wenn er sich so oder anders benimmt? Kann er auch entlassen werden? M4 zeichnet sich dadurch aus, dass er vieles sehr genau wissen möchte. Er fragt ständig nach und versucht in der Wiederholung, Stück für Stück mehr Verständnis zu gewinnen. Das abrupte Ende mit K2 bleibt ohne direkte Aussprache, dieser Wunsch erfüllt sich für M4 nicht. Hingegen kommt es zu neuen innerbetrieblichen Beziehungen. Einerseits spricht die Geschäftsführung und zum ersten Mal der Direktor mit M4 über die Entlassung von K2, andererseits zeigen anderer ArbeitskollegInnen nun ein neues Verantwortungsgefühl M4 gegenüber. Auch wenn der Verlust von K2 eine schmerzliche Phase darstellt, führt es für M4 zu einer Ausweitung betrieblicher Beziehungen.

10.2.2 Interpretation bezogen auf die Arbeitsassistenz

Die Arbeitsassistentin übernimmt Organisations- und Vermittlungsfunktion in der Krisenbegleitung. Sie bestärkt die am Prozess beteiligten Personen im Betrieb und zu Hause. Der Blick ist nicht ausschließlich auf M4 und der Erfüllung seiner Arbeitsaufgaben gerichtet, sondern auf seine Persönlichkeitsentwicklung im Gesamten. Themen wie Alkoholismus und Diebstahl finden genauso Beachtung, wie arbeitsrechtliche Fragestellungen z. B. die Frage der Entlassung. Die Ausweitung der innerbetrieblichen Beziehungen sieht die Arbeitsassistentin vermutlich deshalb positiv, weil sich einerseits die Abhängigkeit zu einem einzigen Mentor verringert und sich andererseits die Mitverantwortung am Prozess der beruflichen Integration im Betrieb erweitert.

10.2.3 Interpretation bezogen auf den Betrieb

Die Sympathie zwischen K2 und M4 führt zu einem Arbeitsplatz, bei dem K2 als Mentor entscheidende Verantwortung übernimmt. Andere MitarbeiterInnen sind vorerst unbeteiligt. Durch die Entlassung verändert sich das innerbetriebliche Gefüge um M4. Das persönliche Bemühen der Geschäftsleitung und des Direktors zeugen von einem beachtenswerten Engagement in der beruflichen Integration. Die MitarbeiterInnen ihrerseits fühlen sich ebenfalls zuständig für das Gelingen des Projekts um M4. Die schwierige Zeit wird gemeinsam getragen und bewältigt. Insgesamt kann von einem recht guten Betriebsklima ausgegangen werden, in dem gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung gelebt werden.

10.2.4 Interpretation bezogen auf die Eltern

Wiederum ist es die Mutter, die sichtbar in Erscheinung tritt, über den Vater gibt es keine Hinweise. In der Bewältigung des Verlusts um K2 spielt die Mutter eine bedeutende Rolle. Gemeinsam mit der Arbeitsassistentin spricht sie sich ab und findet einen geeigneten Weg.

10.3 Vorbemerkung - Ein Schritt in die Selbständigkeit (S)

Ein Ziel vieler Jugendlicher ist die eigenständige Bewältigung des Arbeitsweges. Die Arbeitsassistenz hat sich dieses Anliegen zur Aufgabe gemacht und unterstützt die Jugendlichen in diesem Lernprozess. Die folgende Geschichte schildert die Ängste von Bezugspersonen (Mutter und Oma) und den starken Wunsch von F4, trotz Zwischenfällen an der eigenständigen Wegbewältigung festzuhalten.

10.3.1 Interviewauszug mit der Arbeitsassistentin

Aass: F4 sprach den Wunsch aus, allein den Weg zur Arbeit bewältigen zu wollen. F4 wohnt ausserhalb von Wien und ihre Mutter und Großmutter äußerten große Bedenken, weil die Wegstrecken recht weit und kompliziert waren. Wir bauten dann ein dichtes Netz auf, um F4 in ihrem Wunsch zu unterstützen, gleichzeitig versuchten wir die Bezugspersonen in ihren Ängsten ernst zu nehmen. Zeitlich konnten wir die gesamte Wegstrecke nicht begleiten, deshalb kamen wir überein, dass die Oma im Zug mitfährt. In Wien übernahmen wir F4 und fuhren dann weiter mit der U-Bahn in den Betrieb.

Relativ rasch wollte F4 allein im Zug sein. Da gab es sehr viele Gespräche mit der Mutter und Großmutter, weil die haben es ihr nicht zugetraut. Die "beschatteten" sie dann verdeckt. Sie erklärten zwar, sie wird jetzt allein fahren und das ist jetzt okay, aber es war immer irgendwo die Oma im Zug, die überprüfte, ob alles gut gehen wird. Wir von der Arbeitsassistenz merkten, dass sie sich damit unheimlich schwer taten. Gleichzeitig aber war das ein ganz feiner Prozess der Auseinandersetzung. Es hat wirklich zwei, drei Monate gedauert bis die Mutter sagte: Sie glaubt jetzt auch, dass F4 die Zugstrecke allein bewältigen kann. Die Oma war zu diesem Zeitpunkt noch immer skeptisch. Inzwischen bekam F4 ein Handy, das sie immer dabei hat für sogenannte Notfälle.

Heute bewältigt F4 den gesamten Weg bis zum Arbeitsort allein. Doch da war noch ein weiterer Knackpunkt zu disktuieren. Ihre Familie kommt aus einem ländlichen Umfeld und war der Meinung, dass man in Wien als jugendliches Mädchen ziemlichen Gefahren ausgesetzt ist, wenn man mit der U-Bahn fährt. Kann das gut gehen? Und was passiert, wenn sie von jemandem angesprochen wird? Wir versuchten F4 vorzubereiten und ihr irgendwelche Möglichkeiten anzubieten. Wir spielten Modelle durch z. B. wo kann ich Hilfe holen? Wie tut man das? Was kann ich tun, wenn die U-Bahn nicht kommt. F4 kann kaum lesen und es fällt ihr auch schwer die Stationen per Namen zu erkennen. Es kann leicht sein, dass sie sich verirrt.

Drei Mal, glaube ich, gab es auch Zwischenfälle, wo F4 am ausgemachten Ort nicht ankam. Aber diese Ereignisse sind immer gut ausgegangen. Für die Familie war das natürlich hochdramatisch und versetzte alle in hellste Aufregung. Das verblüffende für die Familie war dann aber immer wieder, dass F4 trotzdem für sich beschloss, weiterhin den Weg allein zu gehen, auch nachdem etwas daneben ging. Diese Courage trauten ihr alle nicht zu. Wenn ich F4 auf diese Missgeschicke ansprach, dann sagte sie flachsig: " Na und - und ich bin eh angekommen." Ich bekam von ihr signalisiert, dass sie das überstanden hat und damit war es erledigt.

Jetzt fährt sie ganz allein und das ist ihr auch total wichtig. Die Mutter sagt immer, dass sie jetzt beleidigt ist, wenn z. B. die Oma mit nach Wien fährt, dann muss die Oma einen anderen Zug nehmen, ihr ist im Moment nicht erlaubt im selben Zug zu fahren.

Offene Fragen: Macht die Behinderung eines Kindes die Trennung von den Eltern schwieriger, weil sich in den jeweiligen Biographien eine engere Bindung entwickelt? Gibt es tendenziell Unterschiede zwischen den Beziehungen und Bindungen von Familien mit und ohne behinderte Kindern? Was hat die Wegbewältigung mit der Arbeit zu tun? Wie sehen die Unterschiede und Entwicklungsparallelen zwischen Weg- und Arbeitsbewältigung aus? Was ist das Reizvolle an einer eigenständigen Wegbewältigung?

Zentrale Themen (Kodes): eigener Wunsch, Wegbewältigung, Bedenken der familiären Bezugspersonen, Netzaufbau, intensive Beratung der Bezugspersonen, zeitliche Grenzen, Notfall-Strategien entwickeln, mehr Selbständigkeit, Gefahren für Mädchen, Modelle durchspielen, Zwischenfälle und Courage, Loslösungsprozess (S).

10.4 Interpretation bezogen auf die Hauptbeteiligten

10.4.1 Interpretation bezogen auf F4

F4 zeigt Ausdauer in der Durchsetzung ihres Wunsches, den langen und komplizierten Weg zur Arbeit zu erlernen. Sie scheint von sich überzeugt zu sein. Sie gewinnt immer mehr an Selbstsicherheit. Einzelne Zwischenfälle bringen sie von ihrem Vorhaben nicht ab. Die eigenständige Wegbewältigung ist ihr ganz wichtig und wie sich später zeigt, ein Ort bei dem sie zu anderen Menschen Kontakt aufnimmt (diese Information stammt aus einem Gespräch mit der Arbeitsassistentin; F4 lernt ihren gegenwärtigen Freund im Zug kennen). Die Möglichkeit, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen, erhöht die Mobilität von F4. Inzwischen nützt sie diese Fähigkeit auch für neu entdeckte Freizeitaktivitäten.

10.4.2 Interpretation bezogen auf die Arbeitsassistenz

Die Arbeitsassistentin bestärkt F4 in ihrem Wunsch und organisiert eine Möglichkeit zur Umsetzung. Neben einem Begleitnetz werden auch Notfall-Strategien erarbeitet und durchgespielt. Die Arbeitsassistentin behält den Kontakt zu den Bezugspersonen von F4, intensiviert sogar die beratenden Gespräche zu Beginn des Prozesses. Sie leistet vermutlich viel an Überzeugungsarbeit und Klärung für die Bezugspersonen.

10.4.3 Interpretation bezogen auf den Betrieb

Das Thema Arbeitsweg wird F4 wahrscheinlich im Betrieb mit ArbeitskollegInnen besprechen. Über die betrieblichen Auswirkungen und Einflüsse wird jedoch in der Rekonstruktion der Geschichte nichts bekannt. Insgesamt kann vermutet werden, dass zumindest ein indirekter Zusammenhang mit dem Betrieb besteht. F4 gewinnt an Selbstsicherheit bei der Wegbewältigung. Diese Kompetenz kann ihr auch im Betrieb zugute kommen (mehr Selbstbewusstsein, eventuell erhöhte Arbeitsmotivation und Leistungssteigerung).

10.4.4 Interpretation bezogen auf die Eltern

Die familiären Bezugspersonen in der Geschichte sind die Mutter und Großmutter. Sie lassen es zu, dass F4 die selbständige Wegbewältigung übt. Im Loslösungprozess von zu Hause ist damit ein weiterer Schritt gesetzt. Die Bezugspersonen scheinen in der neuen Situation stärker nervös zu sein als F4, gleichzeitig sind sie verblüfft über ihre Courage. Der sich abzeichnende Erfolg in der Wegbewältigung stärkt das Zutrauen in die Tochter. Die Familienbeziehungen und Bindungen verschieben sich vermutlich in der Weise, dass sie sich auflockern und weiten. F4 erhält letztentlich mehr Macht ihr Leben selbst zu bestimmen.

10.5 Vorbemerkung - Zuspitzung von Lebensverhältnissen (T)

Im folgenden Beispiel (M5) wird ein Verlauf beschrieben, der die Grenzen der Arbeitsassistenz aufzeigt. Die Darstellung zeigt in kurzen Abrissen eine Zuspitzung der Lebensverhältnisse. Die Arbeitsassistentin war kontinuierlich bemüht, einzelne Familienmitglieder für eine therapeutische Intervention (ausserhalb der Beratungseinrichtung der Arbeitsassistenz) zu sensibilisieren. Allerdings blieben diese Versuche erfolglos.

10.5.1 Interviewauszug mit der Arbeitsassistentin

Int: Welche Stärken und Schwächen siehst du bei M5?

Aass2: Ich glaube, dass M5 enorme Energien mobilisieren kann, wenn ihn etwas interessiert. Im Moment tut er das "nur" in Bereichen, die ihm nicht sonderlich viel bringen. Ihm fehlt derzeit jegliche Ausdauer und eigentlich auch die Orientierung. Wenn er bei den Dingen nicht rasch zum Erfolg kommt, dann lässt er ganz schnell wieder davon ab. Den Erfolg braucht er ganz schnell. Das finde ich aber total erklärbar aus seiner Geschichte, dass er das so braucht.

Seine Stärken können wir meiner Meinung nach erst in einer Praxis herausfinden, die einen klar strukturierenden Tagesablauf vorgibt. Bisher in der Beratung verhinderten die akuten Probleme, dass wir seine Fähigkeiten für eine Arbeit herausfinden hätten können. Die Probleme waren alle wesentlich stärker sichtbar.

Nach einer Zeit gemeinsamer Versuche und Bemühungen glaube ich, dass er derzeit etwas wesentlich Strukturierteres braucht als die Arbeitsassistenz. Die Überlegung war keine einfache, zu sagen, es geht im Moment nicht mit Arbeitsassistenz. Aber ich habe das Gefühl, dass es wieder nur ein Misserfolg werden kann. Wenn man ihn z. B. in ein neues Praktikum am allgemeinen Arbeitsmarkt schickt, würde das im Moment seine gesamte Situation nur verschlimmern. Dazu sind die anderen Probleme, die er hat, viel zu massiv, als dass es funktionieren könnte. Ich meine seine epileptischen Anfälle, die erst kürzlich zum ersten Mal aufgetreten sind, seine große Unsicherheit, die damit verbunden ist und die ganzen medizinischen Untersuchungen. Parallel dazu ist seine familiäre Situation belastend. Und dann seine Meinung, dass er nichts kann, dass ihn keiner will, dass er nicht im Stande ist, irgend etwas zu leisten. Ein großes Thema in den Beratungen waren unlängst wieder seine Mühen mit Geld umzugehen und der Streit um die Sachwalterschaft. Sein Ziel nach einem eigenen, selbständigen Leben, nach einer Wohnung, nach Partnerschaft ist einfach noch nicht greifbar. Sein Vergleich mit einem Freund - der wesentliche Fortschritte macht in der Umsetzung dieser Wünsche - lässt ihn immer als Verlierer zurück.

Int: Hat sich seine persönliche Situation im Bereich der Lebensumstände eher noch zugespitzt?

Aass: Ja - anfang letzten Jahres sind wir als Arbeitsassistenz wieder massiv eingestiegen, weil seine Mutter sehr verzweifelt nachgefragt hat. Damals hat M5 in einem Projekt gearbeitet, das ähnlich einer Beschäftigungstherapie organisiert war. Die Mutter kam, weil M5 eine Frau verletzt hat - und seine Mutter wusste nicht, wie sie damit umgehen soll. Es war eine Situation, wo es nur knapp an rechtlichen Konsequenzen vorbeiging.

Die familiäre Situation ist im ersten Halbjahr total eskaliert durch Misshandlungen und Übergriffe. Es ist zur Scheidung gekommen und zu einer Trennung, die keine wirkliche Trennung war. Sein Vater hatte nach wie vor einen Haustürschlüssel und kam immer wieder zurück. M5 kam massiv zwischen die Fronten. Als er ein Arbeitsprojekt verlassen hat, wurde er vom Vater sehr unterstützt. Sein Vater ist der Meinung, dass er normal arbeiten kann. Ich denke, dass sein Einstieg bei der Arbeitsassistenz zu einem Zeitpunkt geschah, wo es in seinem Umfeld immer ärger wurde. Wir hatten die Hoffnung, dass mit der Scheidung einige Dinge für M5 klarer werden, dass er wieder stärker an Sicherheit gewinnen kann. Das ist nicht passiert. Es sind ganz massive weitere Probleme hinzugekommen, z. B. finanzielle. Seine Mutter, aber auch seine Schwester, die starke Esstörungen zeigt, tun sich ganz schwer in der Situation. Vater und Mutter versuchen sich in ihren Auseinandersetzungen über M5 und seine Schwester zu beweisen, dass der jeweils andere nicht Recht hat und dass die Entscheidungen des Anderen falsch sind.

Int: Wie würdest du das Bild einschätzen, das M5 über sich selber hat? Was sagt er über sich?

Aass: Das ist schwankend. Ich glaube, es kommt darauf an, wem er gegenüber sitzt. In unserem Rahmen erklärt er sehr wohl, was seine Problem sind und er erklärt was er nicht kann. Manchmal führt es auch dazu, dass er sagt: "Du weißt, ein Schlaumeier bin ich nicht." Da habe ich dann das Gefühl, dieses "Schlaumeier bin ich nicht" gilt als Vorwand, hinter dem er sich verschanzt. Das tut er im Moment ganz gut. Die Mama muss mit, weil "Ich verstehe das ja nicht".

Auf der anderen Seite kann er ja unheimlich viel, wenn er etwas will. Er ruft Gott und die Welt an und fragt sich durch und kann das. Er nervt die Leute zum Teil sehr, weil er immer wieder nachfragt, und immer wieder und sehr hartnäckig anruft. Wenn es aber etwas ist, das ihm unangenehm ist, dann sind diese Fähigkeiten nicht vorhanden. Dann erklärt er sich für dumm, versteht es nicht und übertreibt das in die andere Richtung. Das funktioniert, wenn er das Gefühl hat, das Gegenüber könnte etwas für ihn tun. Wenn er mit Gleichaltrigen oder in anderem Rahmen redet, dann hat er meistens ein gänzlich unrealistisches Bild von sich. Er ist dann der Superstar, der alles allein kann, der alles checkt, der überhaupt keine ‚Troubles' hat. Dann passiert auch, dass er redet wie ein Wasserfall und sein Gegenüber nicht mehr verstehen kann, was er eigentlich will. Das ist die andere Seite und dazwischen pendelt er immer hin und her: Zwischen "Ich kann nichts, und ich bin nichts" und "Es mag mich eigentlich keiner" bis hin zum "Das Leben ist nicht mehr lebenswert". Auch solche Aussagen kommen. Ich würde sagen, sein Selbstbild ist sehr von seiner Umgebung abhängig. Was sein Selbstbild ist, wenn er ganz still zu Hause sitzt, ist mir nicht bekannt.

Offene Fragen: Wie würde die Geschichte von den Eltern erzählt werden? In welcher Rolle befindet sich die Arbeitsassistentin? Was kann in der Begleitung als Hauptziel definiert werden? Zählt zu den Aufgaben der Arbeitsassistenz auch die Durchführung einer psychischen Beratung? Wo liegen die Grenzen in der Begleitung der beruflichen Integration?

Zentrale Themen (Kodes): Verbindung: Interesse und Energie, fehlende Ausdauer und Orientierung, persönlicher Erfolgsdruck, Grenzen der Arbeitsassistenz, vielfältige akute Problemfelder, klar strukturierter Tagesablauf notwendig, Misserfolg, Einstieg in der Phase der Krisenverstärkung, Krisenmanagement, wechselndes Selbstbild, kein Schlaumeier und doch Superstar, kann viel, wenn er will, Familienproblematik, Gefühl der Ablehnung, Missbrauch (T).

10.6 Interpretation bezogen auf die Hauptbeteiligten

10.6.1 Interpretation bezogen auf M5

M5 verfügt über enorme Energien, die er unterschiedlich einsetzt. Nach Meinung der Arbeitsassistentin kann er unheimlich viel, gleichzeitig fühlt er sich unsicher und sucht nach dem schnellen Erfolg. Die Darstellung verweist auf ein ganzes Bündel von Problembereichen, angefangen bei neu auftretenden epileptischen Anfällen bis hin zu Missbrauchserfahrungen in der Familie. Im Vergleich zu einem Freund sieht er sich als Verlierer. Ohne Beschäftigung fehlt M5 eine Tagesstruktur, die ihn in einer schwierigen Zeit stützten könnte. Zudem erhält er keine Bestätigung (Bekräftigung) durch sinnvolle Arbeit. Seine Selbstdarstellung richtet er nach seiner unmittelbaren Umgebung aus.

10.6.2 Interpretation bezogen auf die Arbeitsassistenz

Die Einschätzung der Arbeitsassistentin empfiehlt M5 einen Platz an einem Ort mit einem klar strukturierten Tagesablauf. Die erlebten Misserfolge mit M5 und die häufig akuten Schwierigkeiten drängen das Thema der beruflichen Integration in den Hintergrund. Indes werden Aufgaben der Krisenbewältigung übernommen, die nicht direkt mit einem Arbeitsplatz zusammenhängen. Sowohl M5 als auch seine Mutter scheinen Vertrauen in die Arbeitsassistentin zu haben. Während sie eine psychotherapeutsiche Intervention nicht in Anspruch nehmen, kommen sie in einer prekären Situation (Verletzung einer Frau durch M5) wiederum zur Arbeitsassistenz, um Beistand zu suchen. Gemeinsam gelingt es eine Entspannung herbeizuführen.

10.6.3 Interpretation bezogen auf den Betrieb

Die ausgewählte Dokumentation beschreibt keinen direkten Betriebskontakt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Allerdings wird darauf hingewiesen, dass eine Zeit gemeinsamer Versuche und Bemühungen erfolgte, die offensichtlich scheiterten. In einem Projekt, ähnlich einer Beschäftigungstherapie, macht M5 einige Erfahrung.

10.6.4 Interpretation bezogen auf die Eltern

Die Kernfamilie ist präsent und erfährt große Dynamik. Die Eltern leben in Scheidung und tragen zum Teil die Konflikte über die Kinder aus. Die Einschätzung des Vaters über die Fähigkeiten von M5 treffen sich nicht mit den gemachten Erfahrungen der Arbeitsassistentin. Die Situation zeichnet sich als schwierig und vielschichtig aus.

10.7. Neue Kategorien aus den problemorientierten Geschichten

Erfahren von "Betriebsgeheimnissen"

Konfrontation mit neuen Themen

Individuelle Krisenbewältigung

Betriebliches Bemühen um berufliche Integration

Bewegung/Veränderung einer betrieblichen Landschaft

Unterstützung innerbetrieblicher Beziehungsverhältnisse

Mutter als Unterstützerin

Rolle der Arbeitsassistentin

Funktion des Mentors

Netzaufbau - Unterstützerkreis

Motivation/Courage/Energie der Hauptperson

Geschlechterdifferenz

Wegbewältigung/Mobilitätssteigerung - Zusammenhang Arbeitsbewältigung

Unterstützung im Loslösungsprozess/Erwachsen werden

Stabile/instabile Familiensituation

Grenzen der Begleitung

Unklare Tagesstruktur

Wechselndes Selbstbild

Vielfältige Problemfelder / instabiles Umfeld

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11 Verdichtung der Gesamtkonzeption

11.1 Bildung von vorläufigen Schlüsselkategorien und Zuordnung

Ich vergleiche nun alle bisherigen Kategorien und werde sie in vorläufige Schlüsselkategorien[9] zusammenführen. Die vorläufigen Schlüsselkategorien bilden die Hauptmerkmale der zu formulierenden Theorie. Im Prozess der Integration wird "die ständig komplexer werdende Organisation (oder Formulierung) der Bestandteile der Theorie weitergeführt" (Strauss 1994, S. 49). Eine Überprüfung der vorläufigen Schlüsselkategorien im Sinne einer Verdichtung ihrer Aussagekraft erfolgt anhand eines ausführlichen Interviews.

11.1.1 Zusammenfassung

Beispiel M1

Schulische Integrationslaufbahn

Engagement der Eltern (der Mutter)

Zutrauen in die Entwicklung

Freizeitangebot

Betriebliche Bereitschaft

Arbeitstraining und Schulungsplan (inkl. regelmäßige Auswertung)

Offenheit und Flexibilität im Prozessverlauf der beruflichen Integration (genügend Zeit)

ArbeitskollegInnen, die verantwortungsvolle Beziehungen eingehen

Hohe Assistenzfrequenz im Betrieb

Wegbewältigung

Krisenbewältigung durch intensivierte Beratung

Einstellungsänderung bei ArbeitskollegInnen

Verhandlungskompetenz der Arbeitsassistenz mit Behörden

Persönlichkeit und Fähigkeiten des Jugendlichen

Erleben eines Entwicklungsprozesses

Finanzielle Schlechterstellung durch berufliche Integration

Weitere vorläufige Kategorien aus F1

Erweiterung von Lebensthemen und -bereichen

Loslösungsprozess von zu Hause

Weitere Qualifikationswünsche

Arbeit wird als bedeutsam erlebt (innere Motivation)

Auseinandersetzungsprozesse, Konfrontationen

Spannungsverhältnis: Fremdbild - Selbstbild

Erfahrung von Stärken bzw. Schwächen (Überraschungen erleben)

Unterstützung durch Arbeitsassistentin aus dem Pool

Prinzip: platzieren und dann qualifizieren

Passende Beziehungsverhältnisse zu ArbeitskollegInnen

Freundliches Betriebsklima

Hauptfaktor der Anstellung: individuelles Entwicklungserlebnis

Klein- bzw. Mittelbetrieb

Weitere vorläufige Kategorien aus M2

Arbeitsplatzwechsel - Klärung

Phase der Unzufriedenheit / Frustration / Krise

Differenz zwischen Arbeitsplatzangebot und -vorstellung

Nicht-sichtbare Behinderung

Langfristige Begleitung

Freizeitgestaltung - Unterstützung in der Tagesstruktur

Weitere vorläufige Kategorien aus F2

Beschreibung von Arbeitstugenden

"Risikoeinstellung" - Offener Ausgang im Prozessverlauf der beruflichen Integration

Erfahrung von Grenzen (Überforderung)

Unternehmensförderung - Lohnkostenzuschuss

Gewinn an Selbstsicherheit

Folgeeffekt - weitere Anstellung

Weitere vorläufige Kategorien aus den problemorientierten Geschichten

Erfahren von "Betriebsgeheimnissen"

Konfrontation mit neuen Themen

Individuelle Krisenbewältigung

Betriebliches Bemühen um berufliche Integration

Bewegung/Veränderung einer betrieblichen Landschaft

Unterstützung innerbetrieblicher Beziehungsverhältnisse

Mutter als Unterstützerin

Rolle der Arbeitsassistentin

Funktion des Mentors

Netzaufbau - Unterstützerkreis

Motivation/Courage/Energie der Hauptperson

Geschlechterdifferenz

Wegbewältigung/Mobilitätssteigerung - Zusammenhang Arbeitsbewältigung

Unterstützung im Loslösungsprozess/Erwachsen-Werden

Stabile/instabile Familiensituation

Grenzen der Begleitung

Unklare Tagesstruktur

Wechselndes Selbstbild

Vielfältige Problemfelder / instabiles Umfeld

11.1.2 Vorläufige Schlüsselkategorien

(Die vorläufigen Schlüsselkategorien sind kursiv vorangestellt, die jeweiligen Einzelkategorien sind nachgereiht.)

Schullaufbahn: Schulische Integrationslaufbahn

Die Eltern: Engagement der Eltern (Mutter), Zutrauen in Entwicklung, Mutter als Unterstützerin

Aktualisierung neuer Themen: Erweiterung von Lebensthemen und -bereichen, Loslösungsprozess von zu Hause, begleitende Qualifikationswünsche, Wegbewältigung/Mobilitätssteigerung

Identitätskonfrontation: Auseinandersetzungsprozesse, Konfrontationen, Spannungsverhältnis: Fremdbild - Selbstbild, Erfahrung von Stärken bzw. Schwächen (Überraschungen erleben), Arbeit wird als bedeutsam erlebt, Phase der Unzufriedenheit / Frustration / Krise, nicht sichtbare Behinderung, Beschreibung von Arbeitstugenden, Erfahrung von Grenzen (Überforderung), Gewinn an Selbstsicherheit, Motivation/Courage/Energie der Hauptperson, wechselndes Selbstbild, Erwachsen-Werden

Arbeitsweise der Arbeitsassistenz: Arbeitstraining und Schulungsplan (inkl. regelmäßige Auswertung), hohe Assistenzfrequenz im Betrieb, Wegbewältigung, Krisenbewältigung durch intensivierte Beratung, Verhandlungskompetenz, Unterstützung durch ArbeitsassistentInnen aus dem Pool, Prinzip: platzieren und dann qualifizieren, Arbeitsplatzwechsel - Klärung, langfristige Begleitung, Freizeitgestaltung - Unterstützung in der Tagesstruktur, Netzaufbau - Unterstützerkreis

Rolle der Arbeitsassistenz: Zutrauen in Entwicklung, Grenzen der Begleitung

Phasentheorie

Betriebliche Voraussetzungen: Zutrauen in Entwicklung, innerbetriebliche Bereitschaft, Offenheit und Flexibilität im Prozessverlauf, ArbeitskollegInnen, die verantwortungsvolle Beziehungen eingehen, freundliches Betriebsklima, Klein- und Mittelbetrieb, "Risikoanstellung" - Offener Ausgang, Unternehmensförderung - Lohnkostenzuschuss

Betriebliche Wirkungen: Einstellungsänderung, Hauptfaktor der Anstellung: individuelles Entwicklungserlebnis, Differenz zwischen Arbeitsplatzangebot und -vorstellung, nicht-sichtbare Behinderung, Erfahrung von Grenzen (Überforderung), Folgeeffekt - weitere Anstellung, Erfahren von "Betriebsgeheimnissen", Bewegung/Veränderung einer betrieblichen Landschaft, Unterstützung innerbetrieblicher Beziehungsverhältnisse, Funktion des Mentors

Geschlechterdifferenz

Hemmfaktoren: vielfältige Problemfelder, instabile Familiensituation, unklare Tagesstruktur

11.2 Interview: Lernen als Gewinn

Das vorliegende Interview (in zwei Teilen) erfolgte nach mehreren Wochen der Begleitung der Arbeitsassistenz von "Integration Wien". Die Interviewpartnerin ist Marietta Schneider. Sie hat gemeinsam mit Christa Polster für den Verein: "Gemeinsam leben - Gemeinsam lernen" die Arbeitsassistenz von "Integration Wien" aufgebaut. Die Interviews wurden im Dezember 1998 im Büro der Arbeitsassistenz und im April 1999 in einem Café aufgenommen. Der Inhalt des Interviews beschreibt ihre persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen zum Thema "Arbeitsassistenz". Ich habe mich für diese Dokumentation entschieden, weil sie viele Bereiche radikal zuspitzt und zu kontroverser Diskussion anregt. Ihre Erfahrungen decken sich vielfach mit den Erfahrungen der anderen Mitarbeiterinnen des Vereins. Unterschiede gibt es aber in der individuellen Ausprägung und Interpretation der Arbeitsweise.

11.3 Teil I: Lernen und Arbeiten

11.3.1 Schule und Betrieb - Differenzierungen

Int: Der Einstieg in einen Beruf bringt vielfältige Veränderungen für den Menschen. Der Prozess der beruflichen Integration beginnt meist mit einem Rückblick auf die Schullaufbahn. Das Grundthema "Lernen" nimmt in der Schule, genauso wie später im Beruf eine zentrale Stellung ein. Worin siehst du die Unterschiede in den Lernwegen zwischen Schule und Beruf?

A: Schule ist ein klassischer Ort des Lernens und Arbeiten ist ein klassischer Ort des Lernens. In der konkreten Arbeit ist die Gestaltung des Übertritts von einem Lernort zum anderen ein wichtiger Punkt. Wenn der Jugendliche aus der Schulerfahrung heraustritt, das habe ich bei vielen Jugendlichen an dieser Schwelle bemerkt, dann macht der neue Ort, der ihnen fremd ist, viel Angst. Diese Angst wird persönlich unterschiedlich ausgedrückt, aber was fast alle Jugendlichen verbunden hat und verbindet, ist die Angst vor dem Neuen. Fast alle haben ihr Wissen, diesen Unterschied betreffend: "Jetzt ist die Schule zu Ende und jetzt beginnt etwas Anderes". Was aber dieses Andere ist, ist oft sehr ungreifbar. M10 z. B. ist einer der wenigen, die freudig, neugierig diesem Wechsel entgegengesehen haben. Seine Schulmüdigkeit war vollkommen klar und er wäre, glaube ich, mit zehn Pferden nicht mehr in eine Schule zu bringen gewesen. Aber er ist in dieser Haltung nicht repräsentativ.

In der Vorbereitung für eine Überprüfung der eigenen Arbeitswünsche im Rahmen eines Praktikums gehört für mich wesentlich dazu, die gemachten Lernerfahrungen miteinander herauszuarbeiten. Ein Stück Entängstigung wird gestaltet, indem man in das Neue, Fremde hineinschaut und gemeinsam nachschaut, was wird dort ähnlich und was wird dort ganz anders sein. Dazu gehört für mich eine persönliche Positionierung, was den Ort der Arbeit angeht. Das Arbeiten ist ein Ort des Lernens, wo die Lehr- und Lernpersonen andere sind. Es ist ein Lernen, das zum Teil an das schulische Lernen anschliesst, wenn es darum geht, Dinge zu lesen, Dinge zu erkennen. Der Leiter eines Supermarkts und Chef von M9, hat z. B. ein natürliches Talent, indem er ihm ganz genaue Anweisungen gibt. Er spricht bewußt seine Lesefähigkeit an, indem er ihm den Auftrag gibt, "Schau' genau nach, was dort und dort steht" oder "Zähl' bitte nach, wieviele sind noch dort und wieviele musst du noch bringen!" Das ist eine glückliche Situation, wo ein Praktiker die Lernerfahrung des Jugendlichen aus der Schulzeit hereinnimmt.

Das finde ich deshalb speziell gut, weil ich mir das eigentlich für jeden Jugendlichen wünsche, dass er in seiner gemachten Lernerfahrung respektiert wird, und wo auf dem aufbauend die anderen Lernerfahrungen im tatsächlichen Arbeitsfeld stattfinden. Das passiert natürlich nicht immer so idealtypisch.

Diese Verbindung herstellen, indem man aufeinander zugeht, wenn man gemeinsam im Arbeitsfeld steht, Verbindung herstellen zum Gelernten und damit Sicherheit schaffen für das erweiterte Lernen. Darin sehe ich eine wichtige Aufgabe der Arbeitsassistentin: Diesen Lernprozess sehr konkret, detailgenau und individuell auf die Person hin zu gestalten. Ich kann das, weil ich auf die Beratungsbeziehung rückverweisen kann und die betroffene Person vorbereitet habe, noch außerhalb des direkten Arbeitsprozesses.

Am Anfang des Beratungsprozesses ist die Lernerfahrung in der Schule meist im Zentrum. Das passiert sehr bewußtt, dass das wertschätzend in den gemeinsamen Raum hereinkommt, damit ich weiß, wo der Mensch seine Lernlieben und seine Lernkampfplätze hat. Das ist für mich schon die mentale Vorbereitung für die Lernsituation im Betrieb.

M7 ist ein gutes Beispiel. Er hat in der Praxis, beim Arbeiten, in seiner Leseschwäche einen völlig überraschenden Fortschritt gemacht. Er liest im Moment - und das finde ich phänomenal - er liest im Moment alles, was er lesen können will und muss. Vergleiche ich das mit seiner Situation in der Schule, wo ich einen ganzen Tag dabei sein konnte, als er sich im letzten Schuljahr mit hochrotem Kopf wahnsinnig abgekämpft hat, bis er ein Wort gelesen hatte.

Da ist für mich der tiefere Sinn, die beiden Lernorte in Verbindung zu sehen, und doch in ihrem Unterschied. Natürlich stehe ich als Mitgestalterin in diesem Lernprozess in einer wesentlich ungeordneteren, unkonsolidierteren Situation im Vergleich zu einem Lehrer in der Schule. Das macht dafür aber andere lebendige Lernprozesse möglich, die du in der Schule gar nicht hast. Ich habe mich selbst immer wieder als jemand gesehen, der den Menschen mitunterstützt im sich Etablieren in einem Arbeitszusammenhang. Dazu gehört auch, dass in der Arbeit andere soziale Regeln gelten als in der Schule. Das ist auch eine ganz wichtige, und zum Teil nicht leichte gegenseitige Erfahrung, in der man neue soziale Regeln miteinander lernt und erarbeitet. Der Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen lernt die schwierige Unterscheidung von verschiedenen sozialen Räumen und die damit verbundenen Handlungsspielräume.

Ich möchte das generalisieren: Es ist für alle Jugendlichen schwierig, diese Unterscheidungen zu machen oder die Unterscheidung auch zu verweigern. Bei M9, z. B. ist für mich beides vorhanden, zum einen, dass er um die Unterscheidung kämpft, dass er aber auch genießt: Was macht er, wenn ich ihn provoziere, oder wenn ich ihm etwas Unhübsches sage?

Int: Er weiß die Unterscheidung und macht es trotzdem als bewußtes Dagegen?

A: Ja, genau. Da kommt sehr viel soziales Lernen herein. Die Frage der Autonomie gehört für mich einfach zum Jung-Sein. Ich probiere, wo der Andere, wo die Autorität des Anderen endet. Ich probiere, wo der Andere aus seiner Autorität, aus seiner Rolle rutscht.

Bei Frauen - und das will ich noch kurz erwähnen - laufen diese Lernprozesse anders. Bei Mädchen und jungen Frauen erlebe ich mich oft als sie ermutigend oder sie unterstützend, damit sie sich artikulieren, damit sie sich etwas trauen. Bei den jungen Herren erlebe ich mich häufig auf der Bremse stehend. Ich versuche, Wege zu finden, natürlich gemeinsam mit ihnen, u. a. zu folgenden Fragen: Wie kann ich meine Aggression zügeln? Wie kann ich mit meinen verschiedenen Gefühlen umgehen?

Also, was Schule und Arbeit verbindet, das ist das Lernen. Die Inneneinrichtung, die Innenarchitektur der Lernorte ist grundlegend verschieden. Als persönliche Entscheidung ist für mich der Lernort Arbeit in seiner Komplexität, in seiner Unvorhersehbarkeit spannender. Ich stehe häufig vor Situationen, und die Jugendlichen genauso, die noch nie da waren. Was macht man damit? Was muss ich können, damit ich ein guter Kellner, ein guter Koch, eine gute Regalbetreuerin, eine gute Kindergartenhelferin werden kann. In alldem geht es um eine Kontinuität des Lernens.

Offene Fragen: Was sind typische Verhaltensmuster von Jugendlichen heute? Welche Lernorte gibt es neben Schule und Beruf? Wie sehen die Merkmale der anderen Lernorte aus?

Zentrale Themen (Kodes): Gestaltung von Übertritten, Angst, Schulmüdigkeit, Entängstigung, Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Lernorten, Sicherheit schaffen, Lernprozesse gestalten, Rückbezug auf Beratungsbeziehung, Erlernen sozialer Regeln, Differenzierung von sozialen Räume und Handlungsspielräumen (U, Ab. 1)

11.3.2 Verstärkte Geschlechterstereotypien

Int: Wie sehen deine Erfahrungen aus bezüglich den Unterschieden zwischen jungen Frauen und Männern. Was ist dir aufgefallen?

A: Es gilt eigentlich, wenn ich es vom Klischee her betrachte, fast alles, was du aus einer guten qualitativen Arbeit mit Jugendlichen kennst. Es gelten die Unterschiede zwischen jungen Männern und Frauen, nur in einer verstärkten Weise, verstärkt in den jeweiligen Geschlechterstereotypen. Ich möchte es pointiert so formulieren: Die jungen Männer mit besonderen Bedürfnissen kämpfen, zum Teil fast schmerzhaft, darum, als Mann einen Weg zu finden. Bei den jungen Frauen ist der Kampf mehr nach innen gerichtet, bei den Männern viel stärker nach außen.

Int: Sprichst du von einem Männerbild in Richtung Macho-Typ?

A: Ja, eindeutig. Es gibt ja andere Männerbilder auch, aber manchmal war ich sehr irritiert. Ich habe eine recht breite Erfahrung mit jungen Männern und eine recht breite Erfahrung mit jungen Frauen. Bei beiden ist es wirklich an der Grenze. Frau bemüht sich Frau pur zu sein und der Mann agiert als Macho. Da muss ich oft sehr bewußt reflektieren. Ich habe in heiklen Situationen nicht therapeutisch reagiert, sondern so, wie ich einem jungen Mann ohne Behinderung gegenüber reagieren würde. Ich habe es dann versucht zu erklären, oder mehr dazu zu sagen. Junge Männer mit besonderen Bedürfnissen müssen doppelt so fest kämpfen, ein Mann zu sein, und sind dann umso macho-mässiger (machöser).

Mit M10 habe ich da eine sehr bunte Erfahrung, eine sehr lebendige, weil er schon durch einige Wellen durchgegangen ist. Es hat mich teilweise gerührt, wie er mir danach erklärt hat, dass das blöd ist. Er hat mich durch die gewachsene Beziehung an seinen Überlegungen teilnehmen lassen. Zuerst fährt er mir mit dem Klobesen ins Gesicht, ich antworte ihm dann ruhig, dann probiert er das auch bei anderen Frauen und bekommt ebenfalls Rückmeldungen. Er wertet es dann aus und redet auch mit seiner Mutter darüber. Kürzlich hat er zu mir gesagt: "Ja, ich habe jetzt verstanden, nicht alle Frauen mögen angebaggert werden!" Das hat mich sehr gefreut.

Int: Wenn du sagst, Frauen wollen mehr Frau sein. Was verstehst du darunter?

A: Ich meine damit, dass sie sehr stark dabei sind, die passive Seite zu entwickeln. Ich versuche die jungen Frauen zu unterstützen, sich zu artikulieren, oder zu sagen, was sie wollen, oder zu sagen was sie denken. Ich habe bei einigen jungen Frauen das Bild, dass sie sich sehr in das Schneckenhaus zurückziehen, gerade in den Anfangssituationen. Sie versuchen wirklich ganz brav zu sein. Sehr klischeehaft. "Ich kann nur ganz brav sein." Wenn du das siehst, dann tut es dir fast schon weh. Wenn sie sich z. B. irgendwie verschauen (sich verknallen), sind sie unendlich verlegen und wissen überhaupt nicht wohin mit sich. Sie drücken sich dann so in sich hinein.

Int: Das klingt nach totaler Unterordnung.

A: Ja, ganz genau. Da probiere ich in der Situation gegenzusteuern oder auch anders zu agieren in einer ähnlichen Situation. Diese Erfahrungen hinterlassen bei mir den Eindruck, dass junge Frauen mit besonderen Bedürfnissen auf ihrer Ebene besonders kämpfen, dem Klischee "der Frau" zu entsprechen. Mit einer jungen Frau z. B. habe ich sehr lange mit ihrer Widersprüchlichkeit gekämpft. Sie hat einen Freund, und der Freund ist der Meinung, dass sie im Haushalt gut aufgehoben ist. Es ist toll, wenn sie arbeitet und ihm den Haushalt führt. Gleichzeitig sagte sie mir: "Haushalt führen ja - aber nicht nur das." Es ist so fad, sie will nicht den ganzen Tag zu Hause sein. Da war es eine recht diffizile und vorsichtige Geschichte, sie zu ermutigen, dass sie beides tun kann. Mir war klar, dass es nicht darum gehen kann, die Freundschaft/Liebschaft zu denunzieren, jedoch sie zu ermutigen, dass sie ein Recht auf ein eigenes Leben hat.

Int: Welche Frauen-Klischees sind dir neben Unterordnung und Haushaltsarbeit noch aufgefallen?

A: Ein heikler Punkt war und ist das Helfen, weil man das noch stärker hinterfragen muss. Das beschäftigt mich, seit ich in dem Bereich enger arbeite, dass die meisten Frauen in helfende, unterstützende Jobs hinein wollen, ganz klassisch. Nur an eine junge Frau erinnere ich mich, die einen nicht-spezifisch weiblichen Beruf angepeilt hat und die Ausbildung auch mit viel Kampf abgeschlossen hat, nämlich Allgemeinmechanik. Aber da hat es andere Hintergründe.

Ein Gedanke, der mich immer wieder beschäftigt hat: Wie könnte eine neue Form der Berufsbildentwicklung oder Berufsberatung für junge Frauen durchgeführt werden? Wie könnte man das konkret gestalten, gemeinsam mit jungen Frauen, auch mit geistiger Behinderung? Wie könnte man da einen Weg finden, ihnen neue Felder zu eröffnen und ihnen auch Lust zu machen, in neue Bereich hineingehen zu wollen. Diese eingeschränkte Berufsfeldsituation sehe ich durchaus widersprüchlich. Umso fraktionierter die Phasen werden, umso weniger wird über die unmittelbare Gegebenheit hinausgedacht. Wird die Phase der Berufsberatung und des Jobcoachings der Arbeitsassistenz von je neuen Personen durchgeführt, geht der personale Gesamtblick auf den betroffenen Menschen verloren. Jeder ist dann Experte in seinem Feld, jedoch wo bleibt dabei die Integrität des Menschen mit Behinderung?

Ich kann mir gut vorstellen, dass z. B. bei F4 oder bei F5, bei Frauen, die ich schon länger begleite, es längerfristig möglich wird, dass die zwei Frauen von sich aus in andere berufliche Bereiche hineinwollen. Ich finde es sehr spannend, wie das bei einzelnen Menschen in zehn Jahren ausschauen wird. Ich kann mir vorstellen, dass sich das bei einigen Menschen verändert, weil sich die Rahmenbedingungen verändern. Bei einigen anderen kann ich mir vorstellen, dass sie sich beruflich neu orientieren, weil sie sich selber verändern.

Offene Fragen: Worin liegt der Unterschied zwischen einer professionellen und freundschaftlichen Beziehung? Wo bestehen Grenzen? Wie kommt es zu professionellen Abhängigkeitsverhältnissen? Wie werden sie verhindert? Welche Themen gilt es in der beruflichen Integration weiterzuentwickeln? Welche gesellschaftlichen Tendenzen bestehen und wie wirken sie auf die berufliche Integration?

Zentrale Themen (Kodes): verstärkte Geschlechterstereotypien, Kampf mit Geschlechterrollen, Frauen nach innen, Männer nach außen, wachsende Beziehung/Vertrauen, Gegensteuerung/Korrektur, Ermutigung, neue Berufsfelder entwickeln, Verlust des Gesamtbildes, spannende Zukunft erwartet (U, Ab. 2).

11.3.3 Arbeitsantritt und Erweiterung

Int: Themenwechsel: Ich denke, dass es einen Prozess gibt, in dem der Mensch zum ersten Mal lernt, was es heißt, beruflich zu arbeiten. Welche Phasen erlebt die Arbeitsassistenz? Wo befindet sich z. B. M9? Wie bewertest du die Aussage, wenn du zu ihm in einer Beratung sagst, dass es hoffentlich weitergehen wird bei der Arbeit. Und er sagt: "Nein, ich glaube nicht."

A: Das ist seine Angst, ganz konkret. Da reden wir auch regelmässig darüber. Ich versuche es zusammenzufassen. Bei jedem Beginn, gleichgültig in welchem Arbeitsfeld, gibt es Thesen meinerseits. Was wird leicht gehen? Was wird auf Schwierigkeiten stoßen? Worauf habe ich zu achten, aufgrund meiner Kenntnis des konkreten Menschen? Das Hauptaugenmerk in der ersten Zeit der Einarbeitung meinerseits liegt immer auf einer sehr genauen Erfassung des Arbeitsinhaltes. Es geht mir darum, den Betroffenen, den Einzuarbeitenden, in seiner ersten Zeit in diesem Bereich ganz zentral zu stützen. Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass Anfangsthesen richtig und falsch sind.

Bei M9 z. B. habe ich mich in einem entscheidenden Punkt geirrt. Ich glaubte, dass er mit der Groborientierung keine Probleme hat, aber Probleme in der Feinorientierung. Es war sehr überraschend, dass er bei seinem ersten dreimonatigen Arbeitstraining bezüglich der Feinmotorik ein hohes Tempo an den Tag gelegt hat. Da habe ich meine These sehr rasch revidiert. Ich bemerkte allerdings, dass er - das habe ich in dieser Deutlichkeit nicht vermutet - mit den Menschen, die ein Geschäft beleben, mit den Kunden, dass er mit denen sehr massiv zu kämpfen hat, weil diese unvorhersehbar reagieren. Eine Ware reagiert mit der Zeit vorhersehbar, die Kunden nicht.

Wenn ich es grob sortiere, dann ist die Einarbeitungszeit auf zwei Ebenen entscheidend. Wie verläuft die soziale, kommunikative Ebene mit den dort anwesenden Menschen, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und, wenn es dienstleistungsorientiert ist, Kunden, Gästen? Und wie kann man vom Arbeitsinhalt und Umfeld her einen Boden erarbeiten, auf dem der Mensch gut stehen oder gehen kann. Es fällt mir schwer, diese Zeit quantitativ zu fassen, weil sie bei jedem Menschen unterschiedlich ist. Sobald sich ein paar Dinge konsolidieren, nach meiner Beobachtung geht das einher mit der Sicherheit bei der Bewältigung des Arbeitsinhaltes, dann kann man sich die Erweiterung des Arbeitsinhaltes überlegen, oder eine Verdichtung des Arbeitsinhaltes. Das hängt vom Menschen und vom Arbeitsfeld ab. Dies ist jedoch erst der nächste Schritt.

Mit dieser Überlegung kommt ein weiteres Lernfeld herein, nämlich der Mitarbeiter, die Mitarbeiterin, der innerbetriebliche Mentor, die innerbetriebliche Mentorin. Wir versuchen in unserer Praxis ein monatliches Arbeitsgespräch zu vereinbaren, wo der genannte Prozess im Zentrum steht.

Mein inneres Ziel ist, schon im ersten Monat ein, zwei, drei Personen im Betrieb dingfest zu machen, die sich für den jungen Menschen verantwortlich sehen, die auf ihn reagieren, die ihn sozusagen überhaupt wahrnehmen. Wenn ich das einmal klar habe, dann ist auch die Erweiterung gut möglich.

Die Phase der Erweiterung ist bei allen Jugendlichen eine sehr spannende und kritische Zeit. Ich habe im Laufe der Zeit gelernt, dass ich als Assistentin gerade in dieser Folgezeit in meiner Verbindlichkeit und Konzentration sehr gefordert bin. Da lässt der Betrieb in der Förderung oft nach, nicht aus Unwillen, oder mangelnder Sorgfalt, sondern, weil der betriebliche Ablauf das einfach nicht unterstützt. Deshalb ist es dann wichtig, dass ich dabei bleibe. Das hat sich in vielen Situationen bewährt. Wenn ein gewogenes betriebliches Umfeld da ist, dann wird das auch bemerkt. Es wird auch bemerkt, wenn der junge Mensch etwas Neues bringt, ein neues Menü auf den Tisch stellt. Hat sich dieses neue Niveau gefestigt, dann kann ich wieder zurückgehen, wieder mehr in den Hintergrund treten, bis neuerlich sichtbar wird, jetzt können wir wieder etwas Neues ausprobieren.

Das ist wie ein Pendel: Einmal nach vor und dann wieder zurück. So möchte ich die Grundbewegung der gemeinsamen Arbeit beschreiben. Diese Phasen sind für mich ganz schwer generalisierbar. Sollte ich diese Bewegung als Sinuskurve darstellen, dann gibt es Personen, deren Kurve sehr regelmässig verläuft, und dann gibt es Personen, da verlaufen diese Kurven sehr unregelmässig. Eine Qualität verbindet alle Prozesse: Sie sind alles andere als statisch und in hohem Maße lebendig. Das ist es, was mich immer wieder am tiefsten berührt.

Ich komme noch einmal zum Anfang zurück: Bei aller Schwierigkeit betrieblicher Lernfelder, mit ihrem hohen Maß an Heterogenität in fast allem, haben alle Jugendlichen, die ich bisher assistiert habe, das Lernangebot sehr gut angenommen. Es wird aufgenommen, assimiliert und etwas damit gemacht. Ich habe bisher noch niemanden erlebt, der in diesem Lernfeld den Rolladen heruntergelassen hätte, ähnlich einem Schulverweigerer. Nein, ganz im Gegenteil. Das ist das Beeindruckende, worüber ich gerne einmal weiterführend nachdenken möchte. Die spannende Frage ist: Und was wird damit gemacht?

Offene Fragen: Warum gibt es laut der Erfahrung der Arbeitsassistentin kaum Verweigerer in der Arbeit (im Gegensatz zu Verweigerer in der Schule)? Welches Lernangebot fördert den Lernerfolg? Welche Bedeutung haben der Grad von Komplexität und Heterogenität für die Motivation in der Arbeit?

Zentrale Themen (Kodes): Phasentheorie, Hypothesenbildung - Prüfung -Korrektur, Erfassung des Arbeitsinhaltes, Einarbeitungszeit - zwei Ebenen, monatliche Arbeitsgespräche, Mentorenprinzip, Erweiterungsphase - eine Herausforderung, Lebendigkeit, Annahme eines vielfältigen Lernangebotes (U, Ab.3)

11.3.4 Bedeutung von Arbeit und Geld

Int: Meine Hypothese ist, dass am Anfang der Arbeit deren Bedeutung für die Jugendlichen nicht klar ist. Irgendwann gibt es dann aber eine Phase, in der die individuelle Bedeutung der Arbeit bewußt wird. Siehst du das auch? Erlebst du das?

A: Arbeit im Unterschied zum Zu-Hause-Herumfaulenzen, oder, was Arbeit ist im Gegensatz zu der eigenen Schulerfahrung, wird relativ rasch begriffen. Wie es dann zum Teil verarbeitet wird, ist höchst unterschiedlich. Da kommen nun die Eltern herein. Der Grundzusammenhang, dass es notwendig ist, oder noch notwendig ist, zu arbeiten, um etwas zu Essen zu haben und etwas zum Anziehen, um die eigene Existenz zu sichern, wird durch die bisherigen Erfahrungen geprägt. Das ist zum Teil sehr abhängig vom Elternhaus. In einigen Beratungen ist es gelungen, die Arbeitserfahrungen der Eltern hereinzuholen. Da bekommt das Gespräch zwischen den Eltern und den Jugendlichen plötzlich eine andere Dynamik. Es braucht eben Arbeit, damit eine Suppe auf dem Tisch steht. Je eher in einer Familie Arbeiten als Voraussetzung der eigenen Existenzsicherung greifbar wird, desto schneller ist es für den Jugendlichen möglich, diese Verbindung für sich selber herzustellen. Dieser Begreifungsprozess und das Umlegen auf sich selbst sind Bausteine für eine Perspektive in die Zukunft.

M10 weiß z. B., wenn er wirklich selber wohnen können will, und er will, dann muss er auch eine Miete zahlen. Wenn das Thema "Wohnen" aktuell wird, beginnt bei ganz vielen der Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen, der nächste phänomenale Lernprozess. Plötzlich wird die ganze Geschichte viel greifbarer. Ähnliches wird erfahrbar, wenn zum ersten Mal das Gehalt vom Konto geholt werden kann. In die Vorbereitung gehört, noch bevor der Arbeitsplatz aufgenommen wird, zu schauen, welche Erfahrungen hat der Mensch bisher mit Geld? Hatte er bisher ein Taschengeld bekommen oder nicht? Wie konkret ist Geld für ihn? Kann er Geld differenzieren? Von diesen Faktoren hängt es ab, wie schnell die Rückkoppelung auf sich selber möglich wird.

Int: Ich denke, das ist auch ein Teil der Arbeitsmotivation.

A: Natürlich. Bei M10, F4 und F5 ist das ganz klar. Bei M9 fängt es erst langsam an. Da habe ich mit der Mutter darüber gesprochen, dass sie ihm nun Sachen nicht einfach kauft, sondern Dinge, die sie vertretbar findet, ihn auch bittet, dass er darauf spart, dass es klar wird: Ich habe einen Wunsch und der wird mir nicht einfach erfüllt, sondern, damit ich mir diesen Wunsch erfüllen kann, muss ich schauen, dass sich auf meinem Sparbuch ein bestimmter Betrag einstellt.

Int: Das ist ein wichtiger Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsenheit, oder?

A: Ganz entschieden, ja. Ein andere Mutter hat etwas sehr Kluges gemacht. Sie hat gesagt: Wunderbar, du verdienst jetzt selber ein Geld, jetzt bitte ich dich, dass du mir einen kleinen Anteil an Kostgeld zahlst. Das hat sie ihm sehr genau erklärt. Dadurch wird es auch wieder greifbar: Fast alles kostet Geld.

Bei M6 z. B. habe ich wirklich vielfältigste Versuche auf dieser Ebene unternommen und bin glücklichst gescheitert. Leider. Es war für die Mutter sehr schwer konsequent zu sein: Wenn er ihr mächtig auf die Nerven gegangen ist, dann hat er doch das ihm fehlende Geld für das Videospiel oder für etwas anderes bekommen. Dadurch hat er gelernt, reicht mein Geld nicht aus, muss ich nur lästig sein und dann bekomme ich den Rest. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Offene Fragen: Was gehört zum Erwachsen-Werden? Welche Verantwortlichkeiten und Freiheiten ergeben sich als Erwachsener?

Zentrale Themen (Kodes): Bedeutung von Arbeit, Arbeitserfahrung der Eltern hereinholen, selbständiges Wohnen, Umgang mit Geld, Erwachsen-Werden, Erziehungsstil (Einfluss) der Eltern (U, Ab. 4)

11.4 Teil II - Gewinnen mit neuer Qualität

11.4.1 Scheitern und Gelingen

Int: Warum hat berufliche Integration in Unternehmen funktioniert bzw. nicht funktioniert? Welche Gründe oder Hypothesen gibt es nach deiner Erfahrung?

A: Ich beginne mit jenen Erfahrungen, bei denen der Kontakt zum Unternehmen zunächst gelungen ist, sich später allerdings ein Scheitern abgezeichnet hat. Thesen, die Ursachen des Scheiterns betreffend, sind folgende: Ein Unternehmer, eine Unternehmerin, die vorschnell die Frage, ob er oder sie sich vorstellen kann, sich in den Prozess einer Arbeitsplatzentwicklung einzulassen, mit ja beantwortet, hat bei mir immer wieder Skepsis ausgelöst. Ein schnelles Ja ist bei dieser Frage eigentlich nicht möglich. Die schnelle Antwort hat meiner Meinung nach daraus resultiert, dass jemand sich eigentlich geschreckt hat, sich das nicht eingestanden hat und dann einmal vorsichtshalber, weil er ein guter Mensch sein will, ja gesagt hat.

Eine weitere These das Scheitern betreffend: Wenn sich ein Unternehmen aus rein sozial-karitativen Gründen für die Einstellung eines Mitarbeiters mit Behinderung entscheidet. Wenn der Chef, die Chefin verschiedene Gründe hat, ein guter Mensch sein zu wollen, wenn jemand Schuldgefühle hat, oder wenn es irgendwo im familiären Kreis ein großes Scheitern gegeben hat, das nicht auflösbar war, wenn so eine Art Wiedergutmachung geschieht - wenn also die berufliche Integration auf einem solchen Entscheidungsboden beginnt, dann ist das spätere Scheitern ziemlich sicher.

Zum Gelingen: Wenn ich mir alle konkreten Chefs vor Augen führe, dann kann ich das Gelingen dort verankern, wo ein Chef, eine Chefin sich schon länger Gedanken gemacht hat, was seine/ihre soziale Verantwortung im wirtschaftlichen Kontext bedeutet. Das Gelingen beruflicher Integration verlangt nicht, dass der Chef, die Chefin schon eine präzise Formulierung seiner oder ihrer sozialen Verantwortung hat. Drei Chefs sind mir ganz klar gegenwärtig, bei denen so ein Reflexionsprozess schon im Gange war, als ich an ihn oder sie herangetreten bin. Dies führte zu einer Intensivierung des Prozesses, nicht unbedingt auf den neuen Mitarbeiter hin, aber bezüglich der Positionierung des Chefs. Das Gelingen beruflicher Integration hat weiter konkret möglich gemacht: Eine skeptische Chefin und einen skeptischen Chef, gepaart mit Neugierde. Die Prozesse, die zum Teil recht langwierig waren, in denen sich diese Skepsis allmählich in ein klareres Bild, wie das gehen könnte, kristallisiert hat, umfassen auch die folgenden Schritte: Wenn der Mitarbeiter, die Mitarbeiterin gekommen ist, wenn es um die konkrete Arbeitsplatzentwicklung gegangen ist, und das war oft schlicht und ergreifend toll. Deshalb stehe ich so auf Chefs, die skeptisch und neugierig sind.

Ein Scheitern vorausahnen lässt auch, wenn der Chef oder die Chefin den Mensch mit besonderem Bedürfnis als besonders behütenswert, besonders schonungsbedürftig einschätzt. Das hat Konsequenzen für die Mitarbeiter, die direkt involviert sind, denn sie bekommen dann Anweisungen, die behindernd sind. Das führt zu Einsatzorten, die vom Chef oder der Chefin ausgesucht werden, die ich nicht einmal meinem Feind gönne, nämlich dort, wo man am wenigsten lernt. Das hat für mich immer korreliert: Nämlich das immense Schon- und Schutzbedürfnis mit einem Arbeitsinhalt, wo man vor Fadheit stirbt.

Was Gelingen, meiner Meinung nach möglich gemacht hat, war, wenn ein Betrieb in der Person des Chefs, der Chefin, mitten in einem Veränderungsprozess begriffen war, wenn sich ein Betrieb, sowohl von den Arbeitsinhalten, wie auch von der Personalpolitik her in einer produktiven Weise am sich Verändern war. Das kannst du nicht planen - aber das ist ein guter Moment, weil dann das ganze Gefüge sehr offen ist. Diese Offenheit schafft dann fast einen natürlichen Platz für einen anderen Veränderungsprozess, denn wenn ein Mensch mit Behinderung in einen Betrieb einsteigt, bedeutet das automatisch viel Veränderung.

Das Scheitern in einem Betrieb ist quasi garantiert, wenn die Arbeitshaltung des Chefs, einer Leitungsperson sehr unstrukturiert, sehr chaotisch, sehr autoritär ist. Das sind drei Qualitäten, wo ich sagen würde, wenn eine Leitungsperson diese Eigenschaften hat, dann bedürfte es ganz anderer Dinge, um mit dem Chef-Menschen so weit zu gelangen, dass er sich einen anderen Prozess im eigenen Betrieb vorstellen kann. Ich habe zwei Chef-Kontakte in Erinnerung, wo mir nach dem Gespräch klar war, mit dem trete ich nicht mehr in Kontakt, das hat keinen Sinn.

Was für mich immer auch ein wichtiger Indikator war, nach dem schriftlichen, oder telefonischen Kontakt, das war der erste Betriebskontakt in der Firma selbst, dort, wo gearbeitet wird. Ich habe es meistens so gemacht, dass ich früher dort war, oder dass ich eine Möglichkeit gefunden habe, sozusagen ein bisschen mitzubekommen, wie es da läuft, bevor ich zum Reden gekommen bin. Dieser erste Eindruck war für meine anfänglichen Arbeitsthesen ganz wichtig. Hatte ich das Gefühl, das Grundklima ist sachlich und konzentriert, waren das gute Ansatzpunkte für eine zukünftige Arbeitsplatzentwicklung. Aber auch: Wie geht es dem konkreten Menschen, mit dem im Hinterkopf ich die Akquisition mache, wie könnte es dem oder der an diesem betrieblichen Ort gehen. Ich habe zwei Betriebskontakte gegenwärtig, wo ich mir sogar überlegt habe, wenn es nicht gegen die Höflichkeit verstoßen hätte, aufgrund des Chaos, aufgrund der unguten Stimmung unter den Leuten, sofort den Rückzug anzutreten. Ich habe es natürlich nicht getan und habe mit diesem Chef gesprochen, das Gespräch hat dann allerdings den Gesamteindruck noch einmal verdeutlicht.

Offene Fragen: Worin liegt die soziale Verantwortung von UnternehmerInnen? Welches Verhalten löst Skepsis in einem Menschen aus?

Zentrale Themen (Kodes): Einstellungsbegründungen, Skepsis, sozial-karitative Gründe, Schuldgefühle, Wiedergutmachung, vorhandener Reflexionsprozess, Neugierde, Schonbedürfnis, Fadheit und Langeweile, Umstrukturierung, offenes Gefüge, ungünstige Chefeigenschaften, erster Betriebskontakt (U, Ab. 5).

11.4.2 Beispiel des Scheiterns

Int: In kurzen Abrissen - wie ist es da weitergegangen?

A: Du meinst jetzt bei diesem Scheiterungsbeispiel? Ja - da ist es im Ganzen sehr turbulent weitergegangen. Ich habe mit dem Chef gesprochen, er hat sofort ja gesagt. Er wollte, dass der junge Mann schon am nächsten Tag kommt. Mir war klar, egal wo dieser junge Mann eine Arbeitserfahrung machen kann, bedarf er einer 1:1 Assistenz, damit er überhaupt einen Schritt in den Betrieb hineinsetzten kann. Meine diesbezügliche Einschätzung stand im Widerspruch zum "Arbeitsauftrag" der Eltern: Der Sohn M6 musste da einsteigen, wenn der Chef " Ja" sagt. Ich habe dann versucht, einen Kompromiss zu gestalten und habe schnell meine Tagesstruktur verändert, damit ich möglichst bald eine Assistenz mit M6 in diesem Chaosland machen konnte. Wichtig war, M6 eine Struktur anzubieten, die in dieser Situation auch eine telefonisches Notfallnetz einschloß. Kurz und gut, nach einem Monat ist der Chef mir gegenübergesessen, wirklich buchstäblich die Haare raufend, sich windend und drehend, er hat mir klar gelegt, er will mit ihm nichts mehr zu tun haben: "Nehmen sie dieses junge G'frast und gehen's". Das war wortwörtlich seine Aussage.

Ich habe mit M6 in vier Arbeitsassistenzen probiert, seine Aufgabe zu reflektieren. Seine Arbeit bestand darin, in einem normalen Handelsbüro eine Alphabetisierung zu komplettieren, Ordner nach dem Alphabet zuerst einmal grob und dann fein zu sortieren. Bei gutem kontinuierlichem Miteinander Arbeiten, vom Alphabet und vom Arbeitsinhalt, hätte er das geschafft - nicht ich zeige es ihm und er macht es - sondern einfach er. Aber, das war nicht zu schaffen, weil die ganzen Ordner zu wenig Platz hatten, in dem Büro ein permanent hoher Geräuschpegel herrschte, dass auch ich Mühe hatte, einen ruhigen Gedanken zu fassen - das war wirklich ein Desaster.

Ich habe im Anschluss probiert, dem Vater klar zu machen, dass er eigentlich seinen Sohn "in den Krieg geschickt hat". Mit M6 habe ich probiert, herauszuarbeiten, was ihm bei allem Scheitern doch gelungen ist. Dem Unternehmer habe ich im Abschlussgespräch nahegelegt, sollte diese Frage, dass ein junger Mensch mit Behinderung bei ihm arbeiten kann, wieder einmal aktuell sein, dann wünsche ich ihm, dass er die Kraft hat, sich das genauer zu überlegen. Für uns alle ist Scheitern grausam und für einen Mensch, der um seinen Selbstwert kämpft, der im Grund seine Grenzen spürt, aber sie nicht greifen kann, ist so eine Form des Scheiterns, wie es M6 erlebt hat, doppelt grausam. Ich wollte dem Chef die Verantwortung, die er als Unternehmer hat, deutlich machen. Er hat diese allen seinen Mitarbeitern gegenüber, ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen macht es lediglich deutlicher sichtbar.

Offene Fragen: In welchen Bereichen kann die Arbeitsassistentin in Konflikt mit den Eltern geraten? Welche Parteilichkeit übernimmt die Arbeitsassistentin? Für und mit wem arbeitet sie?

Zentrale Themen (Kodes): Konflikt mit den Eltern, Arbeitsauftrag der Eltern, telefonisches Notfallsystem, Arbeitsaufgabe mit schlechten Rahmenbedingungen, aufklärende Funktion, Verantwortung gegenüber allen MitarbeiterInnen (U, Ab. 6).

11.4.3 Rollenzuschreibungen

Int: Menschen mit Behinderungen haben eine schwache Position. Häufig werden bestimmte Rollen an sie herangetragen, die ihnen nicht gut tun. Bei M6 gab es ein anderes Praktikum, da kann man sagen, da hat er die Sündenbockrolle übernommen.Würdest du das auch so sehen? Gibt es andere Rollen, die übernommen werden, willst du dieses Sündenbock-Phänomen konkretisieren?

A: Ja. Das möchte ich gerne konkretisieren und da komme ich - für mich - zu einem wichtigen Teil des Selbstverständnisses von Arbeitsassistenz. Die Rolle, die dem neuen Mitarbeiter, der neuen Mitarbeiterin mit besonderen Bedürfnissen zum Teil sehr rasch und fast automatisch zuwächst, weil sie - wie du richtig gesagt hast - von vornherein keinen selbstverständlichen Stand im betrieblichen Gefüge haben, ist die Rolle des Sündenbocks, des Kaspers, des Ausweichortes, wenn man nicht arbeiten will, des Wahrheitsdetektors, des Informationsübermittlers ohne Risiko, des "emotionale Batterie zur Verfügung-Stellens". Wenn ich das zusammenfasse, dann sind das lauter untergeordnete, zum Teil auch verachtete Rollen.

Int: Eine Ergänzung dazu: So ein Jugendlicher sieht ja, was im Betrieb läuft, z. B. wenn sein Mentor ein Alkoholiker ist.

A: Ganz genau, und da wird es dann ganz haarig. Wenn der Mensch sehr direkt ist und das sagt, was er sieht, dann ist die Gefahr sehr groß, dass er zum Puffer oder zum Blitzableiter wird. Da ist es ganz wichtig, dass es einen innerbetrieblichen Mentor gibt, der diese "Wahrheit" aufnimmt und das zu einer konstruktiven Weiterentwicklung bringt, weil das ja ein innerbetriebliches Problem ist, das der betroffene Mensch sichtbar macht, und wo der Sichtbarmachende in einem gewissen Sinne auch Schutz braucht.

Was ich ebenso probiert habe, dies sehe ich auch als Funktion der Arbeitsassistenz:

Solche Rollenentwicklungen zu unterbrechen, sei das, indem ich mich nach einem anderen Arbeitsort umsehe, oder dass ich mit dem Rollenzuschreiber, mit der Rollenzuschreiberin rede. Für mich war oft auch signifikant, dass die härtesten Rollenzuschreiberinnen meist selbst ein ganz massives Problem im Betrieb hatten und eifersüchtig waren. "Der oder die bekommt soviel Zuwendung, soviel Aufmerksamkeit, mir geht's so beschissen." Da sind Prozesse in Gang gekommen, wenn ich probiert habe - soweit es mir möglich war - ein Gespräch mit dem Betreffenden zu suchen, der die Rollenzuschreibung dem Jungen gegenüber gemacht hat, und ihm ein Stück wirklich zu begegnen und dort (ab)zuholen, wo er ist, oder sie dort zu holen, wo sie ist. Nicht kalmieren - das bringt gar nichts.

Wenn ein solcher Prozess gelaufen ist, bei M10 z. B. oder bei M9, dann habe ich im Nachhinein mit ihm angefangen darüber zu reden. Ich konnte dem Einzelnen dann auch sagen: Du schau, im Moment bist du gerade der Kasper, das tut dir nicht gut. F4 ist eine Zeit lang sehr unter Druck gestanden, vom betrieblichen Gefüge des Kindergartens, indem sie gearbeitet hat: Sie wurde die Adressatin von allen guten Vorschlägen und Ratschlägen aller Mütter! Das hat sie natürlich auch genossen, und gleichzeitig hat sie sich dagegen gewehrt. Da habe ich einfach probiert zu sagen: "F4, du kannst selber denken, du kannst dich selber ausdrücken, jetzt nimm' doch nicht einfach alles, sondern sag' deiner Arbeitskollegin: ‚Danke, ich mache es anders.'" Ich habe mit ihr probiert, liebevolle Zurückweisungen zu entwickeln. Das sind konkrete Beispiele, wie ich probiert habe, sowohl mit dem Betroffenen selber, wie auch mit dem Umfeld solche Rollenzuschreibungen zu verändern, zu unterbrechen. Vor allem auch mit dem Betroffenen selber Sachen zu entwicklen: "Wie kann ich mich anders verhalten, wie kann ich anders tun?"

Offene Fragen: Welche Rollenfunktionen oder Rollenverteilungen bestehen in einem Betrieb? Was ist die Funktion oder Eigenschaft einer Rolle? Wie kann eine Rollenzuschreibung beeinflusst, unterbrochen, korrigiert werden? Wie wird die Rolle der Arbeitsassistentin von den anderen MitarbeiterInnen im Betrieb verstanden? Welche Spannungen sind in diesem Zusammenhang denkbar?

Zentrale Themen (Kodes): untergeordnete Rollen, Rollenentwicklungen unterbrechen, Beratung der anderen MitarbeiterInnen, Aufdecken - Klärung, Supervisionsfunktion, neue Verhaltensstrategien entwickeln, Beispiele vorgeben, Bestärkung, Zurückweisung üben (U, Ab. 7).

11.4.4 Einstellungsänderung beim Unternehmer

Int: Welches Verhalten oder welche Reaktionen zeigen UnternehmerInnen oder MitarbeiterInnen beim Bewerbungsgespräch, wenn du das erste Mal hingehst bzw. am ersten Arbeitstag. Hast du Rückmeldungen bekommen, drei, vier Monate später, wo der Chef oder die Chefin sagt: "Ich möchte Ihnen einmal erzählen, wie das damals war, am ersten Tag, stellen Sie sich vor ..."

A: In sprachlich und inhaltlich unterschiedlich gefärbter Form kann ich ein paar Aussagen generalisieren, die zwei, drei Monate oder ein halbes Jahr später an mich gelangten. Diese Rückmeldung oder der Rückbezug auf den ersten Eindruck, als der Betroffene und ich das erste Mal aufgetaucht sind, ist immer dann aufgetreten, und das ist interessant, wenn sich die Gesamtlage schwingend etabliert hatte, wenn sich bestimmte Sachen gut entwickelt haben, wenn es ein Stückchen betriebliche Normalität gegeben hat. Dann sind diese Meldungen gekommen und die kann ich in einem Satz zusammenfassen: "Na-ja, Frau Schneider, das hätte ich nie gedacht!" Dann ist nachträglich herausgekommen, dass es ganz wenig Vorstellungen gegeben hat, wie das überhaupt gehen könnte.

Ich wurde meistens als idealistische Spinnerin wahrgenommen. Ein Herzstück und Grundwunsch bei den Erstkontakten war für mich, je nach Person und Situation, Bilder zu entwickeln, weil mir klar ist, ich komme mit "etwas", das nicht etabliert ist. Mit dem Ziel der Entängstigung habe ich dann probiert, Vorstellungen und Bilder zu entwickeln. Ein Chef sagte einmal: "Ich habe Sie als sehr engagiert, aber ein bisschen verrückt empfunden. Aber jetzt muss ich sagen, jetzt sehe ich Sie nüchtern und ich bin froh, dass wir uns gegenseitig die Zeit gegeben haben." Das ist ein paar Mal passiert und das war sehr schön.

So wie ich als idealistische Spinnerin empfunden wurde, ist der Mensch mit besonderem Bedürfnissen regelmäßig falsch eingeschätzt worden. Das achte ich heute noch bei einigen Chefs und Chefinnen, dass sie in der Lage waren zu sagen, "Ich habe gemeint, dass der oder die, das alles, was sie jetzt kann, nie könnte und dass wir fast nur Probleme haben werden. Ein Chef hat einmal gesagt: "Nach Ihrem Besuch habe ich mir gedacht, wo habe ich mich da hineinreiten lassen? Wie hat die das geschafft, dass ich da eingestiegen bin."

Später hat er mir gesagt, er hat jetzt selber Anschluss an den jungen Menschen, von da her ist ihm klar geworden, woher ein Stückchen meiner Begeisterung gekommen ist, die ihn beim Erstgespräch irritiert hatte. Wenn solche Reflexionen möglich wurden, ging das meist einher mit der Initiierung des nächsten Prozessschrittes: Sei es, daß der betroffene Mensch eine Erweiterung seines Arbeitsfeldes vom Chef angeboten bekommen hat, oder dass man sich von der Arbeitszeit eine Erweiterung getraut hat. Es war dieser Schwung zurück, der meistens mit einer Bewegung in den nächsten Entwicklungsschritt verbunden war.

Wenn es mir gelungen ist, beim anderen Menschen Anschluss zu finden, die Freude an etwas Neuem zu wecken, dann war dies meist ein guter Anfang. Diesen emotionalen Anteil am gesamten Prozess möchte ich nicht geringschätzen.

Offene Fragen: Welche Faktoren beeinflussen ein respektvolles Aufeinander-Zugehen? Welche Rahmenbedingungen sind innerbetrieblich notwendig, um Beziehungen untereinander herstellen zu können? Wie kann die betriebliche Normalität vor bzw. nach dem Prozess der beruflichen Integration aussehen? Wie entstehen Emotionen und wie können sie beeinflusst werden?

Zentrale Themen (Kodes): erster Eindruck, Gesamtlage schwingend etabliert, betriebliche Normalität, Staunen über Erfolg, Bilder entwickeln, Zeit geben, Fehleinschätzungen, Anschluss finden, Erweiterung von Arbeitsfeldern und Arbeitszeit, Schwung zurück und vor, hoher emotionaler Anteil (U, Ab. 8).

11.4.5 Verlust und Gewinn des Betriebs

Int: Was gewinnt der oder die UnternehmerIn durch eine Anstellung, deiner Meinung nach? Welche Probleme stehen an oder kommen auf einen zu? Womit muss sich der oder die UnternehmerIn auseinandersetzen, wenn er oder sie so eine Anstellung ins Auge fasst?

A: Ich drehe Deine Frage um: Was verliert der oder die UnternehmerIn, wenn er oder sie die Anstellung eines Mitarbeiters mit Behinderung macht? Er, sie verliert über kurz oder lang die Illusion, dass es in seinem Betrieb keine Probleme gibt. Er verliert die Illusion, es gäbe in seinem Betrieb kein Arbeitsleid.

Ich fasse es zusammen: Es kann ihm passieren, dass bestimmte liebgewordene Images brechen. Zuerst einmal bekommt er ein Mehr an Arbeit. Er muss, wenn er sich auf das ernsthaft einlässt, in Rechnung stellen, dass er als Chef und in weiterer Folge die MitarbeiterInnen, mehr Zeit benötigen, die nicht direkt in die Produktion und nicht direkt in den Profit fließen. So ist es, wenn man es kurzfristig betrachtet, was ja die übliche Perspektive beim Wirtschaften ist. Längerfristig aber, nachhaltig gedacht, kehrt sich die Rechnung um. Beim Einstieg eines neuen Mitarbeiters mit Behinderung steht ein Mehr an Arbeit. Es ist manchmal nötig, dass ein Mitarbeiter dafür freigestellt wird, um auf den jungen behinderten Mitarbeiter "aufzupassen". Er muss sich auch genauer die Anlernsituation im Betrieb anschauen. Er kommt über kurz oder lang an den Punkt, dass er sieht - wenn er es will - wo die Schwachpunkte der Organisation und der Lernsituation seiner anderen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind. Am Anfang muss er ziemlich viel hergeben, verlieren, um längerfristig für alle etwas zu gewinnen.

Jetzt nehme ich den Begriff Gewinn in seinem engen, wirtschaftlichen Verständnis. Die Chefs, die diese Fragen des Gewinns im ersten oder zweiten Gespräch mit der Arbeitsassistenz benannt haben, sind mir im Laufe der Jahre immer sympathischer geworden. Dass es auf der Rechnungsebene passt, ist nun einmal ein Herzstück des Wirtschaftens. Ich habe zunehmend jenen Chefs misstraut, die gesagt haben: "Na - die Lohnkostenförderung brauchen wir nicht, das machen wir, weil wir das wollen." Das waren meistens die Heuchler. Ich habe mich im folgenden Prozess immer auf die besser verlassen können, die von Anfang an gesagt haben: "Ja, ich lege Wert auf die Lohnkostenförderung. Schauen Sie beim AMS, dass Sie die maximale Förderung herausschlagen."

Das war mir meistens auch kein Problem. Wenn ich in diesem Prozess so weit gediehen war, dass ich in die Verhandlungen mit dem AMS gehen konnte, war das meistens schon so, dass ich die Firma einschätzen konnte und die Ernsthaftigkeit der Motivation - in etwa - gemerkt habe. Mir ist - mit einer Ausnahme - kein Chef begegnet, der nur auf die Lohnkostenförderung reflektiert hat. Diese Erfahrung ausdrücklich zu nennen ist mir deshalb wichtig, weil das häufig der Vorbehalt des AMS gegen Förderungen war und ist: "Na, ja - die Unternehmer sind nur scharf auf die Förderung und auf billige, auszubeutende Arbeitskräfte."

Indirekt benennt dies einen weiteren sensiblen Ort, in welchem die Arbeitsassistenz agiert. Es war für mich selbstverständlich, dass ich immer geschaut habe: Wie sieht das Ausbeutungsverhältnis aus? Dafür geben die Arbeitsverhältnisse der KollegInnen immer wichtige Hinweise. Aber vor allem beim Betroffenen: Was steht sich gegenüber? Das was der Mensch konkret einbringt, und das, was er betrieblich bekommt: Kritisch reflektiert und nicht am generellen Maßstab genommen "40 Stunden - und so viel Gehalt", sondern orientiert am subjektiven Leistungsmaß des jeweiligen Menschen.

Was gewinnt ein Betrieb? Also, wenn es gut geht, eine optimale Lohnkostenförderung von Seiten des AMS oder der Gemeinde Wien oder vom BSB. Dort kann es aber auch wieder so sein, dass der Gewinn eine Schattenseite hat, das muss man differenzieren. Das Unternehmen muss nur bei einer Förderschiene die verlängerte Kündigungszeit oder die vielfach sogenannte Fessel des Behinderteneinstellungsgesetzes zur Kenntnis nehmen. Wenn ein Mensch eine Landesförderung erhält, dann hat der Betrieb diese "Fessel" nicht. Dort gewinnt eigentlich das Unternehmen maximal. Dort hat er beides, die Lohnkostenförderung, den sogenannten Leistungsausfallausgleich und die Möglichkeit, den Mitarbeiter, so wie jeden anderen auch - hire and fire - einfach auf die Straße zu stellen. Ähnlich bei den sich immer mehr verdünnenden AMS-Förderungen.

Da sehe ich eine wichtige Aufgabe der Arbeitsassistenz, dass sie sich - das ist mühsam, aber wichtig - in der sich ständig verändernden Förderlandschaft kompetent auskennt und wirklich im Kern Bescheid weiß, was sie in der Auseinandersetzung mit dem Chef und der Chefin qualifiziert auf den Tisch legen kann, "Das hat's - das wiegt's". Das heißt, in dieser Verhandlungsphase hat die Arbeitsassistenz einen Spagat zu machen zwischen verschiedenen Ebenen: Die betriebliche Situation und die tatsächliche Fördermotivation auszuloten, und zu sehen wie die Förderbereitschaft und Förderverbindlichkeit vom AMS, vom BSB, von der Gemeinde Wien aktuell sind. Das habe ich gelernt: Wenn du einem Unternehmer gegenüber keine seriösen Zusagen präsentieren kannst, dann nimmt er dich nicht ernst und das zu Recht.

Int: Aber das ist ja gerade im Moment ständig so, dass keine klaren Förderzusagen gemacht werden können. Es gibt keinen Rechtsanspruch.

A: Es gibt keinen Rechtsanspruch, das ist vollkommen richtig, aber es gibt eine Möglichkeit. Das geht in die Geschichte der Beratungseinrichtung hinein. Es gibt ein hohes Maß an Verbindlichkeit, das du erwirtschaften kannst mit dem jeweiligen Amt. Das bin ich ganz konkret bei einer Förderzusage wirklich durchgegangen, bis mir der Amtsleiter die Förderzusage gegeben hat und ich ihm klar gelegt habe, dass der Unternehmer das schriftlich bekommen muß. Ich habe versucht, mit meinen machtarmen Mitteln ihn einfach festzulegen. Das ist das Mühsame, dass du im Kern jede Förderverhandlung - in Bezug auf den Betrieb, und in Bezug auf das jeweilige Amt - durcharbeiten musst. Da würde ich mir von einem Rechtsanspruch sehr viel erwarten. Die ganze Prozedur würde dann zu einem technischen Detail, wo man miteinander Regeln entwickeln kann und muss. Das wäre das Ende des gegenwärtig gespielten feudalen Gnadenakts. Man wäre auf einer ganz anderen Ebene gleichwertig. Es wäre damit auch ein anderes politisches Niveau erreicht, gäbe es einen Rechtsanspruch. Aber ich insistiere darauf, es ist auch in den gegebenen, ganz haarigen Bedingungen möglich, ein maximales Maß an Verbindlichkeit zu erwirtschaften, nur das heißt viel Arbeit.

Zum idealistischen Gewinn hätte ich gern noch kurz etwas gesagt. Ein Unternehmen gewinnt an Genauigkeit, an Genauigkeit auf der Arbeitsinhaltsebene und auf der Mitarbeiterebene. Ein paar Mal habe ich das wirklich miterlebt, dass die Sensibilität für die Probleme der anderen Mitarbeiter gewachsen ist. Das geht langsam, aber es kann gelingen. Wenn es sehr gut geht, ist dieser Prozess Anstoß für eine Verbesserung der Arbeitsplatzqualität überhaupt.

Offene Fragen: Der Betrieb als lernende Organisation - welchen spezifischen Beitrag bringt ein Mensch mit Behinderung? Wie kann eine Nachhaltigkeit gesichert werden? Wodurch wird in einem Betrieb eine Balance zwischen "hergeben und bekommen" geschaffen?

Zentrale Themen (Kodes): Brechen von Images, Anlernsituation erkennen, längerfristig für alle ein Gewinn, wirtschaftlicher Gewinn, Ausbeutungs- bzw. Arbeitsverhältnis, genereller und subjektiver Leistungsmaßstab, Fessel: Behinderteneinstellungsgesetz, Fachkompetenz - Förderungen, kein Rechtsanspruch, mühsame Förderverhandlungen, idealistischer Gewinn (U, Ab. 9).

11.4.6 Die neue innerbetriebliche Qualität

Int: Ines Boban sagt: Mit dem Menschen mit Behinderung, der im Unternehmen angestellt wird, entsteht eine bestimmte innerbetriebliche Qualität, die sie noch nicht in Worten festmachen kann, aber es verändert sich durch seine Anwesenheit sehr viel. Kannst du für diese Qualität, die man nicht in Zahlen messen kann, Worte finden?

A: Ich probiere es und zwar, indem ich von einem ganz anderen Feld her komme: Wenn ich von den Bildern und Vorstellungen zur Humanisierung der Arbeitswelt ausgehe. Wenn Arbeit Sinn haben darf, wenn Arbeit selbstbestimmt gestaltet werden darf, wenn Arbeit nicht nur die Existenz sichert, sondern gut sichert, wenn Arbeit beides enthalten kann, nämlich Freude an der Leistung und auch Freude an der Pause, wenn Arbeit ein Stückchen zur Realisierung der eigenen Person werden darf, dann kann ich das als Qualitäten formulieren, die ich festgestellt habe in verschiedensten betrieblichen Zusammenhängen. Was mich am stärksten immer wieder berührt hat, und erst kürzlich wieder berührte, ist, dass sich die Wahrnehmungsfähigkeit der anderen Personen verdichtet, dass sich die Intensität der Phantasie, das Vorstellungsvermögen intensiviert. Wie ein Stein, der ins Wasser fällt und seine Kreise zieht. Ich nehme Bezug auf die ersten Eindrücke, die ersten Gedanken, eines Chefs, einer Chefin, wenn wir gekommen sind, wie Unvorstellbares vorstellbar wurde. Wenn sich ein Betrieb auf das eingelassen hat, werden auch andere Sachen vorstellbar. Es öffnet sich das gesamte Feld.

Das Beispiel von F4 macht das Gesagte konkreter. Sie ist seit drei Jahren Kindergartenhelferin. Sie will lernen, sie will eigentlich die Kindergärtnerinnenausbildung machen, sie hat ein ganz klares Ausbildungsziel, weil sie ganz genau weiß, dass sie eine Hilfsarbeit macht. Als sich abgezeichnete, dass F4 die Kindergartenhelferinnenausbildung, die es in ihrem Betrieb gibt, machen will, meinte ihre Chefin, ihre Fachinspektorin: "Das ist undenkbar. Das geht nicht."

Durch ihr Nicht-Locker-Lassen, immer wieder Einfordern, sich sehr Investieren in der konkreten Arbeit, durch mehrfache Debatten zwischen mir und der Fachinspektorin, ist es jetzt, ein halbes Jahr später, für die Leistungspersonen möglich: "Na, ja - jetzt arbeitet F4 schon drei Jahre im Kindergarten, wir bieten nun eine verbesserte Ausbildung an, sie soll die Chance genau so haben, wie die anderen." Die Fachinspektorin wird sich dafür einsetzen, dass F4 im Herbst in die Ausbildung einsteigen kann.

Zur Frage, was sich für die anderen MitarbeiterInnen verändert: Aufgrund der guten Arbeitsverantwortung, die F4 inzwischen entwickelt hat, kann sich ihre Kollegin einen langgehegten Wunsch erfüllen: Sie kann nun verstärkt in die Kinderkrippenarbeit im Kindergarten einsteigen. Das war zufällig dieselbe Frau, die die größte Ablehnung F4 gegenüber hatte, als sie ihre Arbeit im Kindergarten begann.

Das ist für mich der qualitative Gewinn, wenn die ganze Landschaft so in Bewegung kommt, dass Wünsche, Interessen sich verbreitern und auch realisierbar werden, dass die Bedürfnisse der anderen plötzlich auch mehr Platz bekommen. Das ist für mich eine tiefe Wurzel für das Gelingen. Gleichzeitig ist es eine Wurzel für das Scheitern, wenn in einem Betrieb ein Mensch mit besonderem Bedürfnissen der einzige ist und bleibt, der gefördert, geschützt, geschont wird.

Die anderen bekommen genauso, auf ihre Weise, wenn es gut gelingt, einen Gewinn an Qualität. Das kann persönlich sehr unterschiedlich sein, aber wenn das gelingt, dann passt es. Deshalb noch einmal der Rückbezug: Die Qualität beruflicher Integration zeigt sich, wenn Spuren von Humanisierung der Arbeitswelt möglich werden.

Int: Anders ausgedrückt, wenn in einem Unternehmen der Unternehmer sagt, "Das Betriebsklima ist mir wichtig, es ist mir nicht gleichgültig, was für ein Arbeiter vor Ort ist." Kann man das so sagen?

A: Ja - genau.

Int: Also, es erfordert einen Unternehmer der ...

A: Nein - es muss noch kein Unternehmer sein mit einem "fertigen" sozialpolitischen Gewissen. Aber es braucht einen, der - wenigstens am kleinen Zehen - ein Gespür dafür hat, der seine ArbeiterInnen nicht nur als Maschinen sieht.

Offene Fragen: Was bringt ein Mensch mit Behinderung mit, dass er oder sie als Katalysator für Veränderungsprozesse gesehen werden kann? Welche Voraussetzungen braucht ein Betrieb, damit sich die Chance der beruflichen Integration erhöht?

Zentrale Themen (Kodes): innerbetrieblicher Gewinn, Humanisierung der Arbeitswelt, Steigerung von Arbeits- und Lebensqualität, verdichtete Wahrnehmungsfähigkeit, Öffnung des gesamten Feldes, Intensität der Phantasie, aktives Nicht-Locker-Lassen, Folgeeffekte der beruflichen Integration, Katalysator für Veränderungsprozess (U, Ab. 10).

11.4.7 Die Rolle der Verweigerin - Elternermutigung

Int: Gehen wir noch einmal zurück zu den Rollen, die Menschen mit Behinderungen zugeschrieben werden. Vor Kurzem wurde auf einer Tagung darüber diskutiert, welche Rolle der Jugendliche mit Behinderung im Betrieb übernimmt, wenn es offensichtlich so ist, dass er in seiner Arbeit nicht den üblichen Leistungsanforderungen und konventionellen Verhaltensmustern entspricht. Es gibt z. B. die Erfahrung, dass sich der Eine oder die Andere nicht unter das Leistungsdiktat unserer Arbeitsgesellschaft zwingen lässt - aus welchen Gründen auch immer. Eine Meinung war dann generell formuliert, dass der Behinderte in der Gesellschaft die wichtige Rolle des "Verweigerers" übernimmt, einer der aufzeigt - "So nicht, ich brauche jetzt zuerst eine Pause" oder "Ich mache es in meinem Tempo - Schluss". In der Diskussion wurde auch klar, dass in dieser Rolle ganz viel ausgehalten werden muss. Es ging so weit, dass eine Mutter sagte, sie sei nicht bereit, ihre Tochter in den Krieg zu schicken, bzw. auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, nur damit sie diese gesellschaftlich wichtige Rolle der Verweigerin - die Demonstrantin gegen das Leistungsdiktat - einnimmt. Die Verzweiflung der Mutter war spürbar und konkret, denn die Tochter hatte nach zwei misslungenen Versuchen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nun in der Beschäftigungstherapie begonnen.

Int: Bevor ich Dir antworte, möchte ich noch gerne etwas ergänzen. Im Zuge einer Beratung, in der ein Jugendlicher mit Behinderung noch große Mühen hatte, meinte M7: "Arbeit macht das Leben süß", genau in dieser Zweifachheit, als ein Stückchen Liebe, ein Stückchen Bitterkeit. Genauso M10, er sagte zu mir: "Es kann mir auch nicht immer gefallen. Ich hätte gerne, dass es mir immer gefällt, aber es kann mir nicht immer gefallen."

Wenn ich reflektiere und gewichte, die Mama in ihrem Schmerz und in ihrer Situation, dass sie nicht will, dass ihre Tochter Kriegerin in einem Betrieb ist, so ist das für mich greifbar. Die Arbeitsassistenz hat das als einen wichtigen Teil ihrer Arbeit zu sehen: Der Mama, dem Papa, aber größtenteils der Mama ein Polster auf ihren Stuhl zu legen, das heißt eine Form von Ermutigung. Der Prozess der Entscheidung, "Meine Tochter, mein Sohn geht in eine Beschäftigungstherapie oder geht den Weg in Richtung allgemeinen Arbeitsmarkt," weckt in einer neuen Phase sämtliche Schutzbemühungen und sämtliche Widersprüche in den Eltern gegenüber ihrem Kind. So wie bei allen pubertierenden Jugendlichen, wo es die Eltern, größtenteils die Mütter, hin und her zaubert, zwischen dem, was bisher gelebt worden ist und dem, was jetzt kommt.

Verdichtet haben sich die Eltern von Jugendlichen mit Behinderung der Frage zu stellen, wie sie sich auch als Eltern neu positionieren. In vielen Beratungen hatte ich das Gefühl, "die Jungen" ziehen voran und haben ganz konkrete Wünsche. Im gleichen Moment geht bei den Eltern viel auf oder bricht auf und sie beginnen, zurück zu gehen. Ich würde mir wünschen, dass es eine neue Form oder neue Gestaltung gibt, wo die Eltern diesen ganz tief notwendigen Raum bekommen, um das mit sich und mit anderen zu verdauen. Ich glaube, wenn sie einen guten Platz dafür hätten, dann könnten sie sich eine Spur mehr freuen, dass die Jungen so "nach-vorne-ziehen". Auch wenn Eltern sich sehr anstrengen, sind sie manchmal schwerfällig, für sie ist das notwendig und gut, auch wenn der Junge, die Junge es brauchen würde, dass sich die Mama freut, dass ihr das Gesicht aufgeht, wenn er oder sie so nach vorne zieht. Das könnte ein Platz sein, wo sich die Elternarbeit der Integrationsbewegung neu kristallisiert. Die Entscheidung, in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu gehen, muß auch von der Arbeitsassistenz so gesehen werden, dass diese Entscheidung eine Metamorphose bei den Eltern in Gang setzt, die nicht ganz leicht ist.

Diese Entscheidung ist nie abgeschlossen - das habe ich oft erlebt - da sind manchmal die Jungen die schnelleren Entscheider als die Eltern. Eine Mutter, die anfangs dem Wunsch ihrer Tochter am allgemeinen Arbeitsmarkt eine Arbeit zu finden, sehr skeptisch gegenüberstand, artikuliert jetzt - ihre Tochter hat inzwischen einen geschützten Arbeitsplatz bei der Gemeinde Wien -, nun könne sie sich sozusagen "zur Ruhe setzen". Doch jetzt kommen ihr die ganzen vergangenen Zweifel und die ganze Angst all der vergangenen Jahre ins Bewußtsein. Sie kann den ganzen Bogen der Erfahrung in einen Zusammenhang stellen. Manche Mütter können das nicht so gut, die sind dann fast nur voller Angst. War dem so, dann habe ich probiert, das Gewicht von einem Fuss auf den anderen zu verlagern und die Mama ein bisschen mehr zu stützen. Wenn die Jungen weniger Angst haben, musst du als Begleiterin einfach schauen, dass die Mama weniger Angst hat.

Offene Fragen: Welche Personengruppen in der Gesellschaft übernehmen die Rollen der "Verweigerer"? Welche Folgen nimmt eine Verweigerin auf sich? Welche Gründe führen zu einem angepassten Verhalten von MitarbeiterInnen in einem Betrieb? Ist der Mensch mit Behinderung ein unbequemer Mensch, weil er sich teilweise nicht anpasst?

Zentrale Themen (Kodes): Rollenzuschreibungen, Leistungsdiktat verweigern, aushalten müssen, Verzweiflung der Mutter, Einsicht, Schmerz, Ermutigung, Neupositionierung von Eltern, zurücktreten, Raum bekommen, Elternarbeit, Entscheidung nie abgeschlossen, Zweifel und Angst, Zug der Jugendlichen: ziehen lassen (U, Ab.11).

11.4.8 Wünsche an den/die ArbeitsassistentenIn

Int: Was würdest du zukünftigen Arbeitsassistenten und Arbeitsassistentinnen wünschen, was möchtest du ihnen auf den Weg mitgeben, und welche kritischen Hinweise oder Tipps gibst du weiter?

A: Was ich jeder Arbeitsassistentin, jedem Arbeitsassistenten von Herzen wünsche, versuche ich in Kernqualitäten zu formulieren: Lust, ganz generelle Lust am Fremden, wenig Angst vor dem Risiko. Sich in diesem Arbeitsfeld bewegen, bedeutet, viel Kontakt mit Fremdem, zuerst Unüberschaubarem, Gefährlichem. Sehr oft gibt es Situationen, wo man am Anfang nicht weiß, ob sich das Risiko lohnt. Damit man da nicht anfängt zu kalkulieren, braucht man wenig Angst. Wir haben alle Angst vor dem Risiko, deshalb formuliere ich das so vorsichtig: wenig Angst vor Risiko.

Was ich mir an weiteren Kernqualitäten wünsche, ist eine kritische Liebe zu allem, was mit Arbeit zusammenhängt, eine durchaus leidenschaftliche Arbeitshaltung bei sich selber. Ich kann mir keine Arbeitsassistentin, keinen Arbeitsassistenten vorstellen, der von seiner, ihrer Person her nicht gerne arbeitet. Es ist egal in welchem Bereich, aber es muss einen starken Draht zur Arbeitswelt geben. Damit zusammenhängend auch eine Lust an Veränderung, in die betroffene Menschen hineinphantasieren können, in ihre möglichen Entwicklungen. Das heißt im Kern, dem betroffenen Menschen ganz viel Veränderungsmöglichkeit zuzugestehen. Das kann ich nur dann, wenn ich selber Veränderungen mag. Aber auch, was wesentlich schwieriger ist, ein betriebliches Gefüge, als ein von Menschen getragenes und gestaltetes Ganzes zu sehen, natürlich wesentlich bedingt durch exogene Faktoren, und es doch als einen für die Arbeitsassistenz gestaltbaren Raum zu begreifen. Gestaltung und Veränderung sehe ich ganz eng verknüpft, weil verändern tut sich vieles von selber, rein durch den Zeitfaktor. Das verdient meiner Meinung nach aber nicht die Bezeichnung Veränderung. Für mich gehört wesentlich eine wünschende Gestaltungskraft dazu und deshalb möchte ich eine Arbeitsassistenz, die keine Scheu vor neuen Bildern hat.

Der Arbeitsassistentin, dem Arbeitsassistenten wünsche ich eine positive Haltung Konflikten gegenüber. Weder den Konflikt suchen noch ihn scheuen. Eine konstruktive Konflikthaltung versteht Konflikte als Katalysatoren für tiefergehende Lernprozesse. Es braucht eine sportive Lust in den Konflikt hineinzugehen und nicht großräumig auszuweichen. Damit zusammenhängend wünsche ich der Arbeitsassistenz auch, dass sie "die Vielfalt des kleinen Karos" nicht pflegt, darin liegt die Gefahr der Verzettelung. Ich finde es wichtig, dass man als ArbeitsassistentIn Lust an einem erweiterten Horizont hat. Das heißt, dass du dich selber als ein permanent lernendes Subjekt begreifst.

Wie will ich einem Betriebssystem, wie will ich einem betroffenen Junior Lust auf Lernen machen, wenn ich das nicht in Ansätzen selber mag. Ich erlebe diese Lust als eine mich nach vorne tragende Kraft: Den Horizont zu öffnen, heißt zuerst einmal festzustellen: "Oh, das kenne ich nicht - spannend - wie sieht das genau aus? Das verstehe ich nicht, das möchte ich hinterfragen, das möchte ich angreifen, das möchte ich probieren."

In gewissem Sinn heißt das auch, dass der Arbeitsassistent, die Arbeitsassistentin eine beherzte Lust auf Erfahrung hat. Ich würde mir wünschen, dass der Arbeitsassistent, die Arbeitsassistentin einen Fächer eigener unterschiedlicher Arbeitserfahrungen mitbringt.

In einigen betrieblichen Situationen habe ich durch meine unterschiedlichen Arbeitserfahrungen in der Vergangenheit manche Dinge schneller erfasst, nicht so sehr vom Kopf her, sondern von der Intuition. "Ah - hoppala - da läuft das und das" oder "Das könnt' das und das sein." Dadurch musste so manche destruktive Sackgasse nicht durchwandert werden.

Offene Fragen: Was bedeutet eine "kritische Liebe zu allem, was mit Arbeit zusammenhängt"? Liegt eine Aufgabe der Arbeitsassistentin in einer gesellschaftskritischen Haltung? Welche Lebensbereiche hängen nicht mit der Arbeit zusammen?

Zentrale Themen (Kodes): Kernqualitäten, kritische Liebe zur Arbeit, Lust an Veränderung, Veränderungsmöglichkeiten zugestehen, gestaltbarer Raum, keine Scheu vor neuen Bildern, konstruktive Konflikthaltung, Gefahr der Verzettelung, permanent lernendes Subjekt, eine "beherzte Lust" (U, Ab. 12).

11.4.9 Verführung zum Expertentum

A: Eine weitere kritische Anmerkung: Es ist verführerisch, das neue Berufsfeld: 'Arbeitsassistenz' verführt, in eine neue Expertengruppe zu verwandeln. Ich glaube, dass diese Verführung strukturell angelegt ist, sie dient der besseren Kontrollierbarkeit durch die Geldgeber, die daran ein klar politisches Interesse haben. Das AMS und das BSB als die maßgeblichen Geldgeber in diesem Bereich sind am Erhalt des Status quo der sogenannten "Rehabilitationspolitik" interessiert. Sie wollen keine Arbeitsassistenz als ein radikalisierendes, kritisches Gegengewicht.

Mein Appell an die mir nachfolgenden KollegInnen: Seid wachsam und kritisch, wie und woher ihr euer Selbstverständnis speist. Passt auf, so anstrengend, mühsam und zäh die Arbeit gemeinsam mit den Eltern ist - verliert den Herzton und den Draht zu den Eltern nicht. Wenn ihr das verliert, dann habt ihr zwar kurzfristig eine leichtere Arbeit, aber längerfristig wäre das ein Fehler.

Gebt Acht auf das ganze soziale Feld, in dem der jeweilige Mensch steht. Seht euch als einen wesentlichen Teil in diesem sozialen Gefüge, in dem der Mensch mit Behinderung steht. Der Mensch mit besonderem Bedürfnis steht meistens in einem sehr sensiblen sozialen Zusammenhang. Wenn Arbeitsassistenz damit nicht respektvoll umgeht, dann beginnt der Prozess der beruflichen Integration zu schwinden.

Auch wenn es immer wieder mehr Arbeit bedeutet hat, die Information über den gerade aktuellen Stand der Arbeit der Arbeitsassistenz an die Eltern, an die WG-BetreuerInnen oder SachwalterInnen zu kommunizieren, hat sich das immer positiv auf meine Arbeit rückgekoppelt.

Es geht im Wesentlichen um die Teilhabe der anderen Spielpartner, gerade der Eltern, wo dadurch ein vertrauensbildender Prozess in Gang kommen kann: Wenn ich informiert werde, dann muss ich meinem Jungen nicht ständig an den Fersen hängen, dann muss ich ihn oder sie nicht ständig nerven, "Was ist denn in der Arbeit gewesen", dann spielt die Arbeitsassistenz den Jugendlichen frei, "Ich sage das meiner Mama nicht". Versuche gelebter Selbstständigkeit werden so auch für Jugendliche mit Behinderung möglich. Für sie ist das nämlich wesentlich schwieriger und trotzdem sind sie in erster Linie Jugendliche und dann erst behindert.

Ich habe oft die Erfahrung gemacht, wenn das Vertrauen durch regelmäßige Information der Mütter gewachsen war, dass sie "ihren Kindern" dann eher Freiräume lassen konnten. Das Eine greift in das Andere. Das sehe ich schon auch als Gefahr für die Arbeitsassistenz, dass man im Zuge des tagtäglichen Drucks und der vielen Arbeit, die Eltern immer mehr aus dem laufenden Prozess "hinausschiebt" und sie dadurch als Korrektiv für die eigene Arbeit verliert. Was ist, wenn ich meine, ich sei die "bessere Reservemama". Das ist ein Missverständnis, denn die Verantwortung der Eltern ist ein nicht zu übergehendes Faktum und deshalb zu respektieren.

Offene Fragen: Auf welchen Prinzipien beruhend, hat sich die Arbeitsassistenz in Österreich etabliert? In welchem Ausmaß besteht bereits das neue Expertentum? Welche Rahmenbedingungen unterstützt die Kommunikation unter allen Beteiligten?

Zentrale Themen (Kodes): radikales und kritisches Gegengewicht, soziales Gefüge, Teilhabe aller SpielpartnerInnen, Eltern als Korrektiv, Eltern nicht übergehen (U, Ab. 13).

11.4.10 Politische Arbeit

A: Last but not least: 'Politisch sind wir ja alle', das scheint mir oft ein zu rasch hergestellter Konsens zu sein. Ich wünsche mir, ich warne, ich kritisiere: Gleichgültig welcher konkrete politische Ort der jeweilige Assistent, die jeweilige Assistentin hat - er soll reflektiert werden. Er soll, soweit es dem jeweiligen Menschen möglich ist, griffig sein. Ich sehe eine große Gefahr in einem diffusen politischen Standpunkt. Ich sehe die Gefahr darin, dass man dann, wenn man in den politischen Feldern, wo man mit dem AMS oder mit dem BSB, betreffend konkreter Menschen mit Behinderung in Verhandlung geht, unter einen starken Druck gerät. Weiß man selber nicht, wo man politisch steht, ist es schwer, diesem Druck standzuhalten, ist die Möglichkeit konstruktiv widerständig zu sein bedroht.

Als Arbeitsassistent, als Arbeitsassistentin kann ich im besten Fall MentorIn, auch für die Lernfähigkeit der Integrationsbewegungseltern sein. Das gibt es, das setzt aber voraus, dass ich weiß, von welchem Anker aus ich handle, was politisch meine Grundbewegung ist. Widerständig geführte politische Verhandlungen können sehr unangenehm und schwierig sein. Das kann ich nur aushalten, wenn ich weiß, warum ich das tue, oder woraufhin ich es tue. 'Ein bisschen kritisch', ist in diesen Auseinandersetzungen ein zu "leichtes Gepäck", nicht weil ich für ein "schwereres Gepäck" plädiere, aber es ist mir lieber, wenn jemand einen reflektierten konservativen Standpunkt hat, als wenn jemand nur so eine halbherzige, blassrosa kritische Haltung hat. Wenn es um entscheidende Weichenstellungen geht, dann kann der Arbeitsassistent, die Arbeitsassistentin, der/die einen reflektierten politischen Standpunkt hat, eine Widerständigkeit, ein Durchhaltevermögen an den Tag legen, die in Konsequenz für den Betroffenen nur produktiv sein kann.

Int: Das ist klar - aber das ist ein hoher Anspruch.

A: Ja, das ist mir bewusst und ich bin mir auch der Angreifbarkeit dieses Anspruchs bewusst - aber so kann ich konzentriert darstellen, dass die Arbeitsassistenz eine hochpolitische Arbeit ist. Nicht nur, sie ist auch im besten Sinn des Wortes eine soziale Dienstleistung - aber wenn sie sich darauf reduziert, dann ist das ein Missverständnis.

Int: Danke für das Gespräch.

Offene Fragen: Welche Verbesserung von Rahmenbedingungen braucht die berufliche Integration?

Zentrale Themen (Kodes): reflektierter Standpunkt, Arbeitsassistentin als Mentorin, Widerständigkeit, Durchhaltevermögen, hochpolitische Arbeit und soziale Dienstleistung (U, Ab. 14).

11.5 Ordnung der Hauptthemen

Durch den Vergleich und die Integration der Daten aus den Personengeschichten und den Daten aus dem Interview können die vorläufigen Schlüsselkategorien bestätigt werden. Sie bilden den Kristallisationspunkt, um die eine "Theorie der beruflichen Integration im Rahmen der Arbeitsassistenz" entwickelt wird. Auf eine Interpretation des Interviews von Marietta Schneider verzichte ich an dieser Stelle, weil ihre Aussagen m. E. programmatisch klar ausgeführt sind. Ich ordne nun die Schlüsselkategorien vier Hauptthemen zu, die in den nächsten Kapiteln analysiert werden.

  1. Thema: Die Hauptperson[10] in der Auseinandersetzung mit sich selbst und den anderen

  2. Thema: Die Arbeitsassistenz in ihrer Arbeit und Funktion

  3. Thema: Betriebliche Voraussetzungen und Auswirkungen

  4. Thema: Die Familie im Prozessgeschehen



[9] Eine Schlüsselkategorie ist eine übergeordnete Kategorie. Sie besteht aus mehreren Einzelkategorien.

[10] Als Hauptperson in der beruflichen Integration bezeichne ich die Person mit der Behinderung.

12 Die Hauptperson in der Auseinandersetzung mit sich und den anderen

12.1 Die Schule und der Betrieb - zwei Lernorte

Die Hauptperson wächst in der Schule heran, bis eines Tages das Ende der Pflichtschulzeit gekommen ist. Zu diesem Zeitpunkt beginnt für die meisten Jugendlichen der sogenannte "Ernst des Lebens" - die Arbeitszeit. (In Tirol z. B. beginnen fast die Hälfte der Jugendlichen eine Lehre und sind damit direkt in einem betrieblichen Arbeitsgefüge.) Der "Lernort Schule" ändert sich zu einem "Lernort Betrieb". Auf die Hauptperson kommen neue, noch nie dagewesene Anforderungen zu, die er oder sie in irgendeiner Form bewältigen muss. In der beruflichen Integration kann die Arbeitsassistenz diesen Prozess unterstützten und begleiteten.

Die Hauptperson bringt bereits eine lange Geschichte von Lern-Auseinandersetzungen mit, wenn sie zum ersten Mal in die Beratung der Arbeitsassistenz kommt. Sie hat im Umgang mit Über- und Unterforderungen Strategien entwickelt, und Verhaltensweisen erlernt, die ein individuelles Überleben in der jeweiligen Schule ermöglichten. Interessant dabei scheint der grundsätzliche Unterschied zwischen SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen und in integrativ geführten Klassen zu sein. Vorsichtig und als Hypothese formuliert, ist das Selbstverständnis grundsätzlich ein anderes: SonderschülerInnen, die den geschützen Raum der Schule verlassen und in den offenen gesellschaftlichen Raum eintreten, z. B. im Prozess der Arbeitssuche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, zeigen sich wesentlich unsicherer als SchülerInnen aus Integrationsklassen. Für SchülerInnen mit Behinderungen aus Integrationsklassen zählt die Verschiedenheit der individuellen Lebenssituation quasi zur alltäglichen Erfahrungswelt. Für sie ist es "normal, verschieden zu sein". Diese Normalität bedeutet nicht, dass die Auseinandersetzung um das eigene Ich nicht mehr stattfindet, sondern stellt sie auf eine andere Basis, in der individuell erlernte Kommunikationsformen selbstverständlich erscheinen. Die Auseinandersetzung und Konfrontation mit der eigenen Behinderung gehört zum Alltag und ist manchmal mehr und manchmal weniger bedeutsam. SchülerInnen aus Sonderschulen stehen hingegen über längere Zeit in einem "geschonten Raum", wodurch das Erleben und Erkennen von Unterschieden zu sogenannten Nicht-Behinderten einem möglichen Erfahrungsraum außerhalb der Schule zukommt. Häufig ist aber auch dieser Erfahrungsraum als "geschützter Bereich" organisiert.

Hans Brügelmann (1996) hat in einem Artikel zur "Öffnung des Unterrichts" Prinzipien des Lernortes Schule beschrieben, die m. E. Qualitätsmerkmale einer demokratischen und humanen Schule für alle Kinder - mit oder ohne Behinderung - darstellen. Die Gründe für eine solche Schule liegen in seinen 1. politischen und rechtlichen, 2. reformstrategischen, und 3. pädagogisch und didaktischen Forderungen (vgl. Brügelmann 1996, S. 1). Die strukturellen Voraussetzungen des Lernortes Schule lassen sich in ähnlicher Weise für den Lernort Betrieb beschreiben, deshalb werden einzelne Aspekt im Folgenden aufgegriffen.

Brügelmann verweist im Hinblick auf die Schule darauf: "Was jemand lernen soll, kann nicht der alleinige Maßstab sein, mindestens genauso bedeutsam ist es, wie er bzw. sie sich mit dem Gegenstand auseinandersetzen soll und kann." Oder anders formuliert: "Nicht die Quantität kurzfristiger Lernerfolge, sondern die Qualität des Lernprozesses ist der Maßstab für guten Unterricht" (Brügelmann 1996, S. 21). Ähnliches lässt sich auf die Situation der beruflichen Integration übertragen: Die Hauptperson im Betrieb lernt mit Unterstützung eines Mentors, einer Mentorin oder in der Begleitung der ArbeitsassistentIn. Die Chance der Arbeitsbewältigung erhöht sich, wenn der Prozesscharakter des Lernens unterstützt wird. Gerade dann, wenn sich die Arbeitsbegleitung zurückzieht und die Hauptperson auf sich gestellt ist, zeigt sich, inwieweit diese Form der Selbständigkeit erreicht wurde. "Die Lehrerin vermittelt nicht Stoff oder Normen, sondern sie fordert die Erfahrungen, das Denken, die Urteile der Kinder heraus. Denn: Lernen bedeutet immer Veränderung, ‚Passung' heißt insofern nicht ‚Anpassung'. Statt Wissen und Können als Produkt zu ‚transportieren', werden Lehrpersonen zu kritischen BegleiterInnen von Lernprozessen, in die sie zwar bestimmte Inhalte einbringen, nie aber deren Wirkung auf die SchülerInnen determinieren können" (ebd.). Und an anderer Stelle formuliert er: "Öffnung des Unterrichts bedeutet den Verzicht auf eine pädagogische Allmacht, die Begriffe wie ‚Diagnose', ‚Kontrolle' und Förderprogramm' nahelegen. Ich spreche lieber von ‚Beobachtungs- und Deutungshilfen' von methodischen ‚Ideen'" (Brügelmann 1996, S. 33).

Im innerbetrieblichen Begleitungsprozess kommt den ArbeitsassistentInnen eine wichtige Funktion zu. Sie können die Hauptperson herausfordern, indem sie

  • "Fragen stellen (‚Wie bist du darauf gekommen?', ‚Was soll das bedeuten?'),

  • Alternativen aufzeigen (‚Probier es doch einmal so!', ‚Ich würde es so machen!'),

  • Zweifel äußern (‚Geht das denn auch, wenn ...?', Ulf hat ein anderes Ergebnis')" (Brügelmann 1996, S. 33).

Die ArbeitsassistentInnen sind nicht dazu da, dass sie die gestellten Arbeitsaufgaben für die Hauptperson übernehmen, sondern höchstens gemeinsam mit ihr ausführen. Sie sollten sich vielmehr in der Arbeit zurücknehmen, um das Bild von der realen Arbeitsleistung der Hauptperson nicht zu verzerren. Die Auseinandersetzungsleistung (Erlernen von Arbeisabläufen, Kennenlernen von Grenzen, übernehmen von innerbetrieblichen Verhaltensregeln) in der Arbeit muss die Hauptperson selbst erfüllen, damit die berufliche Integration gelingen kann. Wie Brügelmann in Bezug auf Piaget ("Ungleichgewicht"), Wygotski ("Zone der nächsten Entwicklung") oder Heckhausen ("mittlere Schwierigkeit") ausführt, setzt "Lernen" Konflikte voraus, "d.h. eine Spannung zwischen individuellen Denk- bzw Verhaltensschemata und Anforderungen der Situation" (Brügelmann 1996, S. 22). Die Arbeitsbegleitung ist bei diesen Konflikten dabei, um das Überwinden - aber auch das "Aushalten-Müssen" - zu unterstützten.

Ein zentraler Aspekt bei Brügelmann ist die Frage nach dem Maß an Mitbestimmung und Mitverantwortung von Kindern im Unterricht. Im Lernort Betrieb stellt sich dieselbe Frage: Welches Maß an Mitbestimmung und Mitverantwortung ist möglich oder notwendig? Einerseits sind bestimmte Arbeitsaufgaben zu erfüllen, um den betrieblichen Anforderungen zu entsprechen, andererseits können Freiräume produktive Arbeitslösungen herbeiführen, die allen zugute kommen. Menschen mit Behinderungen arbeiten aufgrund ihrer physischen und psychischen Voraussetzungen meist in Arbeitsbereichen, die speziell für sie zusammengestellt wurden. Im Spannungsfeld zwischen der Anforderung des Betriebs und den Möglichkeiten der Hauptperson, entstehen so häufig für Menschen mit Behinderungen Arbeitsorte am allgemeinen Arbeitsmarkt (= ein Merkmal der Unterstützten Beschäftigung). Inwieweit ist dabei die Hauptperson miteinbezogen? Werden ihre Wünsche gehört und in einer mögliche Form umgesetzt?

12.2 Jugendlich und behindert

Neben der Auseinandersetzung mit dem neuen Lernort Betrieb, ergeben sich für die Jugendliche entwicklungspsychologische Auseinandersetzungen um die eigene Identität. Die Hauptperson befindet sich biographisch in einer Zeitspanne, in der die Selbstsuche und - möglicherweise - Selbstfindung ganz zentral ist und zu vielen inneren und äußeren Konflikten führt. Es ist eine Zeit, in der persönliche Grenzen ausgelotet werden und eine intensive Identitätsarbeit geleistet wird. Keupp et al. (1999) verweisen hier auf eine veränderte Perspektive in der Identitätsforschung. Die Identitätsbildung entwickelt sich heute vom Jugendalter zum biographisch offenen Prozess (vgl. Keupp 1999, S. 82). Grundsätzlich lassen sich zwischen Jugendlichen mit oder ohne Behinderung keine Unterschiede in diesem Prozess feststellen. Die Rückmeldungen in der ersten Phase der Arbeit scheinen jedoch anders. Gerade das Beispiel M1 macht deutlich, wie mühsam der Prozess des Miteinander-Umgehens erkämpft werden musste. Anfangs wurden M1 keine klaren Grenzen gesetzt. Dieses Verhalten seiner Umgebung kann auf seine Behinderung zurückgeführt werden. Die MitarbeiterInnen wussten nicht, wie sie mit den Provokationen umgehen sollten. Bei sogenannten nicht-behinderten Jugendlichen wäre die Grenzziehung vermutlich viel rascher erfolgt. Dem widerspricht ein Ergebnis von Rathmayr, der sich generell für einen neuen kommunikativen Generationsvertrag ausspricht. "Erwachsene, so das Ergebnis der Beobachtungen, haben bestimmte feste Erwartungen an das Verhalten Jugendlicher und reagieren empfindlich, wenn diese Erwartungen nicht eingehalten oder verletzt werden. Sie nehmen unangenehmes Verhalten Jugendlicher vorweg und neigen dazu, ihre Kritik nicht direkt an die Jugendlichen zu adressieren, sondern als stumme, resignative Entrüstung zu äußern. Wenn sie sich dennoch direkt an einen Jugendliche wenden, neigen sie zu abwertend-verächtlichen Klassifizierungen und zeigen geringe Bereitschaft, diese Haltung aufzugeben, wenn der Anlass ihrer Kritik beseitigt ist" (Rathmayr 1994, S. 87). Die Feststellung Rathmayrs erscheint insofern interessant, da sie in Konsequenz zu einer Relativierung bisheriger Behinderten-Stigma-Theorien beitragen kann. Nicht nur Behinderungen, sondern auch Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen Erwachsenen und Jugendlichen können Gründe für ein Scheitern im beruflichen Integrationsprozess darstellen.

In den vorliegenden Daten lässt sich ein weiteres "Behindertenmerkmal" benennen, das im Prozess der beruflichen Integration auffällt: Die Unterscheidung zwischen einer sichtbaren und einer nicht-sichtbaren Behinderung. Bei Jugendlichen mit einer sichtbaren Behinderung liegt die Tendenz nahe, sie zu unterfordern, wohingegen bei Jugendlichen mit einer nicht-sichtbaren Behinderung die Tendenz eher in der Überforderung liegt. Beides, die Über- und die Unterforderung, sind mit Rollenzuschreibungen verbunden und haben oft wenig mit der konkreten Person zu tun. Davon abgesehen, zeigen sich auch andere Verhaltensweisen oder -mechanismen (vgl. M1 mit sichtbarer Behinderung im Gegensatz zu M2 mit einer nicht-sichtbaren Behinderung). Eine Frage wie z. B. "Haben es Jugendliche mit einer sichtbaren Behinderung in der beruflichen Integration leichter?" ist m. E. jedoch zu eindimensional und führt nicht zu einem konstruktiven Weiterentwickeln der Möglichkeiten. Wie alle Beispiele im empirischen Teil zeigen, gibt es kein allgemein gültiges Erfolgesreszept für die berufliche Integration, sondern nur die Möglichkeit des Ausprobierens. Erst wenn es in der Phase des Kennenlernens (z. B. im Arbeitstraining) zu kritisch reflektierten Erfahrungen kommt, lässt sich eine Balance zwischen Über- und Unterforderung finden, wobei sich herauskristallisiert hat, dass die Individualität der Jugendlichen immer wieder für Überraschungen gut war. Eine Korrektur der Anfangshypothesen in der konkreten Arbeitssituation musste des öfteren vorgenommen werden.

12.3 Zur Rolle des Behinderten im Betrieb

Soziologisch betrachtet wird die soziale Rolle, als "die Summe von Erwartungen an das soziale Verhalten eines Menschen, der eine bestimmte soziale Position innehat", beschrieben. Es zeigt sich in einem "gesellschaftlich bereitgestellten Verhaltensmuster, das in bestimmten Situationen ausgeführt werden kann oder muss. Der Widerspruch, der sich aus unterschiedlichen Rollenerwartungen (Familie-, Berufs-, Geschlechts-, Freizeit-Rollen) ergeben kann, wird Rollenkonflikt genannt" (Der Brockhaus 1999, S. 9, vgl. auch Cloerkes 1997, S. 141). Die Auseinandersetzung mit sich selbst und den anderen zeigt sich gerade in der beruflichen Integration in vielfältiger Form und wurde auch von den ArbeitsassistentInnen und den Hauptpersonen selbst immer wieder formuliert. Das Entstehen einer bestimmten Rolle kann aus der Sicht der Hauptperson auf ein reaktives und ein aktives Verhalten zurückgeführt werden. Das reaktive Verhalten entsteht durch die Anpassung an Einstellungen und Erwartungen der Umwelt. Das aktive Verhalten kennzeichnet sich dadurch aus, dass die Hauptperson eine bestimmte Rolle (Positionierung/Stellung) im Betrieb sucht, annimmt oder ablehnt. In diesem Prozess übernimmt die Arbeitsassistenz eine wichtige Unterstützungsfunktion, indem sie bei der Klärung individueller Vorstellungen behilflich ist.

Mit welchen Erwartungen und Einstellungen sieht sich nun die Hauptperson im Betrieb konfrontiert? Eine neugierige und zugleich skeptische Erwartungshaltung wurde im empirischen Teil mehrmals dokumentiert und als günstiger Entwicklungsfaktor angesehen. Haben UnternehmerInnen und/oder MitarbeiterInnen diese Haltung eingenommen, erhöhte sich die Chance der beruflichen Integration. Vielleicht hat diese Haltung etwas mit Ernstnehmen und Akzeptanz der betreffenden Person zu tun. Die skeptische Einstellung gegenüber der Hauptperson kann auch damit zusammenhängen, dass der Betrieb die Kosten-Nutzen Erwartung nicht abschätzen kann und sich mehr an Informationen seitens der Arbeitsassistenz wünscht. Diese betriebswirtschaftliche Überlegungen sind in erster Linie bestimmt durch den Spannungsbogen von Erwartungen zwischen Arbeitserleichterung durch eine zusätzliche Arbeitskraft bis hin zu einem zusätzlichen Arbeitsaufwand durch Kontroll-, Begleit- oder Betreuungsfunktionen.

Neben der betriebswirtschaftlichen Erwartungshaltung beeinflussen individuelle und gesellschaftliche Erwartungen die Rollenzuschreibung. Je nach Erfahrungsschatz der EinstellungsträgerIn fallen diese unterschiedlich aus.

Individuelle Erwartungen sind von individuellen Erfahrungen abhängig; diese können sein:

  • eigene Betroffenheit z. B. innerhalb der Familie oder des Freundeskreises: Die durchschnittlich angenommene Verteilung von Menschen mit Behinderung an der Gesamtbevölkerung liegt bei 10 %. Es gibt kaum eine Familie, in der nicht eine behinderte Person, zumindest im Verwandtschaftskreis, lebt. Die Tatsache der eigenen Betroffenheit wird in der Literatur der Behindertenpädagogik bisher kaum beachtet, hat jedoch einen wesentlichen Einfluß auf Einstellungen und Erwartungshaltungen gegenüber behinderte Personen.

  • andere Kontakte/Begegnungen: Individuelle Erfahrungen, die sich vielleicht nur in Beobachtungen erschlossen haben, bilden einen weiteren Baustein in der Konstruktion der Erwartungshaltung gegenüber einem Menschen mit Behinderung. Das kann z. B. ein namenloser (unbekannter) Behinderter, wie etwa ein Bettler am Bahnhof sein oder einfach nur ein Fahrgast als Gegenüber in einem Zugabteil.

  • persönliche Werte/Normen/Glaubenssätze: Persönliche Überzeugungen beeinflussen die Erwartungen an die Hauptperson. Die Erwartungen unterscheiden sich, wenn im Hintergrund das Verständnis der "christlichen Nächstenliebe" oder ein "politisches Bürgerrechtsverständnis" verankert ist.

Gesellschaftliche Erwartungen sind vom Kulturkreis und der Zeitepoche abhängig

  • gesellschaftliche Werte/Normen/Ge- und Verbote: Das allgemein akzeptierte Grundverständnis spiegelt sich als "Meinungsmacher" wieder. Widersprüche sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern werden z. B. parteipolitisch ausgeschlachtet (vgl. derzeit in Österreich die Diskussion um die "eugenisch inidzierte Fristenlösung")

  • interkulturelle Erwartungen: Unterschiedlich ausgeprägte Gesellschaftsformen führen zu verschiedenen Erwartungshaltungen, so sind z. B. in Westafrika die Erwartungen an eine blinde Person (ein "Seher", "Wahrsager") anders als in Mitteleuropa (hier war es noch vor 20 Jahren typisch, wenn diese Person eine Ausbildung als Masseur absolvierte).

  • Historischer Wertewandel: Vor der Psychiatriereform in den 70er Jahren blieb für viele Menschen mit Behinderung nur eine geschlossene Institution als Lebensform übrig. Heute sind vielmehr Möglichkeiten für eine Lebensführung außerhalb einer geschlossenen Einrichtung vorhanden.

Cloerkes (1997) betont, dass zwischen Erwartungen und tatsächlichem Verhalten im Kontakt mit einer behinderten Person unterschieden werden muss. Als Typische Reaktionsformen auf der Interaktionsebene mit Menschen mit Behinderungen nennt er - allgemein betrachtet:

  • "Anstarren und Ansprechen

  • Diskriminierende Äußerungen

  • Witze

  • Spott und Hänseleien (Ärgern)

  • Aggressivität bzw. Vernichtungstendenzen.

Es handelt sich hier um ursprüngliche, ‚originäre' Reaktionen bzw. um Formen von Triebabfuhr, die Distanz schaffen sollen. Aber auch solche Reaktionsformen, die auf den ersten Blick ‚positiv' erscheinen, dienen letzten Endes der Abgrenzung, so etwa

  • Äußerungen von Mitleid

  • Aufgedrängte Hilfe

  • Unpersönliche Hilfe (Spenden)

  • Schein-Akzeptierung" (Cloerkes 1997, S. 79).

Im betrieblichen Gefüge ist die Hauptperson mit diesen Reaktionsformen konfrontiert, wobei gerade die Anfangszeit als kritische Zeit gewertet werden kann. In dem Maße, wie es der Hauptperson gelingt, eine eigene Positionierung aufzubauen, werden die allgemein typischen Reaktionen durch persönliche Beziehungsmuster abgelöst. Als These formuliert: Entscheidend für Veränderungen in der Rollenzuschreibung im Betrieb ist das Verhalten und die Eigenaktivität der Hauptperson, wobei das Lernen einer erweiterten Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit eine wichtige Voraussetzung darstellt.

12.4 Phasenmodell

Im Folgenden versuche ich ein Phasenmodell zu entwickeln, das typische Verhaltensausprägungen im Prozess der beruflichen Integration zusammenfassen soll. Als Grundlage dienen die Personengeschichten im empirischen Teil, wobei der Schwerpunkt bei M1 liegt, weil seine Geschichte am Genausten dokumentiert ist. Auch wenn die Verallgemeinerung die Gefahr der Entpersonalisierung im Unterstützungsprozess mit sich bringt, kann das Wissen um die unterschiedlichen Phasen für alle Beteiligten hilfreich sein. Der gesamte Verlauf der beruflichen Integration ist, bereits bevor das Modell zum Tragen kommt, von mehreren Faktoren abhängig:

  • Grundpersönlichkeit der beteiligten Personen: Die unterschiedlichen Charaktereigenschaften (z. B. introvertiertes - extrovertiertes Verhalten) bestimmen wesentlich die Beziehungsgeflechte.

  • Geschlecht: Die Erfahrungen der ArbeitsassistentInnen verweisen darauf, dass sich junge Frauen und Männer mit Behinderung in ihrem Verhalten stark unterscheiden. Während junge Frauen schüchtern und angepasst auftreten, agieren junge Männer tendenziell provokanter und aggressiver.

  • Bisheriger Bildungsweg: Beim ersten Arbeitsantritt scheinen die unterschiedlichen Phasen stärker aufzutreten, als bei späteren (Zusammenhang mit Lebensalter und Arbeitserfahrung). Die Sozialisation in verschiedenen Schultypen stellt eine unterschiedliche Basis im Selbstverständnis dar.

  • Rahmenbedingungen im Betrieb und in der Unterstützung: Mit welchen Bedingungen wurden die vertragliche Vereinbarungen abgeschlossen? Gibt es eine Arbeitsbegleitung und/oder eine Mentorin im Betrieb? Wie sehen die geplanten Arbeitsinhalte aus?

12.4.1 Die sechs Phasen des Modells

Einstiegsphase

In der Einstiegsphase zeigen sich die Hauptpersonen meist schüchtern und zurückhaltend. Sie sind bemüht, alles richtig zu machen, fühlen sich wegen der Arbeit aufgeregt und unsicher zugleich. Sie sind ernsthaft bei der Sache, während die ArbeitskollegInnen viel an Aufsicht und Kontrolle ausüben. Häufig zeigt sich bei der Hauptperson Euphorie in einem Unternehmen am allgemeinen Arbeitsmarkt beginnen zu können. Erste Erfahrungen mit dem Arbeitsinhalt und mit den ArbeitskollegInnen werden gemacht, insgesamt jedoch gibt es wenig Kommunikation außer mit der Arbeitsassistentin oder dem/der MentorIn.

Gewöhnungsphase

Die erste Zeit kann auch als Anlernphase bezeichnet werden. Danach erfolgt die Gewöhnungsphase, in der zum ersten Mal der Arbeitsalltag bewusst erlebt wird. Arbeitsinhalte und Erfahrungen wiederholen sich, bewusst werden Gefühle wie Freude und Ärger wahrgenommen ("Tischdecken macht mir Spaß - Abfallentsorgung gefällt mir gar nicht"). Die innerbetriebliche Kommunikation vermehrt sich und es verfestigen sich Beziehungen zu einzelnen ArbeitskollegInnen. Lob und Anerkennung werden geäußert. Die Hauptperson übernimmt verstärkt eine bestimmte Rollenzuschreibung an. Die Kontrolle durch den Arbeitgeber, der Arbeitgerin und die ArbeitskollegInnen nimmt ab, eigenständiges Handeln und Tun nimmt zu. Die Arbeitsassistenz tritt in dieser Phase in den Hintergrund.

Krisenphase

Häufig beginnt die Krise damit, dass die Arbeit, entweder weil langweilig oder weil überlastend, nicht bewältigt werden kann. Die Arbeit macht keinen Spaß mehr, die Anfangseuphorie ist verschwunden. Bei Langeweile in der Arbeit wird die Suche nach Abwechslung begonnen. Neckereien mit ArbeitskollegInnen beginnen, Provokationen und Grenzüberschreitungen treten auf, es erfolgt eine Auflehnung gegen innerbetriebliche Regelungen. Die Hauptperson versucht, sich der Kontrolle durch den Arbeitgeber zu entziehen. Die Fehlerhäufung durch Konzentrationsmangel und scheinbare Gleichgültigkeit steigt. Bei Überlastung kommen meist Strategien des Versteckens hinzu. Die Hauptperson entzieht sich der Arbeit, indem sie sich einen anderen Ort im Betrieb sucht. Andere Verhaltensreaktionen sind z. B. das Verstecken oder Verleugnen von Fehlern, bis hin zu krankheitsbedingten Ausfällen. Die Krisenphase ist dadurch gekennzeichnet, dass es viel Ärger mit dem/der ArbeitgeberIn und den ArbeitskollegInnen gibt. Die Konflikte drohen den Gesamtprozess der beruflichen Integration zu gefährden. Erschwerend können oftmals Faktoren "von außen" wirken z. B., dass andere Lebensbereiche aktualisiert und als wichtiger empfunden werden (Partnerwahl, neue Wohnform, Freizeitaktivitäten). Die Unterstützung durch die Arbeitsassistentin ist in dieser Phase von besonderer Bedeutung, damit es zu keinem Arbeitsabbruch kommt. Sie vermittelt zwischen der Hauptperson und den anderen, sie unterstützt bei Klärungsprozessen, stärkt die jeweils benachteiligte Position und zeigt mögliche Lösungsbeispiele auf. Vielfach wird in dieser Zeitspanne über Verbleib oder Ausscheiden aus dem Betrieb entschieden.

Korrekturphase

Nun kommt es zu einer Verhaltensänderung der Beteiligten im Sinne einer Weiterführung des begonnenen Integrationsprozesses. Die Hauptperson lernt die internen Betriebsregeln zu achten, überdenkt gemeinsam mit der Arbeitsassistentin die Arbeitsinhalte und definiert diese gegebenenfalls neu. So erlebt die Hauptperson ihre Arbeit und ihr Arbeitsumfeld als bedeutsam für die persönliche Lebensführung. Gegenüber den ArbeitskollegInnen tritt das Behindertenmerkmal zugunsten der Wahrnehmung einer individuellen Person mit spezifischen Eigenschaften zurück. Anders formuliert, es werden sozial typische Reaktionsformen (z. B. Scheinakzeptanz, Schuldgefühe und -zuschreibungen, Verhaltensunsicherheiten) in Bezug auf Behinderte durch persönliche Beziehungsstrukturen abgelöst.

Stabilisierungsphase

Routine im Arbeitsablauf stellt sich ein; die Hauptperson entwickelt ein Verantworungsgefühl gegenüber der Arbeit. Die Passung zwischen Arbeitsanforderung und -möglichkeit ist erreicht. Die Arbeitsplatzgestaltung etabliert sich als Kompromissnotwendigkeit und auch Kompromisskunst. Die Arbeitsassistenz tritt in den Hintergrund. Insgesamt erfolgt eine Festigung der Arbeitsbeziehungen, die dazu führt, dass ein verändertes innerbetriebliches Klima entsteht. Im günstigen Fall kommt es zu neuen Solidaritätsformen unter den ArbeitskollegInnen. Diese Phase kann auch als Zeit der Normalisierung innerhalb der beruflichen Integration bezeichnet werden. Häufig wird nun ein Dienstvertrag in Aussicht gestellt.

Erweiterungsphase

In der Erweiterungsphase werden neue Möglichkeiten und Kooperationen gesucht, um die Arbeitsfähigkeit zu steigern. Die Planung und das Ausprobieren neuer Arbeitsinhalte stehen im Vordergrund, gleichzeitig machen sie bisherige Lernerfolge bewusst. (Auch in der Krisenphase probiert die Hauptperson manchmal neue Arbeitsinhalte aus, allerdings im Geheimen ohne Einwilligung bzw. Missbilligung der anderen.) Die Arbeitsassistentin, der Arbeitsassistent wird erneut gefordert, ihre/seine Fähigkeiten der Unterstützung unter Beweis zu stellen. Einer Spirale ähnlich kommt es auf dem nächsthöheren Niveau zu einer Wiederholung einzelner Aspekte des Phasenmodells.

Zum Abschluss des Modells verweise ich darauf, dass der Ausstieg aus einem Betrieb in jeder Phase erfolgen kann. Für die UnterstützerInnen ist es manchmal schwierig, zu akzeptieren, dass sich die Hauptperson trotz erfolgreicher Krisenbewältigung im Betrieb gegen den Arbeitsplatz entscheidet (vgl. M2), wobei der Austritt nicht zwingend mit einem Scheitern der beruflichen Integration einhergehen muss, sondern vielseitige Gründe aufweisen kann z. B. veränderte Arbeitsinteressen, familiäre Interessen, finanzieller Vorteil durch Sozialhilfe anstelle eines geringfügigen Gehalts. Schlussendlich muss man sich darüber im Klaren bleiben, dass allein die Hauptperson, anhand der verschiedenen Wahlmöglichkeiten entscheidet, welchen Weg sie einschlagen möchte. Als These zur beruflichen Integration wiederholt formuliert (vgl. Kap. 2): Das Blickfeld weitet sich in Richtung Lebensqualität. Alle Bemühungen um eine berufliche Integration sollten im Hintergrund die Frage nach verbesserter Lebensqualität im Erwachsenenalter stellen. Es geht darum, dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit erhalten, ihr Leben im Hinblick auf Lebensziel und Lebensstil selbst bestimmen zu können.

12.5 Der Zusammenhang von unterschiedlichen Lebensbereichen

Die Arbeit zählt im Erwachsenenalter zu einem zentralen Lebensbereich und beinhaltet nach Jahoda (vgl. Kapitel 2) zumindest sechs Erfahrungskategorien. Daneben existieren andere Lebensbereiche, die nach Lebensabschnitten unterschiedliches Gewicht erhalten (vgl. Keupp et al. 1999, S. 181ff). Die Lebensbereiche beeinflussen sich gegenseitig. Zwei Beispiele aus den Personengeschichten verdeutlichen dies: Der Berufswunsch Gastronomie ensteht bei F1 durch den Kontakt mit einem Cousin. M2 beginnt in einer Freizeitanlage zu arbeiten, weil sein Hobby die nötigen Kontakte erschloss.

Zwischen privaten Lebensbereichen und der Arbeit gibt es ein Wechselspiel, das Möglichkeiten des Lernens bietet. Die Freizeit kann als Lernort genauso bedeutsam für die Arbeit werden, wie die Beziehung innerhalb einer Partnerschaft oder Familie. Unabhängig an welchem Lernort eine neue Kompetenz entsteht, sie wirkt auch auf die anderen Lebensbereiche. Zwei Lernkategorien sind zu nennen, die im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen generell häufig auftreten: (a) die sozial-kommunikativen Fähigkeiten und (b) die Mobilitätssteigerung.

(a) die sozial-kommunikativen Fähigkeiten

Unter sozial-kommunikativen Fähigkeiten verstehe ich z. B. die Kompetenz, sich mitteilen zu können, verstanden zu werden, zuzuhören, sich einfach auszutauschen, Kompromisse eingehen zu lernen, Anpassungen vorzunehmen, Wünsche zu formulieren und durchzusetzen, Entscheidungen zu treffen, Verbindlichkeiten und Verantwortung zu übernehmen. Diese Fähigkeiten sind Qualifikationen, die sowohl in der Arbeit als auch im Freizeitbreich oder in Beziehungen erlernt werden und gleichzeitig für alle Lebensbereiche als sehr wertvoll angesehen werden können.

(b) die Mobilitätssteigerung

Die selbständige Bewältigung des Arbeitsweges erhöht den Bewegungsradius der Hauptperson. Das Wissen z. B. um die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel, die Fähigkeit zur Orientierung oder das Wissen, was bei Orientierungslosigkeit zu tun ist, stellt eine wichtige Voraussetzung für eine selbstbestimmte Lebensführung dar. Genauso ist der umgekehrte Fall möglich: Nicht durch die Arbeit, sondern durch eine Freizeitaktivität erlernt die Hauptperson das Benützen von Verkehrsmitteln und profitiert durch diese erhöhte Beweglichkeit bei der Arbeitssuche.

In den Geschichten im empirischen Teil haben die Hauptpersonen in der Arbeit nicht-berufsbezogene Themenbereiche besprochen. Das Interesse richtete sich unter anderem auf neue Freizeitmöglichkeiten (z. B. am Samstag abend ausgehen), auf Wohnformen außerhalb der bestehenden Familienkonstellation und auf partnerschaftliche Beziehungen. Die Arbeitsassistentin ist auf diese Themen eingegangen, auch wenn sie nicht direkt mit der Arbeit in Zusammenhang stehen. These: Das Einbeziehen nicht berufsspezifischer Themen unterstützt die Hauptperson in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen. Sie führt zu Kompetenzen, die in Folge bei der Arbeit gebraucht werden.

Noch eine Anmerkung zur Freizeitgestaltung: Wenn Menschen mit schwerer Behinderung auf dem Arbeitsmarkt tätig werden, bedeutet das häufig, dass sie nicht mehr als 20 Stunden, vielleicht auch nur in Form einer geringfügigen Beschäftigung, arbeiten können. Ihre physischen und psychischen Leistungsgrenzen werden damit ausgeschöpft. Im Vergleich zu einer Ganztagesbetreuung in einer Beschäftigungstherapie oder Geschützten Werkstatt ensteht ein zeitliches Ungleichverhältnis. Was soll oder kann in dieser anderen Zeit unternommen werden? Eltern sorgen sich, dass ihr Sohn oder ihre Tochter zu viel "herumsitzen", dass sie nicht unterstützt werden und allein auf sich selbst gestellt, eine ergänzende Tagesbetreuung organisieren müssen. Das führt dazu, dass in manches Beschäftigungsverhältnis nicht eingewilligt wird, weil die ausgedehnte Freizeit für die Familie nicht bewältigbar ist. Die Rundum-Versorgung in einer Behinderteneinrichtung erhält den Vorzug. Als Konsequenz lässt sich ableiten, dass die Bemühungen um berufliche Integration, im Sinne einer systemischen Perspektive, die Bemühungen um neue Freizeitstrukturen miteinschließen muss. Ideen und Lösungsansätze in diesem Zusammenhang finden sich z. B. bei den AutorInnen Petra Flieger (Freizeit mit Hindernissen, 2000), oder Cloerkes und Markowetz (Freizeit im Leben behinderter Menschen - Theoretische Grundlagen und sozialintegrative Praxis, 1999).

13 Die Arbeitsassistenz in ihrer Arbeit und Funktion

Die Arbeitsweise der Arbeitsassistenz wurde bereits in Kapitel 3 anhand von zwei Modellen beschrieben und in den Einzelgeschichten dokumentiert. Nachfolgend beschreibe ich Ergänzungen und konkrete Details. Den Ausgangspunkt stellt die Arbeitsweise der Beratungsstelle "Integration Wien - Berufliche Integration durch Arbeitsassistenz" dar. Die spezifischen Aspekte beruhen - sofern sie nicht aus den Einzelgeschichten abgeleitet sind - auf Interviews, die im Juni 2000 mit Maria Scherzer und Susanne Gabrle geführt wurden. Beide sind als Arbeitsassistentinnen bei "Integration Wien" beschäftigt. Ein Interview mit Christa Polster (Vorsitzende von "IntegrationWien") erweitert die Darstellung. Die Gesamtzuordnung der Arbeitsweise orientiert sich am integrativen Modell (vgl. Modell B in Kapitel 3). Die Jahresberichte von "Integration Wien" in den Jahren 1997 - 1999 dienten ebenfalls als Grundlage.

Auszug aus dem Jahresbericht 1999 (S. 7ff):

"ZIELE der Arbeitsassistenz

  • Erarbeitung konkreter, bedürfnisorientierter Lösungswege für einzelne Personen mit besonderen Bedürfnissen

  • Entwicklung und Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen für das Arbeiten und Lernen aller Jugendlichen und Erwachsenen mit besonderen Bedürfnissen

  • Erschließung und Erhalt von Arbeitsplätzen für Jugendliche und Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen, die den jeweiligen Neigungen und Fähigkeiten entsprechen

AUFGABEN der Arbeitsassistenz

  • Finden und Entwickeln von personenzentrierten Arbeits- und Ausbildungsplätzen am allgemeinen Arbeitsmarkt

  • Kontinuierliche Unterstützung bei der Suche und Erlangung, sowie bei der Erhaltung eines Ausbildungs- und Arbeitsplatzes

DIENSTLEISTUNGEN für Jugendliche und Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen

  • Beratung und Information für Eltern, die sich entschieden haben, dass ihr Kind seinen Weg in die Berufswelt nicht in einer Sondereinrichtung beginnen soll

  • Berufsorientierung und Berufsberatung

  • Erarbeitung eines persönlichen Fähigkeitsprofils und eines Realisierungsplans

  • Akquisition von Arbeits- und Ausbildungsplätzen

  • Begleitung und Unterstützung der Jugendlichen und Erwachsenen mit besonderen Bedürfnissen auf dem gemeinsamen Weg in die Arbeitswelt

  • Assistenz am Arbeits- und Ausbildungsplatz/Jobcoaching

  • Mediation zwischen ArbeitgeberInnen, ArbeitnehmerInnen, KollegInnen

  • Krisenintervention und langfristige Nachbetreuung

  • Beratung und Information zu Förderungen des AMS, Förderungen im Rahmen des Wiener Behindertengesetzes und Förderungen des BSB"

Die Angaben aus dem Jahresbericht 1999 geben einen Überblick der allgemeinen Arbeitsweise wieder. Doch worauf legen die Arbeitsassistentinnen besonderen Wert in ihren Beziehungen zu den KlientInnen und in der Arbeit? Welche Grundhaltungen spiegeln sich im Verein "Integration Wien" wider. Aus einem Gespräch mit Maria und Susanne und einem Gespräch mit Christa Polster (Vorsitzende des Vereins "Integration Wien") ergeben sich die folgenden Details:

13.1 Selbstbestimmung - Die Begleitung als Unterstützungsleistung

Die Arbeitsassistentinnen legen besonderen Wert darauf, dass sie eine individuelle Begleitung und keine Betreuung anbieten. Eine Betreuung im klassischen Sinn der Behindertenhilfe gibt vor, was getan werden soll, indem sie sich nach dem bestehenden Angebot der jeweiligen Einrichtung richtet. Bei "Integration Wien" sind die Arbeitsassistentinnen bemüht, dass die Hauptpersonen wahrnehmen und lernen, selber über ihr Leben bestimmen zu können. Die Entscheidung liegt bei den Leuten selbst, sie müssen die Konsequenzen tragen. Die Arbeitsassistentin bietet ausführliche Informationen über Möglichkeiten der beruflichen Integration, über Förderungsleistungen und über die Grundlagen der Beratungseinrichtung - die Entscheidungen treffen jedoch die KlientInnen selber. "Das klingt einfacher als es ist, weil du bist oft manipulativ und manchmal meinst du vielleicht aufgrund deiner Erfahrung, dass sie mit einer Entscheidung vielleicht viel Zeit, quasi verschenken. Dennoch gilt für uns die Selbstbestimmung als oberstes Prinzip. Schließlich versuchen wir ihnen auch das Gefühl zu geben, dass es erlaubt ist Fehler zu machen" (Integration Wien 2000). Die Möglichkeit aus Fehlern zu lernen oder Umwege in Kauf zu nehmen bedeutet den Hauptpersonen Raum und Zeit für persönliche Erfahrungen anzubieten. Hier kommt es zu Interessenskonflikten mit den Fördergebern, weil die bestehenden Fördervereinbarungen eine maximale Begleitung von zwei Jahren vorsehen. Wie bereits in den Zielen der Arbeitsassistenz formuliert, geht es daher auch um die "Entwicklung und Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen ..." (Integration Wien 2000).

13.2 Transparenz und Offenheit in der Arbeit

Die Hauptpersonen bei "Integration Wien" sind, im Unterschied zu vielen anderen Arbeitsassistenz-Projekten, direkt am Prozessverlauf beteiligt oder wissen zumindest um die jeweiligen Schritte, die die Arbeitsassistentin unternimmt.

"Wenn wir in Beratungen die Vorgangsweise aushandeln, dann liefern wir nicht in der nächsten Beratung das fertige Ergebnis, das wir selber irgendwie durch Recherche, Telefonate oder Briefwechsel, oder was auch immer erarbeitet haben. Telefonate führen wir z. B. in ihrer Anwesenheit, oder wir lassen sie die Telefonate selber führen - je nachdem was möglich ist. Wir müssen natürlich viel mehr erklären. Mit wem telefonieren wir? Was hat das für Auswirkungen? Wer ist die Person am Ende der Telefonleitung? Was ist seine oder ihre Funktion, usw.? Aber dadurch wird der Gesamtprozess durchschaubarer. Gerade bei Menschen mit sogenannter schwerer Behinderung ist es nicht leicht, eine verständliche Sprache zu finden. Die Zusammenhänge sind ja recht umfangreich und kompliziert. Es ist trotzdem wichtig, dass sie das alles mitbekommen und bei den Telefonaten zumindest zuhören können, z. B. wie die Kontakte zum Arbeitsamt ablaufen oder die Organisation eines Arbeitstrainings. Dieses ‚Teilnehmen-Lassen' verändert auch die Haltung am anderen Ende der Leitung. Wenn ich mit dem AMS-Berater telefoniere und ihm von Anfang an sage, dass der Mensch, den ich begleite, jetzt daneben sitzt und zuhört, auch etwas sagt, wenn er oder sie etwas zu sagen hat, dann ändert das gleich ziemlich viel. Es geht weg von der Situation ‚AMS-Berater als Experte spricht mit dir als Expertin'. Manchmal ist das für den Anderen auch irritierend. Aber ich finde es wirklich fein, wenn die Leute dann so ein bisschen ein Gespür für die Hauptperson bekommen. Das ist dann wirklich toll. - Natürlich können wir das nicht bei allen in letzter Konsequenz durchhalten, das würde einfach zu lange dauern, aber dort wo es uns nicht gelingt, machen wir die Einzelschritte transparent. Die Hauptperson lernt zu sehen, was alles bei der Arbeitspaltzorganisation dahintersteckt" (Integration Wien 2000).

13.3 Arbeitsassistenz alleine ist zu wenig - Erweiterung des Blicks

Die Arbeitsassistenz zeigt sich als funktionierendes und wichtiges Instrument in der beruflichen Integration. Das primäre Ziel ist die Erlangung eines Arbeitsplatzes. Doch die Hauptpersonen tragen nicht nur dieses Bedürfnis in sich, sondern bringen auch Themen anderer Lebensbereiche mit in die Beratung. Die Arbeitsassistenz bemüht sich um eine systemische Zugangsweise, doch stößt sie an eigene Grenzen des Umsetzbaren. Nach den Aussagen der Arbeitsassistentinnen braucht es andere Module oder Bausteine, die neben der Arbeit wichtig sind, z. B. im Freizeitbereich, oder Projekte für Schulabgänger, die Übergangsphase zwischen Pflichtschulzeit und Berufseinstieg. Christa Polster, Vorsitzende von "Integration Wien", benennt unter anderem zwei "leere Felder". "Das erste ist die Zeit nach der Pflichtschule, in der viele Jugendliche noch zu jung sind, um mit Begleitung der Arbeitsassistenz einen Arbeitsplatz zu besetzen, das zweite ist für jene Personen, die wenige Stunden pro Woche arbeiten können, aber darüberhinaus eine Tagesstruktur suchen."

13.4 Auftraggeber: Die Eltern von Jugendlichen mit Behinderungen

Ein Spezifikum der Beratungsstelle von "Integration Wien" ist die Basis in Form des Elternvereins. Im Kampf für Integration und gegen Aussonderung schlossen sich Eltern zusammen und begannen politisch aktiv zu werden. 1986 erfolgte die Vereinsgründung, 1995 die offzielle Anerkennung der Beratungsstelle für den schulischen und beruflichen Bereich. Die Eltern mit ihren Anliegen stellen direkte Auftraggeber für die MitarbeiterInnen der Beratungsstelle dar. Dieses Zusammenspiel und Engagement zeigt sich dafür mitverantwortlich, dass die Lösungen und Wege in der beruflichen Integration konsequenter und kreativer umgesetzt wurden als in anderen Einrichtungen. Als Paramenter dafür stehen die erlangten Arbeitsplätze, die in den unterschiedlichsten Sparten angesiedelt sind, nicht nur im gastronomischen Bereich und Putzdienst sondern auch z. B. im Büro, Einzelhandel, bei der Post, in Theaterwerkstätten, an der Universität Wien. Die Verantwortung der Arbeitsassistentinnen gegenüber den Eltern führt allerdings auch zur Problematik, dass sie in ihrer Arbeit unter einem verstärkten Durck stehen, denn auf der anderen Seite geben die Fördergeber die Richtlinien vor. Zwischen Eltern und Fördergebern gibt es eine Diskrepanz, die bereits zu vielen zähen Verhandlungen geführt hat. Ein typisches Beispiel ist die Aufnahme eines Jugendlichen nach der Pflichtschulzeit in die Beratung, der vielleicht für ein Anstellungsverhältnis noch zwei, drei Jahre "Überbrückungszeit" bräuchte. Auf der einen Seite sind nun die Eltern, die aufgrund mangelnder Möglichkeiten die Beratungs- und Begleitungskompetenz der Arbeitsassistentinnen in Anspruch nehmen und die Fördergeber, auf der anderen Seite, begrenzen die Beratungsdauer auf zwei Jahre.

13.5 Öffentlichkeitsarbeit und der Dialog mit anderen Einrichtungen

Die Öffentlichkeitsarbeit und der Dialog mit anderen Einrichtungen sind zwei unterschiedliche Arbeitsbereiche, die dennoch in einem Punkt zusammengefasst werden. Ihre Verbindung besteht in der Vorstellung der geleisteten Arbeit. Die Arbeitsassistentinnen bemühen sich in jüngster Zeit verstärkt darzulegen, warum sie in ihrer Arbeit etwas anderes tun als die klassische Behindertenhilfe. Sie versuchen die Vorteile ihres Weges verständlich zu machen, in Diskussion zu treten und den Dialog zu suchen. (Das Beispiel F1 zeigt etwa, dass sogenannte nichtarbeitsfähige Menschen sehr wohl erfolgreich beruflich integriert werden können.)

Insgesamt ist der Bereich der Arbeitsassistenz in Österreich erst wenige Jahre alt. Die Erfahrungen und Notwendigkeiten von integrativen Angeboten entwickeln sich allmählich, meist auch parallel zu bestehenden Angeboten. Weil es zu wenig Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen gibt, erscheint der Austausch von Informationen innerhalb von Einrichtungen umso wichtiger. Hinzu kommt, dass die Veränderungen in vielen Einrichtungen, gerade in der Frage der beruflichen Integration und Rehabilitation, relativ rasch erfolgen. Der Grund liegt im europäischen und nationalen politischen Verständnis der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit (finanzielle Mittel für Projekte werden bereitgesellt). Der rasche Wandel in diesem Feld führt dazu, dass z. B. Einrichtungen, die früher nur Beschäftigungstherapie angeboten haben, nun auch Wege außerhalb der eigenen vier Wände suchen.

13.6 Politische Aktivitäten

Die politischen Aktivitäten äußern sich in unterschiedlicher Weise und reichen von Verhandlungen mit PolitikerInnen um Einzellösungen von Jugendlichen bis hin zu gesamtösterreichischen Forderungen an das Parlament (Stellungnahmen zu Gesetzesänderungen, Einreichung von Vorschlägen auf unterschiedlichsten politischen Ebenen). Vor allem ist die Verbesserung von Förderbedinungen zu nennen, damit in der beruflichen Integration nicht jene wieder ausgeschlossen werden, die dem gängigen Leistungsbegriff (mind. 50 %ige Leistungsfähigkeit) nicht entsprechen. Ein anderer aktuller Punkt ist die kritische Stellungnahme zum Datenschutz und der Anonymität der KlientInnen. Die Fördergeber (AMS, BSB, Gemeinde Wien) haben unterschiedliche Bestimmungen zur Finanzierung. Neben einer berechtigten Dokumentation, wohin das Geld fließt, werden immer mehr Details zu den Personen gewünscht. Diskutiert wird eine Offenlegung der Begleitung, die de facto nachvollziehbar macht, welche Schritte der einzelne Mensch gesetzt hat. Damit können genauso Abbrüche, Umwege oder Pausen penibel eingesehen werden. Die Arbeitsassistentinnen befürchten, dass daraus Nachteile für die KlientInnen entstehen können. "Mit der genauen Zuordnung von Daten zu Einzelpersonen werden die Gesamtkosten pro Person sehr leicht bestimmbar. Was hat der Mensch im Prozess der beruflichen Integration schon gekostet? Und ist er weitere Förderungen noch Wert, wenn er bereits eine Qualifizierungsmaßnahme besuchte und zwei weitere Versuche in Arbeitsprojekten abgebrochen hat?"

In einem weiter gefassten Verständnis politischer Arbeit (definiert bei den Zielen der Arbeitsassistenz von "Integration Wien") geht es um die Entwicklung und Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen. Ähnlich wie die Gesetzesänderungen in der Primar- und Sekundarstufe I wird die Notwendigkeit der Öffnung weiterführender Schulen erkennbar. Die Jugendlichen brauchen die Möglichkeit, durch weitere schulische Angebote, Erlerntes zu festigen und in qualitativer Begleitung Berufswünsche artikulieren und umsetzen zu können. Eine Bemühung bzw. Forderung richtet sich auf die Integration in Berufsschulen, eine andere auf die Entwicklung integrativer Lehrgänge und Kurse.

Sowohl Christa Polster als Voreinsvorsitzende, wie auch die interviewten Mitarbeiterinnen Susanne Gabrle und Maria Scherzer sind sich einig, dass die politische Arbeit eine zentrale Funktion in der Verbesserung und Entwicklung der beruflichen Integration darstellt. Diese Arbeit braucht aber zusätzliche finanzielle Ressourcen und viel an Anstrengung und Zeit. "Oft gleicht die politische Arbeit einem Teufelskreis, wir fangen irgendwo an, kommen wieder zurück und beginnen von Neuem" (Polster 2000).

13.7 Offenheit und Kreativität im Spannungsfeld zur Zeit

Diese Merkmale können m. E. als Kernqualität den Arbeitsassistentinnen von "Integration Wien" bezeichnet werden (vgl. die Einzelgeschichten): Offenheit im Kontakt mit den Jugendlichen, das Eingehen von Wagnissen und sich nicht am Stempel der "Arbeitsunfähigkeit" zu orientieren. In der Begleitung arbeiten sie mit den Jugendlichen an deren beruflichen Wünschen und gestalten gemeinsam mit ihnen neue Möglichkeiten der Qualifizierung und Beschäftigung. Der Faktor Zeit, im Sinne von "Zeit lassen" und "Zeit geben" spielt dabei eine große Rolle. Menschen mit Behinderungen brauchen - egal auf welcher Ebene - mehr Zeit für ihren individuellen Lernprozess. Die Ermöglichung dieses individuellen Zeitrahmens steht im Widerspruch zu bestehenden Förderrichtlinien, ist aber ein wichtiger, nicht zu vernachlässigender Faktor im Gesamtprozess der beruflichen Integration.

13.8 Die Arbeitsassistentin in ihrer Funktion

Die Arbeitsassistenz als Unterstützungsinstrument in der beruflichen Integration erfüllt Funktionen, die durch die Arbeitsassistentin oder den Arbeitsassistenten ausgeführt werden. Verschiedenste Erwartungen werden auf die ArbeitsassistentInnen projeziert. Ich ergänze ein Interviewauszug von Susanne Gabrle, aufgezeichnet im April 1999.

"Wenn du im Betrieb stehst, dann ist das etwas total Unbekanntes. Die Leute haben keine Vorstellung, was deine Rolle ist und von daher habe ich auch schon die unterschiedlichsten Geschichten erlebt.

Wenn du z. B. in einem grossen Lebensmittelgeschäft als Regalbetreuerin arbeitest, dann ist die Struktur dort so, dass das vielfach Frauen ohne Qualifikation sind. Die haben fast keine Ausbildung, oder sie kommen nicht aus Österreich und sprechen schlecht Deutsch. Sie sind in der Betriebshierarchie ganz unten. Sie tun sich unheimlich schwer mit der Rolle einer Arbeitsassistentin. Wer bist du jetzt? Bist du eine Kontrolle? Bist du da, zu schauen, ob sie gut mit dem Menschen mit besonderen Bedürfnissen umgehen?

Der Einstieg ist normal nicht der, dass du mit den Mitarbeitern redest, sondern du redest mit dem Chef. Sehr oft entscheidet der Chef über den Beginn eines Praktikums. Das wird dann den Mitarbeitern mitgeteilt. Nur im Idealfall, und da meist nur in Kleinbetrieben, entscheiden die Mitarbeiter und die Geschäftsleitung gemeinsam in einem bewussten Prozess. Das ist eher die Ausnahme. Oft sagt ein Personalchef oder Geschäftsführer: ‚Okay, wir tun das.' Die Mitarbeiter sind in der Position, dass es passiert, und dann kommt auch noch jemand Betriebsfremder, der vorher nur Kontakt zur oberen Etage hatte. Als Arbeitsassistentin musst du aufpassen, dass du nicht als das Korrektiv empfunden wirst. Ich meine, du musst dich mit den ArbeitskollegInnen von dem Menschen mit besonderen Bedürfnissen auch auseinandersetzen, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Du musst aufpassen, dass deine Sprache für sie verständlich ist. Die schwierige Aufgabe lautet: Wie unterstütze ich den Menschen mit besonderen Bedürfnissen, ohne ihn in eine Sonderposition zu rücken. Ich denke, das ist das Schwierige daran.

Es ist wesentlich leichter Beratung zu machen und alles mit dem Menschen im Beratungssetting zu klären, in Betriebe zu gehen, mit dem Personalchef zu reden oder eben mit dem Abteilungsleiter hin und wieder ein Arbeitsgespräch zu führen. Das ist irgendwie abgehoben. Wenn du aber das alles machst und auch konkrete Assistenz vor Ort, dann ist deine Rolle relativ schwer. Sie ist auch nicht klar definiert, was du jetzt eigentlich bist. Du unterstützt den Menschen mit besonderen Bedürfnissen, du kommunizierst mit der Leitung, du redest mit den Mitarbeitern. In welcher Funktion? Wo es klare Hierarchien gibt, da ist für die KollegInnen die Position der Arbeitsassistentin relativ schwer zu verstehen. Ich denke, da ist es sehr viel Vermittlung notwendig, man vermittle sehr viele Sichtweisen. Man versucht, den Leuten andere Perspektiven zu zeigen.

Ich denke, gerade durch diesen Kontakt und die Begleitung vor Ort kannst du viel verändern. Du suchst nach Arbeitsabläufen, die der Mensch vielleicht auch noch erlernen könnte. Wo sind Aufgaben im Betrieb, die er übernehmen könnte? Das passiert bei uns sehr viel, dass die Leute eben nicht ein bestimmtes Arbeitsfeld abdecken, sondern dass die passenden Aufgaben erst herausgefunden werden müssen. Die Arbeitsplatzentwicklung kann eigentlich erst im Betrieb erfolgen. Oft werden Arbeitsplätze entwickelt, die es vorher einfach nicht gab. Dazu muss man wissen, was in einem Betrieb passiert und welche Aufgaben im Betrieb anfallen. Das geht von ‚Außen' nicht" (Gabrle 1999).

Die verschiedenen Vorstellungen oder Erwartungen können leicht zu einem Rollenkonflikt bei der Arbeitsassistentin führen. Dadurch dass die Arbeitsaufgaben weitreichend sind (von der Beratung der Hauptperson außerhalb des Betriebs bis zur innerbetrieblichen Begleitung) steigen die möglichen Rollenzuschreibungen. Daher ist Kommunikation mit den ArbeitskollegInnen der Hauptperson, die Klärung der eigenen Rolle (das Verständnis der eigenen Rolle) eine entscheidende Maßnahme zur Konfliktbewältigung. Das Miteinbeziehen von ArbeitskollegInnen z. B. in Form von Vermittlungsgesprächen hebt sie aus passiven Positionen heraus. Indem nicht nur mitgeteilt wird, sondern indem sie auch aktiv in den Prozess der beruflichen Integration einbezogen werden, kann die Sonderposition der Hauptperson vermieden werden und eine betriebliche Normalität (wieder-) aufgebaut werden. Ein unterstütztes Beschäftigungsverhältnis (Hauptperson und Arbeitsassistentin) wird vermutlich eine ungewöhnliche Situation für den Betrieb bleiben, weil die Assistentin immer als betriebsfremde Person (nicht zugehörig zum Personal des Betriebs) agiert. Um die berufliche Integration langfristig abzusichern und letztlich einen möglichen Rückzug der "betriebsfremden Person" vorzubereiten, hat sich das Bereitstellen von betriebsinternen Personen als Mentoren oder Mentorinnen als wichtige Ergänzung erwiesen.

Nicht nur im Betrieb, sondern auch in der Beziehung zur Hauptperson und zu den Eltern ist eine Funktionsklärung der Arbeitsassistentin wichtig. Die Erwartungen reichen von der Arbeitsassistentin als "Beraterin" bis hin zur "Freundin". Manchmal wird sie mit einer "Therapeutin" verwechselt, die Lebenskrisen bewältigen hilft. Eltern sehen in ihr zuweilen den Rettungsanker, die letzte Station im Kampf um die Integration. Nachdem, meist mühsam, die schulische Integration durchgemacht wurde, bleibt scheinbar niemand sonst übrig, der die drohende Aussonderung ihres Kindes verhindern könnte.

Professionelles Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, wie der Arbeitsassistent oder die Arbeitsassistentin mit diesen Rollenzuschreibungen umgehen. Bei aller Offenheit, die in der Begleitung notwendig ist, bringt das Verschwinden einer klaren Funktion Gefahren mit sich. Grenzen gehen verloren und dadurch werden Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten unklar. Das kann zu Übertragungsmechanismen, Entäuschungen und Schuldzuweisungen führen, wenn sich der erhoffte Erfolg nicht einstellt. Als These formuliert: Die Kunst der ArbeitsassisentInnen liegt darin, die spezifisch berufliche Integrationsfunktion und den Bereich systemischer Zusammenhänge ("den großen Blick") zu entwickeln.

14 Betriebliche Voraussetzungen und Auswirkungen

Der Prozessverlauf der beruflichen Integration hängt von zahlreichen Einflussgrößen ab. Die hier skizzierten Hinweise können nur einen Ausschnitt von Möglichkeiten darstellen, weil die Ausgangssituation mit jedem Integrationsversuch unter individuell einzigartigen Bedingungen situiert ist. Anders formuliert: Die Möglichkeiten des Gelingens und Scheiterns sind aufgrund der Systemkomplexität äußerst vielfältig. Zwei Welten scheinen nebeneinander zu existieren. Auf der einen Seite die Welt der Wirtschaft, in der der Betrieb (das Unternehmen) verankert ist. Auf der anderen Seite die Welt der sozialen Einrichtungen, in der scheinbar andere Regeln, Werte und Normen gelten. Beide beinhalten ein bestimmtes Verständnis von Welt, eine Weltanschauung, die häufig nicht wertfrei ist, meist politisch besetzt und manchmal einen ideologischen Hintergrund zu erkennen gibt. Durch diese unterschiedlichen Auffassungen wird das Zusammenspiel (Wechselspiel) nicht gerade erleichtert. "Die Auseinandersetzung über Grundwerte und Wirklichkeitsverständnisse ist in ideologisierten Gegensätzen nur schwer auf einer sachlichen Ebene möglich. Aggressivität und Beharrung bzw. Rückzug und Defensive sind die resultierenden Bewältigungsmöglichkeiten, wodurch die eigentliche Sache in den Hintergrund gerät" (Wetzel 1999, S. 11). Die Arbeitsassistenz bemüht sich nun, eine Brücke zu bauen. Sie arbeitet sozialpädagogisch mit der Hauptperson, um die berufliche Integration zu ermöglichen, und sie sollte gleichzeitig Regeln wirtschaftlichen Denkens und Handelns berücksichtigen, damit der Unternehmer bzw. die Unternehmerin seine/ihre primären Zielvorstellungen erfüllen kann. Lässt sich beides verwirklichen, ohne den politischen Anspruch der Integration aufgeben zu müssen?

Wetzel beschreibt einen notwendigen Prozess des Voneinander-Lernens, der sich durch die gegenseitige Öffnung beider Welten vollziehen kann. Seiner Auffassung nach "ist zu erwarten, dass die aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eine weitere Orientierung der Betriebswirtschafts- und Managementlehre an sozialpsychologischen Konzepten erzwingt, da zunehmend das MitarbeiterInnenpotential als wichtigste Unternehmensressource verstanden wird. ... Andererseits begründen gerade die steigende Leistungsorientierung von Finanzierungsträgern Sozialer Arbeit die Notwendigkeit, betriebswirtschaftliches Basiswissen zu integrieren und entsprechende Instrumentarien einzuführen" (Wetzel 1999, S. 10ff).

Das Resultat seiner Analyse fasst er folgendermaßen zusammen (Wetzel 1999, S. 11):

"Fazit I: Die Kluft zwischen beiden Bereichen resultiert u.a. aus 1. unterschiedlichen Zielen, Umwelten und darauf abgestimmten Denkweisen, 2. unterschiedlichen Denkweisen, die unterschiedliche Verhaltensweisen und Wirklichkeitsauffassungen prägen, die für Außenstehende ohne Wissen über Ziele und Werte unverständlich oder missverständlich sind.

Fazit II: Die beiden Bereiche sind eng miteinander verwoben und aufeinander ebenso angewiesen wie abgestimmt. Diese Verknüpfungen bestehen 1. auf einer Makroebene, z. B. aus volkswirtschaftlicher oder soziologischer Perspektive ebenso wie 2. auf einer Mikroebene, auf der beide Bereiche Wissen, Verständnisse und Instrumente voneinander übernehmen und für die eigenen Zweck verwenden und anpassen."

In den vergangenen Jahren ist im Bereich von Organisationsentwicklungskonzepten der Mensch bzw. der/die MitarbeiterIn wieder stärker ins Zentrum gerückt. Organisationen setzten auf eine Unternehmenskultur, in der ein respektvoller und verantwortungsvoller Umgang miteinander entwickelt werden kann. In den erfolgreichen Integrationsprozessen tritt ebenfalls das Merkmal "freundliches Betriebsklima" oder "gutes Betriebsklima" häufig auf. Diese betriebliche Voraussetzung erhöht nicht nur das wirtschaftliche Ergebnis eines Unternehmens, sondern auch die Chance der beruflichen Integration.

Im Folgenden setze ich die Begriffe "Betriebsklima" und "Unternehmenskultur" synonym. Diese Gleichsetzung beruht darauf, dass in der Umgangssprache kein Unterschied gemacht wird und sich in der betriebswirtschaftlichen Literatur der Begriff der "Unternehmenskultur" durchgesetzt hat (z. B. findet sich im Handbuch zur Arbeitspsychologie das Stichwort "Unternehmenskultur" aber nicht der Begriff "Betriebsklima", siehe Ulich 1998).

14.1 Die Unternehmenskultur

Im Lexikon findet sich unter "Kultur [lat. "Bebauung", "Pflege" (des Körpers und Geistes), "Ausbildung"]: allg.: Gesamtheitheit der typischen Lebensformen größerer Gruppen einschließlich ihrer geistigen Aktivitäten, besonders der Werteinstellungen (Brockhaus 1998, S. 125)". Bezogen auf die Unternehmenskultur[11] schreibt Ulich: "Inhalt der Unternehmenskultur sind z. B. übereinstimmende Werte, Ziele und Normen, die ihren Niederschlag etwa in organisationstypischen Symbolen und Ritualen, Sprachregelungen und Verhaltenscodices finden" (1998, S. 472). Die Merkmale von Unternehmenskulturen fasst Wetzel (1999, S. 36) in sechs Punkten zusammen (vgl. auch Schreyögg 1998, S. 127). Demnach sind Unternehmenskulturen implizit, kollektiv, handlungsbestimmend, emotional, historisch und interaktiv. Der Einfluss der Unternehmenskultur auf die Leistungspotentiale wurde im vorherrschenden Wirtschaftsdenken des 20. Jahrhunderts lange Zeit missachtet (vgl. Taylorismus). Je weiter sich UnternehmerInnen von dieser Denkbildern entfernen, desto bedeutender wurden Überlegungen zur Unternehmenskultur. Im Zusammenhang mit modernen Organisationsentwicklungskonzepten kann heute folgende These formuliert werden: Eine Unternehmenskultur, die in ihrer Ausprägung den MitarbeiterInnen passt, ermöglicht gewinnbringende Entwicklungen. Sie bietet Handlungsspielräume an, in der neue oder innovative Ideen entstehen. Bezogen auf die berufliche Integration bedeutet das, dass der Prozess der beruflichen Integration einen entscheidenden Impuls zu einer neuen Unternehmenskultur geben kann.

Betrachten wir die sechs Merkmale der Unternehmenskultur im Hinblick auf die berufliche Integration, dann ergeben sich folgende Hypothesen:

Implizit: Eine implizite Unternehmenskultur beinhaltet selbstverständliche Annahmen, die nicht mehr hinterfragt werden. Durch den oder die MitarbeiterIn mit Behinderung brechen Selbstverständlichkeiten auf (kritischer Aspekt).

Kollektiv: Eine Unternehmenskultur zeichnet sich durch gemeinsames Wissen bzw. Emotionen aus. Ein Erfolgsparameter der beruflichen Integration liegt darin, wenn der/die neue MitarbeiterIn ein Verständnis um die kollektiv geteilten Erkenntnisse und Erfahrungen erhält (Kontrollaspekt im Sinne einer Erfolgsmessung).

Handlungsbestimmend: Unternehmenskulturen bieten die Grundlage für das Verständnis von Ereignissen und darauf folgenden Reaktionen. Durch das Kennenlernen einer Unternehmenskultur bzw. durch die Übernahme eines gemeinsamen Verständnisses, weitet sich das Feld des persönlichen Verhaltens- und Handlungsrepertoirs bei den MitarbeiterInnen (Lernaspekt).

Emotional: Unternehmenskulturen sind mit Gefühlen und Stimmungen der MitarbeiterInnen verbunden. Mit der neuen Person kommen weitere Qualitäten z. B. von Freude und Trauer, Lust und Unlust in den Betrieb. Damit wird die innerbetriebliche Stimmung (Atmosphäre) beeinflusst (emotionaler Aspekt).

Historisch: Unternehmenskulturen entwickeln sich. Sie haben eine Vergangenheit und eine Zukunft, d. h. sie sind dynamisch und können sich verändern. Passende Lösungswege z. B. in der Bewältigung einer Arbeitsgestaltung, die mit der beruflichen Integration in ein Unternehmen einfließt, bilden ein Erfahrungswissen, auf das bei Bedarf zurückgegriffen werden kann (Entwicklungsaspekt).

Interaktiv: Unternehmenskulturen können sich nur durch gegenseitigen Kontakt von MitarbeiterInnen entwickeln und weitergegeben werden. Der Austausch als aktiver Prozess kann das gegenseitige Verständnis und die Akzeptanz verstärken (Kontakthypothese vgl. Cloerkes 1997, S. 120ff). Im Bereich der Behindertenpädagogik wird die Kontakthypothese kontrovers diskutiert. "Das heißt: Eine ursprüngliche Einstellung tendiert dazu, sich bei Kontakt mit dem Einstellungsobjekt zum Extrem hin zu verstärken. Eine primär negative Einstellung kann durch Kontakt noch unterstrichen werden. Eine primär positive Einstellung wird hingegegen durch Kontakterfahrungen weiter bestärkt" (Cloerkes 1997, S.122). ... "Von entscheidender Bedeutung sind eine Reihe qualitativer Bedingungen des Kontakts. Sofern deren strikte Beachtung gesichert ist, dürfte der Kontaktvariable - auch ergänzt durch andere Strategien - eine erhebliche Bedeutung zukommen" (ebd. S. 126). Dieses Merkmal der Unternehmenskultur kann als "Interaktionsaspekt" bezeichnet werden.

Die Unternehmenskultur erweist sich in den dokumentierten Geschichten als zentrale Kategorie in der beruflichen Integration, insofern kann sie als "integrative Unternehmenskultur" bezeichnet werden. Ralf Wetzel (TU Chemnitz) hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Unternehmenskultur nicht in jedem Fall eine Integrationskultur sein muss: "Eine integrative Unternehmenskultur ist nicht voraussetzungslos. Egal wie aufgeschlossen oder ethisch verantwortungsbewusst ein Unternehmen ist - Kultur ist m. E. ein Zeitphänomen und etwas Dynamisches. Es wird kaum ein Unternehmen geben, das aus dem Stand eine integrative Unternehmenskultur hat und selbst wenn es soetwas gäbe - es würde einem anderen Unternehmen gar nichts nützen - die Voraussetzungen sind ja hochgradig spezifisch und auf den Einzelfall bezogen. Folglich sind auch die Wege dahin individuell und bergen eine Menge Arbeit, die getan werden muss und nicht einfach vorliegt" (Wetzel, unveröffentlicht 2001).

Neben der Unternehmenskultur, die maßgeblich die innerbetrieblichen Voraussetzungen beeinflusst, gibt es zwei weitere grundsätzliche Bedingungen, die bei manchen UnternehmerInnen - aufgrund einer sozialen Verpflichtung - übersehen werden. Zum einen braucht es einen sinnvollen Arbeitsplatz, denn berufliche Integration kann nur gelingen, wenn der Beitrag des Menschen mit Behinderung in einem betrieblichen Gefüge gebraucht wird. Hingegen scheitert der Integrationsversuch, wenn nur ein "Arbeitsplatz ohne Arbeit" bereitgestellt wird. Zum anderen braucht der Betrieb entsprechende finanzielle Mittel, die er bereit ist, in Form von Lohn/Gehalt auszuzahlen. Wenn die Liquidität eines Unternehmens nicht ausreicht, nützen die besten Voraussetzungen nichts (vgl. F2).

14.2 Einstellungsgründe im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderungen

Die Unternehmenskultur beeinflusst auch die Motive für die Einstellung von Menschen mit Behinderungen. Je nachdem, wie sich die Unternehmenskultur zeigt, werden unterschiedliche Begründungen für eine Arbeitserprobung oder Anstellung herangezogen. Die vorgelegten Personengeschichten beschreiben eine ganze Reihe von Motiven. Nachfolgend werden sie noch einmal zusammengefasst.

  1. Ein Unternehmen entscheidet sich für eine Arbeitserprobung, weil die betroffene Person in irgendeiner Form bekannt ist. Das kann aufgrund von Freizeitkontakten oder Hobbies der Hauptperson sein oder aufgrund von Freundschafts-/Verwandtschaftsbeziehungen.

  2. Durch die Aufklärung und Unterstützung der Arbeitsassistenz erhält ein Unternehmen die notwendige Bereitschaft, sich auf einen Prozess der beruflichen Integration einzulassen.

  3. Die Verantwortlichen eines Unternehmens entscheiden sich für eine Arbeitserprobung, weil sie selbst eine eigene Betroffenheit erleben (z. B. ist in ihrer Familie selbst eine Person mit Behinderung vgl. Schön 1993, S. 128).

  4. Eine Arbeitserprobung erfolgt, weil der Unternehmer, die Unternehmerin sein/ihre soziale Verantwortung ernst nehmen bzw. sein/ihr soziales oder moralisches Gewissen beruhigen will.

  5. Der positive Erstkontakt bzw. das Erscheinungsbild der Hauptperson überzeugen. Auch frühere positive Erfahrungen kommen als unternehmerisches Motiv für einen weiteren Integrationsversuch in Frage.

  6. Der Unternehmer entschließt sich zu einer Anstellung, weil er finanzielle Vorteile (Ausschöpfung von Fördermitteln z. B. in Form von Lohnkostenzuschuss, Erfüllung der Einstellungspflicht und damit Ausgleichstaxeregelung) nützen möchte.

  7. Hochreiter und Reinstadler (1997, S. 3) weisen darauf hin, dass "bestehender Personalbedarf relativ kostengünstig gedeckt werden kann, wenn ein behinderter Mitarbeiter bzw. eine behinderte Mitarbeiterin bestimmte Aufgaben im Betrieb übernimmt - weitere Neueinstellungen können unter Umständen vermieden werden".

  8. "Behinderte ArbeitnehmerInnen können aber auch einen Personalbedarf decken, der sonst aus Kostengründen gar nicht gedeckt würde. Dadurch werden Ressourcen höher qualifizierten MitarbeiterInnen frei, was für den Betrieb neue Möglichkeiten und Chancen eröffnet" (Hochreiter / Reinstadlter 1997, S. 4).

14.3 Zu den innerbetrieblichen Auswirkungen einer unterstützen Beschäftigung

Die innerbetrieblichen Auswirkungen hängen wesentlich mit den beteiligten Personen zusammen: dem, der ArbeitgeberIn und -nehmerIn, den UnterstützerInnen, den MitarbeiterInnen. Die Auswirkungen sind auf folgenden Ebenen (in folgenden Situationen) sichtbar.

14.3.1 Arbeitsplatzorganisation/Arbeitsplatzentwicklung

Die Arbeitsplatzorganisation beinhaltet eine Analyse der Arbeitsanforderungen und Verantwortlichkeiten. Gemeinsam mit den Zuständigen des Betriebs, der Hauptperson und der Arbeitsassistenz werden Arbeitsbereiche geklärt. Optimales Ziel ist eine "qualifizierende Arbeitsgestaltung", in der "... Arbeitsaufgaben so gestaltet werden sollten, dass sie die kontinuierliche Entwicklung von Kompetenzen fördern und zu einer höheren Qualifikation führen" (Frei et al. zitiert nach Wetzel 1999, S. 60). Die qualifizierende Arbeitsgestaltung stellt eine große Herausforderung dar, denn es muss eine Lösung zwischen den Bedürfnissen des/der ArbeitgeberIn und den Bedürfnissen der ArbeitenehmerInnen geschaffen werden. Arbeit, die ohne Anreize auskommt und die Langeweile als Resultat produziert, gefährdet nicht nur den Gesamtprozess der beruflichen Integration, sondern führt häufig zu Fehlern und Manipulationen in der Arbeitsausführung. Dagegen bieten Herausforderungen und bereitgestellte Qualifizierungschancen für die ArbeitnehmerInnen Motivation, die Arbeit verantwortungsvoll anzugehen. Eine Grundvoraussetzung der Arbeitsmotivation bildet allerdings die Identifikation mit der Aufgabe und der Arbeitsstelle.

Die Arbeitsplatzorganisation konzentriert sich in der beruflichen Integration zwar auf die Hauptperson, kommt aber ohne Berücksichtigung der anderen MitarbeiterInnen nicht aus. Schneider spricht in ihrem Interview davon: "Das ist für mich der qualitative Gewinn, wenn die ganze Landschaft so in Bewegung kommt, dass Wünsche, Interessen sich verbreitern und auch realisierbar werden, dass die Bedürfnisse der anderen plötzlich auch mehr Platz bekommen. Das ist für mich eine tiefe Wurzel für das Gelingen. Gleichzeitg ist es eine Wurzel für das Scheitern, wenn in einem Betrieb ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen der einzige ist und bleibt, der gefördert, geschützt, geschont wird" (siehe Interview: Gewinnen mit neuer Qualität).

Durch die berufliche Integration kommt es zu begleiteten Anlernsituationen. Die ArbeitsassistentIn erhält Einblick in diesen innerbetrieblichen Vorgang. Als externe Person kann sie in die Rolle der Expertin für unternehmerische Anlernsituationen schlüpfen und Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge anbringen, die auch anderen MitarbeiterInnen Vorteile verschaffen.

14.3.2 Einstellungsänderungen - Stigmatisierung/Entstigmatisierung

Die Einstellungsänderungen resultieren aus einem direkten Kontakt mit der Hauptperson. Ein wesentliches Merkmal ist nicht ein bestimmtes Wissen um die Leistungsfähigkeit einer Person, sondern ein gemeinsam gemachter Erfahrungsraum, der sich mit emotionalen Qualitäten füllt. Der Einstellungsgrund für eine unbefristete Anstellung wird primär in Verbindung mit der Person (gegenseitige Entwicklung der soziale Beziehungen) und weniger mit ihrer Leistungsfähigkeit gesehen (vgl. besonders F1, aber auch M1). ArbeitskollegInnen und UnternehmerInnen verändern ihre Einstellung zur behinderten Person im Laufe der Zeit. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass das Merkmal "Behinderung" in den Hintergrund rückt und die individuellen Persönlichkeitsmerkmale stärker be- und geachtet werden. Da das Merkmal "Behinderung" häufig zu Stigmatisierungsprozessen führt (vgl. Cloerkes 1997), kann in diesem Zusammenhang von einer Entstigmatisierung behinderter Menschen gesprochen werden. Wetzel (1999) spricht davon, dass den Integrationsfachdiensten (vergleichbar mit der Arbeitsassistenz in Österreich) eine wichtige Rolle in der Gestaltung dieses Prozesses zukommt. "Ziel ist der Aufbau einer gleichberechtigten Beziehung, was nichts anderes bedeutet als den Abbau von existierenden Stigmata und Vorurteilen" (Wetzel 1999, S. 90).

Häufig löst ein Integrationsprozess auch Staunen darüber aus, wie rasch sich die Kommunikation mit der behinderten Person entwickelt. Anfängliche Schwierigkeiten des Verstehens (undeutliche Aussprache, Stottern, Spracheigenheiten der Hauptperson) können meist schnell überwunden werden. Es erfolgt ein Eingewöhnen in die Sprache der Hauptperson. Dieser Vorgang unterstützt die Normalisierungstendenzen. Es wird "normal", dass der Mensch mit Behinderung in einem Betrieb beschäftigt ist. Eine andere beobachtbare Folgewirkung war das wachsende Interesse der ArbeitskollegInnen am Alltag der Hauptperson:

"Allmählich tauchen viele Fragen bei den ArbeitskollegInnen auf. Das finde ich fein, dass es dann so ein Interesse für den Menschen mit Behinderung gibt. Die Leute wollen, dann wissen, was er oder sie tut, wenn er/sie nicht arbeitet, mit was beschäftigt er oder sie sich dann? Oft gibt es ein Erstaunen darüber, was der Mensch alles kann oder tut. Es sind einfach Dinge, die andere Menschen auch machen - und das erstaunt (lachen). Es ist aber auch erklärbar. Die Leute haben die Erfahrung nicht und in ganz vielen Fällen wissen sie nur, dass Menschen mit Behinderungen in irgendwelchen Heimen leben. Dort werden sie versorgt, irgendwo gibt es einen Fahrtendienst, das wissen auch noch manche. Es gibt kein sehr reales Bild über die Lebenssituation von Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Gerade wenn es um Menschen mit einer geistigen Behinderung geht, dann fehlt einfach die Erfahrung. Sie kennen vielleicht irgend jemanden, der ein geistig behindertes Kind hat, oder haben schon irgend etwas gehört, aber das ist meistens weit entfernt. Wenn Leute bereit sind, sich darauf einzulassen und wirklich beginnen, zu hinterfragen: Was macht der Mensch? Was hat er bisher gemacht?, dann kommt das grosse Erstaunen über dessen Fähigkeiten. Eigentlich traut man ihnen so gut wie nichts zu" (Interviewauszug Susanne Gabrle 2000).

Man kann also schlussfolgern, dass die Hauptperson unter den Rahmenbedingungen der beruflichen Integration aktiv und zentral an der Entstigmatisierung ihrer Position mitwirkt. Sie bietet Aufklärung über ihre Person, was wiederum für sie durch das entgegengebrachte Interesse zu einer Selbstbestätigung und zu einem verstärkten Selbstbewusstsein führt. Gleichzeitig kann sie lernen Gegenfragen an die ArbeitskollegInnen zu richten und damit neue Lebenswelten kennenlernen.

14.3.3 Unternehmenskultur/Betriebsklima

Die Auswirkungen auf die Unternehmenskultur wurden bereits im Zusammenhang mit der Definierung des Begriffs erläutert. Hier soll noch einmal hervorgehoben werden, dass ArbeitskollegInnen eine Hebung der positiven emotionalen Stimmung im Betrieb feststellen, gerade bei der Anstellung einer Person mit einer sogenannten geistigen Behinderung. Worauf ist das zurückzuführen? Der folgende Gedankengang gilt als Hypothese, die noch intensiv zu diskutieren ist: Die behinderte Peson spiegelt in gewissem Sinne eine Gegenwelt. Vielleicht werden (Arbeits-)Belastungen leichter aushaltbar, wenn im Gegenüber Verhaltensweisen erkennbar werden, die sich weniger an angepassten Normvorstellungen orientieren. Die Übertragung der eigenen Wünsche in die andere Person erleichtert das eigene Funktionieren. In der Phantasie bietet mir der Andere einen Ausweichort (Ausweichraum) und/oder eine Handlungsalternative, die ich selbst nicht wage umzusetzen. Damit erhält der Mensch mit Behinderung im Betrieb eine wichtige Funktion zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Arbeitsleistung, vielleicht auch Arbeitsmoral. Scheinbar erfolgt das Durchbrechen von konventionellen Verhaltensmustern eher durch Menschen mit Behinderungen und scheinbar wird es hier eher toleriert bzw. akzeptiert als bei sogenannten Nicht-Behinderten. Mit der steigenden Integration ist zu diskutieren, ob diese unkonventionellen Verhaltensmuster von Menschen mit Behinderungen in einer zunehmenden Anpassung verschwinden.

14.3.4 Prädikat: Soziale Verantwortung

Laut Behinderteneinstellungsgesetz werden Unternehmen angehalten, begünstigte Behinderte anzustellen oder eine Ausgleichstaxe zu bezahlen (§1 "auf je 25 Dienstnehmer mindestens einen begünstigten Behinderten", die Ausgleichstaxe 1999 betrug S 2.040,--). Diese gesetzliche Vorschreibung bringt viele Arbeitsplätze für die Zielgruppe der Behinderten und hat daher m. E. durchaus seine Berechtigung. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Klein- und Mittelbetriebe, die von dieser Regelung aufgrund der Anzahl von DienstnehmerInnen nicht betroffen sind. Auch Menschen mit Behinderungen, die nicht zum Kreis der "begünstigten Behinderten" zählen, bleiben unberücksichtigt. Daher bedarf es einer freiwilligen Übernahme sozialer Verantwortung durch Unternehmen, die sich bereit erklären, Menschen mit Behinderungen anzustellen. Die Beispiele im empirischen Teil haben gezeigt, dass es nicht um eine rein karitative Tat gehen kann. Skepsis und Neugierde stellen sogar die bessere Voraussetzung für Begegnung und Entwicklung in der beruflichen Integration dar, denn häufig provozieren gerade diese Eigenschaften ein Ernstnehmen und Ernstgenommen-Werden.

Die berufliche Integration wirkt sich auch auf Vorstellungen und Zielsetzungen im Unternehmen aus. Es werden Fragen aktualisiert, "was das Unternehmen eigentlich ist, was es sein will und letztlich sein wird" (Wetzel 1999, S. 69). Die Nachfrage von kritischen KonsumentInnen hat im letzten Jahrzehnt zugenommen. Betriebe, die in Öko-, Sozial-, Verbraucherschutz-Ratings punkten, erzielen Wettbewerbsvorteile gegenüber jenen Unternehmen, die diese Entwicklung nicht berücksichtigen. Mit der Anstellung von Menschen mit Behinderung werden im Bereich "soziale Verantwortung" Pluspunkte erreicht, die von einer immer stärker wachsenden KundInnengruppe geschätzt werden.

14.4 Abschließende Bemerkung

Bei der Behandlung der Auswirkungen der beruflichen Integration bin ich nicht auf ökonomische Gründe eingegangen, die rein auf einer betrieblichen Kostenebene berechnet werden. Die Ausklammerung der zahlenmäßigen Kosten-Nutzen-Rechnung beruht darauf, dass

  1. die dokumentierten Beispiele keinen eindeutigen Aufschluss darüber geben und die UnternehmerInnen die Anstellungen eher mit sozialen Argumenten begründeten.

  2. sich die persönlichen und betrieblichen Kosten-Nutzen jeweils sehr individuell im Einzelfall darstellen (Schwierigkeit der finanziellen Bewertung von Leistung: Welche Leistung wird berechnet? Was zählt als Leistung?). Eine generelle Aussage könnte daher leicht zu Missverständnissen führen. Entscheidend ist vielmehr ein individuell abgestimmtes Passungsverhältnis von Person und Fördermaßnahme (vgl. Hauptfürsorgestelle 1997, Monetäre Kosten-Nutzen-Analyse von Fachdiensten).

  3. der Betrieb mit der Anstellung einer behinderten Person eine Form der Qualifizierung und Weiterbildung durchführt. Ausbildungskosten sind Teil betrieblicher Aufwendungen, die grundsätzlich bei allen MitarbeiterInnen anfallen (vgl. die Berechnungen von Lassnig 1997, Bringt er was, der Lehrling?).

Ohne Zweifel hat jedes Unternehmen darauf zu achten, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung passt. Personalkosten bilden dabei meist einen beträchtlichen ausgabenseitigen Posten. Staatliche Lohnkostenzuschüsse sind daher wichtige Unterstützungsmaßnahmen, um einen Leistungsausgleich zu schaffen und sollten verstärkt eingesetzt werden.



[11] 1.) Die folgende Beschreibung geht von der Annahme einer einheitlich getragenen Unternehmenskultur aus. Auf die Diskussion um verschiedene Unternehmenskulturen innerhalb eines Betriebes (Welche Subkulturen gibt es? Können sie auch zur gesamten Unternehmenskultur gezählt werden? Welche Einflüsse bzw. Bewertungen liegen vor?) wird hier nicht näher eingegangen (siehe dazu Ulich 1998, S. 472ff). 2.) Ich gehe davon aus, dass Unternehmenskulturen von ManagerInnen und MitarbeiterInnen gestaltet und beeinflusst werden können. In der Managementforschung gibt es dazu laut Wetzel (unveröffentlicht 2001) unterschiedliche Auffassungen.

15 Die Familie im Prozessgeschehen

Dieses Kapitel befasst sich mit der "Familie", obwohl aus den Personengeschichten meist nur die Mutter, in der einen oder anderen Situation, aufscheint. Dieser Umstand hängt damit zusammen, dass die Dokumentationen zwar weitreichend, aber nicht umfassend, die soziale Wirklichkeit wiedergeben. Der Vater ist in den Geschichten vielfach weniger mit dem unmittelbaren Prozessgeschehen der beruflichen Integration beschäftigt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er sich völlig unbeteiligt verhält. Ich werde zuerst allgemein familienbezogene Hinweise geben, die bei Familien mit behinderten Kindern vorkommen und danach die Zusammenhänge mit der beruflichen Integration aufzeigen.

15.1 Starke Bindungen

Alltagsbeobachtungen erwecken den Eindruck, dass zu enge bzw. zu starke Bindungen innerhalb von Familien mit behinderten Kindern bestehen. Speziell Mütter sehen sich, meist im Sinne eines Vowurfs, damit konfrontiert. Welche Situationen führen zu solchen möglichen Bindungen bzw. welche Unterschiede ergeben sich im Vergleich zu Eltern ohne behinderte Kinder?

15.1.1 Schockerlebnis und Umgang mit Behinderung

Mit der Geburt eines behinderten Kindes werden offene oder geheime Wünsche mit einer bestimmten Wirklichkeit konfrontiert. Meist können die gestellten Erwartungen nicht erfüllt und müssen verändert werden. Neben dem Schockerlebnis treten Schuldgefühle hinzu, die einerseits von der Umwelt in hohem Maße explizit und implizit zugeschrieben werden. Andererseits werden durch eigenes Verhalten, Schuldgefühle in anderen Menschen produziert (z. B. beim Partner). Abwehrmechanismen folgen: Verleugnung, Projektion, Intellektualisierung, Sublimierung (vgl. Cloerkes 1997, S. 244ff). Das kann dazu führen, dass sich eine tiefere emotionale Bindung zum Kind entwickelt.

15.1.2 Medizinischer und therapeutischer Bedarf

Mit der Feststellung einer Behinderung beginnt ein überdurchschnittlich hoher zeitlicher Aufwand, der für medizinische und therapeutische Zwecke aufgewendet werden muss. Eltern und ihre Kinder verbringen viel gemeinsame Zeit in Ärztepraxen, Spitälern und Therapiestationen. Sie erleben die gemeinsamen Wartezeiten, bangende Stunden, körperliche und physische Schmerzen durch Behandlungsmethoden. Eltern sehen zu, wie sich ihr Kind in der Rehabilitation abmüht, gesetzte Ziele erreicht oder auch scheitert. Manchmal scheint es fast so, als ob gegen einen gemeinsamen Feind angekämpft werden muss (die Behinderung als Feind oder der Therapeut/Arzt als Feind). Diese gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnisse in schwierigen Situationen verstärken die Bindungen unter den Beteiligten.

15.1.3 Isolierungstendenzen duch die Umwelt

Die Umweltreaktionen auf eine Familie mit einem behinderten Kind fallen unterschiedlich aus und sind u.a. von einer Schichtzugehörigkeit und dem Bildungsgrad der Eltern abhängig. Aus der Forschung kann festgestellt werden, dass Mittelschichteltern häufiger Außenkontakte haben als Unterschichteltern (vgl. Cloerkes 1997, S. 261). Insgesamt nimmt jedoch die Isolierungstendenz zu. Der Grund liegt darin, dass der Umgang mit Behinderung allgemein Unsicherheit auslöst und ein Vermeidungsverhalten als typische Reaktion der Umwelt auftritt. Außerdem ist es für die Familie meist nicht einfach, außerhalb ihres vertrauten Heimes Interessen nachzugehen, oder Kontakt zu pflegen. Eingeschränkte Mobilität, vermehrter technischer Hilfsmitteleinsatz, beschränkte Aufenthaltsmöglichkeiten (z. B. fehlende Toilettenanlagen), Umweltbarrieren jeglicher Art verursachen einen vergleichsweise höheren Aufwand als bei Familien ohne behinderte Kinder. Familien mit behinderten Kindern sind stärker auf sich gestellt als andere Familien, meist fehlt es an ausreichenden familienentlastenden Diensten (vgl. Rosenkranz 2000, www). Durch die notwendigen gegenseitigen Unterstützungsleistungen geraten sie in eine erhöhte gegenseitige Abhängigkeit.

Enge bzw. starke Bindungen zwischen einem Elternteil und dem Kind erfüllen Schutzfunktionen, die in der gegebenen Situation - vorerst einmal - wichtig sind. Sie fördern Qualitäten wie z. B. Geborgenheit, Vertrautheit und Nähe. Mit der Entwicklung des Kindes und mit dem Streben nach Selbstbestimmung werden jedoch neue Qualitäten für den Menschen bedeutsam. Starke Bindungen können dann vermehrt zu Konflikten führen, die eigentlich von den Beteiligten nicht gewünscht sind. Diese Zeit der gegenseitigen Standortklärung ist schwierig und viele Eltern sehen sich in einem Dilemma: Trotz starker Bindung kämpfen sie darum, ihr Kind loslassen zu können. Gleichzeitig stellt sich ihnen die konkrete Frage: Wohin lasse ich mein Kind los? Integrative Möglichkeiten bzw. Alternativen gibt es kaum, sodass ein Loslassen zusätzlich erschwert wird.

15.2 Zur Rolle der Mutter

Cloerkes (1997) ist der Auffassung, dass die traditionelle Mutterrolle im Allgemeinen durch die Pflege und Erziehung eines behinderten Kindes verstärkt wird. Tatsache ist, dass bei schwerbehinderten Kindern die Mutter häufig ihren Job aufgibt, um sich dem Kind widmen zu können. In der Konzentration um das Kind kann es zu einer Überbehütung und zu einer Vernachlässigung anderer Familienmitglieder kommen. Gleichzeitig ist sie häufig mit einer physischen und psychischen Überbelastungen konfrontiert (vgl. Cloerkes 1997, S. 250.).

Für die Person mit Behinderung stellt der Weg in die Arbeitswelt einen entscheidenden Schritt des Teilnehmens an der Gesellschaft dar. Die Mutter erlebt mit dem Sohn, der Tochter den neuen Lebensabschnitt in besonderer Weise, weil auch für sie Veränderungen anstehen. Frauen, die immer im Erwerbsarbeitsprozess standen, finden eine Entlastung, wenn ihr Kind innerhalb einer Beschäftigung eine Tagesstruktur erhält. Frauen, die sich dafür entscheiden, selbst wieder arbeiten zu gehen, werden persönlich mit Herausforderungen konfrontiert, die sich nicht nur auf den neuen Arbeitsplatz beziehen, sondern sich auch durch die neue Konstellation in der Familiendynamik zu Hause ergeben. Frauen, die weiterhin zu Hause bleiben, erfahren häufig ein "Gefühl der Leere". Gerade für jene kommt es vor, dass sie eher bremsend dem Prozess der Loslösung ihres Kindes gegenüberstehen. Ein weiterer Effekt erfolgt mit dem Wegfall von Erziehungs- und Versorgungsaufgaben bei der Mutter. Persönliche Bedürfnisse rücken in den Vordergrund bzw. werden aktualisiert: Die Mutter findet plötzlich Zeit, sich um sich selbst zu kümmern. Nicht selten ist dieser Prozess der Eigenbeschäftigung mit familiären Veränderungen bzw. Krisen verbunden.

15.3 Zur Rolle des Vaters

Beim Vater scheinen die äußerlichen Veränderungen nicht so tiefreifend zu sein wie bei der Mutter, denn im Gegensatz zu ihr, behält er meist seine Erwerbsarbeit. Bei manchen Vätern ist auch eine Form von "Fluchtverhalten" zu erkennen, das sich in einer Verstärkung des beruflichen Engagements ausdrücken kann. Auch die Tendenz sich in Aktionismus zu stürtzen ("Vereinsmeiertum") oder zu erhöhtem Alkohlkonsum zu neigen, kann beobachtet werden. Hinze (1997) gibt folgende Schwierigkeiten von Vätern im Zusammenhang mit behinderten Kindern an:

  1. "Väter sind mit der Behinderung weniger konfrontiert.

  2. Ihre Erwerbstätigkeit erschwert ihnen die Auseinandersetzung mit der Behinderung.

  3. Die mangelnde Problemkonfrontation erschwert die Entwicklung von Problembewußtsein.

  4. Der eingeschränkte praktische Umgang mit dem Kind wirkt psychisch destabilisierend.

  5. Die männliche Geschlechtsrolle verlangt Sachlichkeit und Selbstkontrolle.

  6. Väter neigen zur rationalen Bewältigung der Behinderung.

  7. Ihre Selbstbeherrschtheit hindert Väter an der emotionalen Verarbeitung der Behinderung.

  8. Sie neigen dazu, problembezogene Gespräche zu vermeiden.

  9. Sie sehen sich an ihre Ehefrau gebunden.

  10. Die öffentliche Konfrontation stellt eine massive sozial-emotionale Belastung dar.

  11. Mütter wie Fachleute sehen die Elternrolle von Vätern als nebensächlich an" (Hinze zit. nach Cloerkes 1997, S. 252).

Die Liste gibt mögliche, individuelle Schwierigkeiten wieder, aber sie sollte nicht als generell-typische Ausprägung verstanden werden. Rosenkranz (2000, www) z. B. kann in ihrer Untersuchung die Distanzierung des Vaters vom behinderten Kind nicht bestätigen. Sie bestätigt zwar eine Asymmetrie zwischen Müttern und Vätern in Bezug auf die Belastungen, doch ist der Vater sehr wohl als beteiligte Person präsent. Meine Erfahrungen mit Kontakten zu betroffenen Vätern stimmen mit den generellen Aussagen von Hinze auch nicht überein, im Gegenteil: Die Distanz durch die Erwerbsarbeit scheint die Auseinandersetzung mit der Behinderung zu erleichtern. Der Vater erhält Stabilität und Ausgleich von der Außenwelt und kann dadurch gefasster auf konfliktreiche Situationen zu Hause reagieren. Die vergleichsweise geringere Zeit bewirkt eine intensivere Gestaltung gemeinsamer Begegnungen.

In den Personengeschichten zur beruflichen Integration tritt der Vater fast nie direkt in Erscheinung. Die Zukunftsgestaltung der betreffenden Kinder liegt demzufolge stark an der Bereitschaft und dem Engagement der Mutter. Der Vater bleibt im Hintergrund. Als Indiz dafür kann die Kontakthäufigkeit zur Arbeitsassistenz gesehen werden. Die Mutter ist meist die einzige Begleitperson beim Erstgespräch des Jugendlichen mit der Arbeitsassistenz. Sie stellt sich auch signifikant häufiger als erste Ansprechperson innerhalb der Familie dar. Über sie werden sämtliche organisatorische Klärungen abgewickelt. (Diese Tatsache ist nicht ungewöhnlich, wenn man z. B. Elternabende in Schulen betrachtet. Der Besuch des Elternabends wird zu mehr als 90 % von Müttern wahrgenommen.)

In Familien, in denen der Vater die gemeinsame Verantwortung um das Kind mitträgt, ergeben sich gerade durch seine Außenkontakte erhöhte Chancen für den Berufseinstieg. Es können durch die beruflichen Kontakte des Vaters Arbeitsplatzmöglichkeiten entstehen, die für die Tochter oder den Sohn eine erste Arbeitsmöglichkeit darstellen. Inwieweit hier die väterliche Vorstellung in Absprache mit dem, der Jugendlichen erfolgt oder ob eher ein Drängen (aufgrund einer scheinbaren Chance) im Vordergrund steht, bleibt individuell unterschiedlich. M1 ist ein Positivbeispiel, in dem eine Übereinstimmung von Möglichkeiten und Wünschen erzielt werden konnten. Die Problemgeschichte um M6 (siehe: Interview Schneider - Ein Scheiterungsbeispiel) zeigt das Gegenteil.

15.4 Zur Rolle von Geschwistern und anderen nahen Bezugspersonen

Die Rolle von Geschwistern hängt von der allgemeinen Familiensituation (Beziehung untereinander) und dem Erziehungsverhalten der Eltern ab. Inwieweit erfolgte eine Gleichbehandlung oder Bevorzugung von Kindern? Wird verstärkt die Übernahme von Verantwortung für den behinderten Bruder/Schwester eingefordert? Welche Freiräume werden dem einzelnen Kind ermöglicht? Der Altersunterschied und die Stellung in der Geschwisterreihe, sowie das Geschlecht und die Schwere der Behinderung gelten als weitere Einflussgrößen (vgl. Cloerkes 1997, S. 254). Das gemeinsame Aufwachsen von Geschwister mit geringem Altersunterschied bietet eine Reihe von Lernfeldern und Austauschmöglichkeiten, die dem behinderten wie auch dem nichtbehinderten Kind von Vorteil sein können (gemeinsames oder ähnliches Spielzeug, vergleichbarer Freundeskreis, ähnliche Schulerfahrungen). Konflikte bzw. Reibereien unterscheiden sich nicht wesentlich zu Geschwisterkonstellationen ohne Behinderung. Die Rolle der Geschwister reicht daher von der Spielgefährtin bis hin zum "Aufpasser", vom "Vertrauten" gegenüber den Eltern bis hin zur "Verräterin".

In der beruflichen Integration können Geschwister, die bereits den Berufseinstieg hinter sich haben, konkrete Erfahrungen und Bilder übermitteln, die als Entscheidungsgrundlage für einen Berufswunsch der Hauptperson dienlich sind: "Ich will nie Automechaniker werden, weil mein Bruder ist immer so schmutzig." Oder: "Mir gefällt die Arbeit im Einkaufsladen meiner Schwester."

Die Diskussion um weitere nahe Bezugspersonen wie z. B. Großeltern, Tanten, Onkels, Cousins wird an dieser Stelle nicht ausgeführt. Im Sinne eines systemtheoretischen Ansatzes können ihnen aber wichtige Funktionen zukommen. Die Arbeitsassistentin bzw. der Arbeitsassistent ist daher gefordert, bedeutende Bezugspersonen zu erkennen und in den gemeinsamen Überlegungen um die berufliche Zukunft miteinzubeziehen.

15.5 Die Herkunftsfamilie und mögliche Ablösungsprozesse

Mit der beruflichen Integration fließen neue Lebensthemen und Forderungen in die Familie hinein. Entwicklungspsychologisch sind es Fragen nach der Abgrenzung, Selbstbestimmung, Loslösung - insgesamt Aspekte eines Prozesses des "Zu-sich-selbst-Findens". Im Vergleich zu Theorien der Jugendphase früherer Zeiten orten Keupp et al. (vgl. 1999, S. 82ff) in unserer Gesellschaft eine Verschiebung dieser Themen zu einem biographisch offenen Prozess (vgl. Kapitel 3). Nach den Ergebnissen der Befragung von 152 jungen Erwachsenen "richten sich junge Männer wesentlich häufiger auf ein dauerhaftes Leben in der Herkunftsfamilie ein, auch wenn sie ‚erwachsen' werden und auf eine ‚kindliche Einbindung' nicht mehr angewiesen sind. Der Typus ‚Nesthocker' unterstreicht für sie die Bedeutung des inzwischen populären Begriffs ‚Hotel Mama'. Der Umstand, dass bei den jungen Männern eine ‚gute Integration' zunimmt, spricht allerdings dafür, dass hier auch ausgewogenere Arrangements mit den Eltern und besonders den Müttern möglich wurden. Betrachten wir die Formen, wie sich junge Erwachsene von ihrer Herkunftsfamilie lösen, so ist festzustellen, dass bei jungen Frauen häufiger der Typ ‚Auszug ohne Ablösung' vorzufinden ist" (Keupp et al. 1999, S. 136).

Der Befund von Keupp et al. kann die Problematik des Ablösungsthemas behinderter Kinder und deren Eltern in dem Sinne entschärfen, dass die scheinbar "altersspezifische Zeit der Ablösung" nicht mehr benennbar ist. Ein möglicher Normalisierungsdruck kann wegfallen, die Normalität zeigt sich breiter gestreut denn je. "Hotel Mama" ist für erwachsene Kinder genauso alltäglich, wie eine Wohngemeinschaft oder partnerschaftliche Wohnform. Nichts desto Trotz zählt die Ablösung von den Eltern als wichiger Schritt in die Adoleszenz bzw. ins "Erwachsenen-Dasein". Die Aufarbeitung dieses Themas wird in der Literatur der Behindertenpädagogik bisher kaum behandelt. Vermutlich hat die klassische Behindertenhilfe mit ihren Versorgungsanstalten dazu beigetragen, dass die Ablösung wenig beachtet wurde. Meist erfolgte eine Trennung oder auch eine Abschiebung, weil in der Herkunftsfamilie keine Möglichkeit der Versorgung übrig blieb. Mit der Entwicklung der Integrationsbewegung und der Organisation von Alternativen (ambulant betreute Einzel- und Mehrzimmerwohnungen) wird es leichter möglich, bewusst über Ablösungsprozesse in Familien zu diskutieren.

Über die wesentlichen Merkmale der Beziehungen zwischen Familienmitgliedern in der Phase der Adoleszenz berichtet Storch (1994) in ihrer Arbeit. Sie konzentriert sich im Hinblick auf den Ablösungsprozess auf zwei Beziehungsdimensionen, die sich nachhaltig beeinflussen und entscheidende Veränderung erfahren: die Bindungsdimension und die Machtdimension. "Das Bindungsstreben in der Adoleszens macht sich auf der Verhaltensebene daran fest, ob es den Eltern gelingt, ihrem Jugendlichen das Gefühl zu vermitteln, dann verfügbar zu sein, wenn die Jugendlichen es brauchen" (Storch 1994, S. 34ff). Das Zuhause kann Sicherheit vermitteln, aber es darf nicht zur Insel werden, von der kein Wegkommen möglich ist. Das Bindungsverhalten der Jugendlichen ist nicht mehr wie in der Kindheit von der physischen Präsenz abhänig, sondern verlagert sich auf den psychischen Bereich. Es geht um das Wissen, dass die Eltern da sind, wenn der Jugendliche sie braucht.

Die Machtdimension verändert sich durch "erweiterte kognitive Fähigkeiten" und durch die "Erweiterung des Lebensraumes" (Storch 1994, S. 40). "Was die Eltern in dieser Phase der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder wahrnehmen, ist ein ständiger Kleinkrieg um neue Befugnisse, nach denen ihre adoleszenten Kinder trachten. Gleichzeitig können sie in diesem Kleingkrieg nicht einfach nachgeben, wollen sie ihrer Aufgabe als Strukturgeber gerecht werden. (...) Der mit zunehmendem Alter der Jugendlichen sich immer mehr erweiternde Lebensraum - gleichgültig ob real oder phantasiert - eröffnet ihnen, generell gesprochen, mehr Möglichkeiten, als dies in jüngeren Jahren der Fall war. Dieser rapide Anstieg an Möglichkeiten im Jugendalter leistet ebenfalls einen bedeutsamen Beitrag zur Veränderung der innerfamiliären Machtbalance in der Adoleszenz. (...)" Sowohl auf dem Gebiet der emotionalen Bindung als auch auf dem Gebiet der sinngebenden Instanz, zwei der wichtigsten Machtgaranten für die Eltern in der familiären Hierarchie, sind die Jugendlichen mit zunehmendem Alter immer weniger ausschließlich auf die Eltern angewiesen" (Storch 1994, S. 38ff). Gleichaltrige, wie Storch (vgl. 1994, S. 39) anführt, erhalten in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung.

Die berufliche Integration verstärkt die beschriebenen Bindungs- und Machtdimensionen. Wenn es zu keinem Heraustreten aus der Herkunftsfamilie kommt, dann besteht die Gefahr einer Reihe von problematischen Konsequenzen. In Bezug auf die Familie kann festgestellt werden, dass das Zuhausebleiben des Jugendlichen entwicklungshinderliche Funktionen produziert (vgl. dazu die Bedeutung von Arbeit nach Jahoda 1975 und 1983; siehe auch Kapitel 2). Die familienspezifischen Auswirkungen können auf drei Ebenen zusammengefasst werden:

  • Familienkonzentration: Das fast ausschließliche Zusammensein in der Familie führt zu vermehrtem emotionalen Stress einzelner Familienmitglieder. Unzufriedenheit, Reiberein und Konflikte nehmen zu. Häufig wird der unstrukturierte Tagesablauf und das leere "In-den-Tag-Hineinleben" der Jugendlichen von den Eltern als zermürbend und unverständlich erfahren. Als Folge treten implitzit und explizit Schuldzuweisungen in der Familie auf.

  • ökonomische und normative Abhängigkeit: Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen bleiben finanziell abhängig von den Eltern. Auch wenn ein staatlicher Beitrag wie z. B. die "erhöhte Familienbeihilfe" ausbezahlt wird oder später der "Beitrag zur Deckung des Lebensunterhaltes" bleibt das Abhängigkeitsverhältnis systemimmanent aufrecht. Durch den zwangsläufig häufigen Familienkontakt kommt eine Abhängigkeit hinzu, die daraus resultiert, dass elterliche Normen und Werte stärker internalisiert werden.

  • außerfamiliäre Bezugsgruppen fallen weg: Austauschprozesse, Vergleichsmöglichkeiten, Lernimpulse, gesellschaftliche Anpassungsleistungen, u.v.m. verkümmern oder können zu Hause nicht wahrgenommen werden. Das verstärkt gesellschaftliche Ausgrenzungs- und Ausschließungstendenzen. Für die Hauptperson erhöht sich das Gefühl der Unsicherheit; Orientierungsprobleme im gesellschaftlichen Bereich nehmen zu.

Die Familie kann zum Gelingen der beruflichen Integration sehr viel beitragen, indem sie die Funktion als Rückhalt und die Funktion als Sprungbrett zugleich anbietet. Diese Doppelfunktion muss in vielen Familien erst erlernt werden und stellt keine leichte Aufgabe dar. Die empirischen Ergebnisse scheinen allerdings zu bestätigen, dass sich nach einer konflichtreichen Zeit fast überall ein Arrangement einpendelt, mit dem die Familie umzugehen weiß. Die unterschiedlichen Machtpositionen haben sich dann auf einem neuen Niveau verteilt und die Bindungsdimension ist in veränderter Form gefestigt.

15.6 Elternarbeit heißt vorrangig Elternermutigung

Die ArbeitsassistentIn erhält durch die Begleitung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen Einblicke in familiäre Zusammenhänge. Sie erfährt die Konflikte um Selbstbestimmung und Abhängigkeit meist von der Hauptperson. Sie erhält Hinweise über Schwierigkeiten, die Eltern mit den oft widersprüchlichen Verhaltensweisen der Jugendlichen haben. Eltern sehen in der ArbeitsassistentIn eine Ansprechperson, die Hoffnung und Entlastung[12] mitbringt. Es geht um die Zukunftsperspektiven ihres Kindes und diese Sorge wiegt bei Eltern schwer. Viele offene Fragen bestehen und werden mit wachsendem Alter des Kindes aktuell: "Wird unser Kind einmal Arbeit finden? Wird eine adäquate Unterstützung vorhanden sein? Kann unser Kind einmal selbständig leben? Wer ist da, wenn wir einmal nicht mehr sind?"

In der Phase der beruflichen Integration kommt bei Jugendlichen ein verstärktes Drängen nach Eigenständigkeit zu Tage. Bei "Integration Wien" hat sich daher die Elternermutigung als entscheidender Aspekt der Elternarbeit herauskristallisiert. Die ArbeitsassistentIn ermutigt die Eltern, dass sie die Bedürfnisse und Wünsche der Hauptperson zulassen und mittragen können. Es geht vielfach um die Frage nach Eigenverantwortung der Hauptperson. Wieviel an Eigenverantwortung erhält sie und in welchen Bereichen liegt die Verantwortung noch bei den Eltern? Generell kann formuliert werden, dass die Hauptpersonen bereit sind, mögliche Misserfolge und ein steigendes Risiko des Scheiterns auf sich zu nehmen, denn sie erhoffen bzw. erkämpfen sich wichtige, neue Freiheiten (vgl. z. B. F4 und ihre Wegbewältigung). Diese Entwicklung sollte in der Elternarbeit besonders berücksichtigt werden.

Die Elternarbeit in der Arbeitsassistenz ist gerade bei jüngeren Personen wichtig, um dem Ziel der beruflichen Integration näher zu kommen. Wenn mit der Hauptperson berufliche Perspektiven erarbeitet wurden, können Eltern als biographisch zentrale Bezugspersonen, sowohl hilfreiche als auch hemmende Positionen einnehmen. Dieser möglichen Hemmwirkung wird versucht gegenzuwirken, indem die ArbeitsasistentIn mit den Eltern ständig Kontakt hält und von ihnen Einverständnis oder zumindest Akzeptanz für die nächsten Schritte signalisiert bekommt. Meist entsteht mit der Dauer des Begleitprozesses ein bestimmtes Vertrauensverhältnis und die Elternarbeit wird weniger zeitaufwendig. Dennoch sollte bei vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht vergessen werden, dass der Erstkontakt in Begleitung der Eltern bzw. eines Elternteils stattgefunden hat, und dass die Arbeitsassistenz den spezifischen Auftrag - nicht nur von der Hauptperson - sondern auch von den Eltern erhält. Insofern erstreckt sich ihre Verantwortlichkeit auch auf die Eltern.



[12] Rosenkranz (2000, www) weist zum Begriff "Entlastung" darauf hin, "dass im Sinne des Normalisierungsprinzips nicht die Person mit Behinderung als Mensch die alltägliche ‚Last' darstellt, sondern daß durch ‚erschwerende Alltags- und Lebensbedingungen' des Umfeldes und der Gesellschaft die ‚Belastungen' der Familien vielfach erst erzeugt werden."

16 Zukunftsperspektiven - Brücken in die Berufswelt

Das Mögliche ist beinahe unendlich,

das Wirkliche streng begrenzt,

weil doch nur eine von allen Möglichkeiten

zur Wirklichkeit werden kann.

Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall

des Möglichen

und deshalb auch anders denkbar.

Daraus folgt, dass wir die Wirklichkeit

Umzudenken haben,

um ins Mögliche vorzustoßen.

(Friedrich Dürrenmatt, in: Justiz)

16.1 Ausgangssituation

Das Ziel von Teil 3 "Zukunftsperspektiven" liegt im Aufzeigen von neuen Handlungsoptionen. Ich konzentriere mich auf die detaillierte Beschreibung exemplarischer Beispiele. Neben aktuellen Zahlen zur Situation behinderter Jugendlicher in Tirol werden Methoden für die Übergangsphase Schule - Beruf und zwei Modelle von integrativen Berufsschulen vorgestellt. Mit "Bedenken gegen Anpassung" (Richter 1998) beende ich diese Arbeit.

Die bisherigen Beschreibungen zur beruflichen Integration setzten bei Jugendlichen an, die zwischen dem Abschluss der Pflichtschulzeit und dem Eintritt in die Berufswelt noch einige Zeit zu überbrücken hatten. Prinzipiell wird die Arbeitsassistenz in Österreich erst mit dem 18. Lebensjahr aktiv, davor ist die Unterstützung durch die Arbeitsassistenz nur schwer möglich. Der Grund liegt einerseits im vorgeschriebenen Auftrag von Seiten der Finanzgeber, andererseits scheinen viele Jugendliche mit Behinderung physisch und psychisch noch nicht für die Arbeit bereit ("job ready") zu sein. Berufsvorbereitungen und allgemeine Bildungsmaßnahmen sind für eine Festigung des bisher Gelernten noch zusätzlich erforderlich.

Nach dem Schulgesetz zur Integration in der Primarstufe (1993) und in der Sekundarstufe (1997) ist der gemeinsame Unterricht bis zur 8. Pflichtschulstufe gesetzlich verankert. Danach besteht für Jugendliche mit Behinderungen eine Lücke im Bildungssystem, wenn sie eine integrative Schulbildung wünschen. Für SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in integrativ geführten Klassen endet der Schulbesuch nach der 8. Klasse, danach muss individuell um eine Lösung gekämpft werden. Oft bleibt nur die Sonderschule übrig, in der das letzte Pflichtschuljahr absolviert werden muss. Im Gegensatz dazu, können SchülerInnen in Sonderschulen in der Regel zwölf bis fünfzehn Schuljahre verbringen. Für Eltern, die um Integration kämpfen, stellt diese Ungleichbehandlung eine bittere Entäuschung dar, weil der Kampf um Integration damit verloren scheint.

"Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben derzeit die Möglichkeit, 2 Jahre (höchstens!) über die Schulpflicht hinaus die Sonderschule zu besuchen oder nach 9 Pflichtjahren die Integrationsklasse zu verlassen. (Bis zur 8. Schulstufe gibt es die Integrationsgsetze, das 9. Schuljahr ist nur dann möglich, wenn die/der Jugendliche das Glück hat, eine integrative Polytechnische Schule im Schulversuch gefunden zu haben.) In einer Zeit, in der Ausbildung eine immense Bedeutung für die Arbeitseingliederung besitzt, ist es besonders notwendig, diese Wege auch behinderten Jugendlichen zu öffnen" (I:Ö, 2000, S. 5).

Die Anforderungen im Rahmen der Integration verändern sich mit dem Alter der Kinder und Jugendlichen. Aus den gewachsenen Bedürfnissen und im Vergleich zu internationalen Erfahrungen (vgl. Wetzel 2000) fordert daher die Elterninitiative von "Integration Österreich" (I:Ö, 2000, S. 6ff) die Ausarbeitung von neuen, gemeinsamen Angeboten:

"Für die Schule

  • Integrative Angebote auf der 9. Schulstufe

  • Recht auf Möglichkeit zur Verlängerung der Schulzeit mit entsprechenden berufsvorbereitenden Angeboten

  • Die Vielfalt an Möglichkeiten eines Schulbesuchs (Modulsystem) soll für behinderte wie für nichtbehinderte Jugendliche nach der Pflichtschulzeit gewährleistet sein

  • Grundrecht auf Berufsausbildung für alle (theoretische und praktische Fachbildung, aber auch "Allgemeinbildung")

  • Berufsorientierung und -findung auch für behinderte Jugendliche ab der 7./8. Schulstufe (Berufspraktika - ev. mit Coaching - in Firmen und nicht in Behinderteneinrichtungen)

  • Berufliche Begleitung im nachschulischen Bereich in Form von Coaches, die bereits im Schulbereich im Rahmen der Berufsorientierung und -findung einbezogen werden - Wahrung der Kontinuität

  • Echte Wahlmöglichkeit zwischen integrativen Angeboten und Behinderteneinrichtungen (Bildungsbegleiter als Instanz)

  • Auflösen der bisher geltenden starren Strukturen - sowohl im dualen System als auch im Bereich der Mittleren und Höheren Schulen

  • Lehrpläne sämtlicher weiterbildenden Schulen auf Inhalt und Struktur überprüfen, ob und wieweit Integration möglich ist. Entsprechende Lehrplanmodelle schaffen!

Für die Lehre

  • Die Lehre soll ein flexibles, offenes System sein - mit der Möglichkeit zur Teilqualifizierung. Die Durchlässigkeit nach "oben" muss gewährleistet sein, indem Weiterbildungsmöglichkeiten automatisch angeboten werden. Raum und Zeit bzgl. Überlegungen und Erprobungen von neuen Ansätzen zur Arbeitsplatzgestaltung sind notwendig

  • Berufsschulen brauchen dementsprechende Kompetenzen und Ressourcen

  • Barrierefreier Zugang zu allen Bildungseinrichtungen für behinderte Menschen"

Mit diesen Forderungen versucht die Elterninitiative a) die Integration weiterzuführen b) die bestehende Lücke zwischen der Pflichtschulzeit und dem Berufseinstieg zu schließen und c) flexible Bildungsmaßnahmen einzufordern, die für eine integrative Arbeitswelt vorbereiten. Die Forderungen sind nicht nur aufgrund der inhaltlichen Thematik brisant, sondern lassen sich auch qualitativ begründen.

16.2 Aktuelle Bestandserhebung für das Bundesland Tirol

Der politische Druck von Seiten der Integrationsbewegung steigt. Um die Notwendigkeit neuer Angebote in der beruflichen Integration belegen zu können, habe ich einige statistische Daten über Jugendliche mit Behinderungen für das Bundesland Tirol zusammengetragen. Mit diesen Daten sollen nicht nur SchülerInnen aus der Integration belegt werden, sondern der Blick richtet sich auf die Gesamtgröße aller behinderten SchülerInnen, weil die Möglichkeit zu Bildungs- und Berufsalternativen potentiell alle Jugendliche mit Behinderungen betrifft.

In der Schulstatistik der Allgemeinbildenden Pflichtschulen (APS) sind die Schulformen Volks-, Haupt-, und Sonderschulen sowie die Polytechnischen Schulen berücksichtigt.

Schüler und Schülerinnen in Tirol / Gesamtzahlen

Tab.3: (Landesschulrat für Tirol, Stand 21.9.2000; ÖSTAT: Das Schulwesen in Österreich 2000; S. 254)

Volksschulen

2000/2001

35.493

1999/2000

35.313

1998/1999

34.792

Hauptschulen

2000/2001

26.386

1999/2000

26.281

1998/1999

26.484

Sonderschulen

2000/2001

1.214

1999/2000

1.291

1998/1999

1.272

Polytechnische Schulen

2000/2001

2.080

1999/2000

2.141

1998/1999

2.144

APS gesamt

2000/2001

65.173

1999/2000

65.026

1998/1999

64.692

In der allgemeinen Schulstatistik werden keine Schüler und Schülerinnen mit Behinderungen ausgewiesen. Allerdings gibt es Zahlen über Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) in Integrationsklassen. Der sonderpädagogische Förderbedarf dient dazu, geeignete Förderungen einzelnen Personen mit Schwierigkeiten unterschiedlichster Art zukommen zu lassen.

Tab.4: Schüler und Schülerinnen mit SPF in Integrationsklassen im Schuhljahr 1999/2000 (Tirol)

Schulbe-suchsjahr

1. VS

2. VS

3. VS

4. VS

1. HS

2. HS

3. HS

4. HS

PTS

 

1.

39

                 

2.

38

36

               

3.

1

42

41

             

4.

1

3

64

45

           

5.

 

1

13

72

9

         

6.

     

7

33

17

       

7.

   

1

 

15

35

29

     

8.

       

1

14

31

4

   

9.

       

1

1

18

17

5

 

10.

           

1

2

2

 
               

2

1

 

Summe

79

82

119

124

59

67

79

25

8

 
                     

Gesamtsumme: 642

Ohne Schullaufbahnverlust: 222

                 

Tabelle 4 für Brailzeilenleser: Schüler und Schülerinnen mit SPF in Integrationsklassen im Schuhljahr 1999/2000 (Tirol):

1. Schulbesuchsjahr: 1. VS - 39 SchülerInnen

2. Schulbesuchsjahr: 1. VS - 38 SchülerInnen, 2. VS - 36 SchülerInnen

3. Schulbesuchsjahr: 1. VS - 1 SchülerIn, 2. VS - 42 SchülerInnen, 3. VS - 41 SchülerInnen

4. Schulbesuchsjahr: 1. VS - 1 SchülerIn, 2. VS - 3 SchülerInnen, 3. VS - 64 SchülerInnen, 4. VS - 45 Schülerinnen

5. Schulbesuchsjahr: 2. VS - 1 SchülerIn, 3. VS - 13 SchülerInnen, 4. VS - 72 SchülerInnen, 1. HS - 9 SchülerInnen

6. Schulbesuchsjahr: , 4. VS - 7 SchülerInnen, 1. HS - 33 SchülerInnen, 2. HS - 17 SchülerInnen

7. Schulbesuchsjahr: 3. VS - 1 SchülerIn, 1. HS - 15 SchülerInnen, 2. HS - 35 SchülerInnen, 3. HS - 29 SchülerInnen

8. Schulbesuchsjahr1. HS - 1 SchülerIn, 2. HS - 14 SchülerInnen, 3. HS - 31 SchülerInnen, 4. HS - 4 SchülerInnen

9. Schulbesuchsjahr: 1. HS - 1 SchülerIn, 2. HS - 1 SchülerIn, 3. HS - 18 SchülerInnen, 4. HS - 17 SchülerInnen, PTS - 5 SchülerInnen

10. Schulbesuchsjahr: 3. HS - 1 SchülerIn, 4. HS - 2 SchülerInnen, PTS - 2 SchülerInnen

4. HS - 2 SchülerInnen, PTS - 1 SchülerIn

Summe der 1. VS = 79, Summe der 2. VS = 82, Summe der 3. VS = 119, Summe der 4. VS = 124, Summe der 1. HS = 59, Summe der 2. HS = 67, Summe der 3. HS = 79, Summe der 4. HS = 25, Summe der PTS = 8

Gesamtsumme: 642 SchülerInnen, ohne Schullaufbahnverlust: 222 SchülerInnen

Im Schuljahr 1999/2000 besuchten 1.933 Schüler und Schülerinnen mit SPF verschiedene Integrationsklassen und Sonderschulen in Tirol. Die Gesamtzahl der Schüler und Schülerinnen an Allgemeinbildenden Pflichtschulen (VS+HS+PS) betrug 65.026. Daraus ergibt sich, dass der durchschnittliche Anteil von Schülern und Schülerinnen mit SPF in Tirol bei 3 % liegt.

Die Anzahl der Schüler und Schülerinnen mit SPF gibt nicht exakt Auskunft über die Gesamtzahl der Jugendlichen mit Behinderungen. Eine Gesamtzahl tatsächlich behinderter Jugendlicher zu ermitteln, ist nahezu unmöglich, weil darüber lediglich Schätzwerte und keine gesamtstatistischen Zahlen vorliegen. Der Grund liegt in einer nicht-einheitlich bestimmten Zielgruppe. Je nachdem, von wem und aus welchem Grund die Einstufung erfolgt, ergeben sich unterschiedliche Werte. Schüler und Schülerinnen mit Behinderungen können z. B. Schulen besuchen, ohne dass sie einen SPF ausgewiesen haben. Bei sogenannten Sinnesbehinderungen (Seh- oder Hörbeeinträchtigung) oder bei Körperbehinderungen wird nicht immer ein SPF ausgesprochen. Wenn z. B. laut Lehrplan der jeweiligen Schulstufe den erwarteten Leistungen entsprochen wird, kann auf die Feststellung eines SPF verzichtet werden.

Der sonderpädagogische Förderbedarf dient zur individuellen Feststellung des Förderbedarfs, zugleich ist die Anzahl der Schüler und Schülerinnen mit SPF Basiswert für die Verteilung von Schulressourcen (z. B. Verteilung von Unterrichtsstunden). Diese Koppelung führt zu einem Interessenkonflikt zwischen LehrerInnen, die mehr Schulressourcen wünschen und der Landes- bzw. Bundesregierung, die die Bezahlung von Schulressourcen zu gewährleisten haben. Diese Situation wirkt sich auf die Zuerkennung von SPF dahingehend aus, dass die Schulerhalter bemüht sind, die Zahl der SPF möglichst niedrig zu halten.

Nach internationalen Expertenschätzungen liegt der Anteil der Menschen mit Behinderung bei mindestens 10 % der Gesamtbevölkerung. Psychische Behinderungen sind dabei nicht berücksichtigt. Bei Kindern im schulpflichtigen Alter (6 - 15 Jahren) liegt der Wert nach Angaben von Cloerkes bei ca. 6 % (vgl. Cloerkes 1997, S. 27 ff). In seiner Erfassung sind folgende Behinderungsarten eingerechnet: Lernbehinderte, Geistigbehinderte, Sprachbehinderte, Hörgeschädigte, Sehgeschädigte, Verhaltensgestörte, Körperbehinderte, Langfristig Kranke.

Im Folgenden wird die Expertenschätzung über Jugendliche mit Behinderungen den Ist-Werten aus der Schulstatistik von Schüler und Schülerinnen mit SPF gegenübergestellt. Die Angaben sind Schätzungen und basieren auf der ÖSTAT Bevölkerungsvorausschätzung[13].

Tab.5: Geschätzte Anzahl der SchülerInnen mit SPF

Alter

Gesamtgrösse 1999

Berechnung 6 %

Berechnung 3 %

10-Jährige

8.259

496

248

15-Jährige

8.314

499

249

20-Jährige

8.003

480

240

25-Jährige

9.349

561

280

Tabelle 5 für Brailzeilenleser: Geschätzte Anzahl der SchülerInnen mit SPF

10-Jährige

Gesamtgrösse 1999 = 8.259

Berechnung 6 % = 496

Berechnung 3 % = 248

15-Jährige

Gesamtgrösse 1999 = 8.314

Berechnung 6 % = 499

Berechnung 3 % = 249

20-Jährige

Gesamtgrösse 1999 = 8.003

Berechnung 6 % = 480

Berechnung 3 % = 240

25-Jährige

Gesamtgrösse 1999 = 9.349

Berechnung 6 % = 561

Berechnung 3 % = 280

Die Zahlen können einen Ausgangspunkt für Bedarfserhebung bilden, um Integrationsmaßnahmen in Tirol zu planen. Meiner Einschätzung nach, steigt der Prozentwert von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung tendenziell in den nächsten Jahren an, weil

  • die Entwicklung in der Medizin fortschreitet - die Überlebensfähigkeit durch medizinische Hilfsmittel vergrößert wird - die diagnostischen Instrumente verfeinert werden

  • die Sensibilisierung für "Behinderung" in der Gesellschaft steigt (durch verstärkte Symptomaufmerksamkeit z. B. durch Medienberichterstattung)

  • das Alter bei Erstgeburten von Frauen sich erhöht (zunehmendes Schwangerschaftsrisiko)

  • sich mehr Unfälle durch die allgemeine Mobilitätssteigerung ereignen

  • mehr Unfälle durch die Ausübung von Trend-Freizeitaktivitäten auftreten (z. B. bei Snow- und Skateboards, Inlineskates, Mountainbikes)

Ein bremsender Faktor im tendenziellen Anstieg der Anzahl von behinderten Personen liegt vermutlich auch bzw. noch einmal

  • in der Entwicklung der Medizin. - Durch die pränatale Diagnostik erhöht sich der gesellschaftliche Druck zu eugenisch motivierter Abtreibung, wenn eine Behinderung diagnostiziert wird. - Behandlungsmethoden wie z. B. operative Eingriffe, Medikamente werden kontinuierlich verbessert und damit kann sich auch die Symptomaufmerksamkeit verringern.

Ich gehe davon aus, dass der Bedarf an bildungspolitischen und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für SchülerInnen mit Behinderungen in den nächsten Jahren anwachsen wird, wenn Österreich den Weg der Integration fortsetzten möchte. Die Bundesregierung hat sich des Themas angenommen und zumindest zum Teil - im Rahmen der "Behindertenmilliarde" -Schwerpunkte gesetzt. Die Maßnahmen sind geregelt in der "Sonderrichtlinie des Bundesministers für soziale Sicherheit und Generationen zur Förderung von Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen gemäß Punkt 6 der Allgemeinen Rahmenrichtlinien für die Gewährung von Förderungen aus Bundesmitteln (Zl. 44.101/45-6/2000)" geregelt. Danach können aus Budgetmitteln im Jahre 2001 und 2001 Maßnahmen gesetzt und finanziert werden, die die berufliche Integration unterstützen.

Der Schwerpunkt der Förderungen bei Jugendlichen wird in sechs Punkten beschrieben:

  • Integrationsbeihilfen mit befristeter Übernahme der Lohnkosten als Anreiz zur Aufnahme in den allgemeinen Arbeitsmarkt;

  • Entwicklung von neuen Maßnahmen der begleitenden Hilfen am Arbeitsplatz (z. B. job coaching vor allem für geistig behinderte Menschen);

  • Aufbau von Nachreifungs- und Qualifizierungsprojekten für SchulabgängerInnen;

  • Arbeitsassistenz;

  • Einrichtung von Clearingteams, die gemeinsam mit den Betroffenen das individuell am besten geeignete Maßnahmenpaket zur beruflichen Integration festlegen;

  • Forcierter Einsatz von Studien- und Lehrlingsbeihilfen.

Die "Behindertenmilliarde" bietet ohne Zweifel neue Chancen für behinderte Menschen, allerdings muss eine vorsichtig-kritische Haltung eingenommen werden. Die ausgeschütteten Mittel fallen kurzfristig sehr hoch aus (Beispiel Tirol: Das Bundessozialamt verfügt durchschnittlich im Jahr etwa über 30 Mio. Schilling, durch die Zuteilung aus der Behindertenmilliarde kommen zusätzlich 55 - 60 Millionen hinzu.). Auf eine nachhaltige Sicherung wird kaum Bedacht genommen, was in den Jahren nach 2002 passiert, bleibt ungewiss. Das führt zur Frage, ob diese Maßnahme nur aus politisch-strategischen Gründen entstanden ist? Kritisch hinzuweisen ist auch darauf, dass dieses Geld deshalb zur Verfügung steht, weil gleichzeitig im selben Ministerium massive Einsparungen und Belastungen verfügt wurden. "Im Rahmen der Maßnahmen ‚zur Hebung der Treffsicherheit' sollten zuerst 3 Milliarden eingespart werden. Dann wurde von 5 Milliarden gesprochen und zuletzt wurden im Ministerrat vom 19. September 2000 die Einsparungen mit 7,68 Milliarden festgelegt (alleine 2 Milliarden durch die Besteuerung von Unfallrenten behinderter Menschen)" (bizeps 2000, www).

Die Maßnahmen der "Behindertenmilliarde" sind so breit gestreut, dass kein Unterschied zwischen der traditionellen Behindertenhilfe (Rehabilitation) und neueren Konzepten der Integrationsbewegung gemacht wird[14]. Bewegt sich daher Österreich wirklich in Richtung Integration? Die wachsende Zahl von integrativ geführten Klassen bringt Optimismus, auf der anderen Seite dämpft der Aus- und Neubau von Sonderschulen und Geschützten Werkstätten diese Gesamteinschätzung.

Die vorliegende Arbeit konzentriet sich dezidiert auf die Nicht-Aussonderung von Menschen mit Behinderung, daher werden nun einzelne methodische Beispiele angeführt, die sich aus verschiedensten Zusammenhängen der beruflichen Integration entwickelten. Das Ziel der Beschreibung liegt darin, weiterführende Gedankenanreize zu geben.

16.3 Die persönliche Zukunftsplanung und der Unterstützerkreis

Ein inzwischen gut entwickeltes Instrument zur Gestaltung des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt liegt in der "Persönlichen Zukunftsplanung". Dabei wird vor allem von den Träumen der Hauptperson ausgegangen und weniger von seiner bisherigen Leistung. Der Blick ist nach vorne gerichtet, das ermöglicht eine breitere Entwicklungschance. Die Umsetzung bzw. Verwirklichung von Träumen beinhaltet ein Verstehen von Bedürfnissen und Wünschen, die sich in gewisser Weise hinter den Träumen verbergen. Beispielsweise ist der Wunsch Polizist zu werden, für einen Jugendlichen mit Down Syndrom, verbunden mit dem Tragen einer Uniform. Indem dieser Wunsch erkannt wird, eröffnen sich Möglichkeiten und Arbeitsbereiche, die den Erwartungen des Jugendlichen recht nahe kommen können. (Es muss nicht gleich die Polizeischule sein, die durch ihre Anforderungen die Verwirklichung eines Traumes verhindert.)

Didaktische Materialien, sowie eine detailierte Beschreibung der persönlichen Zukunftsplanung finden sich bei Doose 1999, Niedermair 1998, Niedermair/Tschann 1999, Boban/Hinz 1999. Ebenso wird dort der "Unterstützungskreis" als zentrales Element im Konzept der persönlichen Zukunftsplanung beschrieben (z. B. Niedermaier 1998, S. 25ff). "Die Unterstützerkreise setzen sich zusammen aus: dem Jugendlichen, um dessen Zukunft es geht, den Eltern, LehrerInnen, anderen professionellen BetreuerInnen (TherapeutInnen) und Menschen, die dem Jugendlichen nahestehen (FreundInnen, Verwandte, Nachbarn usw.)" (ebd.). Mit dem Unterstützerkreis werden im Wesentlichen Fähigkeitsprofile erstellt, mögliche Arbeitsfelder definiert, Arbeitskontakte hergestellt und die integrative Idee weitergetragen. Der Kreis dient als Kernelement der Unterstützung. Er gibt Rückhalt, bietet persönliche Ressourcen und lässt Synergien in organisierter Form zusammenführen. (Auf eine nähere Erläuterung wird hier nicht eingegangen, die empfehlenswerte Literatur ist über die digitale Internet-Volltextbibliothek bidok leicht zugänglich. URL-Adresse: http://bidok.uibk.ac.at).

16.3.1 Ein workshop - Ich gehe meinen Weg

Ergänzend zur Zukunftsplanung beschreibe ich nun ein konkretes Beispiel für einen workshop[15] mit dem Titel "Ich gehe meinen Weg". Der workshop bietet die Möglichkeit, sich mit der eigenen Person zu beschäftigen. In einer Gruppe von Gleichaltrigen (peer-group) können unterschiedliche Fähigkeiten und Behinderungen bewusst wahrgenommen werden. Differenzen und Ähnlichkeiten im Alltagsleben sind erfahr- bzw. sichtbar. Der workshop leistet einen Beitrag, sich selbst besser kennenzulernen und dieses Selbstbild anderen zu vermitteln. Insgesamt ist der Tag so aufgebaut, um persönliche Stärken bewusst zu machen, eigene Wünsche zu erkennen und sie zu artikulieren.Wenn persönliche AssistentInnen von einzelnen Hauptpersonen anwesend sind, dann empfiehlt sich ihre Beteiligung nicht nur über die Assistenzleistung, sondern auch als KursteilnehmerInnen. Die AssistentInnen können die Aufgabenstellungen ebenso erarbeiten, wie die übrigen GruppenmitgliederInnen. Dadurch wird eine Sonderstellung dieser Personen vermieden. Zum Ablauf:

1. Vorstellungsrunde und Vereinbarungen für den Tag

Ein Plüschtier wird herumgereicht. Die Person, die das Tier gerade in der Hand hat, spricht persönlich über sich: Name, Alter, Wohnort. Was mache ich derzeit? Warum habe ich mich für diesen workshop angemeldet? Anschließend werden Namensschilder angefertigt (Beschriftung von Etiketten).

Gemeinsam mit den TeilnehmerInnen werden Vereinbarungen für den Tag getroffen und verschriftlicht bzw. mit Symbolen versehen, z. B.: Alle Angebote sind freiwillig. Wir nehmen uns so viel Zeit wie wir brauchen. Wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich sofort nach. Wir sind da und wir sind wichtig!

2. Die emanzipierte Schnecke

Die Geschichte von Ursula Eggli dient als Einleitung: Es war einmal eine Schnecke ohne Haus (Kapuzinerschnecke). Sie lebte unter lauter Schnecken, die alle ihre Häuser auf dem Rücken trugen (Weinbergschnecken). Von den Weinbergschnecken erhielt sie immer ganz viel Mitleid, weil sie kein Haus bei sich hatte. Mit der Zeit begann die Kapuzinerschnecke immer trauriger zu werden, sie fühlte sich von den anderen ausgestoßen. Die Weinbergschnecken meinten, sie sollte doch ein künstliches Haus auf ihren Rücken tun, dann wäre sie nicht mehr so allein, dann würde sie die Weinbergschnecken auch nicht mehr schockieren, weil sie kein Häuschen hatte. Die Kapuzinerschnecke versuchte es zuerst mit einer Kastanie. Sie zwängte die Kastanie auf ihren Rücken und glaubte, dass die Welt nun besser werde. Lange trug sie das nutzlose Ding auf ihrem Rücken herum und wurde müde und matt davon. Doch sie fühlte sich nicht besser unter den Weinbergschnecken. Sie aber nickten mit den Fühlern dazu und fanden es in Ordnung, dass sie nun endlich auch ein Häuschen hatte. Als die Kapuzinerschnecke größer wurde, verpasste ihr die weiße Doktorschnecke eine Hausprothese aus einer halben Nuss-Schale. Es war sehr schneckenhausähnlich, und die Kapuzinerschnecke konnte sogar hineinschlüpfen. Nur schmerzte es und drückte bei jeder Bewegung. Die Weinbergschnecken aber nickten mit den Fühlern dazu und fanden es in Ordnung. Irgendwann aber wurde es der Kapuzinerschnecke zu dumm. Sie warf die Kastanie und die Nuss-Schale in eine Ecke und sagte laut: "Ich pfeife auf eure Häuser und auf die blöden Sachen an meinem Rücken. Wer mich ohne Haus nicht akzeptieren kann, soll es eben bleiben lassen." Fortan lebte sie glücklich und wendig und freute sich des Regens, auch ohne Haus (nach Ursula Eggli: Freak Geschichten 1998).

3. Wie sieht mein Zuhause aus? - Eine Zimmeranalyse

Bei der Zimmeranalyse geht es darum, sich bewusst zu werden, welche Menschen und Dinge im Leben wichtig sind. Gleichzeitig kann in einer Gesprächssrunde darüber mit den anderen KursteilnehmerInnen ein persönlicher Austausch entstehen. Ein Foto von sich aus der Sofortbildkamera wird auf ein Zeichenblatt aufgeklebt und dann beginnt das Malen und Schreiben über das eigene Zimmer. Die KursteilnehmerInnen erhalten ein paar Fragen zur Orientierung: Welche Gegenstände befinden sich in meinem Zimmer? Was möchte ich davon herzeigen? Was möchte ich versteckt halten? Welche Bilder, Fotos, Poster hängen an der Wand? Was ist mir wichtig in meinem Zimmer? Habe ich Platz in meinem Zimmer? Habe ich Platz für BesucherInnen? Welche Farben gibt es, welche Musik wird gespielt? Ist es hell oder dunkel? Was lebt in meinem Zimmer?

4. Gefühle in Bewegung / Spots in Movement

Zur Musik bewegen sich die KursteilnehmerInnen im Raum. Es sollen eigene Gefühle anhand von Anweisungen dargestellt werden. A) Ich habe eine Prüfung und bin furchtbar aufgeregt. B) Ich habe im Lotto viel Geld gewonnen. C) Ich habe einen schlechten Tag, draußen regnet es, alles geht schief. D) Ich habe viel erreicht und bin ganz stolz auf mich. E) Wir sind verrückt und tun was uns gefällt.

5. Videofilm: People First in Deutschland - ein Porträt über Doris Haacke

Anschließend folgt eine Diskussion über den Film und die Ideen von People First. Auf Plakaten werden die Stärken und Fähigkeiten, sowie die Behinderungen der Gruppe aufgeschrieben bzw. verbildlicht.

6. Brief an mich

Zum Abschluss des Tages schreibt oder zeichnet jede/r KursteilnehmerIn einen Brief, der den Tag zum Inhalt hat. Der Brief wird einen Monat später von der Gruppenleitung an die TeilnehmerInnen versandt.

Der hier vorgestellte Ablauf entsprach nicht exakt den Vorbereitungen. Vielmehr ist die Kursleitung auf die Fragestellungen und Themenschwerpunkte der TeilnehmerInnen eingegangen, sodass dieses Resultat entstand. Als bereichernd stellte sich heraus, dass sich die Kursleitung aus einer behinderten und einer nicht-behinderten Person zusammensetzte. Das Zusammenspiel und die Differenzen dieser zwei Personen war zugleich Spiegelbild und Modell für die Gesamtgruppe.

16.4 Neue Wege - Integration in der Berufsschule

Nach der Berufsorientierung, -vorbereitung und -findung, die meist in der Übergangsphase durchgeführt wird, folgen Fragen nach der Qualifizierung und Ausbildung von jungen Menschen mit Behinderung. Derzeit gibt es in Österreich keine etablierten, integrativen Angebote. Die meisten Angebote befinden sich in einer Versuchs- bzw. Erprobungsphase. Die angeführten Beschreibungen konzentrieren sich auf die Berufsschulen, weil

a) die Ausbildung in einer Berufsschule zu der am häufigsten genutzten Einrichtung zählt. Die Berufsschule ist die größte Bildungsinstitution im Bereich des Berufseinstiegs (z. B. besuchen nach der Tiroler Lehrlingsstatistik 1999 fast die Hälfte der Jugendlichen eines Geburtsjahrganges eine Lehre). Es gibt mehr als 250 Lehrberufe. Wenn es gelingt, individuelle Lösungen zu entwickeln, dann stehen viele neue Berufsmöglichkeiten offen. Im Gegensatz dazu nützen punktuell durchgeführte Kursangebote (z. B. an der Volkshochschule durchgeführte Kurse) nur wenig, da sie die strukturellen Bedingungen nicht verändern und meist nur für einen Berufszweig und eine Zielgruppe konzipiert sind.

b) jeder Mensch das Recht haben sollte, entsprechend seiner individuellen Fähigkeiten und Neigungen, sich für seinen "Traumberuf" zu qualifizieren. Das gilt auch für Menschen mit Behinderung, auch wenn sie nur Teile des entsprechenden Berufsbildes erlernen können[16].

c) die Wirtschaft nach Lehrlingen verlangt. Laut den Wirtschafts- und sozialstatistischen Informationen (Nr. 3 August 2000, S. 32) der AK Tirol "hat sich die Lehrstellensituation im Vergleich zum Vorjahr weiter verbessert: das Angebot an verfügbaren Lehrstellen (485) hat sich merkbar erhöht, gleichzeitig ist die Zahl, der über das Arbeitsmarktservice eine Lehrstelle Suchenden (159), deutlich gesunken".

d) die Integration in Berufsschulen - bis auf wenige Ausnahmen - noch nicht durchgeführt wurde und die Verbreitung dieser Grundidee Schulversuche initiieren kann.

16.4.1 Individualisierte Lehrlingsausbildung in Südtirol

Die individualisierte Lehrlingsausbildung in den allgemeinen Berufsschulklassen in Südtirol wurde im Rahmen eines EU-Projektes 1992/93 umgesetzt. Die Beteiligten in Südtirol haben dadurch im deutschsprachigen Raum die meisten Erfahrungen bei der Umsetzung der Integration in die Berufsschulen. Was bedeutet die individualisierte Lehrlingsausbildung?

"Die individualisierte Lehrlingsausbildung sieht für die betroffenen Jugendlichen Maßnahmen vor, die auf ihre besondere Situation eingehen. Das kann durch einen individuellen Bildungsplan (ein eingeschränktes, auf den einzelnen Jugendlichen zugeschnittenes Programm) erfolgen, welcher für diese Zielgruppe erstellt werden kann, aber auch durch Stütz- oder Ergänzungsunterricht, mit Hilfe dessen, nicht gefestigte Lerninhalte vertieft werden können. Bei Bedarf kann sie in allen Landesberufsschulen Südtirol durchgeführt werden und ist teilweise noch im Aufgbau begriffen. Aufnahmebedingungen gibt es keine. Die Fördermaßnahmen sind freiwillig; es kann bereits bei der Anmeldung an der Berufsschule darum angesucht werden" (Berufsbildung Südtirol, 1998, S. 1).

Die individualisierte Lehrlingsausbildung wurde bald um das Konzept der Teilqualifizierung erweitert, um auch SchülerInnen mit schwereren Behinderungen ein Ausbildungsprogramm in integrativer Umgebung zu eröffnen. Die Teilqualifizierung entspricht der Dauer der Lehrlingsausbildung, sie wird jedoch im Sinne eines individuellen Bildungsplanes erstellt. Der Jugendliche mit Behinderung erhält am Ende der Ausbildung einen Qualifizierungsnachweis (vgl. Wellenzohn, Schwienbacher, 1998, www; Hillebrand 1997, www).

16.4.2 Die Teilqualifizierungslehre in der Steiermark

Das Modell der Initiative Soziale Integration (Graz) stellt in Österreich meines Wissens das erfolgreichste Beispiel der Integration in die Berufsschule dar. Die Modellbeschreibung für die Integration von Jugendlichen mit Behinderungen/Beeinträchtigungen auf dem Lehrausbildungsplatz und in die Berufsschule "dient der Fortsetzung der sozialen Integration im Arbeits- und Berufsleben" (ISI, 2000, S. 2).

Integration in der Berufsschule und speziell die Teilqualifizierungslehre erfordert zahlreiche Veränderungen im Bereich der Berufsschule. Sowohl das Schulorganisationsgesetz als auch das Berufsausbildungsgesetz müssen erweitert werden. Zusätzliche Dienste wie Lernbegleitung, Arbeitsassistenz und persönliche Assistenz sind im Rahmen des jeweiligen Landesbehindertengesetzes, des Jugendwohlfahrtsgesetzes und im Behinderteneinstellungsgesetz zu berücksichtigen. Welches sind die wichtigsten Voraussetzungen nach der Modellbeschreibung von ISI?

"Die berufliche Qualifikation von Jugendlichen mit Behinderung/Beeinträchtigung muss von Individualität geprägt sein: Es gibt keinen Weg, der für alle Jugendlichen mit Behinderung/Beeinträchtigung gleichermaßen geeignet wäre. Aus diesem Grunde muss ein Konzept so offen wie nur irgend möglich sein, jedoch klare Ziele vorgeben und durch ständige Begleitung und Optimierung einen Ausbildungs- und Entwicklungsprozess gewährleisten, der die bestmögliche Förderung jedes einzelnen Jugendlichen mit Behinderung/Beeinträchtigung garantiert. Oberstes Ziel ist es grundsätzlich, das volle Berufsbild anzustreben und einen Lehrabschluss zu erreichen" (ISI 2000, S. 2).

Die Teilqualifizierungslehre richtet sich an die Zielgruppe von Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF), insbesondere an Jugendliche mit Lernbehinderung, geistiger und/oder mehrfacher Behinderung. ISI ist sich der Gefahr bewusst, dass durch die Teilqualifzierung eine Umgehung und Aushöhlung der klassischen Lehre ermöglicht werden könnte. Sogenannte "schwache" SchülerInnen könnten allzuschnell auf die Teilqualifizierungslehre verwiesen werden, diese erleben dann eine Verschlechterung ihrer beruflichen Chancen. Die Intention ist jedoch eine andere: Durch die Teilqualifizierung soll eine Qualifizierung ermöglicht werden, wo bisher keine Chancen zur Ausbildung gegeben waren, z. B. bei Jugendlichen, die bisher nur in der "Geschützten Werkstatt" einen Platz fanden. Ein "Beratungsteam" (Erziehungsberechtigte, bisherige LeherInnen, TherapeutInnen, ArbeitsassistentInnen etc.) klärt daher den Ausbildungsweg gemeinsam mit dem, der Jugendlichen ab. Prinzipiell gelten die gleichen Rahmenbedingungen wie bei einem Lehrvertrag. Es wird ein Vertrag zwischen Lehrbetrieb und Lehrling abgeschlossen, die Dauer der Ausbildung liegt in der Regel bei drei Jahren, die Lehrlingsentschädigung richtet sich an der üblichen Höhe. Die Ausbildungsinhalte umfassen Teile eines oder mehrerer Lehrberufe. Die Abschätzung und Planung der Ausbildungsziele kann nur individuell mit der Hauptperson abgeklärt werden. Um eine Über- bzw. Unterforderung zu vermeiden, erfolgt in bestimmten zeitlichen Abständen eine Reflexion über den Verlauf. Die Rahmenbedingungen in der Berufsschule beinhalten die typischen Maßnahmen von integrativen Schulklassen: z. B. binnendifferenzierter Unterricht, Veranschaulichung des Stoffmaterials durch möglichst viele Sinne, die Hilfe von MitschülerInnen, bei Bedarf Stützlehrer, Leistungsbeurteilung mit verbalem Zusatz usw.. Bei der Teilqualifizierungslehre kann eine Befreiung von einzelnen Unterrichtsgegenständen durch den Landesschulrat erfolgen.

Die Integration in der Berufsschule ist nach Kindergarten und Pflichtschule ein entwicklungslogischer Schritt der Qualifizierung und Bildung von Jugendlichen mit Behinderung. Einzelne Personen haben konkret vorgezeigt, dass scheinbar Unmögliches erreicht werden kann. Nun gilt es, eine allgemeingültige Grundlage zu schaffen. Die Komplexität der zu berücksichtigenden Bereiche nimmt, im Gegensatz zur Pflichtschule, durch das duale Ausbildungssystem von Berufsschule und Lehrbetrieb wesentlich zu. Die Aufgaben und Anforderungen an die Beteiligten wachsen, um so mehr ist eine respektvolle und tolerante Zusammenarbeit möglichst vieler beteiligter Personen wichtig. Die Arbeitsassistentin, der Arbeitsassistent könnte dabei in Zukunft entscheidende Koordinationsfunktionen übernehmen.

16.5 Kritische Betrachtungen - Bedenken gegen Anpassung

Die politischen Meldungen seitens der Regierung werden immer häufiger, die Versprechen um Unterstützungsleistungen - zumindest im Behindertensektor - immer umfangreicher. Das Rad der Entscheidungen dreht sich schneller und schneller, dennoch bleibt ein Gefühl des Unbehagens: Sozialminster kommen und gehen. Richtlinien von heute sind morgen schon wieder im Papierkorb. Qualitätsmanagment und Controlling werden mit hohem technischem und administrativem Aufwand eingeführt - dabei wird jedoch die Dialogbereitschaft und Akzeptanz des Anderen vernachlässigt.

Das Ziel der Integration und Nicht-Aussonderung, das Ziel der vollen gesellschaftlichen Teilhabe wird oft nur durch den Preis der Anpassung erkauft, eine Anpassung an eine Durchschnittsnormalität: brav, folgsam, unauffällig, einer Arbeit nachgehen, ... Menschen mit Behinderungen und ihre Familien sollen möglichst reibungslos in der Gesellschaft funktionieren. Das Aufbegehren und mancher Hilfeschrei wird mißachtet und mit Ausgrenzung bestraft.

"Das Normale ist gut, das Nicht-normale ist schlecht. So einfach ist es. Uns allen klingt der allgegenwärtige empörte Ausruf im Ohr: Das ist doch nicht normal! Es ist ein Aufruf zum Handeln, ein Aufruf zum Ausgrenzen: Das Nicht-normale darf nicht geduldet werden, es hat im Rahmen des Normalen keinen Platz. (...) Der Anpassungszwang, dem Behinderte und ihre Familien ausgesetzt sind, ist im Grunde eine rücksichtslose Machtausübung im Sinne einer reibungslos funktionierenden Gesellschaft, eine Art moderner Teufelsaustreibung unter der Vorspiegelung, es sei zu deren eigenem besten. Normalität erscheint als höchstes Gut, denn sie gewährleistet ein selbstbestimmtes Leben. Und wer sich auf den Weg macht, dieses Gut zu erreichen, weil es ihm/ihr nicht von der Natur in den Schoß gelegt wurde, der muss die Definition von gut und schlecht, wie die Gesellschaft sie umschreibt, verinnerlichen. Wer sich widersetzt, ist unheilbar, therapieresistent, unreformierbar. Er wird unsichtbar gemacht, weil er den Absolutheitsanspruch der herrschenen Normalität bedroht (...) Da geht es nicht um Machbarkeit und ihre möglichen Grenzen und nicht um Hilfestellungen und deren Finanzierbarkeit, da geht es um das Entsetzen, das eine Grenzverwischung zwischen normal und nicht-normal auslöst" (Mitgusch 1997, S. 24, 25).

Die Argumentation führt wieder zurück zu Kapitel 1. "Der Mohr ist schuldig," und mit ihm seine unmittelbaren Familienangehörigen, die jahrelang gegen Anpassung und Ausgrenzung ankämpfen. "In jedem Fall werden wir schuldig an unseren Kindern. Lassen wir ihnen den Freiraum, den sie brauchen würden, fallen sie aus den Normen und Leistungsrastern und werden ausgesondert. Zwingen wir ihnen Normen der Gesellschaft wie Leistung und angepasstes Wohlverhalten auf, beeinträchtigen wir ihre Entfaltung und ihr Selbstbewußtsein. Aber haben wir überhaupt eine Wahl? Und wenn wir schon den Vorwurf, an unseren Kindern schuldig zu werden annehmen, sei auch die Frage erlaubt: Hatten wir nicht Komplizen, jene, deren Macht und Gesetzesbefugnis wir ausgeliefert waren?" (Mitgutsch 1997, S. 26).

Mitgutsch (1997) klagt ein. Sie beschreibt die Widersprüche und den tägliche Kampf um Akzeptanz, sie fragt nach scheinbar altmodischen Werten wie Solidarität, Mitmenschlichkeit und Chancengleichheit, die in einer sich immer stärker spaltenden Gesellschaft verdünnen. Ihr Resüme klingt schließlich befreiend: "Es ist nicht an der Zeit, in uns zu gehen und unsere Schuld zu bereuen. Es ist an der Zeit, längst Fälliges und in vielen Ländern bereits Selbstverständliches einzuklagen. Und für die Gesellschaft ist es an der Zeit, etwas von der Verantwortung zu übernehmen, die wir noch immer allein tragen müssen" (ebd. S. 28).

Die vorgestellten Beispiele zur beruflichen Integration bergen die Gefahr in sich, einem Anpassungsmechanismus zu erliegen. Die Anpassung findet an einer akzeptierten Normalität statt, in der das Hinterfragen und Suchen nach Neuem aufgegeben wird. Der Mensch gewöhnt sich an den Status quo, welches sich alltagssprachlich in folgendem Satz ausdrückt: "Da kann man halt nichts machen!" H.-E. Richter (1998) warnt vor dieser Anpassung. In seinem Buch "Bedenken gegen Anpassung": "Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, das heißt die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr als Verzicht erlebt" (Richter 1998, S. 7).

Was ist, wenn ein Mensch aufgrund seiner Beeinträchtigung nicht arbeiten kann, wenn eine Anpassung misslingt? Was folgt, wenn die Wirtschaftsleistung trotz Unterstützung zu wenig erscheint? Ich habe in der vorliegenden Arbeit die berufliche Integration behandelt. Betonen möchte ich noch einmal, dass der zentrale Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit dem nächsten Menschen nicht die Frage der Arbeit sein sollte. Der Ausgangspunkt von Unterstützungsangeboten für Menschen mit Behinderung liegt in der Frage nach der Lebensqualität. Inwieweit erhalten Menschen mit Behinderung die Möglichkeit ihr Leben im Hinblick auf Lebensziel und Lebensstil selbst bestimmen zu können? Erst wenn diese Frage gestellt wurde (die Antwort kann meist nicht sofort und dauerhaft geklärt werden - sie braucht es auch nicht, sie muss aber mitgedacht sein), können andere Überlegungen, wie z. B. jene nach der beruflichen Perspektive sinnvoll werden.



[13] ÖSTAT; Bevölkerungsvorausschätzung 1999 - 2050 Tirol, Mittlere Variante; S. 10

[14] Ein Konzept für ein Beratungszentrum im Sinne von People First, indem ich als Koautor mitwirkte, wird voraussichtlich abgelehnt. Obwohl die Sonderrichtlinie zur Behindertenmilliarde seit 1.1.2001 in Kraft ist, gibt es in dieser Sache noch keine Detailrichtlinien d.h. eine Zu- bzw. Ablehnung konnte bisher durch den Verantwortlichen im Bundessozialamt nicht erfolgen. Laut seinen Informationen sieht der Entwurf für die Detailrichtlinien jedoch keine Möglichkeit der ausreichenden Finanzierung des Vorhabens. Stand: 8. Februar 2001. Durch die zeitliche Verzögerung, sowie die Verteilung der Finanzmittel verstärkt sich bei mir der Verdacht, dass die Regierung die Behindertenmilliarde primär als politisches Kalkül einsetzt.

[15] Patrizia Egger (Behindertenbeauftragte der Universität Innsbruck) und ich haben im Rahmen des Symposiums "Recht auf Integration - Anliegen einer Minderheit oder gesellschaftspolitische Notwendigkeit?" im März 2000 diesen Tag mit behinderten Jugendlichen gestaltet.

[16] Dieser Hinweis stammt von Petra Hillebrand, Arbeitsassistentin in Tirol im Mai 1999. Vgl. auch: Petra Hillebrand: Karriere mit Lehre - für behinderte Jugendliche eine unüberwindbare Barriere? Diplomarbeit 1997, http://bidok.uibk.ac.at/library/hillebrand-lehre.html, Stand: 23.1.2001

17 Anhang

17.1 Literaturverzeichnis

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Schöler Jutta: Sono bambini - Es sind Kinder! Die Aufgaben einer gemeinsamen Schule für behinderte und nichtbehinderte Kinder in Italien und der Bundesrepublik Deutschland. Klaus Guhl Verlag, Berlin 1994.

Schreyögg Georg: Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung. Gabler, Wiesbaden 1998.

Spitzley Helmut: Arbeitszeit und plurale Ökonomie - Handlungsoptionen in einer solidarischen Gesellschaft. In: Bierter Willy/Winterfeld Uta von (Hrsg.): Zukunft der Arbeit - welcher Arbeit? S. 159 - 161. Wuppertal Texte, Birkhäuser Verlag, Berlin - Basel - Boston 1998.

Statistisches Bundesamt in Deutschland: Die Zeitverwendung der Bevölkerung. Tabellenband I, Eigenverlag, Wiesbaden 1995.

Steingruber Alfred: Der Behindertenbegriff im österreichischen Recht. Diplomarbeit an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, Juni 2000.

Storch Maja: Das Eltern-Kind-Verhältnis im Jugendalter. Eine empirische Längsschnittstudie. Juventa Verlag Weinheim und München 1994.

Strauss Anselm L.: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen und soziologischen Forschung. Wilhelm Fink Verlag, UTB für Wissenschaft, München 1994.

Strauss Anselm/Corbin Juliet: Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Beltz, Psychologie Verlags Union, Weinheim 1996

Tiroler Rehabilitationsgesetz: StF:LGBI. Nr.58/1983, 54/1989, 40/1993, 52/1993, 13/1996, 33/1998, 106/1998).

Ulich Eberhard: Arbeitspsychologie. 4., neu überarbeitete und erweiterte Auflage. vdf, Hochschulverlag AG an der ETH Zürich. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 1998.

Waldenfels Bernhard: Der Stachel des Fremden. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1990.

Weißbuch Integration: betrifft:intgration. Sondernummer 3b/1998, erziehung heute Heft Nr.3, 1998. Hrsg.: Tiroler Bildungspolitischer Arbeitsgemeinschaft, Studien Verlag Innsbruck 1998.

Wellenzohn Verena/Schwienbacher Werner: Damit Menschen mit Behinderung leben können wie andere und gleiche Rechte haben - Integration von Menschen mit Behinderung oder sonstigen besonderen Ausbildungsanforderungen in die Berufsschule bzw. in berufsbildenden Strukturen. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 1/98. Seite 31 - 42, Reha Druck Graz. Online im Internet: URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh1-98-beruf.html, Link aktualisiert durch bidok, am 22.08.2005.

Wetzel Gottfried: Übergang von der Schule ins Berufsleben bei Jugendlichen mit Sonderpädagogischem Förderbedarf - Was können wir aus internationalen Erfahrungen lernen? Studie im Auftrag des BM für Unterricht und Kunst und des BSB in Salzburg. Wien - Salzburg 2000.

Wetzel Gottfried/Ansperger Rita: Entspricht das Feststellungsverfahren zum "Sonderpädagogischen Förderbedarf" den Erwartungen? In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft, 22. Jahrgang Heft 1/1999, S. 73 -78, Reha Druck Graz 1999.

Wetzel Ralf: ‚Behinderte' im Unternehmen: Eine Untersuchung über die Auswirkungen von Stigmata in Organisationen am Beispiel von Integrationsfirmen. Diplomarbeit TU Chemnitz, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, August 1997.

Wetzel Ralf: Beratung von Betrieben - Betriebswirtschaftliches Denken und Arbeitsplatzanalyse. Berufsbegleitende Qualifizierung in Unterstützter Beschäftigung. Modul 5, Eigenverlag BAG UB, Hamburg 1999.

Wirtschaftskammer Tirol: zahlen, daten, fakten - Tiroler Lehrlingsstatistik 1999.

Wohlgenannt Liselotte: Flexibel Arbeiten - Ökonomisch Wirtschaften - Solidarisch Leben. Zur Notwendigkeit eines Grundeinkommens. In : Bierter Willy/Winterfeld Uta von (Hrsg.): Zukunft der Arbeit - welcher Arbeit? S. 245 - 256, Wuppertal Texte, Birkhäuser Verlag, Berlin - Basel - Boston 1998.

Zulehner Paul M./Denz H./Pelinka, A./Tálos E.: Solidarität - Option für die Modernisierungsverlierer. Tyrolia Verlag, Innsbruck - Wien 1996.

17.2 Abkürzungsverzeichnis

A, B, C, usw.

Bezeichnung der Primärquellen A, B, C usw.

Aass1, Aass2, usw.

ArbeitsassistentIn 1, ArbeitsassistentIn 2, usw.

Ab. 1, Ab. 2, usw.

Abschnitt 1, Abschnitt 2, usw.

AHS

Allgemeinbildende Höhere Schulen

AMS

Arbeitsmarktservice

APS

Allgemeinbildende Pflichtschulen

BHS

Berufsbildende Höhere Schulen

BMAGS

Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales

BSB

Bundessozialamt für Soziales und Behindertenwesen

bzw.

beziehungsweise

d. A.

der Autor

F1, F2 usw.

Frau 1, Frau 2

ff

folgende [Seiten]

HS

Hauptschule

Int.

Interviewer

K1, K2 usw.

(Arbeits-)Kollege 1, (Arbeits-)Kollege 2

LSI

Landesschulinspektor/-in

M1, M2 usw.

Mann 1, Mann 2 usw.

MA12

Magistratsabteilung 12; Sozialreferat der Stadt Wien

m. E.

meines Erachtens

ORF

Österreichischer Rundfunk

ÖSTAT

Österreichisches statistisches Zentralamt

PTS

Polytechnische Schule

R. B:

Initialien des Autors

REHA oder Reha

Rehabilitation

S.

Seite

SIP-Klasse

Sozial-Integrative-Projekt-Klasse

SPF

Sonderpädagogischer Förderbedarf

vgl.

vergleiche

usw.

und so weiter

VS

Volksschule

z. T.

zum Teil

z. B.

zum Beispiel

Hinweis zur Einteilung des Alters:

Die Altersuntergliederung in den einzelnen Personengeschichten erfolgt nach folgender Abstufung:

bis 19 Jahre

20 bis 24 Jahre

25 bis 29 Jahre

30 und mehr Jahre

Zusammenfassung Englisch: The main topic of this paper is vocational training and supported employment with young persons with disabilities. The concept of supported employment is shown by the example of "Integration Wien - Aktion: living together - learning together". The author starts with a discussion about the target group, then he describes the significance of work for the individual. The theoretical part is closing with a confrontation of two concepts of supported employment, which are used in Austria. The empirical part describes four persons with disabilities in their process of working during 13 - 26 months. With further empirical data the author discusses his results in four key topics. Finally he ends with some recommondations for the future. The scientific method of the paper is based on grounded theory.

Quelle

Reinhard Burtscher: Unterstützte Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Arbeitsassistenz in der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen.

Dissertation am Institut für Erziehungswissenschften der Universität Innsbruck, Innsbruck, März 2001.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 22.08.2005

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