Körper und Behinderung im Diskurs

Empirisch fundierte Anmerkungen zu einem kulturwissenschaftlichen Verständnis der Disability Studies

Themenbereiche: Disability Studies
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Dannenbeck, Clemens / Bruner, Claudia Franziska (Hrsg.): Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Auf dem Weg von einem sozialen zu einem kulturellen Modell von Behinderung, Psychologie und Gesellschaftskritik (Heftthema) 1/2005, S. 33-53
Copyright: © Clemens Dannenbeck 2005

Vorbemerkungen - Körper im Diskurs

Gedanklicher Ausgangspunkt[1] dieses Beitrags ist folgende Annahme: Körper sind unweigerlich vergeschlechtlicht, sozial klassifiziert, ethnisch und kulturell codiert sowie Normalitäts- und Ästhetikdiskursen unterworfen. So werden unterschiedliche und unterschiedene Körper laufend hervorgebracht und verändert. Im Zuge dieser Herstellungsprozesse von Körpern manifestieren sich gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse. Deshalb gehe ich den sozialen und kulturellen Produktionsbedingungen nach, denen Körper unterliegen[2] (vgl. Bruner, 2005). Empirische Basis der Untersuchung, die diesem Beitrag zugrunde liegt, sind narrativ-biografische Interviews mit Frauen, die als >körperbehindert< gelten.

Auch eine wissenschaftliche Thematisierung von Körperbehinderung schreibt sich in den Körper ein, ist Teil jener sozialen und kulturellen Produktionsbedingungen, die hier zur Debatte gestellt sind. Nicht zuletzt sind es die Wissenschaften, die uns die entsprechenden sprachlichen Kategorien zur Verfügung stellen, wenn es darum geht, Körper voneinander zu unterscheiden. Für mich ist damit auch ein Stück Hoffnung verbunden - ich vertraue auf die potenzielle (körper)politische Wirksamkeit jeden Textes über den behinderten Körper als einer Stimme im Diskurs von Körper und Behinderung.

Die Körper von Körperbehinderten gelten als besondere Körper: Von ihnen wird behauptet, >anders< als die Körper der Anderen zu sein. Dies spiegelt sich zum Beispiel in Formulierungen wie der um political correctness bemühten Rede von den »Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten«.[3] Doch auch mit einer solchen Formulierung werden die Grenzen lediglich markiert und reproduziert, deren Überwindung politische Behindertenbewegungen mit den Schlagworten Normalisierung, Integration, Gleichberechtigung und Anerkennung im Gepäck seit langem anvisieren. Und dies tut - trotz zweifellos aufweisbarer Erfolge - vielleicht sogar nach den politischen Wirbeln und symbolischen Gesten eines Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung (2003) heute noch Not.

Seit geraumer Zeit gelten Körperbehinderte als die Beitrittskandidaten in die Gemeinschaft der gesellschaftlich Partizipationsfähigen. Dieser andauernde Beitrittsstatus scheint gleichwohl nicht (nie?) in eine Vollmitgliedschaft übergehen zu wollen - und das liegt nicht allein an den knappen oder fehlenden finanziellen Mitteln für Integrationsmaßnahmen beziehungsweise am mangelhaften Ausbau behindertengerechter (sic!) [4] Umgebungen. Im Gegenteil, der auf Dauer gestellte Beitrittsstatus zementiert die Sondersituation von Körperbehinderten. Kann er doch wiederum nur um den Preis eines >Eisernen Vorhanges< gegenüber den ganz Anderen aufrecht erhalten werden - und das ist eine zweite >Besonderheit< des Körpers von Körperbehinderten: Sie unterscheiden sich von allen Geistigbehinderten, Mehrfachbehinderten, Sinnesbehinderten etc. Denn die von Nichtbehinderten und Körperbehinderten gleichermaßen geteilte Beitrittsbedingung ist die Bereitschaft zu einer eineindeutigen Distanzierung von jeglichen geistigen und psychischen Beeinträchtigungen. Es geht um den zu erbringenden Nachweis voller Leistungsfähigkeit unter den Vorzeichen autonomer Lebensgestaltung und Selbstbestimmung. Der Körperbehinderte >an sich< ist ja gesund und vollwertig, nur sein Körper ist betroffen und befallen. Angesichts dessen stellt es eine gesellschaftspolitisch zu schulternde Herausforderung und Aufgabe dar, ihm das Leben durch den Abbau des einen oder anderen Hindernisses zu erleichtern.

Unser Bild vom Körper ist stark verbunden mit Vorstellungen von Wachstum und Entwicklung, von Werden und Vergehen, von Veränderung und Bewegung. Weiter dominiert die Vorstellung, dass dem Körper Subjekte gegenüberstehen, die ihn zu ihrem Beobachtungsobjekt machen können: Körper sind den (eigenen und fremden) Blicken ausgesetzt, sie stehen im Rampenlicht, sie werden wahrgenommen. Ferner kennen wir die gesellschaftlichen Ein- und Angriffe auf den Körper: Körper verändern sich nicht nur von selbst (quasi von Innen heraus, durch ihre >natürliche< Alterung), sie werden verändert, sie entstehen nicht nur, sie werden geschaffen, und sie vergehen nicht nur, sie werden vernichtet. Welche Texte schreiben also den Körper, welche Bilder entwerfen ihn?

Bezugspunkt dieser Überlegungen ist dabei nicht nur die bekannte und etwas platte Annahme, dass Körper sozial konstruiert sind. Ian Hacking (2002) beschreibt in brillanter Weise die inflationäre Rede von der »sozialen Konstruktion« als »Konjunktur einer Kampfvokabel« in den Wissenschaften. Im Rahmen einer ironischen Katalogisierung sozialer Konstruktionen zitiert er unter anderem Asch & Fine (1988): »Forscher und Aktivisten in den Bereichen des Feminismus und der Behindertenrechte haben unter Beweis gestellt, daß das Erlebnis des Frauseins beziehungsweise das Erlebnis des Behindertseins sozial konstruiert ist« (Hacking, 2002, S. Sf.). Stattdessen ziele ich auf die Neu- und Umformulierungen dessen, was Körper ausmacht. Chris Barker beschreibt diese Strategien der Neu- und Umformulierungen als Teil kultureller Identitätspolitiken:

»Individual identity projects and the cultural politics of collectivities require us to forge new languages, new ways of describing ourselves, which recast our place in the world. The struggle to have new languages accepted in the wider society is the realm of cultural politics. For example, Rorty argues that feminism represents the redescription of women as subjects« (Barker, 2000, S. 376).

Auch der deutschsprachige Diskurs zum Thema (Körper)Behinderung stand lange Zeit im Zeichen eines Fürsorgeparadigmas mit seinem spezifischen sonder- beziehungsweise heilpädagogischen Impetus. Abgelöst wurde dieses Paradigma durch ein Integrationsparadigma, das aus einer Kritik an dominierenden Defizitperspektiven heraus entstanden ist. In diesem Zusammenhang gewannen sowohl Empowermentansätze[5] als auch Perspektiven, die Verdoppelungseffekte von Benachteiligung ausmachten (etwa die Situation behinderter Frauen, die sowohl aufgrund ihrer Behinderung als auch aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit Marginalisierungen ausgesetzt sind), an Bedeutung - und damit auch der politische Anspruch einer sich zunehmend selbstbewusst zu Wort meldenden Behindertenbewegung. Erst im Zuge der Rezeption differenztheoretischer Ansätze wurden jedoch auch die in Behinderungsdiskursen verwendeten Kategorien selbst hinterfragt.

Der Blick auf feministische und kulturelle Ansätze, die um doing gender und doing culture (ethnicity) kreisten, führte schließlich zum Entwurf einer Pädagogik der Vielfalt (vgl. Prengel, 1995), in der neben Geschlecht und Kultur auch die historischen und gegenwärtigen Konstruktionsverhältnisse von Normalität[6] und Gesundheit/Krankheit (vgl. hierzu vor allem die Arbeiten und theoretischen Denkansätze von Michel Foucault) in das Zentrum theoretischer Debatten gerückt sind. Der deutschsprachige Raum scheint, was die verspätete Rezeption der Disability Studies hierzulande deutlich belegt, in diesem Zusammenhang jedoch immer noch einen Nachholbedarf aufzuweisen.

In Anlehnung an die angloamerikanischen Debatten im Kontext der Disability Studies scheint es mir sinnvoll zu sein, Körperbehinderung als eine Kategorie zu begreifen, die im Sinne von Fremd- und Selbstzuweisungen funktioniert und damit im Rahmen von Alltagserfahrungen Bedeutung( en) im Zuge von Identitätsarbeit und Subjektbildungsprozessen erlangt. Körperbehinderung dient also nicht nur als Mittel zum Zweck gesellschaftlicher Exklusion (oder mit gönnerhaftem Gestus seitens einer Mehrheit gewährter Inklusion), sondern ist ebenso zentraler Bestandteil von Selbstpositionierungen. Das bedeutet, dass Behinderung nicht nur an die Gruppe der jeweils Anderen geknüpft werden kann, sondern als wesentliches Merkmal von sozialen und kulturellen Positionierungen analysiert werden muss.



[1] Konzeptionell liegt diesem Beitrag meine bei Prof. Dr. Heiner Keupp an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität eingereichte Dissertation zugrunde.

[2] In diesem Sinne verstehe ich meine Bemühungen als einen Schritt in Richtung einer Einlösung des von Anne Waldschmidt in diesem Band programmatisch vertretenen Forschungsprogramms der Disability Studies. »Soll allerdings die Etablierung der Disability Studies auch hierzulande gelingen, so wird es in Zukunft genau darum gehen: um die gleichberechtigte Zusammenarbeit von Grundlagen- und Anwendungswissenschaften und die Erforschung von Behinderung als gemeinsames Projekt der Kultur- und Sozialwissenschaften.«

[3] Körperbehinderung, Frauen/Menschen mit Behinderung, behinderte Frauen/Menschen, Behinderte, körperliche Schädigungen und Beeinträchtigungen, Krüppel, Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten etc. sind so gesehen differenzierende Beschreibungskategorien, die historisch, kulturell und kontextuell mit Bedeutung aufgeladen sind und strategisch verwendet werden. Nach einer politisch korrekten Formulierung zu fahnden, ist meiner Ansicht nach ein ebenso sinnloses wie falsches Unterfangen, da es vorgibt, die »Materialitäten generierende Kraft« (Bublitz, 2003, S. 5) diskursiver Praktiken außer Kraft zu setzen. Stattdessen verwende ich körperbeschreibende Begrifflichkeiten und Differenzkategorien in dieser Arbeit bewusst uneinheitlich, wenn auch überlegt. Sie können jeweils als Ausdruck strategischer Positionierungen verstanden werden.

[4] Eine weitere Begriffsinnovation liegt in der Rede von der Barrierefreiheit, die die dominante Verwendung des Terminus behindertengerecht erst in den erwähnten Gesetzesnovellen und nun auch in der öffentlichen Debatte zunehmend ablöst. Dass damit eher die sozialen Prozesse von Behinderungen in den Blick gerückt werden, scheint offensichtlich. Demgegenüber tritt eine Kritik an der Ausschließungsdynamik, die der Formulierung behindertengerecht inhärent ist, insofern mit ihr primär Mobilitätseinschränkungen assoziiert werden, ins Hintertreffen.

[5] Vergleiche hierzu das Gespräch über Entwicklungslinien der Empowermentperspektive zwischen Albert Lenz, Wolfgang Stark und Heiner Keupp sowie den Beitrag von Gusti Steiner zu selbsthilfeorientierten Organisationen der Behindertenarbeit bei Lenz & Stark (2002); zum aktuellen Stand von Methoden der Empowermentpraxis vergleiche Herriger (2002).

[6] Ein differenziert ausgearbeitetes diskurstheoretisch fundiertes Normalismuskonzept legt ]ürgen Link vor. »Eine normalistische Kultur ist dadurch bestimmt, dass ihre spezialisierten Sektoren (Luhmanns >funktional ausdifferenzierte Subsysteme<) sich primär nach der Opposition >normal/anormal< wachsend beziehungsweise dynamisch reproduzieren« (Link, 2003, S. 122). Freilich geht Link auf die Diskursfelder Medizin, Sexualität, Gesundheit oder Behinderung nur am Rande ein.

Empirische Basis und methodisches Vorgehen

Um solche Verknüpfungen und deren Prozesscharakter zu erfassen, entschied ich mich für ein methodisches Vorgehen, wie es im Rahmen der Biografieforschung entwickelt wurde. Über die Erzählungen der Interviewten sollen Ambivalenzen in Identifikationsprozessen sichtbar werden und NeuTerritorialisierungen sowie Verschiebungen der Schnittfelder von class, gender, race und body offen gelegt werden.

Biografische Erzählungen bieten die Möglichkeit zu analysieren, wie und wodurch sich Körper(selbst)bilder, Behinderung(en) und Geschlechterverhältnisse herstellen, reproduzieren und verändern. Im Zuge des Auswertungsprozesses wurden die in narrativ-biografischen Interviews produzierten Erzählungen diskursanalytisch und mit Hilfe des Instrumentariums einer sequentiellen Textanalyse (vgl. hinsichtlich der Auswertung mit Hilfe sequentieller Textanalysen zum Beispiel Fischer-Rosenthal & Rosenthai, 1997a, 1997b; Rosenthai & Fischer-Rosenthal, 2000) betrachtet.

Das Alter der befragten Frauen liegt zwischen 27 und 43 Jahren. Dies entspricht dem Anliegen, einen Lebensabschnitt einzufangen, in dem sich Erfahrungen mit primären und sekundären Sozialisationsprozessen niedergeschlagen haben. Zentrales Auswahlkriterium war eine sichtbare körperliche Mobilitätseinschränkung, die sich alltagsorganisatorisch bemerkbar macht. Die Frauen benutzen alle einen Rollstuhl oder ein vergleichbares Hilfsmittel zur Gestaltung ihrer Lebensführung.

Es mag eingewendet werden, dass die interviewten Frauen nicht repräsentativ für Frauen mit körperlicher Behinderung sind, da sich in ihren Biografien jeweils starke Momente einer erkämpften Selbstständigkeit und überdurchschnittliche gesellschaftliche Teilhabeerfolge ablesen lassen. Dazu ist anzumerken, dass das vorliegenden Sample in der Tat keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erheben kann und auch nicht möchte. Es geht nicht um Verteilungen und Häufigkeitsaussagen, auch nicht um systematische Vergleiche oder Kontrastierungen ganzer Biografien. Vielmehr liegt der Erkenntnisgewinn der anschließenden ausgewählten Befunde im Aufzeigen einer Diskurslogik und der damit verbundenen Hoffnung, Anknüpfungspunkte für die Verschiebung dominanter Bedeutungen im Spannungsfeld von class, gender, race und body als Achsen der Differenz zu finden.

Lesarten des Körpers

Anneliese Baumgartner[7] - eine von acht Interviewpartnerinnen - erzählt von einem Kindheitserlebnis.

Ich hatte als Kind Schienen und konnte mich auch mit zwei Stöcken so mehr oder minder fortbewegen, also gehen wär übertrieben und war natürlich damit auch etwas mobiler wie vorher. Dann war halt so im Sommer die Ecke auf Bäume klettern und so und das wollte ich auch und des hab' ich auch g'schafft. Ich kam irgendwie hoch, und dann hat's mich also, war sehr lustig und auf dem Baum rumgeklettert und alles Mögliche - und dann hat's mich runtergehaun und dann war die Hos' kaputt. Aber - was viel schlimmer war, es war die Schiene kaputt und dann kam ich heim und dann musste man immer, meine Eltern hatten selber also keine Fahrmöglichkeit, die mussten also immer jemand bitten, mich zu fahren, zur Reparatur von dem Ding. Meine Mutter hat mich dann aus Strafe dafür zwei Stunden in den Keller gesperrt, da erinner' ich mich furchtbar gut dran, da saß ich dann auf den Kellerstufen und hab' meine Wut bearbeitet (AB 560-574).

Die Hilfsmittel ermöglichten es, an den Unternehmungen ihrer Freunde teilzuhaben.

Mitmachen zu können, auch bei Aktivitäten, die vergleichsweise hohe körperliche Geschicklichkeit, Feinmotorik und Risikobereitschaft erforderten, war für Anneliese Baumgartner eine entscheidende Voraussetzung, um sich zugehörig zu fühlen. Auf diese Weise konnte sie vermeiden, anders zu sein als ihre Peers. Aber ihre Normalität wird in Frage gestellt: nicht etwa von Seiten der Peers, sondern von Seiten ihrer Mutter.

Anneliese Baumgartner erzählt hier keineswegs von einem Missgeschick (oder einem körperlichen Versagen aufgrund ihrer Behinderung), sondern von einem freudvollen Erlebnis und einem persönlichen Erfolg.

Sie hatte es geschafft, auf den Bäumen rumzuklettern. Zu einer leidvollen Episode wurde die Sache erst durch die Interpretation und die Intervention der Mutter. Nach dieser Interpretation erscheint das Klettern auf Bäumen als Aktivität, die Anneliese Baumgartner nicht angemessen ist. Damit hat sie ihre Kompetenzen überschritten, unvernünftig, leichtsinnig und selbstgefährdend gehandelt.

Anneliese Baumgartner erkennt sich erst im Blick der Mutter als ein Kind, das körperlich anders ist als die anderen Kinder - eine Positionierung, gegen die sie sich auflehnt. Sie entwirft ihren Körper als mobilen, die Mutter als immobilen Körper.

Die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter steht für das diskursive Ringen um körperliche Positionierungen. In dem mütterlichen Beschützerimpuls (gegen den ja nichts zu sagen ist - allerdings ist die Sorge um körperliche Unversehrtheit kein Privileg von Eltern behinderter Kinder) liegt ein Exklusionspotenzial, das für Anneliese Baumgartner zur Bedrohung wird. Damit dürfte sich auch die Wirkung der Strafe erklären, die eher Wut erzeugt als Angst und zukünftige Zurückhaltung.

Unter einem geschlechtsspezifischen Blickwinkel war das Verhalten Anneliese Baumgartners übrigens nicht unbotmäßig - obgleich man das möglicherweise hätte vermuten können: etwa aufgrund der Ansicht, Mädchen hätten nichts auf Bäumen zu suchen, da eine solche Art kindlichen Abenteurerturns doch eher jungenspezifisch sei. Vielmehr wird zwischen Mutter und Tochter eine Auseinandersetzung darum geführt, welches Verhalten ihrer körperlichen Situation angemessen ist.

Anneliese Baumgartners eigenes Anliegen unterscheidet sich dabei nicht von demjenigen anderer Gleichaltriger: sie möchte dazugehören, mitmachen, Spaß haben, etwas erleben. Das Problem, das für sie in diesem Zusammenhang auftaucht, besteht nicht in ihren körperlich begrenzten Möglichkeiten, sondern in den familial begrenzten Spielräumen sowie in den Verhaltenserwartungen ihrer Mutter. Das Körperkonzept der Mutter unterscheidet sich fundamental von demjenigen ihrer Tochter.

Die biografischen Erzählungen der Frauen zeugen vom Ringen um unterschiedliche Lesarten von Behinderung. Sie zeigen, wie unterschiedlich mächtige Diskurse aufeinanderprallen, die in unterschiedlichen biografischen Phasen und situativen Kontexten ihr jeweiliges Gewicht verändern. Zwischen Mutter und Tochter steht die Frage zur Verhandlung, welches Verhalten, welche körperliche Artikulation einem behinderten Körper angemessen sind. Der Effekt ist, dass der Körper von Anneliese Baumgartner ein anderer, ein defizitärer Körper geworden ist.

Da Anneliese Baumgartner anders ist, bestimmte körperliche Kompetenzen nicht besitzt, ist es auch ein Trugschluss, sich zugehörig zu fühlen und damit unvernünftig, ja gefährlich, so zu tun, als wäre da nichts. Heute ist ihr klar: Integration setzt Anpassung voraus. Während sie als Kind von einem Gefühl der voraussetzungslosen Inklusion ausging, weiß sie heute, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um als behinderte Frau gesellschaftliche Akzeptanz zu ernten. Ergebnis ist die Sozialisation in eine behinderte Identität.



[7] Die Namen wurden anonymisiert.

Der strategische Einsatz des behinderten Körpers

Sabine Berndl erzählt von einer langjährigen Freundschaft zu einem jungen Mann. Sie verweist damit auf die Rolle, die körperbezogene Diskurse in ihren Beziehungen spiel(t)en. Im Zentrum ihrer Beziehung steht zunächst der Körper ihres damaligen Freundes. Dieser Körper markierte die Schwierigkeiten, mit denen die beiden von Beginn ihrer Freundschaft an umgehen mussten.

Sabine Berndl führt ihren Freund anhand dreier Beschreibungsmerkmale ein, die allesamt einen Körperbezug aufweisen: Das Alter des Freundes, der zehn Jahre jünger als sie selbst ist, verweist auf einen im Vergleich zu ihr unreiferen, unerfahreneren und hilfsbedürftigeren Status. Die berufliche Orientierung des Freundes, der Priester werden wollte, verweist auf ein Milieu, in dem jede Form von Körperlichkeit einer besonderen weltanschaulichen Begutachtung unterliegt. Die sexuelle Erfahrung des Freundes, der von seinem Lehrer vergewaltigt wurde, verweist auf große emotionale und körperliche Verletzungen.

Es war a sehr schwierige Situation. Es war ein Mann, der zehn Jahre jünger ist. Der selbst, wie soll man des erklären, ja, einfach grad. Er wollte Priester werden. War in einem Priesterseminar. Hat dann aber festgestellt, dass er das nicht schafft. Das geht so net. Wollt er dann nicht mehr. Wurde in diesem Priesterseminar von einem seiner Lehrer vergewaltigt. Hat mit seiner eigenen Sexualität sehr große Probleme g'habt. Und dann harn wir uns kennen gelernt (SB 646-652).

Zu diesen Voraussetzungen des Kennenlernens gesellte sich die Lebenslage Sabine Berndls. Sie führt sich in dieser Interviewpassage als eine Person ein, die sich hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität zutiefst verunsichert zeigt. Ihre Erzählung zeichnet folgendes Bild: In körperlicher Hinsicht begegneten sich die beiden unter unterschiedlichen Vorzeichen. Dem hilfsbedürftigen und verletzten Körper des Freundes stand der geschlechtsneutrale Körper Sabine Berndls gegenüber. Während ihr Freund sich Unterstützung bei der Bearbeitung seiner Gewalterlebnisse und seiner Sexualität erhoffte, versprach sich Sabine Berndl ein Stück Wertschätzung als Frau - auch wenn diese Konstellation damals für sie noch nicht durchschaubar war.

Da wusst ich seine Vorgeschichte noch nicht. Und es war zu der Zeit, dass ich mich irgendwie überhaupt net als Frau gefühlt hab.

Es war irgendwie wieder mal so a Punkt, den hab ich ab und zu mal, dass ich das Gefühl hab, ich bin ein Neutrum. Und des will ich überhaupt net sein (SB 655-659).

Zunächst scheint es den beiden zu gelingen, ihren unterschwellig aneinander gehegten Erwartungen zu entsprechen. Zumindest fühlte sich Sabine Berndl hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität zunächst gestärkt. Die erfahrene Anerkennung bezog sich aber offenbar weniger auf ihren Körper. Vielmehr sieht sie sich in ihren sozialen und empathischen Kompetenzen als Frau wahr- und ernstgenommen.

Und er hat mir dann plötzlich wieder das Gefühl gegeben, ich bin interessant und ich bin Frau. Irgendwo zu einem gewissen Grad wenigstens. Und wir harn also dann sehr sehr viel über seine Situation zuerst geredet, weil er also da wirklich massive Probleme hatte und ich hab dann eben auch versucht, sehr viel Verständnis zu zeigen für seine Situation, die auch net ganz einfach war. Und des war auch des, wo ich dann immer höher gerutscht bin [auf einen Sockel] nach oben, weil ich ja für alles Verständnis hatte, immer da war und immer zugehört hab. Und klar, macht ma ja auch gerne (SB 659-666).

Sabine Berndl sah sich angesichts der Probleme ihres Freundes ihrerseits gefordert und erfuhr gerade dadurch ihre Wertschätzung - eine sehr geschlechtsrollenspezifische Selbstwahrnehmung. Ihr behinderter Körper stand dabei gar nicht zur Debatte, sondern ausschließlich der beschädigte Körper ihres Freundes. Der eigene behinderte Körper konnte durch die Aussparung des Themas Sexualität in der Beziehung, die von beiden getragen wurde, ausgeblendet werden. Dies ändert sich in dem Moment, in dem die beiden ihre jeweiligen Positionen verließen: Sabine Berndl kündigt ihre Position auf, in der sie Hilfsbereitschaft und Empathievermögen für ihre Anerkennung als Frau eintauschte, und ihr Freund verabschiedet sich von seiner Position als verletzter und hilfsbedürftiger Mann ohne sexuelle Interessen:

Bloß irgendwann war der Punkt dann da, wo ich halt das so nicht mehr gepackt hab. Also es wurde mir einfach zu viel, weil ich gefühlsmäßig viel stärker eingebunden war und immer stärker eingebunden wurde in das Ganze und da war dann auch die Rede davon, dass er sich vorstellen könnte, mit mir zu leben und mit mir zusammen zu sein. Und ich hab aber auch gemerkt, er schafft des, also er wird's net schaffen (SB 666-671).

In dieser Situation bringt Sabine Berndl ihren bisher nicht thematisierten behinderten Körper massiv ins Spiel. Sie verweist nun diskursiv auf ihre körperliche Hilfsbedürftigkeit, auf ihre begrenzten Kräfte, auf ihr Angewiesensein auf Pflege und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten, auf ihre Abhängigkeiten und Defizite. Hatte sie eben noch Wert gelegt auf ihr körperliches Erscheinungsbild und ihre körperliche Ausstrahlungskraft, zeichnet sie jetzt - in einem Moment, in dem sie sich sexuell angerufen sieht - von ihrem Körper ein abschreckendes Bild. Ihr behinderter Körper wird von ihr als Argument, als diskursive Waffe gegen eine am Horizont sich ankündigende Sexualität ins Feld geführt.

Er hat bei mir immer nur das Positive g'sehn. Und wenn er auch kam, also es ist glaub ich automatisch, man richtet sich her. Man richtet sich die Haare und schminkt sich und was weiß ich. Man sieht dann einfach gut aus und zieht sich dann auch entsprechend an und ja so kannte er mich. Und ich hab dann a zu ihm g'sagt, überleg Dir mal, wie das wäre für Dich, Du musst bei mir alles machen. Du musst mich versorgen. Du musst mich aufs Klo setzen. Du musst mich runtertun, musst mir den Hintern putzen. Ich hab g'sagt, des g'hört alles dazu. Du musst mich waschen, anziehn. Alles, was Du mit Dir machst, musst Du mit mir auch machen. Könntest Du das? Ha, z'erst hat er noch g'meint, ja, es wär für ihn überhaupt kein Problem und er würd des scho schaffen. Und je öfter wir eigentlich drüber g'redet ham, hat er auch g'merkt, des wäre für ihn gar net so einfach. Er könnte des dann doch net. Weil man muss sich einfach auf viel einlassen und viele Dinge tun, die man halt bei einer normalen Partnerschaft nicht tun muss. Die einfach auch jedem sei eigene Privatsphäre sind, die halt dann nicht mehr existiert. Und des waren schon sehr intensive Gespräche dann über die Situation, wo ich ihm immer wieder vor Augen g'halten hab, überleg Dir's. Des und des kommt auf Dich zu, wenn Du mit mir zusammenleben möchtest. Es ist net nur alles eitel Wonne und net immer alles positiv, es ist auch negativ und ich kann auch ziemlich biestig werden, wenn irgendwas mal net so ist. Also bin a Stimmungen unterworfen, die net immer so b'sonders gut sind. Und des einfach net, nicht so, wie a normale Partnerschaft. Es fordert viel, viel mehr und verlangt einem viel, viel mehr ab und ja, und da ham wir halt miteinander eben g'merkt, also ich noch viel eher als er, dass es einfach net hinhaun kann, dass es nicht geht.... Ich hab dann halt g'sagt, dass mir des einfach weh täte, wenn ich merken würde bei ihm, irgendwann dass der Punkt kommt, er packt des net. Und deswegen möcht ich mich net drauf einlassen. Ich kann des net. Weil des mir zu sehr wehtäte. Also muss ich des eigentlich schon vorher kappen zu 'nem gewissen Grad und muss dem anderen einfach klar machen, so und so ist es (SB 671-705).

Die Selbstpositionierung als behinderte Frau erfolgt jetzt mit der Zielsetzung, die emotionale Nähe und die sexuellen Avancen des Freundes abzuwehren. Dabei war Sabine Berndl erfolgreich. Die beiden blieben zwar fortan in Kontakt miteinander, die emotionalen Grundlagen waren der Beziehung jedoch entzogen. Dabei fällt auf, dass Sabine Berndl ihre Abwehrstrategie just in einer Situation initiierte, in der sie sich, was ihre Geschlechtsidentität anbelangt, durchaus gestärkt sah. Sie setzte ihre Strategie ganz bewusst ein, um sich emotional zu schützen, möglicherweise auch aus unbewussten sexuellen Ängsten heraus.

In dieser Interviewpassage bringt Sabine Berndl zum Ausdruck, dass sich in der geschilderten Beziehung nicht einfach zwei Menschen in ihrer Eigenschaft als Behinderte beziehungsweise Nichtbehinderte begegneten. Vielmehr wurden Hilfsbedürftigkeiten und Beschädigungen ihrer Körper von den beiden strategisch ins Spiel gebracht, um ihre emotionale Nähe wechselseitig jeweils zu kontrollieren.

Es geht nie nur um den Stellenwert der Behinderung allein. Stets werden andere körperbezogene Differenzmarkierungen parallel mitverhandelt und -vollzogen. Im Falle von Sabine Berndl ist der Körper ihres Freundes für sie bezüglich des herrschenden Altersunterschieds (biologisch), bezüglich seines beruflichen Milieus (kulturell), in dem er sich bewegt, und bezüglich seiner sexuellen Gewalterfahrungen (sozial) kodiert. Auch ihr eigener Körper taucht nicht als eindimensional behinderungsbedingt defizitärer Körper auf, sondern wird in den Augen des Partners zu einem sexuell begehrenswerten Körper, dessen Wahrnehmung sich in doppelter Weise verschiebt.

Mit welchen Blicken die Körper betrachtet werden und in welchem Licht sie jeweils erscheinen, muss über die Orte rekonstruiert werden, an denen die diskursiven Verhandlungen stattfinden. Es müssen die Akteure dieser Verhandlungen daraufhin betrachtet werden, welche Diskurse sie wie ins Spiel bringen, welche Artikulations- und Repräsentationschancen ihnen jeweils zur Verfügung stehen und welche Optionen für Koalitionsbildungen und Konfrontationen mit den jeweiligen Positionierungen verbunden sind. Nur über die empirische Rekonstruktion der Prozesse des Herstellens von körperbezogener Bedeutung kann prospektiv ihre praktische Wirksamkeit politisch beeinflusst werden - nicht mit dem Ziel vor Augen, Behinderung wegzudiskutieren oder diskursiv zum Verschwinden zu bringen, sondern die auf der binären Opposition behindert/nichtbehindert basierende herrschende Praxis zu verändern.

Diskursinterdependenzen

Die folgende Interviewpassage zeigt, wie Gender-, Body-, Class- und RaceDiskurse sich kreuzen und dabei stets explizit oder implizit anwesend sind.

Dabei lassen sich Dominanzverhältnisse zwischen den Diskursen beobachten.

Im vorliegenden Fall dominieren der Körper- und Geschlechterdiskurs, während kulturelle und sozio-ökonomische Ungleichheitsdiskurse unausgesprochen mitschwingen und potenziell aktualisierbar bleiben. Ich möchte in meiner Analyse der aktuellen Ausformung dieser Dominanzverhältnisse nachgehen und durch eine kontextuelle Betrachtungsweise plausibel machen wie und in welcher Weise Gender, Body, Class und Race in der biografischen Erzählung von Roswitha Schultze konfiguriert werden.

Roswitha Schultze bewegt sich zunächst im Rahmen eines Geschlechterdiskurses, wenn sie konstatiert, »gar kein Mann sein « zu wollen. Sie geht dabei nicht nur von einer wesensmäßigen Geschlechterdifferenz aus, sondern bringt unmittelbar den Körper ins Spiel. Die Sexualität bildet das Verbindungsglied zwischen dem Geschlechter- und dem Körperdiskurs. Roswitha Schultze macht zudem durch eine biografische Erzählung deutlich, welche Erfahrung wesentlich zu ihrer aktuellen Überzeugung beigetragen hat, kein Mann sein zu wollen. Diese Erzählung spielt in einem therapeutischen Setting und lässt Roswitha Schultzes Körper in einem bestimmten Licht erscheinen. In dem Maße, wie Roswitha therapeutisch dazu angehalten wird, etwas an ihrem äußeren Erscheinungsbild zu ändern, ist es nicht nur der sexuelle Geschlechtskörper sondern auch der behinderte Geschlechtskörper, der hier angerufen wird. Geschlechter- und Körperdiskurse werden zu einem einzigen Bedeutungszusammenhang verknüpft.

Also ich hab zum Beispiel, ich mein, ich hab ja lang, lang, also für mich definiert sich im Moment Frausein, also erst mal find ich, dass 'ne Frau eher in die Tiefe geht als ein Mann. Also das hab ich im Lauf der Jahre einfach feststellen können, erfahrungsmäßig so. Und dann halt auch so Sachen, wie, ich sag's jetzt einfach mal so, ja, Erotik, sich schön herrichten, schöne Frisur, schöne Ha-, schön geschminkt oder so, schön angezogen und so was alles, das war für mich ganz, ganz lang total wurscht und total unwichtig. Und dann bin ich in Kontakt gekommen mit meiner Therapeutin. Und die hat nun also zu mir gesagt, du stinkst, du bis schlampig angezogen, du siehst unmöglich aus. Und da hab ich dann angefangen, wirklich auch so zu kucken, wie seh ich überhaupt aus. Und wie wirk ich auf die andern und was, was trag ich dazu bei, dass auch Leute mich anschauen oder mich wahrnehmen oder so. Ja und, und dann hab ich also da ziemlich viel Mühe drauf verwendet, auch so zu kucken, ja, eben mein Outfit auch zu verändern. Und das fand ich also sehr entscheidend, weil ich das bis zu dem Zeitpunkt, das ist jetzt ungefähr zehn Jahre her, vorher hab ich das nie gemacht, also mich geschminkt oder mich, mir ein schönes Kleid gekauft oder, oder ich hab immer Hosen getragen. Obwohl mir das eigentlich, obwohl es, obwohl ich mich mit Kleidern und Röcken viel wohler fühle. Hab ich inzwischen festgestellt, ja. Und dann halt auch so Sachen, wie wirklich in die Tiefe auch zu gehen. Also das hat jetzt nix mit dem Outfit zu tun, sondern mehr so mit zu kucken, warum und wieso passiert jetzt das und das (RS 1209-1226).

Es war die Therapeutin, die durch ihre deutlichen Worte bei Roswitha Schultze einen Sinneswandel ausgelöst hat. Sie führt diese Episode als Belegerzählung für ihr aktuelles Verständnis der Geschlechterdifferenz ein, ein Verständnis, das »im Lauf der Jahre« immer erfahrungsgesättigter wurde. Während sich die Therapeutin in ihrer Kritik offensichtlich auf den sinnlich wahrnehmbaren Körper bezieht und Roswitha Schultze einer mangelnden Körperpflege und unvorteilhaftem Äußeren bezichtigt, interpretiert Roswitha Schultze diese Einlassungen auch als einen Appell an ihre weibliche Geschlechtsidentität. Inzwischen fühlt sie sich durch die weibliche Art, sich zu kleiden und zu präsentieren »viel wohler« als früher.

Sie ist heute nicht nur als Mensch mit einer Behinderung hübscher anzuschauen, sondern auch als Frau. Sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild weiblichen Normvorstellungen angepasst zu haben, so ihre Überzeugung, hat sie auch mehr zu einer Frau gemacht.

Auf einer weniger offensichtlichen und ausgesprochenen Ebene spielen aber ebenso kulturelle und sozioökonomische Ungleichheitsdiskurse in der zitierten Passage mit. So sind natürlich die Veränderungen, die Roswitha Schultze hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbildes vornimmt, keine kostenneutrale Angelegenheit und infolge dessen auch als Lebensstilwechsel im Sinne einer sozialen Aufwärtsmobilität zu lesen. So gesehen appelliert die Therapeutin nicht nur an eine verwahrloste Behinderte und unweibliche Frau, sondern auch an eine sozial deprivierte Person.

Der Kulturdiskurs ist in der vorliegenden Passage am stärksten verborgen. Der Grund hierfür liegt in dem Umstand, dass Roswitha Schultze im Verhältnis zwischen sich und ihrer Therapeutin kulturellen Differenzen offenbar keine Bedeutung beimisst. Man stelle sich vor, Roswitha Schultze oder ihre Therapeutin würden sich unterschiedlichen Kulturkreisen zuordnen, dann würden die Bemerkungen der Therapeutin einerseits und die Konsequenzen, die Roswitha Schultze für sich andererseits daraus zieht, ihren kulturellen Gehalt offenbaren: zu einer richtigen Frau gehört auch ein kulturell angemessen drapierter Körper. Schöne Kleider und Röcke sind weiblicher als immer nur Hosen, geschminkt zu sein, ist weiblicher, als nicht geschminkt zu sein, sich selbstreflexiv mit seinem Körper zu befassen (»kucken, wie sehe ich überhaupt aus«), ist weiblicher, als dies nicht zu tun.

Diese Passagen enthalten einen kulturellen Subtext, indem sie andere kulturelle Entwürfe weiblicher Lebenszusammenhänge ausschließen. Ebenso ausgeschlossen werden andere als heterosexuelle Orientierungen - eine Norm, die Roswitha Schultze durch die Worte ihrer Therapeutin unmissverständlich zu Ohren gebracht wird. Lebenszusammenhängen, die dem angesprochenen sozioökonomischen Status nicht entsprechen, werden ebenfalls jegliche Legitimation abgesprochen.

Möglicherweise lag der Grund für die Einlassung der Therapeutin ursprünglich lediglich in dem Ekelgefühl, im Rahmen der Therapie Roswitha Schultzes Körper berühren zu müssen. Roswitha Schultzes Darstellung im Interview zeigt aber, wie sie diese therapeutische Erfahrung für sich zum Anlass nimmt, Identitätsarbeit zu betreiben. Es konnte gezeigt werden, wie bei dieser Identitätsarbeit sowohl die angesprochenen wie die nicht angesprochenen Gender-, Body-, Class- und Race-Differenzen gleichermaßen im Spiel sind und sich wechselseitig kontaminieren.

Konsequenzen für das Theorieprojekt der Disability Studies

Diese Interpretationen ausgewählter narrativer Interviewpassagen verstehen sich als unabgeschlossene Diskursbeiträge. Sie zielen nicht auf die bloße Rekonstruktion von Sozialisationsprozessen behinderter Frauen (das anzustreben, wäre nun wirklich nichts Neues), sondern auf die jeweiligen diskursiven Machtpositionen, von denen aus Körper als behindert beschrieben und Identitäten geformt werden.

Die Analyse zielt dabei bewusst nicht darauf ab, am Ende ein idealtypisches Bild von biografischen Sozialisationserfahrungen körperbehinderter Frauen zu erhalten. Auch eine klassifizierende Typenbildung unterschiedlicher weiblicher Identitätsentwürfe ist nicht angestrebt. Stattdessen soll die Auswertungsperspektive einen Beitrag zu einem kulturwissenschaftlich fundierten Theorieprojekt der Disability Studies leisten. Orientierungspunkte hierfür sind:

  • Der Blick auf die Logik der Differenzsetzungen, der sich die befragten Frauen ausgesetzt sehen und der sie sich in unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenssituationen aussetzen.

  • Die Dekonstruktion der Bedeutungen, die dem Körper im Kontext anderer wirksamer Differenzkategorien zugewiesen werden.

  • Die Rekonstruktion der diskursiven Strategien, die gesellschafts- und identitätspolitisch zur Anwendung gelangen, um sich in unterschiedlichen Kontexten und Situationen zu positionieren beziehungsweise positioniert zu werden.

  • Die Analyse der Konstruktion behinderter Körper vor dem Hintergrund von fortschreitenden und etablierten Gleichstellungs- und Toleranzdiskursen.

  • Die Herstellung von Transparenz bezüglich der Orte und handelnden Akteure von Behinderungsprozessen.

Während individuelle oder auch medizinische Modelle davon ausgehen, dass die Behinderung ein Problem der betroffenen Person ist und infolgedessen medizinischer Korrekturmaßnahmen beziehungsweise Förderung und Unterstützung bedarf, gehen soziale Modelle von Behinderung davon aus, dass der Behinderungsgrund letztendlich in zugrundeliegenden sozialen und gesellschaftlichen Prozessen zu finden ist. Die Gesellschaft ist aufgrund ihrer diskriminierenden Strukturen für die Ausschließungsprozesse und systematischen Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung verantwortlich. Somit verschiebt sich der Forschungsgegenstand der Disability Studies vom betroffenen Individuum auf die behindernde Gesellschaft.

Mit der Vorstellung eines sozialen Modells von Behinderung, das in den Theoriedebatten im Rahmen der Disability Studies vertreten wird, ist der Kampf um gesellschaftliche und kulturelle Repräsentation verbunden. Behinderungspolitisches Ziel ist es, die von Ausgrenzung und Benachteiligung betroffenen Menschen mit Behinderung selbst in die Lage zu versetzen, sich zu Wort melden zu können. Die Perspektive von Empowermentprozessen bildet die selbstbewusste Artikulation eigener Ansprüche.

In der Magdeburger Erklärung vom 22.2.2003 formulierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Eröffnungsveranstaltung für das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 (EJMB),

»dass die Politik der Beteiligung behinderter Menschen an allen Entscheidungen, die sie betreffen, weitergeführt werden muss. Der für das EJMB formulierte Slogan >Nichts über uns ohne uns< muss auch künftig Leitlinie der Behindertenpolitik über dieses Jahr hinaus sein. Die Behindertenpolitik soll in Zukunft unter die drei Leitforderungen Teilhabe verwirklichen - Gleichstellung durchsetzen - Selbstbestimmung ermöglichen gestellt werden. Dafür sind die Ansprüche auf gesellschaftliche Teilhabe zu ergänzen und auszubauen« (Magdeburger Erklärung vom 22.2.2003).

Demzufolge befinden sich Menschen mit Behinderung als einzige in der legitimierten Position, wirklich authentisch über sich Auskunft erteilen zu können. Aus einer diskursanalytischen und differenztheoretischen Perspektive erscheint eine solche Konsequenz aus dem sozialen Modell von Behinderung jedoch nicht hinreichend zu sein, da sie zwar das Defizitparadigma durch ein Kompetenzparadigma zu ersetzen trachtet, die Betroffenheitsperspektive an sich aber nicht zu überwinden vermag.

Der Schlüssel zum Verständnis (besonders britischer) Disability Studies besteht darin, diesen Paradigmenwechsel, der den Ort der Behinderung zu reformulieren sucht, nachzuvollziehen.

Ich halte eine Vorstellung von einem sozialen Modell von Behinderung, die der Gruppe der Menschen mit Behinderungen insgesamt einen Minderheitenstatus zuweist und sie kollektiv auf ihre Rolle als Opfer von Diskriminierungs-, Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozessen reduziert, jedoch für problematisch.

Eine poststrukturalistisch informierte diskursanalytische Auswertungsstrategie kann demgegenüber einerseits zeigen, dass das Reden über den Körper stets aus einer situativen Positionierung heraus erfolgt und damit die Annahme einer konsistenten kollektiven Identität von Behinderung konsequent unterlaufen wird. Darüber hinaus sollte deutlich werden, dass auch Menschen mit Behinderung ihrerseits am sozialen Modell von Behinderung stets mitstricken. Soll heißen: Sie müssen nicht nur >Opfer<, sondern können durchaus auch ,Täter(innen)< sein, wenn sie zum Beispiel ihrerseits Diskriminierungs-, Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozesse initiieren - etwa über Abgrenzungen zu anderen Behinderungen beziehungsweise Differenzen (nach dem Motto: ich bin zwar körperbehindert, aber keineswegs geistig behindert ... ). Der Diskurs Behinderung ist damit - ähnlich race, class und gender - geeignet, gesellschaftliche Differenzierungen herzustellen und zu reproduzieren.

Zudem ist das soziale Modell von Behinderung mit einem recht simplen Identitätsmodell verknüpft. Sowohl individuell als auch kollektiv erscheinen Menschen mit Behinderung abgespalten von und unterdrückt durch eine ebenso konsistent wie homogen gedachte nichtbehinderte Mehrheitsgesellschaft. Die Grenze zwischen den Welten ist dort scheinbar eindeutig und widerspruchsfrei. Menschen mit Behinderung erscheinen in jedem Fall benachteiligt, nicht normal, körperlich beschädigt und verletzt, einfach anders zu sein. In dem Maße, in dem eine Integration, eine Normalisierung, Korrektur und Gleichstellung verwehrt bleiben, unterstützt das soziale Modell der Disability Studies die Forderungen nach Anerkennung einer eigenen, anderen Normalität. Das Gleichstellungspostulat wird dabei um die Proklamierung einer strategischen Identitätspolitik ergänzt, die auf Hervorhebung und Anerkennung einer eigenwertigen kollektiven Gleichheit in der Differenz zur Welt der nicht behinderten Menschen abhebt.

An dieser Vorstellung kollektiver Identität hege ich aus mindestens zwei Gründen Zweifel: Zum einen will sich mir schon angesichts der körperlichen und sozialen Heterogenität zwischen uns Menschen mit Behinderungen das Gefühl einer kollektiven Identität nicht recht einstellen, zum anderen gibt der empirische Blick auf die zentralen gesellschaftlich wirksamen Differenzkategorien den Blick auf die Widersprüche, Brüche und Ungleichzeitigkeiten frei.

Geht man von der Annahme aus, dass Behinderung gesellschaftlich und sozial konstruiert wird, erscheint es unumgänglich, die entsprechenden Prozesse, die Behinderung markieren, genauer unter die Lupe zu nehmen. Beteiligt an diesen gesellschaftlichen und sozialen Prozessen (Interaktionen, bürokratischen Verfahren etc.) sind allerdings Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen. Mithin müsste sich konsequenterweise der Fokus der Untersuchung verschieben: weg vom Individuum und seiner binär konstruierten kollektiven Zugehörigkeit (behindert/nichtbehindert), hin zu Interaktionen und Diskursen als den Verhandlungsorten von Behinderung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir mittlerweile nicht mehr in einer Gesellschaft leben, die sich durch eine stringente Diskriminierungs- und Desintegrationspraxis gegenüber Menschen mit Behinderung beschreiben lässt. Vielmehr leben wir in einer Zeit, die durch differenzierte und fortschreitende praktizierte Integrations-, Antidiskriminierungs-, Teilhabe-, Anerkennungs- und Toleranzdiskurse geprägt ist. Dies hat zu einer Fülle von gesellschaftlichen Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen geführt und die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung nachhaltig verändert.

Spannend ist es nunmehr, diesem sozialen Wandel Rechnung zu tragen und sich nicht darauf zu beschränken, die aktuell (noch) zu verzeichnenden Nachteile allein als Resultate suboptimaler oder imperfekter Integrationsbemühungen zu deuten. Angesagt wäre es, danach zu fahnden, welche neuen veränderten Formen der Differenzsetzung gerade durch Gleichstellungs- und Toleranzdiskurse in Gang gesetzt werden, welche Bedeutungsverschiebungen sich ausmachen lassen und für veränderte politische Handlungsbedingungen sorgen. Es handelt sich um Ausschließungsprozesse gerade unter den Bedingungen gesellschaftlich gewollter Inklusion.

Literatur

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Bruner, Claudia Franziska (2005). KörperSpuren. Ein Beitrag zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen. In: Reihe KörperKulturen. Bielefeld: transkript.

Bublitz, Hannelore (2003). Diskurs. Soziologische Themen. Bielefeld: transkript.

Fischer-Rosenthal, Wolfram & Rosenthal, Gabriele (1997a). Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentationen. In: Roland HitzIer & Anne Honer (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen: Leske+Budrich, S. 133-164.

Fischer-Rosenthal, Wolfram & Rosenthal, Gabriele (1997b). Warum Biographieanalyse und wie man sie macht. In: Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 17. Jg., S. 405-427.

Hacking, Ian (2002). Was heißt >soziale Konstruktion<? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Frankfurt am Main: Fischer.

Herriger, Norbert (2002). Empowerment in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

Lenz, Albert & Stark, Wolfgang (Hrsg.) (2002). Empowerment. Neue Perspektiven für psychosoziale Praxis und Organisation. Tübingen: dgvt.

Link, Jürgen (1999). Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Magdeburger Erklärung zum Europäischen jahr der Menschen mit Behinderungen vom 22.2.2003 (http://www.bmgs.bund.de/deu/gra/themen/europa/e;mb/index_2938.cfm).

Prengel, Annedore (1995). Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen: Leske+Budrich.

Rosenthal, Gabriele & Fischer-Rosenthal, Wolfram (2000). Analyse narrativ-biografischer Interviews. In: Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt, S. 456-468.

Quelle:

Claudia Franziska Bruner: Körper und Behinderung im Diskurs. Empirisch fundierte Anmerkungen zu einem kulturwissenschaftlichen Verständnis der Disability Studies.

Aus: Dannenbeck, Clemens / Bruner, Claudia Franziska (Hrsg.): Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Auf dem Weg von einem sozialen zu einem kulturellen Modell von Behinderung, Psychologie und Gesellschaftskritik 1/2005, S. 33-53

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 06.12.2011

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