Globale und integrale Sicht der Erziehung - Botschaften für diejenigen, die mit Kindern arbeiten.

Autor:in - P. Henri Boulad
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Referat
Releaseinfo: erschienen in: Mit Kindern wachsen. NÖ Montessori-Werkstatt 18.-20. April 1996, Emmersdorf an der Donau, NÖ Schriften 101/Dokumentation, Neulengbach, Dezember 1997, ISBN 3-85006-093-4. Überarbeitete Abschrift der freien Rede.
Copyright: © P. Henri Boulad 1997

Einleitung

Vielen Dank, Herr Kerschbaumer, für Ihre Einladung. Es freut mich, daß ich heute bei Ihnen sprechen kann, und Ihnen allen einen sehr herzlichen Dank, daß Sie zum Kongreß gekommen sind.

Das Thema des heutigen Abends ist in seiner globalen Sicht der Erziehung ganz im Geist der Montessori-Schule. Maria Montessori hat mit einer langjährigen Tradition gebrochen, die nur auf eine hirn- bezogene, auf eine intellektuelle Erziehung ausgerichtet war und wobei sämtliche andere Komponenten wie soziale und körperlich-sinnliche Komponenten vernachlässigt wurden. Es ist der große Verdienst von Madame Montessori, daß sie auf die Globalität der Erziehung hingewiesen hat und ich möchte in dieser Richtung weitergehen. Aber wir wollen nicht direkt daran kleben, es besteht immer die Gefahr bei allen geistigen Schulen oder bei allen Beziehungen zu bestimmten Personen, daß man sie zu Götzenbildern hochstilisiert. Aber jeder Anreger oder jeder Meister sollte eigentlich weithin überschritten werden und auch Maria Montessori hat uns einen Weg aufgezeigt auf dem wir weitergehen sollten. Wir sollten aus der Montessori-Schule keine Sekte bilden, sondern sie viel mehr als Quelle der Inspiration betrachten im Hinblick auf diese totale und ganzheitliche Sicht.

Herausforderungen

Um globale Erziehung verstehen zu können, müssen wir zuerst darüber nachdenken wo wir uns eigentlich in dieser Welt befinden und welche Herausforderungen die Welt für uns hat. In der heutigen Zeit wächst das Wissen exponentiell an und jeden Tag, ja geradezu jede Stunde oder jede Minute gibt es neue Erkenntnisse zu verarbeiten. In unserer Zeit bedeutet ein Jahr soviel Fortschritt wie früher ein ganzes Jahrhundert oder vielleicht sogar ein Jahrtausend. Das Wissen vermehrt sich ständig schneller und das muß in der Erziehung berücksichtigt werden. Die Gefahr besteht darin, daß wir allen neuen Erkenntnissen ständig nachlaufen, um auf dem letzten Stand der Dinge zu sein und das bedeutet eine Herausforderung, aber auch gleichzeitig eine Gefahr. Die Frage stellt sich: wo können wir uns bei diesem exponentiellen Wachstum des Wissens ansiedeln?

Ein zweiter Punkt, auf den ich besonders hinweisen möchte, ist der, daß wir uns in einer Welt befinden, die ständig gewaltigere Dimensionen annimmt. In der Vergangenheit lebten die Menschen in ihrem Heimatdorf oder in einer bestimmten Stadt, aber heute befinden wir uns auf einer planetarischen Ebene, ja sogar auf einer galaktischen und intergalaktischen Ebene. Unsere Weltsicht hat sich in phantastischer Weise ausgeweitet und der Mensch muß in diesem neuen Kontext darüber nachdenken, was er eigentlich ist, wer er eigentlich ist. Er muß darüber nachdenken, daß er ja nur ein Staubkorn in dem gewaltigen Universum bewohnt - die Erde. Diese Frage ist sehr schwerwiegend, denn sie betrifft den Wert unserer Existenz. Außerdem hat sich auch unsere Kenntnis der Geschichte immer mehr ausgeweitet. Nun werden die Erkenntnisse immer komplexer und reichen immer weiter zurück und wir müssen uns verstehen lernen in dieser Ausweitung in Raum und Zeit und Lichtjahren. Der Mensch muß ein neues Bewußtsein seiner selbst erlangen, ein kosmisches, und das stellt eine Herausforderung für uns dar, die wir auch in der Erziehung berücksichtigen müssen.

Eine dritte Herausforderung unserer Zeit ist die Komplexität. Unsere Welt ist nicht nur immer größer und weiter, sondern sie wird auch ständig komplexer. Heutzutage ist nichts mehr einfach, und der Mensch fühlt sich oft überfordert. Wie soll er handeln, wie soll er etwas auswählen, wie soll er diese Komplexität verstehen? Computer werden dafür nicht ausreichen. Und wie soll er diese Komplexität in unsere Lehrpläne aufnehmen? Bis wohin kann das gehen? Und wenn einmal alles eingeschlossen wird, dann geht das zu Lasten der guten Montessori-Erziehung, die ja sämtliche Aspekte der Persönlichkeit berücksichtigen möchte. Schwierig!

Eine vierte Herausforderung in unserer Welt ist die Freiheit. Unsere Zeit hat die Freiheit entdeckt, stärker als jemals zuvor, und auch die Demokratie. Aber was verstehen wir darunter? Freiheit ist heutzutage gleichbedeutend geworden mit schrankenlosem Individualismus und hat zu einer Aufsplitterung der sozialen Strukturen geführt, der Familien, der Nationen. Und das ist eine große Herausforderung für unsere Zeit. Wie sollen wir die Freiheit in unser Erziehungskonzept integrieren?

Oder wieder ein anderes Gebiet ist das Gebiet der Körperlichkeit, der Sexualität. Seit Freud haben wir etwas erlebt, was wir sexuelle Revolution nennen und das bringt Komplikationen in der Erziehung. Was versteht man heutzutage unter Sexualunterricht? Das ist ja nichts anderes als die mehr oder weniger genaue anatomische Beschreibung des Körpers von Mann und Frau und der biologischen sexuellen Vorgänge. Aber die Sexualität müßte in einem wesentlich weiteren Sinn verstanden werden. In einer Sicht des Menschen in seiner Ganzheit und der Gesellschaft als ganzer, und das ist eine weitere Herausforderung für uns, denn die Sexualerziehung hat bis heute ihren Weg noch nicht gefunden.

Ein weiterer Punkt ist die Sozialisierung. Das ist ein Phänomen, das bereits vor 10.000 Jahren eingesetzt hat, und eine weitere Hauptetappe nach der Entstehung des Lebens und in der Entwicklung des Menschen war. Im Neolithikum begann das Seßhaftwerden und dessen sämtliche Folgewirkungen. Und diese Entwicklung ist noch keineswegs abgeschlossen, sondern geht immer weiter! Sie folgt aber jetzt einer Doppeltendenz: Einerseits ist es die "Über-Sozialisierung" in Richtung "Global Village", andererseits in Richtung "Über-Individualisierung", als eine Reaktion darauf. Einerseits kommunizieren wir mit der ganzen Welt, anderseits lebt jeder eingeschlossen in seinen eigenen vier Wänden mit seinem Fernsehapparat und kennt nicht einmal den Namen seines Nachbarn. Und wie sollen wir diese beiden konträren Tendenzen in unsere Erziehung miteinbeziehen?

Eine weitere Herausforderung ist die Kommunikation. Wir haben es heute zu tun mit Satellitenfernsehen, Videotechnik, Fax und allen Arten vonTelekommunikationsmitteln. Wir kommunizieren mit der ganzen Welt. Das Internet überhäuft uns mit hunderttausend Informationen. Wie können wir diese große Masse an Informationen schlucken, die täglich auf uns einströmt? Und auch das ist eine Herausforderung, mit der die Erziehung heute fertig werden muß.

Eine weitere Herausforderung ist der kulturelle Pluralismus oder die multikulturelle Gesellschaft, von der so viel die Rede ist. In unserer Zeit vermischen sich die Kulturen miteinander, lehnen sich gegenseitig ab, prallen aber aufeinander und wir, die wir gewohnt an eine bestimmte Lebensart waren, müssen jetzt umdenken. Die Migrationsströme, die nicht nur Europa betreffen, sondern die gesamte Welt, die kulturelle Invasion, die uns auch über das Fernsehen erreicht, zeigt uns japanische, amerikanische, afrikanische, arabische Modelle, und natürlich auch europäische. Aber wohin wird das führen, zu einer Weltkultur? Oder wird jeder an seiner nationalen Kultur festhalten wollen? Und dann die europäische Herausforderung. Was sehen wir für ein Modell für uns? Wie wird das Europa der Zukunft aussehen? Werden wir uns an das amerikanische Beispiel halten mit einer einzigen Kultur und einer einzigen Sprache? Welche Sprache? Oder wird jeder an seiner Sprache festhalten wollen? Oder wird man sogar noch weiter gehen und Regionalsprachen und Dialekte anhängen wollen? Das ist das große Problem der Identität! Wer bin ich eigentlich? Ein Österreicher, ein Ägypter oder ein Europäer? Und wenn Europäer, was heißt das? Das sind sehr wesentliche Probleme, die auch die Schulerziehung von morgen betreffen. Welche Kultur brauchen wir morgen?

Und last but not least geht es um den Zusammenbruch der absoluten Werte. Um den Verlust der Bezugspunkte. Existiert Gott? Und wenn eine Religion, dann welche? Es gibt ja so viele: Buddhismus, Islam, die vielen Sekten. Warum das Christentum? Warum bin ich Christ? Wir stellen fest, daß eine Relativierung sämtlichen Sakralens eingetreten ist. Alles was unantastbar war und dem Leben einen Sinn gab, ist es heute nicht mehr. Wir können uns an nichts mehr halten, alles ist in Bewegung geraten. Marx, Lenin und der Kommunismus sind zusammengebrochen. Die Kirche, Jesus, die Bibel, alles ist ins Schwanken geraten. Und wohin es führen wird, weiß noch keiner. Der Islam, das Judentum, der Buddhismus sind vielleicht Religionen, die sich weiterentwickeln? Aber ein Jugendlicher oder ein Kind ist gefangen von diesem Cocktail der Religionen und vielen Kulturen, die angeboten werden. Es ist ein Überangebot, in dem alles als gleichwertig dargestellt wird, und man gerät in Panik. Was hat noch Halt? Was gibt noch Sinn? Was ist wahr? Was ist endgültig? Und meiner Meinung nach ist das die größte Herausforderung für die Erziehung. Das Problem des Sinns. Welchen Sinn hat mein Leben? Welchen Sinn hat mein Tod?

Und in dieser spirituellen Wüste, in dieser Sinnwüste, tauchen dann die Sekten auf und bieten Wunderlösungen an. Gurus, Bärtige oder auch nicht, geben Antworten auf alles und sagen uns wie wir denken sollen. Und diese Antworten erscheinen als allgemeingültige. Das ist für die gegenwärtige Erziehung ein sehr großes Problem, denn junge Menschen in ihrer Desorientiertheit stützen sich geradezu auf diese Sekten und ergeben sich. Und ich erinnere mich an ein Beispiel, wo ein junger, sehr intelligenter Mann aus Alexandrien sich für einige Monate in den USA aufgehalten hat und dort in die Hände der Moonsekte geraten ist. Moon hat alle möglichen Dinge zusammengemischt und daraus in komplizierten Worten ein kohärentes System, sein System gebaut. Und in der kurzen Zeit ist es der Sekte gelungen, diesen jungen Mann völlig einer Gehirnwäsche zu unterziehen, sodaß er völlig verändert und manipuliert nach Ägypten zurückgekehrt ist. Das stellt eine große Gefahr für die unsere Erziehung dar. Wir müssen uns fragen, welchen Menschentyp wollen wir durch unsere Erziehungsarbeit schaffen, daß er dann fähig ist, sich all diesen Herausforderungen, die ich aufgezählt habe, zu stellen.

"Einwurzeln"

Bevor man sich dem Universellen öffnet, gehört man einem bestimmten Land, einer bestimmten Kultur, Religion, Familie oder einem bestimmten Milieu an, denn universell heißt nicht, daß man alles sein will oder kann, sondern man soll zuerst man selbst sein. Und nur von diesem festgefügten Ausgangspunkt von meinem eigenen Sein, von meinem eigenen Dasein, kann ich mich dem Universellen öffnen. Das ist sehr wichtig, denn sonst sind wir verloren. Universalität bedeutet nicht, daß wir Yoga betreiben, Rock'n Roll tanzen, orientalische Tänze erlernen, viele Sprachen sprechen und die Welt bereisen, sondern wir brauchen einen zentralen Punkt in unserer eigenen Existenz.Wer sieben Sprachen spricht, muß noch nicht universal sein! Wir müssen verwurzelt sein als Menschen in unserer Vergangenheit, damit wir dann fähig sind, uns gegenüber der übrigen Welt zu öffnen. Das ist das Wesen des Baumes. Je tiefer seine Wurzeln in die Erde reichen, desto besser ist er fähig in die Höhe zu wachsen, größer und stärker zu werden und sich weit zu entfalten. Und das gilt auch für den Menschen. Je mehr ich in meiner ursprünglichen eigenen Identität verwurzelt bin, desto mehr bin ich fähig mich dem Universellen zu öffnen. Ein zentraler Punkt der Erziehung von morgen heißt: Den Menschen einwurzeln.

Es ist eine Illusion zu glauben, daß wir überall gleichzeitig sein können. Wir kommen von irgendwoher, jeder ist in einer bestimmten Situation, wie Heidegger sagt. Sie sind Österreicher, ich bin Ägypter, so ist es. Und mit meiner persönlichen Vergangenheit und meiner bestimmten Erziehung, bin ich das, was ich bin. Davon ausgehend kann ich mich öffnen. Jeder ist zuerst er selbst, sonst kommt es zu keinem wahren Dialog. Man kann die Richtung ändern, kann seine Religion wechseln, alles! Daher ist es außerordentlich wichtig für die Schule und Erziehung, daß man dem Schüler zuerst seine eigene Kultur vermittelt und ihn erst dann zur Öffnung anleitet. Dann soll man gewiß auch Sprachen lernen, andere Zivilisationen kennenlernen, sich für Geographie und Geschichte interessieren. In der Welt, in diesem "Globe of Village" müssen wir sehr viel wissen. Aber zuerst ist es notwendig, daß ein starker Kern vorhanden ist, ein Fels, und daß wir dem Kind ein gutes, menschliches Gleichgewicht geben. Das Gleichgewicht spielt eine wesentliche Rolle, denn das Kind hat heute nichts Festes mehr.

Die Familien sind am Zerfallen, oft sind die Väter abwesend und die Mütter arbeiten auch. Es gibt nur wenige Geschwister, wenn überhaupt, und sie sind verstreut, es gibt in der Familie keinen Zusammenhalt mehr. Es gibt viel Unsicherheit, die Kinder spüren das sehr genau und es wirkt sich auf sie aus. Auch das Fernsehen hat einen enormen Einfluß. Die Kinder gehen immer später schlafen. Als ich ein kleiner Bub war, mußte ich um 7 oder um 1/2 8 Uhr ins Bett. Aber heutzutage gibt es in Ägypten Kinder, die noch um 1/2 2 in der Früh vor dem Fernsehapparat sitzen. Wenn sie dann am nächsten Tag in die Schule kommen, sind sie ganz verschlafen und erschöpft oder sie sind übernervös und aggressiv. Daher ist es sehr wichtig, den Kindern ein gesundes Gleichgewicht zu vermitteln, als Gegengewicht zu den Reizen der heutigen Umwelt.

Und die Schule ist nun aufgefordert, alle diese Probleme zu lösen? Das ist keine leichte Aufgabe... Das ist eine Herausforderung an Sie alle, die Sie hier versammelt sind, Erzieher und Erzieherinnen, denn Sie müssen damit fertig werden. Die Schule muß einen Ersatz für die Familie bieten, einen Ersatz für die Gesellschaft, die sich aufzulösen droht. Das Kind soll in die Gesellschaft eingegliedert werden? In diesem Sinn müssen wir die Erziehung neu überdenken. Aber diese große Herausforderung soll uns nicht niederschlagen, sondern soll eine Anregung für uns sein. Wir sollen uns die Ärmel aufkrempeln und versuchen etwas zu erfinden! Und deshalb ist es so wichtig, daß Sie gemeinsam bei diesem Montessori-Kongreß überlegen, wie die Schule diese Rolle erfüllen könnte, denn auf den Lehrern lastet eine enorme gesellschaftliche Verantwortung.

Jedes Kind ist der Mikrokosmos eines Makrokosmos. Was soll das heißen? Jedes Kind oder eigentlich jeder Mensch stellt einen Mikrokosmos dar, der in ständiger Beziehung zum Makrokosmos, also zum gesamten Kosmos ist, der sich im ständigen Austausch mit ihm befindet, ich trage als Einzelner alles in mir, was der große Kosmos beinhaltet. Daher bin ich verantwortlich für das Ganze. Das sollte ja das Ziel einer jeden Erziehung sein, die Bürger von morgen verantwortlich heranzubilden, das Ziel jeder Erziehung! Und diese Bürger sollen nicht nur Österreicher oder Europäer, sondern Weltbürger sein und jeder von uns hat seine Rolle dabei zu spielen. Bereiten wir den Bürger von morgen vor. Wir müssen die Welt kennen, in der wir leben, und das Wesentliche an der Erziehung ist, die Kinder eine derartige globale umfassende Sicht zu lehren, ihnen sämtliche räumliche und zeitliche Dimensionen der Welt zu vermitteln. Denn ich kann ein Glas Wasser nicht verstehen, wenn ich nicht mehr vom Kosmos verstehe, vom Mars, von der Milchstraße, den Galaxien, den verschiedenen Kontinenten, von Adam und Eva (wenn es sie gegeben hat), von Karl dem Großen, denn das Glas Wasser hat einen Bezug zum gesamten Universum. Und ich kann auch mich nicht verstehen, wenn ich nicht eine Gesamtsicht von der Welt habe.

Einheit in der Ganzheit

Deshalb ist es notwendig, daß wir bei der Erziehung den Kindern vor allem den Geist der Synthese vermitteln. Sie sollen die Einheit in der Ganzheit erfassen. Sie sollen eine Achse in der Bewegung erkennen, den Mittelpunkt im Kreis. Teilhard de Chardin (1881 - 1955), als dessen Jünger ich mich ansehe, war für mich die große Entdeckung in meinem Leben. Es ist meines Wissens der Einzige, dem es gelungen ist, zu einer globalen, universellen und verständlichen Sicht des Universums zu gelangen. Es ist ihm gelungen Astrophysik, Physik, Geschichte, Soziologie, Philosophie und Mystik etc. miteinander zu vereinen und mit diesem Schlüssel wunderbar die Welt zu eröffnen. Er hat bei vielen Begeisterung ausgelöst, weil ihm diese einheitliche Sicht der Welt gelungen war. Denn der Mensch kann nicht fragmentiert, aufgesplittert, in einer auseinandergebrochenen Welt leben, so wie es der Fall ist. Es ist notwendig, daß wir die Gesamtheit verstehen, und die Philosophie kann uns dabei helfen von der Komplexität zur Einfachheit vorzudringen. Und was unserer heutigen Erziehung ganz besonders fehlt, das ist die Philosophie.

Gerade wenn die Welt von Technik und Wissenschaft beherrscht wird, ist es notwendig einen Ausgleich zu schaffen und diese Diktatur gelegentlich zu brechen, etwas anderes zu finden, um ein Gleichgewicht zu schaffen. Wir haben heutzutage soviele Experten und Fachleute in Elektronik oder Nuklearphysik und nicht mehr nur Nuklearphysik, sondern sie sind für einen ganz bestimmten Teilbereich zuständig. Es ist eine Hyperspezialisierung. Früher hatten wir Ärzte. Dann gab es die Fachärzte. Aber jetzt gibt es nicht einmal mehr Fachärzte, sondern ganz besondere Fachärzte. Nicht mehr Kardiologen, sondern welche die auf nur eine ganz bestimmte Herzklappe spezialisiert sind ...(Gelächter), und die Gefahr besteht dabei, daß die Fachgebiete immer enger gezogen werden und die Gesamtsicht verloren geht. Und unsere große Gefahr ist es, nur noch Superspezialisten heranzuzüchten. Ein Spezialist kann sein Fachgebiet nur dann verstehen, wenn er es innerhalb der Gesamtheit situiert. Denn die Welt ist etwas Einheitliches. Universum, da steckt das Wort "eins" drinnen. Die Welt gehorcht einem einzigen Gesetz und wenn wir das verstanden haben, dann können wir auch ein Glas Wasser, Herzklappen, Computer zusammengenommen verstehen. Denn es gibt zwischen sämtlichen Realitäten auf der Welt Analogien, Entsprechungen, Beziehungen und alles läßt sich reziprok durch alles erklären.

Was wir für morgen brauchen, ist also einerseits eine feste Grundlage, eine Allgemeinbildung, das ist unerläßlich! Und was bei dieser Allgemeinbildung drinnen sein soll, darüber müssen wir nachdenken. Es darf nicht zu viel und nicht zu wenig sein. Wir werden noch darauf zu sprechen kommen. Dann müssen wir uns natürlich auch mit der Spezialisierung auseinandersetzen. Unsere Welt ist so komplex und wir brauchen Fachleute. Ich bin auch nicht dagegen, das ist gar nicht möglich. Alle technischen und medizinischen Errungenschaften gehen darauf zurück. Aber es ist sehr schwierig, hier den richtigen Ausgleich zu finden.

Man hat lange Zeit hindurch geglaubt, daß die Humanisten der Renaissance, das französische Modell des "Weltmenschen" des 17. Jahrhunderts oder ein Universalgenie wie Goethe (1749 - 1832), veralterte Muster darstellen. Denn damals war es noch möglich, eine globale Sicht der Welt zu haben und das ist nun nicht mehr der Fall. Aber in Wirklichkeit sind diese Modelle nicht veraltet. Humanismus muß nach wie vor die Grundlage bleiben, der harte Kern. Die Allgemeinbildung ist unbedingt notwendig, sonst ist kein Fortschritt in der Welt möglich. Um ihnen ein Beispiel zu geben, wie geht ein Erfinder vor? In Amerika, in Boston, am MIT ("Massachusetts Institute für Technologies") bezahlt man Wissenschaftler mit 20 - 30.000 $ fürs Nichtstun. Sie tun überhaupt nichts. Sie gehen spazieren, sie denken nach, sie träumen, und dann plötzlich haben sie eine Eingebung! Erfinden heißt, daß man lange Zeit hindurch den Geist einfach frei schweifen läßt und Beobachtungen anstellt über eine Blume, ein Kind, einen Stein und dann kommt es zur Erleuchtung, man findet eine neue Theorie. Wie hat Newton das Gesetz der Schwerkraft entdeckt? Er hat sich hingesetzt und beobachtet, wie ein Apfel von einem Baum herunterfällt, das ist ja gar nicht kompliziert. Erfinden heißt, Beziehungen herstellen zwischen anscheinend weit entfernten Realitäten.

Einerseits also diese globale Sicht, andererseits die Notwendigkeit des Zeithabens, des Nachdenkens, Bewunderns, Zeit zum Betrachten haben. Sie werden mir aber sagen, das ist ja gerade das, woran es uns am meisten mangelt, niemand hat noch Zeit. Aber wir müssen uns einfach Zeit nehmen. Jeder von uns sollte am Tag eine Stunde haben, in der er nachdenkt, meditiert, nicht unbedingt religiös oder spirituell. Aber man muß dem Geist Raum lassen, das braucht er. Er braucht die Stunts. Heute ist es oft so, daß wir nicht genug Abstand gewinnen zum Nachdenken, nicht genug Abstand haben zu uns selbst. Es ist wie eine Betrachtung im Spiegel, nur in einer gewissen Distanz kann man sich erkennen. Und das ist eine Gefahr, die ich bei der Montessori-Methode sehe. Ich bin keineswegs dagegen, ganz im Gegenteil! Aber vielleicht legt diese Methode ein bißchen zu viel Wert auf das pulsierende Leben und auf die Spontanität und läßt nicht diese geistige Distanz gewinnen, diese Reflexion. Ich stelle mir diese Frage. Früher war die Erziehung sicherlich viel zu zerebral und intellektuell ausgerichtet. Aber nun ist die moderne Erziehung auf das sinnliche, physische Erlebte ausgerichtet und läßt vielleicht die Distanz zu dem Erlebten in den Hintergrund treten. Das was ich vorerst als Philosophie oder als Reflexion bezeichnet habe. Und das ist mindestens genau so wichtig, um zu einem Gleichgewicht und zu einer globalen Sicht zu gelangen.

Ich glaube, ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, daß die Österreicher an dieses Gleichgewicht herankommen. Sie sind zwischen dem östlichen und westlichen Teil unserer Welt angesiedelt. Sie sind keine Deutschen, aber auch keine Italiener. Der Orient beginnt in Österreich, und ich finde es sehr interessant, wie man in Österreich die Werte des Herzens und die Werte des Verstandes zu einer recht guten Synthese und Harmonie gebracht hat. Und das ist die österreichische Identität. Man muß sich dessen bewußt sein. Es sind die verschiedensten Komponenten, die verschmolzen werden zu einer Einheit. Denn es ist nicht gut, wenn jemand zu intellektuell oder zu affektiv reagiert, oder triebgeleitet, und in der Erziehung wäre es das Ziel, zu diesem harmonischen Menschen zu gelangen, bei dem Körper, Gemüt und Intelligenz vereint sind und eine integrale Persönlichkeit bilden.

Eine Frage ist nun, wie wir auf diesen gewaltigen Informationsfluß reagieren. Was soll man lesen? Was soll man im Fernsehen anschauen? Es gibt schon 50 Kanäle und die Gefahr ist, daß wir durch die Kanäle surfen und schließlich überhaupt nichts mehr gesehen haben, und demnächst wird es 150 Kanäle geben. Man bleibt an der Oberfläche - auch beim Durchblättern der Zeitschriften - und das Problem ist, daß man von diesem Überangebot geradezu erschlagen wird. Hier ist eine große Disziplin notwendig. Wir müssen uns auf einige wenige Autoren, einige wenige Programme, einige wenige Filme beschränken. Denn es ist nicht mehr möglich, alles zu sehen oder alles zu wissen. Und dann noch ein Rat: Lernen Sie gut mit dem Computer umzugehen. Computer sind die Instrumente von morgen. Dadurch wird es möglich, das Wissen ständig verfügbar zu haben und abzurufen, das Wissen, das in sämtlichen Bibliotheken der Welt vorhanden ist. Wenn Sie etwas wissen wollen über Leonardo da Vinci oder Ramses II. genügt es, es mit dem Computer abzurufen. Oder über Einsteins Relativitätstheorie. Der Mensch hat nur einen kleinen Kopf, da paßt nicht alles hinein. Deshalb hat der Herr die Computer erschaffen, um das Wissen der Menschheit dorthin auszulagern. Trotzdem müssen wir das Wichtigste auswählen lernen. Und dafür muß schon das Kind trainiert werden. Sein Wille muß ausgebildet werden, dies ist ein wesentlicher Teil der Erziehungsarbeit.

Beim Kind, dem Menschen von morgen, müssen wir den Willen fördern. Erziehung darf nicht nur Wissensvermittlung sein, darf nicht nur Kontakt mit den Dingen der Welt sein, sondern sie muß dem Kind vermitteln, daß es wollen kann, daß es Disziplin einhalten kann. Das ist es, was heute vernachlässigt wird. Das ist auch die Gefahr der aktiven Methoden, wie Montessori, daß die Spontanität weiterentwickelt wird, aber die Disziplin in den Schatten gerät. Nicht alles am Menschen ist spontan. Es ist notwendig, eine Disziplin des Körperlichen, eine Disziplin der Zeit, eine Disziplin des Handelns und eine Disziplin des Lebens zu vermitteln. Es ist notwendig zu vermitteln, daß man nicht nur wollen muß, sondern auch können muß. Wollen und Können gehören zusammen.

Diese Disziplin, von der ich gesprochen habe, ist eine Art Askese. Was die Technik für die physische Welt bedeutet, das bedeutet die Askese für das Individuum. Die Askese ist die Fähigkeit, alle Anlagen und Talente zu mobilisieren. Denn sonst haben Talente und Intelligenz keinen Sinn und kommen nicht zum Tragen, können nicht optimal verwertet werden. Daher braucht die physische Welt die Technik. Denn gute Ideen nützen nichts, wenn sie nicht verwirklicht werden und ein Mangel an Willen das verhindert.

Und noch ein Zweites: die Methode! Wir müssen den Kindern einen Sinn für Methode und Organisation geben. Ich kann mich noch erinnern, als wir klein waren, hatten wir zu Hause ein Zimmer, in dem die Schulaufgaben gemacht wurden. Und mein Vater hatte dort große Plakate an die Wände gehängt, auf einem stand: "Ein Platz für jede Sache und jede Sache an ihren Platz." Das erscheint an sich als etwas Selbstverständliches, ist es aber eigentlich nicht. Denn viele Menschen haben eine derartige Unordnung, daß sie nichts schaffen können. Die gesamte Evolution war eigentlich nur möglich, weil immer mehr Mechanismen und Organisationsformen entwickelt wurden, die dazu geführt haben, daß eine höhere Synthese herausgekommen ist, und das sollte unsere Erziehung inspirieren - die Fähigkeit, den Kindern Methode, Ordnung und Organisation zu vermitteln.

Ich habe einen Artikel von der Universität Chicago, wo ich früher Psychologie studiert habe, der besagt, daß außergewöhnliche Bedingungen und nicht außergewöhnliche Talente etwas Besonderes hervorbringen. Wir sind alle potentielle Genies, und wir müssen nur die Fähigkeit entwickeln, zu einem bestimmten Zeitpunkt alle unsere physischen, intellektuellen und affektiven Kräfte zu mobilisieren. Eine bestimmte Methode im Denken und Handeln führt dann zu außergewöhnlichen Resultaten. Große Künstler sind oft nicht die, die besonders viele Mittel zur Verfügung haben, sondern wenige, diese aber in ganz bestimmten Konditionen voll einsetzen. Diese Fähigkeit sollten wir auch bei Kindern entwickeln. Das Genie ist nicht notwendigerweise das Resultat einer außergewöhnlichen Begabung, sondern es muß entzündet werden.

Die Erziehung sollte dem Kind vor allem eine innere oder spirituelle Dimension vermitteln. Einen Sinn für Gott, gleich welcher Religion. Denn im Kind, im Menschen, ist ein Bedürfnis nach dem Absoluten vorhanden und wenn das nicht befriedigt wird, dann herrscht eine große Leere, die auf einen Mangel in der Erziehung zurückzuführen ist. Das Kind hat ein Recht auf Innerlichkeit, sagt Pierre Delooz. Und wir sollten darüber nachdenken, wie wir diese Dimension der Innerlichkeit in unsere Erziehung miteinbeziehen können.

Ich schließe mit einer Meditation:

Heilige Aufgabe

Herr, Du hast uns das Wertvollste anvertraut, die Kinder, und so wie diese Kinder sich entfalten, so wird sich die Welt von morgen entfalten. Gib, daß wir uns dieser Verantwortung bewußt sind, gib, daß wir sie als eine heilige Aufgabe verstehen, als die heilige Aufgabe par excellence, heilig wie ein Priesteramt! Gib, daß wir uns in großem Ernst auf sie vorbereiten und unser Herz daran beteiligen, denn, es ist das Ziel dieser Aufgabe, den Menschen zu schaffen, so wie Du ihn erschaffen hast durch langsames und inniges Formen, um ein einzigartiges Gesicht hervortreten zu lassen, das eine einmalige Persönlichkeit verrät. Und aus diesem Menschengesicht soll wiederum Deines hervortreten, denn Du hast uns Dein Antlitz in unsere Tiefe gesenkt. Gib uns Erziehern die Fähigkeit, daran mitzuwirken, daß es überall aufscheinen werde, in den Kindern, in den Erwachsenen, als eine Epiphanie Deiner Gegenwart in unserer Welt. Amen.

Zur Person:

Pater Henri Boulad

Geb. 1931 in Alexandria (Ägypten), studierte Theologie im Libanon, Philosophie in Frankreich und Psychologie in den USA. Seit 1967 umfangreiches apostolisches Wirken in Ägypten. Seit 1985 Leiter der Caritas Ägypten, seit 1991 von Nordafrika und dem Mittleren Osten sowie Vizepräsident der Welt-Caritas.

Quelle:

Henri Boulad: Globale und integrale Sicht der Erziehung - Botschaften an Menschen, die mit Kindern in Beziehung sind

Erschienen in: Mit Kindern wachsen, NÖ Montessori-Werkstatt 18.-20. April 1996, Emmersdorf an der Donau, NÖ Schriften 101/Dokumentation, Neulengbach, Dezember 1997, ISBN 3-85006-093-4

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 10.05.2005

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