Selber schuld! Vorurteile und psychische Erkrankung

Autor:in - Martin Böhm
Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Orientierung, 4, 29-31.
Copyright: © Martin Böhm 2016

Abstract

Martin Böhm zeigt auf, mit welchen Vorurteilen Menschen mit einer psychischen Erkrankung im Alltag zu kämpfen haben und was die Folgen von Vorurteilen und Stigmatisierung für die weltweit 450 Mio. Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, sind.

Selber schuld! Vorurteile und psychische Erkrankung

Derzeit leben weltweit rund 1 Milliarde Menschen mit einer Behinderung, d.h. jeder siebte Mensch hat eine Behinderung (vgl. WHO 2011). Ihre gesellschaftliche Stellung ist interkulturell sehr unterschiedlich und innerhalb der Gesellschaft stark von der herrschenden Normen- und Wertestruktur abhängig (vgl. Cloerkes 2001, 74f.). Mit dem Beschluss der UN-Behindertenrechtskonvention[1] rückte die Forderung der sozialen Inklusion behinderter Menschen in alle gesellschaftlichen Bereiche in den Mittelpunkt. Anstelle des personen- und defizitorientierten medizinischen Modells (Behandlung) stand nun der Fokus der Behindertenpolitik vermehrt auf dem gesellschafts- und ressourcenorientierten sozialen Modell (Unterstützung/Assistenz) von Behinderung. D.h. nicht das Individuum muss sich an die Gesellschaft anpassen, sondern die Umwelt und die Leistungen müssen an das Individuum angepasst werden. Aus dieser Perspektive entsteht Behinderung aus einer Wechselwirkung zwischen Menschen mit Behinderung und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren. Einstellungsbarrieren sollen durch den Abbau von Vorurteilen überwunden werden und umweltbedingte Barrieren durch Assistenz (vgl. Schulze 2011, 11).



[1] Die UN-BKR wurde am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York beschlossen und ist am 3. Mai 2008 in Kraft getreten.

Vorurteile potenzieren das Problem

Im folgenden Artikel liegt der Fokus auf Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Vorurteile (z.B. „gefährlich“, „selber schuld“) können für psychisch erkrankte Menschen schwerwiegende Folgen haben. Zudem wird diese Krankheit nach wie vor tabuisiert und oftmals als Randthema abgehandelt, obwohl sie in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist. Die psychische Erkrankung wirkt sich oftmals hemmend auf die Nutzung und Beanspruchung von Hilfe und Behandlung aus und begünstigt eine Chronifizierung der Krankheit.[2]

Eine Früherkennung und Vermeidung der Krankheit wird somit negativ beeinflusst (hierzu siehe u.a. Angermeyer 2003, 362). Cloerkes (2001, 76) definiert Vorurteile als „extrem starre, irrationale und negative Einstellungen, die sich weitgehend einer Beeinflussung widersetzen“. Im vorliegenden Artikel soll das Stigma von Menschen mit einer psychischen Erkrankung und dessen Auswirkung auf die Betroffenen näher betrachtet werden. Laut Cloerkes kann Stigma als ein „Sonderfall eines sozialen Vorurteils“ definiert werden und es „meint die Zuschreibung bzw. die negative Definition eines Merkmals oder einer Eigenschaft“ (Cloerkes 2001, 76)



[2] Bei der von Schulze et al. (2009) durchgeführten Studie gaben 52,6 Prozent der Befragten an, dass Vorurteile ihre Genesung beeinträchtigten (vgl. Schulze et al. 2009, e22).

Ablehnung steigt trotz Aufklärung

Menschen mit einer psychischen Erkrankung müssen einerseits die Symptome der Krankheit selbst bewältigen (z.B. Depressionen, Wahnvorstellungen, Angstzustände etc.) und andererseits haben sie mit dem Stigma der Krankheit und dem stigmatisierenden Verhalten der Gesellschaft zu kämpfen (vgl. Rüsch 2005, 221). Eine von der Universität Greifswald 2011 (Angermeyer et al. 2013) durchgeführte Studie befragte 3.600 Menschen zu ihren Einstellungen gegenüber Menschen die an Schizophrenie, Depression und Alkoholismus erkrankt sind. Verglichen mit der 1990 durchgeführten Studie ergibt sich hinsichtlich der sozialen Distanz, also der Bereitschaft mit den Betroffenen in alltäglichen Situationen umzugehen, ein unterschiedliches Bild bei den genannten Krankheiten. Während sich hinsichtlich der Depression vereinzelt Verbesserungen (z.B. die Befragten zeigten mehr Mitleid und Hilfsbereitschaft) ergaben, hat sich die Einstellung der Bevölkerung gegenüber an Schizophrenie erkrankten Menschen deutlich verschlechtert.[3]

Bei allen sieben gestellten Fragen zeigte sich eine eindeutig negative Entwicklung. So stieg zum Beispiel der Anteil derjenigen, die es ablehnten jemanden der an Schizophrenie erkrankt ist, für einen Job zu empfehlen, von 44 Prozent auf 63 Prozent. Die Zusammenarbeit mit einem an Schizophrenie erkrankten Menschen lehnten 31 Prozent ab. 1990 waren es 20 Prozent. Das Bedürfnis nach sozialer Distanz bei Schizophrenie ist somit von 1990 zu 2010 deutlich gestiegen.

Die größte Ablehnung innerhalb dieser drei Krankheiten erfahren jedoch nach wie vor die Alkoholabhängigen. Im Gegensatz zur Schizophrenie sind hier vereinzelt auch leichte positive Veränderungen in der Einstellung der Bevölkerung zu den Betroffenen zu verzeichnen. Allgemein ist jedoch die Ablehnung der Befragten gegenüber Alkoholkranken mit mindestens 30 Prozent bei den einzelnen Fragen sehr hoch. Zum Beispiel lehnten es 60 Prozent der Befragten ab, Alkoholabhängige einem Freund vorzustellen. 66 Prozent lehnten es ab, Alkoholkranke für einen Job zu empfehlen und 61 Prozent möchten sie nicht als Untermieter haben.

Ein weiterer Aspekt der Befragung war es zu erfragen, welche Krankheitsauslöser bei den einzelnen Krankheiten vermutet werden und wie sich diese im angeführten Zeitverlauf geändert haben. Hier kann zusammenfassend festgehalten werden, dass, wenn die Andersartigkeit des Betroffenen mit einem rein biologischen Krankheitsverständnis betont wird, die Ablehnung steigt (vgl. Angermeyer et al. 2013, 148f.). Zu ähnliche Ergebnisse kamen auch Grausgruber et al. (2009) im Laufe ihre Evaluierung der österreichischen Anti-Stigma-Kampagne 2000-2002. Sie wollten 5 Jahre nach Beendigung der landesweiten Kampagne erfahren, wie sich die Einstellungen gegenüber Schizophrenie in der Bevölkerung verändert haben. Neben der Tatsache, dass die durchgeführte Kampagne kaum in Erinnerung blieb, berichten sie auch davon, dass 64,1 Prozent der Befragten im Jahr 2007 der Meinung waren, dass von an Schizophrenie erkrankten Menschen eine Gefahr ausgehe. Im Vergleich zu 1998 vergrößerte sich die soziale Distanz zu dieser Gruppe somit signifikant.[4]

Nach den Schlussfolgerungen von Grausgruber et al. kann die Meinung der Bevölkerung durch eine nur für kurze Zeit durchgeführte Öffentlichkeitsarbeit kaum verändert werden (detaillierte Ausführungen hierzu siehe unter Grausgruber et al. 2009). Generell sind das Wissen und die Aufgeschlossenheit bezüglich psychiatrischer Krankheiten in den letzten Jahren gestiegen. In der Darstellung der Krankheiten und der Verbreitung des Wissens kommt vor allem der medialen Berichterstattung eine bedeutende Rolle zu.



[3] Während positive Reaktionen wie Mitleid und Hilfsbereitschaft abnahmen, nahm die Furcht vor den Betroffenen zu (vgl. Angermeyer et al. 2013)

[4] Größere Gefährlichkeit von Schizophrenie kranken (ja) (1998; n=1042; 55,0%); (2007; n=998; 64,1%) (vgl. Grausgruber et al. 2009, 329).

Germanwings-Absturz

Nachdem am 24.3.2015, durch den vom Kopiloten vorsätzlich herbeigeführten Absturz des „Germanwings“-Flugzeugs, alle 149 Insassen und der Kopilot selbst ums Leben gekommen waren, wurde in der öffentlichen medialen Berichterstattung eine Diskussion um die indirekt häufig gestellte Frage, inwieweit hier Verbrechen und eine psychiatrische (depressive) Erkrankung zusammenhängen, entfacht. Im Fokus der Berichte stand die Frage nach dem „Warum?“ dieser Tat. Bereits nach den ersten Hinweisen, wonach der Kopilot den Absturz des Flugzeugs bewusst herbeigeführt habe, fokussierte die mediale Berichterstattung auf eine psychische Erkrankung als mögliche Erklärung für das Verbrechen.[5] (vgl. Von Heydendorff & Dreßing 2016, 134; Von dem Knesebeck et al. 2015). In einer Studie analysierten nun Von Heydendorff und Dreßing (2016) in dem Zeitraum von 24.3.2015 bis zum 30.6.2015 in ausgewählte Medien retrospektiv sämtliche Artikel, Kommentare und Meldungen zu diesem Thema. Ziel der Studie war es zu überprüfen, ob es im Zuge der Berichterstattung zum Absturz der Germanwings-Maschine möglicherweise zu stigmatisierenden Effekten[6] für Menschen mit einer psychischen Erkrankung gekommen ist. Für diese Studie unterteilten die Autoren die mediale Berichterstattung in die Rubriken „riskante Berichterstattung“[7] und „explizite Stigmatisierung“[8]. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass 64,1 Prozent von den 251 ausgewerteten Texten als „riskante Berichterstattung“ zu werten sind. Mindestens eine explizite Stigmatisierung fand sich in 31,5 Prozent der Texte (vgl. Von Heydendorff & Dreßing 2016, 134f.):

  • Im Zuge des „Germanwings“-Absturzes kam es zu einer riskanten Berichterstattung mit möglicherweise stigmatisierenden Effekten für psychisch kranke Menschen.

  • Besonders die kausale Verknüpfung zwischen Verbrechen (dem Absturz) und einer möglichen psychiatrischen Erkrankung des Kopiloten ist aus psychiatrischer Sicht problematisch.

  • Eine konsequente Einhaltung journalistischer Richtlinien und das Einholen fachlicher Expertise vor Veröffentlichungen könnten nicht intendierte Stigmatisierungen zukünftig verringern. Die von den Medien konsultierten Experten sollten mögliche stigmatisierende Effekte ihrer Aussagen selbstkritisch hinterfragen. (Von Heydendorff & Dreßing 2016, 139).



[5] Zahlreiche Fachleute aus der Psychiatrie sahen sich gezwungen die mediale Stigmatisierung psychisch Kranker durch die Berichterstattung zu kritisieren (vgl. Von Heydendorff & Dreßing 2016, 134).

[6] Die Autoren verstehen nachfolgend unter Stigmatisierung eine Zuschreibung von Merkmalen, die diskreditierend sind, woraus für die Betroffenen im privaten oder beruflichen Leben schwerwiegende Nachteile entstehen können (vgl. Von Heydendorff & Dreßing 2016, 135).

[7] „Als riskante Berichterstattung werden kausale Verknüpfungen zwischen psychischer Krankheit und kriminellem Verhalten subsumiert, wenn diese nicht in einen erklärenden Kontext gestellt werden und insoweit Befürchtungen fördern könnten, dass psychisch Kranke gefährlich und kriminell sind.“ (Von Heydendorff & Dreßing 2016, 135).)

[8] „Explizit meint, dass eine Stigmatisierung in einem Text offensichtlich erkennbar und für den Leser somit eindeutig identifizierbar ist. Explizite Stigmatisierungen können sowohl stilistisch-formalen (Dramatisierungen/Wertungen) als auch inhaltlichen (Behandlungshürden/Kriminalität/ Berufliche Einschränkungen) Charakter haben.“ (Von Heydendorff & Dreßing 2016, 135).)

Stigmatisierungen

Für die Betroffenen können, wie bereits oben angeführt, Stigmatisierungen weitreichende negative Folgen haben. Verfolgt man die derzeitigen Zunahmen von Krankschreibungen aufgrund einer psychischen Erkrankung (hierzu u.a. Institute for Health Metrics and Evaluation 2013), dann kann man die Zahlen, u.U. auch als wachsende Bereitschaft sich zu einer psychischen Erkrankung zu bekennen und sich behandeln zu lassen, lesen. Dies könnte im Kampf gegen Vorurteilen hilfreich sein (vgl. Bock 2014, 121).

Antistigma Kampagne „City of Respect

Als ein Beispiel für eine Antistigma Kampagne kann das seit 2008 vom KunstRaum Goethestraße xtd. der pro mente initiierte und realisierte Projekt „City of Respect“ genannt werden. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt mittels künstlerischen Inszenierungen im öffentlichen Raum, Workshops und Give Aways nachhaltige Erlebnisse und Erfahrungen zum Thema „Respekt“ im Alltag zu schaffen. Mit Sommer 2016 wird nun auf das Thema über einen Zeitraum von einem Jahr mittels einer groß angelegten Kooperation mit Linz AG LINIEN und Friedenstadt Linz und einer Kommunikationskampagne in den Straßenbahnen, Bussen, Bushaltestellen, via Social Media, Workshops und Projekten aufmerksam gemacht. „City of Respect“ stellt die Frage "Was ist Respekt für dich…" und sammelt zudem auch die Antworten und Meinungen und diskutiert sie im Stadtraum (vgl. pro mente 2016).

Vielleicht kann das Projekt dadurch, dass es die Frage stellt „Wie wollen wir zusammenleben?“ und das Thema „Respekt“ von einer breiten Kooperation getragen in allen gesellschaftlichen Bereichen diskutiert wird, helfen, Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen abzubauen und ein respektvolles Miteinander zu schaffen. Wir werden es sehen!

Literaturverzeichnis

Angermeyer M. C., Matschinger H. & Schomerus G. (2013). Attitudes towards psychiatric treatment and people with mental illness: changes over two decades. In: The British Journal of Psychiatry, 203, 146-151.

Angermeyer M. C. (2003). Das Stigma psychischer Krankheit aus der Sicht der Patienten – Ein Überblick. In: Psychiatrische Praxis, 30, 358-366.

Bock T. (2014). Wird die Menschheit kränker oder die Krankheit menschlicher? In: Psychiatrische Praxis, 41, 121-123.

Cloerkes, G. (2001): Soziologie der Behinderten – Eine Einführung. 2. Aufl. Heidelberg.

Grausgruber A., Schöny W., Grausgruber-Berner R., Koren G., Apor B. F. Wancata J. & Meise U. (2009) . „Schizophrenie hat viele Gesichter“ - Evaluierung der österreichischen Anti-Stigma-Kampagne 2000-2002. In: Psychiatrische Praxis, 36, 327-333.

Institute for Health Metrics and Evaluation (2013). The Global Burden of Disease: Generating Evidence, Guiding Policy.Seattle, WA: IHME.

Pro mente OÖ (2016). Startschuss zur Kampagne „City of Respect“. Verfügbar unter: http://pmooe.at/sitex/index.php/page.7/action.view/entity.detail/key.1695/ (15.07.2016).

Rüsch N., Angermeyer M. C. & Corrigan P. W. (2005). Das Stigma psychischer Erkrankung: Konzepte, Formen und Folgen. In: Psychiatrische Praxis, 32, 221-232.

Schulze, M. (2011): Menschenrechte für alle: Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In: Flieger, P./Schönwiese, V. (Hg.): Menschenrechte – Integration – Inklusion. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 11-25.

Schulze B., Stuart H. & Riedel-Heller S. G. (2009). Das Inventar Subjektiver Stigmaerfahrungen (ISE): Ein neues Instrument zur quantitativen Erfassung subjektiven Stigmas. In: Psychiatrische Praxis, 36, e19-e27.

Von dem Knesebeck O., Mnich E. , Angermeyer M. C., Kofahl C. & Makowski A. (2015). Changes in depression stigma after the Germanwings crash – Findings from German population surveys. In: Journal of Affective Disorders, 186, 261-265.

Von Heydendorff S. C. & Dreßing H. (2016).
Mediale Stigmatisierung psychisch Kranker im Zuge der „Germanwings“-Katastrophe. In: Psychiatrische Praxis, 43, 134-140.


WHO (2011): World Report on Disability, Verfügbar unter: http://www.who.int/disabilities/world_report/2011/report.pdf (03.05.2016).

Quelle

Martin Böhm: Selber schuld! Vorurteile und psychische Erkrankung. Erschienen in: Orientierung, 4, 29-31

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 05.02.2018

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