Armut und Behinderung

Eine Betrachtung aus sozialstruktureller Perspektive

Autor:in - Martin Böhm
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Sozialpädagogische Impulse. Nr.: 3/2016, Thema: Armut
Copyright: © Martin Böhm 2016

Abstract:

„Behindert wird vor allem der, der arm ist, und wer behindert ist, wird arm.“ (Jantzen 1974, S. 127, zit. nach Cloerkes 2001, S. 72)

Armut und Behinderung

Eingangsbereich eines Arbeitsmarkt Service Gebäudes.

Bereits 1974 formulierte Jantzen die Wechselwirkung zwischen Armut und Behinderung mit der provokanten These: „Behindert wird vor allem der, der arm ist, und wer behindert ist, wird arm.“ (Jantzen 1974, S. 127, zit. nach Cloerkes 2001, S. 72) In der Vergangenheit wurde diese zwar in vielerlei Hinsicht widersprüchlich und kontrovers diskutiert (siehe hierzu u.a. Hollenweger 2003), jedoch durch diverse Studien bestätigt (zB. Maschke 2008, S. 115ff.; Robert Koch-Institut 2014; Weiß 2010; Dannenbeck 2012; Statistik Austria 2015, S.7). Generell muss aber davor gewarnt werden, Menschen mit Behinderung pauschal als arm und ausgegrenzt zu sehen (vgl. Maschke 2008, S.69; Hollenweger 2003), jedoch gehört Behinderung zu den größten Risikofaktoren für Armut und soziale Ausgrenzung (vgl. Europäischer Rat 2004, S.35). Hinsichtlich sozialer Exklusion und Stigmatisierung trifft dies für alle Klassen und Schichten zu (vgl. Maschke 2007, S.299). Weltweit leben rund eine Milliarde Menschen mit Behinderung. In Österreich sind dies im Alter von 16 bis 64 Jahren ca. 1,7 Millionen (vgl. BMASK 2009, S.9). Generell ist die Datenlage zu Menschen mit Behinderung in Österreich sehr dürftig. Dies liegt u.a. daran, dass einerseits die Gruppe der Menschen mit Behinderung sehr heterogen ist und andererseits eine einheitliche Definition von Behinderung fehlt. Menschen mit Behinderung sind in besonderer Weise von Arbeitslosigkeit und instabilen Arbeitsverhältnissen betroffen und oftmals gar nicht in einer Arbeitslosenstatistik erfasst. Somit wäre die Beschäftigungsquote heranzuziehen (vgl. Maschke 2008, S.87). Damit erhöht sich das Risiko von (akuter) Armut gefährdet sowie von prekären Lebensverhältnisse bedroht zu sein (vgl. WHO 2011). Hinsichtlich des Einkommens bedeutet dies, dass sich in den letzten Jahren die Zahl der Menschen mit Behinderung, die als arbeitslos vorgemerkt sind, laufend erhöht hat.

Rosner-Scheibengraf (2016) schreibt hierzu: „Die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Behinderung mit einem festgestellten Grad der Behinderung von 50 % oder mehr stieg von rund 4.700 im Jahr 2001 auf 12.000 im Jahr 2015 (ab 2010 inkludiert diese Zahl allerdings auch dem AMS bekannte Inhaber von Behindertenpässen). Die Gesamtarbeitslosigkeit in Österreich entwickelte sich dahingehend, dass im Jahr 2001 rund 203.900 Menschen und im Jahr 2015 rund 354.300 Personen arbeitslos gemeldet waren. Diese Zahlen belegen eine Steigerung um 74 %. Das heißt, dass die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung eineinhalb Mal so stark stieg wie die der nicht behinderten Menschen.“ (Rosner-Scheibengraf 2016, S.1)

Studienergebnisse

Eine Studie des WIFO und des AMS Österreich entwickelte anhand von Dauer und Häufigkeit von Arbeitslosigkeitsphasen sowie der Summe der in Arbeitslosigkeit verbrachter Zeit sieben Typologien von Arbeitslosen.

Infokasten: Unterschiedene Typen von Arbeitslosen

Personen, die im Fünfjahreszeitraum...

Personen, die im Fünfjahreszeitraum...

Typ 1

... (zum größten Teil) in Summe nicht mehr als ein Jahr (≤365 Tage) arbeitslos waren, nicht häufiger als dreimal und wenn, dann kurz (nie länger als 183 Tage).

Typ 2

... in Summe nicht mehr als ein Jahr (≤365 Tage) arbeitslos waren, nicht häufigerals dreimal, davon aber zumindest einmal länger als 183 Tage.

Typ 3

... in Summe nicht mehr als ein Jahr (≤365 Tage) arbeitslos waren, zum größten Teil nie länger als 183 Tage, aber häufiger als dreimal.

Typ 4

... in Summe mehr als ein Jahr (>365 Tage) arbeitslos waren, nie länger als 183 Tage, aber häufiger als dreimal.

Typ 5

... in Summe mehr als ein Jahr und bis zu 2,5 Jahre (366-914 Tage) arbeitslos waren, nicht häufiger als dreimal, davon aber zumindest einmal länger als 183 Tage.

Typ 6

... in Summe mehr als ein Jahr und bis zu 2,5 Jahre (366-914 Tage) arbeitslos waren, häufiger als dreimal und zumindest einmal länger als 183 Tage.

Typ 7

... in Summe mehr als 2,5 Jahre (>914 Tage) arbeitslos waren und zumindest einmal länger als 183 Tage.

Quelle: WIFO & AMS 2014, S.3.

Demnach sind 6,2% des Typs 7 Personen mit gesetzlichem Behindertenstatus, während dies bei allen von Arbeitslosigkeit betroffenen Personen nur 2,2% sind. Am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen sind die Typen 5 bis 7. Hier ist der Anteil gesundheitlich eingeschränkter Personen – nach gesetzlichem Behindertenstatus oder Behinderung gemäß AMS-Klassifikation – überdurchschnittlich hoch (vgl. WIFO & AMS 2014, S.60).

Tabelle 1: Arbeitslose (in %) nach Behindertenstatus, 16-65 Jahre, 2013 Anteil an der Grundgesamtheit aller 16- bis 65-jährigen Arbeitslosen in %

Typologie der Arbeitslosen / Absolutzahlen

Typ 1 (290.169)

Typ 2(085.171)

Typ 3(114.577)

Typ 4(088.368)

Typ 5(103.592)

Typ 6(105.642)

Typ 7(171.841)

Gesamt(959.360)

Typologie der Arbeitslosen / Absolutzahlen

Typ 1 (290.169)

Typ 2(085.171)

Typ 3(114.577)

Typ 4(088.368)

Typ 5(103.592)

Typ 6(105.642)

Typ 7(171.841)

Gesamt(959.360)

Keine Behinderung

96,7%

91,3%

95,6%

94%

83,7%

85,7%

65,8%

87,7%

Behinderung

3,3%

8,6%

4,4%

6,0%

16,3%

14,3%

34,2%

12,3%

davon nach AMS-Klassifikation

2,6%

6,9%

3,8%

5,1%

13,0%

12,2%

28,0%

10,1%

davon gesetzl. Behinderten-status

0,7%

1,7%

0,6%

0,9%

3,3%

2,1%

6,2%

2,2%

Entnommen aus: WIFO & AMS 2014, S.61.

Auch hinsichtlich Gesundheit und Einkommenssituation kann von einer wechselseitigen Beeinflussung gesprochen werden. So gaben bei einer Befragung 14% der Personen der unteren Einkommensgruppe an, dass sie durch eine Behinderung bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens stark eingeschränkt sind. Bei der Gruppe der mittleren Einkommensklasse sind dies 10% und in der oberen Einkommensklasse lediglich 5% (vgl. Statistik Austria 2015, S.7). Der Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischen Bedingungen und Behinderung ist bekannt; dies vor allem für die sogenannte Lernbehinderung. So kommen ca. 80 bis 90% der Menschen mit Beeinträchtigung und Behinderung aus sozial benachteiligten Familien (vgl. Cloerkes 2001, S. 69; Dannenbeck 2012, S.61). Vom Robert-Koch-Institut wurden 2014 die ersten Zahlen der KiGGS-Studie veröffentlicht. Demnach sind 12,4% der insgesamt 12.000 befragten Kinder und Jugendlichen zwischen null und 17 Jahren mit zusätzlichen massiven Beeinträchtigungen im sozialen und familiären Alltag konfrontiert (vgl. Robert Koch-Institut 2014). „Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigen sozialen Status sind häufiger von psychischen Auffälligkeiten betroffen“ und die „Diagnose ADHS [wird] dreimal häufiger als in Familien mit hohem Sozialstatus gestellt“ (Robert Koch-Institut 2014, S.2). Im Sinne des Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Behinderung gilt es die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen zu reduzieren, indem bei allen Fragen von Ausbildung und Beschäftigung auf spezielle Formen der Behinderungen geachtet wird, Modelle inklusiver Arbeit entwickelt und die integrativen Betriebe strukturell abgesichert werden sollen. Generell ist der Ausbau und die Qualitätssicherung von Unterstützungsstrukturen und Jugendcoaching zu forcieren (vgl. BMASK 2012, S.61ff.).

Profilfoto des Autors.

Mag. Martin Böhm

Jg. 1977; Studium der Soziologie, Ausbildung zum Dipl. Behindertenpädagogen; Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei pro mente OÖ, Abt. Qualitätsmanagement, Team „Forschung und Projekte“, Mitglied am Linzer Institut für qualitative Analysen (LIquA); Lehrender am Ausbildungszentrum für Sozialbetreuungsberufe, Linz.

Literatur

Cloerkes, G. (2001): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 2. Aufl. Heidelberg.

BMASK (= Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) (Hrsg.) (2009): Behindertenbericht 2008. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Wien.

BMASK (Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) (Hrsg.) (2012): Nationaler Aktionsplan Behinderung 2012-2020 – Strategie der österreichischen Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Online http://www.gemeinsam-einfach-machen.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/UN_BRK/nationaler_aktionsplan_oesterreich.pdf?__blob=publicationFile&v=1 [22.08.2016].

Dannenbeck, C. (2012): Wie kritisch ist der pädagogische Inklusionsdiskurs? In: Rathgeb, K. (Hrsg.): Disability Studies – Kritische Perspektiven für die Arbeit am Sozialen. Wiesbaden. S. 55-68.

Rat der Europäischen Union (2004): Gemeinsamer Bericht der Kommission und des Rates über die soziale Eingliederung. Online http://ec.europa.eu/employment_social/soc-prot/soc-incl/final_joint_inclusion_report_2003_de.pdf [03.05.2016].

Hollenweger, J. (2003): Behindert, arm und ausgeschlossen – Bilder und Denkfiguren im internationalen Diskurs zur Lage behinderter Menschen. In: Cloerkes, G. (Hrsg.): Wie man behindert wird – Texte zur Konstruktion einer sozialen Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen. Heidelberg, S. 141-164.

Robert Koch-Institut (2014): Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Wichtige Ergebnisse der ersten Folgebefragung (KiGGS Welle 1). Online http://www.kiggs-studie.de/fileadmin/KiGGS-Dokumente/KiGGS1_Zusammenfassung_20140623.pdf [03.05.2016].

Rosner-Scheibengraf, P. M. (2016): Positionen – Argumente: Beschäftigung von Menschen mit Behinderung – Anreize statt Strafen. Online https://www.wko.at/Content.Node/Interessenvertretung/Arbeit-und-Soziales/Beschaeftigung-von-Menschen-mit-Behinderung---Anreize-statt-.pdf [22.08.2016].

Maschke, M. (2007): Behinderung als Ungleichheitsphänomen – Herausforderungen an Forschung und politische Praxis. In: Waldschmidt, A./Schneider, W. (Hrsg.): Disability Sudies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung - Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld, S. 299-320.

Maschke, M. (2008): Behindertenpolitik in der Europäischen Union – Lebenssituation behinderter Menschen und nationale Behindertenpolitik in 15 Mitgliedstaaten. Wiesbaden.

Statistik Austria (2015): Lebensbedingungen in Österreich – ein Blick auf Erwachsene, Kinder und Jugendliche sowie (Mehrfach)Ausgrenzungsgefährdete. Online https://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/1/7/7/CH3434/CMS1459846225181/09_bericht_eu-silc_2014.pdf [03.05.2016].

Weiß, H. (2010): Kinder in Armut als Herausforderung für eine inklusive Perspektive. Online http://bidok.uibk.ac.at/library/inkl-04-10-weiss-armut.html [03.05.2016].

WIFO & AMS (2014): Eine Typologie Arbeitsloser nach Dauer und Häufigkeit ihrer Arbeitslosigkeit 2010-2013. Online http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/Endbericht_Typologie2010-2013.pdf [03.05.2016].

WHO (2011): World Report on Disability. Online http://www.who.int/disabilities/world_report/2011/report.pdf [03.05.2016].

Quelle

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Sozialpädagogische Impulse, Ausgabe 3/2016www.sp-impulse.at

Quelle

Martin Böhm: Erschienen in: Sozialpädagogische Impulse. Nr.: 3/2016, Thema: Armut

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Stand: 15.11.2018

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