Menschen im Hotel. Werkstadthaus Hamburg e.V.

Wohnen mitten in der Stadt und Arbeiten in einem rollstuhlgerechten Hotel

Autor:innen - Ines Boban, Andreas Hinz
Themenbereiche: Arbeitswelt
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: Erschienen in: Das Band, H.2, 23-25
Copyright: © Ines Boban, Andreas Hinz 1994

Wohnen mitten in der Stadt und Arbeiten in einem rollstuhlgerechten Hotel

Ein Morgen in der Wohngruppe Holstenstraße in Hamburg. Mirco Bark und Dirk Becker stehen als erste auf: Sie haben heute Frühdienst, sind für die Vorbereitung des Frühstücksbuffetts im "Stadthaus-Hotel" zuständig, das sich in der Etage unter der WG befindet. Gemeinsam mit Arezki Krim, einem erfahrenen Hotelfachmann, decken sie die Tische, es werden Brötchen besorgt, Kaffee und Tee zubereitet - das Buffett muß angerichtet sein, wenn die Gäste zum Frühstück kommen.

Später geht es mit anderen Arbeiten weiter: Nach dem Abräumen müssen in den Zimmern der abgereisten Gäste die Betten abgezogen, Handtücher etc. gewechselt werden, es ist aufzuräumen und sauberzumachen. Inzwischen ist Kerstin Buhr dazugekommen: Sie ist heute für die Wäsche zuständig, versorgt die großen Waschmaschinen, bügelt und mangelt.

Eine ganz normale Hotel-Szenerie, so scheint es. Nur: Mirco, Dirk und Kerstin wären "normalerweise" in einer WfB. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, in der sog. freien Wirtschaft gelten sie als nicht vermittelbar, ihre Schulzeit haben sie in einer Schule für Geistigbehinderte verbracht. Und: Einige der Gäste kommen nicht auf ihren Beinen zum Frühstück, sondern fahren im Rollstuhl in den Frühstücksraum. Sie haben vielleicht ohne sonst übliche Schwierigkeite ein Duschbad genommen. Also doch keine "normale" Szenerie? Für Mirco, Dirk, Kerstin und ihre fünf weiteren MitbewohnerInnen hat diese Normalität eine achtjährige Vorgeschichte, um die es nun geht.

Die Idee

Fünf der jungen Leute in der Holstenstraße gingen gemeinsam in eine antroposophische Schule für Geistigbehinderte. Das "Besondere" daran war, daß es sich um eine Gruppe mit höchst unterschiedlichen Mitgliedern handelte: Zwei schwerst-mehrfachbehinderte Mädchen mit einem umfänglichen Bedarf an Betreuung in allen Lebensbereichen und drei sehr unterschiedliche Jungen, sozusagen als "normalgeistigbehindert" zu bezeichnen. Seit Beginn der 80er Jahre fanden sie sich nach und nach bei der Gastweisen Unterbringung des Hamburger Spastikervereins ein, und machten jeden Sommer drei Wochen Ferien von ihren Eltern (und natürlich jene von ihnen), u.a. mit zwei SonderpädagogikstudentInnen. Faszinierend zu sehen war, daß die einzelnen der Gruppe eine große Bedeutung für die je anderen hatten, und das nicht nur im Sinne von: "leichter" behinderte helfen "schwerer" behinderten FreundInnen, sondern durchaus auch umgekehrt.

Dann kam die Frage auf: Was soll nach der Schule sein? Weder wollten die Eltern eine Lebensgemeinschaft in ländlicher Isolation, noch sollte die übliche Aufteilung stattfinden: die einen in die Werkstatt für Behinderte und in die Wohngruppe für Geistigbehinderte, die anderen in die Tagesförderstätte und Wohngruppe für Schwerstbehinderte. Also mußte etwas eigenes überlegt werden. Dabei war der Ausgangspunkt nicht die Frage nach Behinderungen und Defiziten, sondern im Gegenteil die Frage nach den Stärken dieser Gruppe. Und die lag nicht darin, z.B. Luftballons abzuzählen und zu verpacken, sondern darin, für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen, Gastgeber und für andere wichtig zu sein.

Nun entstanden mit dem Mut der Spinnerei erste Ideen: Wohnen und Arbeiten sollten verbunden sein, mitten in der Stadt stattfinden, eine Teestube oder eine Pension tauchte als Vorstellung auf, verbunden mit Stipendien für ausländische KünstlerInnen, die für Kost und Logis die Gruppe anregen und von ihr unterstützt werden sollten (vgl. Boban & Hinz 1987).

Nachdem diese Eltern und PädagogInnen den Verein "Werkstadthaus Hamburg - gemeinsames Wohnen und Arbeiten behinderter Bürger e.V." gegründet hatten, folgte ein erstes Gespräch mit der Sozialbehörde. Zur allseits großen Überraschung gab es keinen freundlichen Rausschmiß ("nette Idee, aber nicht realisierbar"), sondern Unterstützung für eine Marktlücke: In Hamburg gab es neben einigen teuren, z.T. eingeschränkt rollstuhlgerechten Zimmern und dem Jugendgästehaus keine Unterkünfte für Menschen im Rollstuhl oder mit anderen Hilfenotwendigkeiten. Also schien hier eine Idee auf einen ungestillten Bedarf zu treffen, und es galt nun,

Schritte zur Realisierung

zu gehen. Neben der Vergrößerung der Gruppe auf acht Personen mußte nun ein Konzept entwickelt werden, das Eckwerte des Projekts festlegte (vgl. Bark 1990, Hinz 1993b). Diese waren und sind u.a.:

  • Das Projekt soll für die Umwelt eine sinnvolle Aufgabe leisten. Dabei sollen vorhandene Auffälligkeiten nicht versteckt oder in karitative Bahnen geleitet werden, sondern die Gruppe soll die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten offensiv nach außen zu tragen.

  • Die nichtbehinderten MitarbeiterInnen in Wohngruppe und Hotel verdanken den behinderten BewohnerInnen ihre Arbeitsplätze. Die Aufgabe besteht darin, sie mit den eigenen Fähigkeiten zu ergänzen, nicht aber ihre Chefs zu sein. Behinderten und nichtbehinderten MitarbeiterInnen soll es gleichermaßen gut gehen.

  • Formal gliedert sich das Projekt in zwei Bereiche: die Wohngruppe und den Arbeitsbereich (Hotel und Wäscherei).

  • Die Wohngruppe mit acht Plätzen orientiert sich an ähnlichen gemischten Gruppen des Hamburger Spastikerevereins.

  • Das Hotel mit elf Betten in sieben Zimmern zielt auf den Personenkreis, für den in Hamburg bisher kaum geeignete Unterbringungsmöglichkeiten bestehen: Menschen mit Behinderungen, die Hamburg besuchen, aber auch Eltern mit einem behinderten Kind, die z.B. zur Diagnostik nach Hamburg kommen. Bei der Einrichtung wird von deren möglichen Bedürfnissen ausgegangen (breite Türen, keine Schwellen, zusätzliche Haltegriffe, Toilette über-, Waschbecken unterfahrbar, Platz zum Aufladen von E-Rollstühlen, Alarmknopf für Notfälle, genügend breiter Parkplatz). Auch die stundenweise Betreuung von behinderten Gästen wird angestrebt, dann könnten z.B. die Eltern ohne Sorgen auch einmal ohne ihr Kind in die Stadt gehen. Es ist aber kein "Behindertenhotel", denn es steht natürlich auch Menschen ohne offensichtliche Behinderung offen.

  • Die sechs "normalgeistigbehinderten" BewohnerInnen werden mit einer halben Stelle im vereinseigenen Hotel angestellt, sind sozialversichert und haben den Status von ArbeitnehmerInnen. Sie erhalten den Tariflohn des Hotel- und Gaststättengewerbes, wenngleich der größte Teil des Einkommens auf den Pflegesatz der Wohngruppe angerechnet wird und an die Sozialbehörde abgegeben werden muß.

  • Die zwei schwerstbehinderten Frauen können formal keine wirtschaftlich verwertbare Arbeit im Hotel leisten und erhalten spezielle, für sie sinn- und lustvolle Angebote im Rahmen der Wohngruppe, die auch für die anderen BewohnerInnen in ihrer Freizeit offen sind.

  • Da die Arbeit im Hotel als Teilzeitarbeit gestaltet ist, bestehen gute Möglichkeiten, den Zusammenhalt der Gruppe und die umweltbezogenen Aktivitäten der Einzelnen zu pflegen und auszubauen.

  • Die Finanzierung erfolgt für die Wohngruppe über Pflegesatz, das Hotel erhält von der Hauptfürsorgestelle eine Anschubfinanzierung für die Einrichtung von Arbeitsplätzen für schwerbehinderte ArbeitnehmerInnen und vom Arbeitsamt einen zeitlich befristeten Lohnkostenzuschuß, muß sich aber längerfristig selbst tragen.

Aus der Verlegenheit,

daß die Gruppe aus ihrer Schule entlassen wurde, das Haus aber noch nicht fertig war, nahm der Verein Kontakt auf zu einer Berufsschule für Hauswirtschaft und Ernährung, die auch für den Berufsschulunterricht der Menschen im Eingangs- und Trainingsbereich der WfB zuständig ist. Dort wurde für die Gruppe eine Berufsvorbereitungsklasse in vollzeitschulischer Form eingerichtet, die schließlich zwei Jahre lang auf die zukünftigen Tätigkeiten im Hotel konkret vorbereiten konnte (vgl. Hinz 1993a). So entstand aus einer Not heraus ein höchst sinnvoller Zwischenschritt auf dem Weg von der allgemeinbildenden Schule in das Berufsleben.

Ein geeigneter Standort

fand sich durch die Vermittlung behördlicher Stellen: Es ergab sich die Möglichkeit, die Wohngruppe und das Hotel in ein Bauprojekt der Reichbund Wohnungsbau GmbH einzubeziehen. Es handelt sich dabei es um siebenstöckige Häuser mit z.T. rollstuhlgerechten Sozialwohnungen in Hamburg-Altona. Das Hotel konnte im Erdgeschoß, die Wohngruppe im ersten und zweiten Stockwerk eingerichtet werden.

Veränderungen des Wohnens und Arbeitens für Menschen mit Behinderungen

Die Eltern des Werkstadthauses haben sich nicht zufriedengeben mit der bisher vorherrschenden Einbahnstraße, die von der Schule für Geistigbehinderte geradewegs in die Werkstatt für Behinderte führt. Das Werkstadthaus ist damit auch Ausdruck für eine zunehmende Unzufriedenheit mit den bisher "normalen" Wegen, die nach dem jeweiligen Maß der Einschränkungen und Defizite von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind. Es ist gleichzeitig ein kleines Beispiel dafür, wie Alternativen dazu aussehen können. Damit steht das Werkstadthaus in einer zunehmend größeren Reihe von Projekten, die solche alternativen Wege gehen, seien es Zweckbetriebe, Formen von Vermittlung und Unterstützung von Arbeitsverhältnissen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch Arbeitsassistenz oder anderes (vgl. Doose 1992).

Der Druck für die Entwicklung anderer Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen wird in der Zukunft auch dadurch zunehmen, daß die Eltern behinderter Jugendlicher, die nicht die Sonderschulen durchlaufen haben, sondern in Integrationsklassen bereits gemeinsam mit nichtbehinderten Jugendlichen aufgewachsen sind, die separierte WfB nicht akzeptieren werden. Sie werden selbstverständlich nach integrativen Möglichkeiten der Berufsvorbereitung, -ausbildung und -tätigkeit für ihre Kinder suchen.

Das Werkstadthaus weist mehrere integrative Momente auf: Es liegt mitten in der Stadt und sucht Kontakte im Stadtteil zu schließen, behinderte und nichtbehinderte MitarbeiterInnen betreiben gemeinsam einen Hotel-Betrieb, und es eröffnet Unterkunftsmöglichkeiten für behinderte und nichtbehinderte Hamburg-BesucherInnen.

Stärkend für den langen Weg der Realisierung hat sich die Kooperation zwischen den Eltern mit konkreten Kindern und den beiden SonderpädagogInnen mit konzeptionellen Ideen erwiesen; beides zusammen hat für einen erfolgreichen Weg bis zur Eröffnung im September 1993 gesorgt.

Was nun notwendig ist,

ist, das Spannungsverhältnis zwischen den konzeptionellen Sternen und den alltäglichen Stolpersteinen auszubalancieren und möglichst nicht in die traditionellen Betreuungsbahnen zu geraten. Dafür findet im Werkstadthaus Supervision durch eine Psychologin von außen und eine Konzeptberatung der nichtbehinderten MitarbeiterInnen mit den beiden PädagogInnen des Vereins statt. Weiter steht an, die so individuellen Probleme der Abnabelung zwischen den Eltern und ihren Kindern zu bewältigen; dies wird ein langer, schmerzreicher und schöner Prozeß sein - zu sehen, wie die "Kinder" ein "Erwachsenenleben" entfalten, ihren Lebens- und Arbeitsbereich gestalten und wie die Eltern ihr Leben ohne das ständige Zusammensein gestalten müssen bzw. können.

Nicht zuletzt brauchen Mirco, Dirk, Kerstin und die anderen ein möglichst gut belegtes und ausgelastetes Hotel, das ihnen erlaubt, weiterhin gemeinsam zu wohnen und zu arbeiten. Dem Verein und seinen Mitgliedern ermöglicht es, nicht ständig eine finanzielle Hänmgepartie vor Augen haben zu müssen, sondern seine Vorstellungen realisieren und weiterentwickeln zu können.

Literatur

Bark, Christa Maria: Leben und Arbeiten mit Künstlern und Gästen. Das Werkstadthaus Hamburg. Zusammen 10, 1990, H.8, 8-10

Boban, Ines & Hinz, Andreas: Traumziel: Teestube. Zusammen 7, 1987, H.9, 10 -11

Doose, Stefan (Hrsg.): Reader. Alternative Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten für geistig und psychisch behinderte Menschen. Hamburg: Selbstverlag o.J. (1992)

Hinz, Andreas: Konzeptionelle Überlegungen für die Berufsvorbereitung geistig und schwerst-mehrfachbehinderter Jugendlicher. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hrsg.): Ein Ort auch für uns! - geistig behinderte junge Erwachsene lernen in der Berufsschule. Marburg: Bundesvereinigung 1993a (im Erscheinen)

Hinz, Andreas (Redaktion): Konzept des Vereins Werkstadthaus Hamburg e.V.. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hrsg.): Ein Ort auch für uns! - geistig behinderte junge Erwachsene lernen in der Berufsschule. Marburg: Bundesvereinigung 1993b (im Erscheinen)

Adressen

Werkstadthaus Hamburg e.V., Flotowstr. 7, 22083 Hamburg, Tel. 040 / 220 45 40

Wohngruppe Holstenstraße, Holstenstraße 116, 22765 Hamburg, Tel. 040 / 38 99 20 - 40

Stadthaus-Hotel, Holstenstraße 118, 22765 Hamburg, Tel. 040 / 38 99 20 - 0, Fax 040 / 38 99 20 - 20

Ines Boban und Andreas Hinz gehören dem Vorstand des Vereins Werkstadthaus Hamburg e.V. an. Hauptberuflich sind sie Mitglieder der Arbeitsstelle Integration am Institut für Behindertenpädagogik der Universität Hamburg und dort in den Wissenschaftlichen Begleitungen von Integrationsprojekten in Hamburger Schulen (Grundschule, Sekundarstufe I) tätig.

Quelle:

Ines Boban, Andreas Hinz: Menschen im Hotel. Werkstadthaus Hamburg e.V. - Wohnen mitten in der Stadt und Arbeiten in einem rollstuhlgerechten Hotel

Erschienen in: Das Band, H.2, 23-25

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.02.2005

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