Aus Schritten wurden Wege

Themenbereiche: Schule
Textsorte: Artikel
Releaseinfo: erschienen in: ELTERN FüR INTEGRATION (Hrsg.): Integration in Hamburg. Hamburg: Selbstverlag
Copyright: © Eltern für Integration 1996

Rückblicke auf die Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung in Integrationsklassen

Vier Hamburger PädagogInnen tragen ihre Erfahrungen zusammen, um anhand von zwei Beispielen - eines aus der Grundschule, eines aus der Gesamtschule - den Weg ihrer SchülerInnen mit geistigen Behinderungen durch die Schule und damit die wichtigen 'ersten integrativen Jahre' zu reflektieren.

Mit der Einrichtung von Integrationsklassen entwickelt sich seit den frühen 80er Jahren eine neue Möglichkeit schulischer Erziehung für Kinder mit geistigen Behinderungen. In verschiedenen Bundesländern wurden Schulversuche eingerichtet, in denen diese Form der Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder in einer Klasse und in einem gemeinsamen Unterricht erprobt wurde. Dabei gibt es in Bezug auf Kinder mit geistigen Behinderungen die schärfsten Kontroversen: Ist es wirklich möglich, im gemeinsamen Unterricht allen Kindern einer bewußt und gewollt heterogenen Lerngruppe gerecht zu werden? Muß nicht eine Gruppe, die der nicht behinderten, oder die andere, die der (geistig) behinderten Kinder, mit Nachteilen rechnen? Können LehrerInnen wirklich einen Unterricht realisieren, in dem Kinder 'lernzieldifferent' auf unterschiedlichen Niveaus arbeiten und verschiedene Ziele ansteuern?

Es ist sicher kein Zufall, daß in einigen Bundesländern immer noch Kinder mit geistigen Behinderungen vom gemeinsamen Unterricht ausgeschlossen werden, etwa in Bayern oder bis 1989 in Berlin. Gleichzeitig werden erste - meist positive - Erfahrungen damit gesammelt, auch Kinder mit schwersten Behinderungen in Integrationsklassen aufzunehmen (vgl. Hinz 1991, Hinz u.a. 1992, Matt u.a. 1992). Noch 'unmöglicher' als die Einbeziehung von Kindern mit geistiger Behinderung in die integrative Grundschule erscheint aus der Sicht mancher ExpertInnen ein gemeinsamer Unterricht mit geistig und nicht behinderten Jugendlichen in der Sekundarstufe I. Denn das gegliederte Schulwesen widerspricht dem Grundgedanken der Integration, und es hat Logik, daß dort, wo Integration auch mit diesen Jugendlichen zugelassen wird, der gemeinsame Unterricht meistens in Gesamtschulen praktiziert wird.

Die Situation in Hamburg

Hamburg kann als das Bundesland gelten, in dem die größte Erfahrungsbasis mit der Integration von Kindern und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen besteht. Schon von den neun Kindern, die als behinderte in die ersten drei Integrationsklassen der Stadt aufgenommen wurden, wären sieben sonst in die Schule für Geistigbehinderte gekommen. Von Anfang an war hier unstrittig, daß "prinzipiell kein Kind aufgrund der Art und Schwere seiner Behinderung ausgeschlossen werden darf" (BSB 1988). Will man sich überhaupt noch auf die Zuordnung von Kindern zu Sonderschultypen einlassen, kann man sagen, daß von 1983 bis 1994 117 Kinder mit geistigen Behinderungen für Integrationsklassen angemeldet waren, von denen 72, d.h. knapp zwei Drittel aufgenommen wurden (vgl. HINZ 1995). Dies ist insofern beachtlich, als die Aufnahmequote von Kindern mit Behinderungen insgesamt aufgrund fehlender Plätze leider nur bei knapp 50 % liegt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt befinden sich ca. 10 % aller Hamburger SchülerInnen mit geistigen Behinderungen in Integrationsklassen, rechnerisch entspricht dies der Schülerzahl einer Schule für Geistigbehinderte.

Bedeutung der Eltern

Gemeinsamer Unterricht wurde, wie bekannt ist, anfänglich nicht von PädagogInnen oder gar von Behörden oder der Wissenschaft initiiert. Die ErfinderInnen der Integration sind Eltern, die im Kindergarten die positiven Prozesse und Effekte gemeinsamen Lebens und Lernens ihrer Kinder erlebt hatten. Unter den Eltern waren bemerkenswert viele von Kindern mit geistigen Behinderungen. Dies mag daran liegen, daß sie sich schon früh mit dem Sosein ihres Kindes auseinanderzusetzen hatten, sicherlich spielt aber auch die Ganztagsform der Sonderschule eine Rolle, die die Möglichkeiten für soziale Kontakte in Familie und Umfeld auf ein Minimum reduziert. Diese Eltern forderten nun von der 'Schule für alle Kinder des Volkes' (Weimarer Verfassung), der Grundschule, daß das gemeinsame Leben und Lernen dort fortgesetzt würde.

Der Erfolg ihrer Forderungen war und ist länderspezifisch sehr unterschiedlich, in Hamburg fanden sie Gehör, wenngleich der Bedarf an Plätzen bis heute nicht annähernd gedeckt wird. Hamburg ist auch das einzige Bundesland, in dem (bisher) für alle Kinder die Möglichkeit besteht, von der Grundschule aus in einer Integrationsklasse die Sekundarstufe I bis zur 10. Klasse zu durchlaufen. Das in vielen anderen Bundesländern vorzufindende Nadelöhr von der 4. zur 5. Klasse gibt es hier nicht. Inzwischen ist es auch gelungen, für alle Jugendlichen mit Behinderungen aus den beiden ältesten Jahrgängen nach Ende der 10. Klasse integrative Möglichkeiten der Berufsorientierung und -vorbereitung zu entwickeln (vgl. zum Überblick über die Hamburger Entwicklung HINZ & KöBBERLING 1994). Nach einem Blick auf die Geschichte der Integration ist es nur folgerichtig, daß die Hamburger Eltern für Integration e.V. der Träger der Hamburger Arbeitsassistenz sind, eines Fachdienstes für die berufliche Integration von Menschen mit geistigen Behinderungen (vgl. BEHNKE, CIOLEK & KöRNER 1993).

Die Logik des gemeinsamen Unterrichts

Gemeinsamer Unterricht bietet von der Grundsituation her andere pädagogische Potentiale als die Schule für Geistigbehinderte: Es gibt wesentlich größere Lerngruppen mit einem vielfältigen Anregungspotential durch die anderen SchülerInnen, andererseits steht relativ weniger pädagogisches Personal zur Verfügung. Damit verbunden sind unterschiedliche Vorstellungen von erfolgreichem Lernen und den Bedingungen, die es ermöglichen: Einerseits Anregung durch andere SchülerInnen in gemeinsamen Lernsituationen - und das nicht nur im Hinblick auf kognitive Aspekte, sondern auch im Hinblick auf ein großes Spektrum von Verhaltensweisen, Strategien des Umgangs mit Konflikten etc., also im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung -, andererseits ein gezieltes sonderpädagogisches Eingehen und Einwirken auf jedes einzelne Kind durch individuelle Förderung (vgl. hierzu HINZ 1996, bezogen auf die Körperbehindertenpädagogik). Gemeinsamer Unterricht in Integrationsklassen versucht beides miteinander zu verbinden, indem gemeinsame Lernsituationen so gestaltet werden, daß alle Kinder auf ihrem Niveau lernen können; es soll also ein gemeinsames Lernen mit spezifischen Qualitäten geben.

Die unterschiedliche Logik der gemeinsamen Lernsituation gegenüber der speziellen Förderung wirft eine Reihe von grundsätzlichen Fragen zur Gestaltung von Pädagogik und Schule auf (vgl. HINZ 1993):

  • Wie sollte Schule überhaupt organisiert sein - wie bisher mit möglichst leistungshomogenen, eher kleinen Lerngruppen oder nun mit möglichst leistungsheterogenen und eher großen Lerngruppen?

  • Wie soll Unterricht strukturiert werden - wie bisher möglichst individuell orientiert mit dem nächsten 'mundgerechten' Lern-Happen für jedes Kind oder nun eher als anregendes Klima, in dem es Raum dafür gibt, daß Kinder miteinander Lernerfahrungen machen können?

  • Und - schließlich - was sind Kriterien für eine 'erfolgreiche' Integration? Darf es vorkommen, daß ein Kind 'nichts tut', sondern 'dabei ist', möglicherweise 'ohne zu verstehen'? Können wir darauf vertrauen, daß alle Kinder (mit Hilfe und inmitten der heterogenen Lerngruppe) ihre eigenen Wachstumskräfte mobilisieren und Lernwege finden oder müssen wir ihnen doch nach dem Prinzip der kleinen Schritte strukturierte Aufgaben geben, von denen wir glauben, daß sie sie bewältigen können? Es verbirgt sich wohl hinter diesen Fragen ein unterschiedliches Bild von Menschen (insbesondere von denen mit geistiger Behinderung).

BesucherInnen in Integrationsklassen beklagen bei aller Faszination durch das soziale Klima häufig, daß die Kinder mit Behinderungen nicht genügend gefördert würden. Dies dürfte zumindest z.T. eine Folge davon sein, daß ihnen die unterschiedlichen Logiken nicht bewußt sind. Mit dem Wissen um unterschiedliche Potentiale und verschiedene Logiken ist klar, daß pädagogische Birnen keine guten pädagogischen Äpfel sind und auch nicht sein sollen ...

'Integrativer Unterricht'

Nach den Erfahrungen in Hamburger Integrationsklassen können wir sagen, daß 'integrativer Unterricht' kein 'ganz anderer Unterricht' sein muß. Es ist vor allem ein Unterricht, der versucht, die Balance zu wahren zwischen unterschiedlichen Anteilen:

  • zwischen offenem und gebundenem Lernen,

  • zwischen gemeinsamem und individuellem Lernen,

  • zwischen geplantem und intuitivem oder situativem Lernen,

  • zwischen der Akzeptanz des Soseins von Kindern und der Förderung ihrer Weiterentwicklung,

  • zwischen dem Blick auf das Individuum und dem Blick auf die Gruppe.

'Integrativer Unterricht' ist - zumindest theoretisch - kein 'ganz anderer' Unterricht, denn es ist ein Unterricht für heterogene Lerngruppen. Es ist jedoch ein 'ganz anderer' Unterricht als der leider immer noch weit verbreitete Unterricht nach der 'Rasenmäher-Methode', bei dem alle Kinder einer Lerngruppe sich im gleichen Moment für das Gleiche interessieren und es lernen sollen, unabhängig von ihrer Interessenlage, ihren Voraussetzungen, ihren Aneignungsstrategien und ihren Zugängen.

Veränderte Rahmenbedingungen

Unterricht mit heterogenen Lerngruppen kann dauerhaft nicht von einer Pädagogin allein bewältigt werden. Deshalb gibt es in allen Integrationsmodellen - zumindest zeitweise - ein Zwei-PädagogInnen-System. Dabei begründet sich die zweite Pädagogin nicht allein in der Anwesenheit von Kindern mit spezifischen Bedürfnissen, sondern zunächst in der Komplexität der Unterrichtssituation mit einer so heterogenen Lerngruppe, die eine Pädagogin längerfristig überfordern muß. Dies erfordert Kooperation im Unterricht - wie die Erfahrungen zeigen, ist dies eine enorme pädagogische Chance, aber auch ein großes Problem für viele PädagogInnen.

Weiter haben sich folgende veränderte Rahmenbedingungen als fruchtbar erwiesen: Die Lerngruppe soll nicht mehr als 20 Kinder umfassen, darunter etwa drei, die sonst Sonderschulen besuchen würden. Es sollten keine Ziffernzeugnisse, sondern verbale Lernentwicklungsberichte mit individuellem Maßstab gegeben werden. In der Klasse sollte ein pädagogisches Team mit unterschiedlichen Professionen (Schul-, Sozial- und Sonderpädagogik) kontinuierlich zusammenarbeiten, wobei alle Berufsgruppen in Bezug auf die 'integrative Logik' und ihre Rahmenbedingungen ihre Rollen neu definieren müssen.

Was sich unter diesen veränderten Rahmenbedingungen und im Sinne der beschriebenen Logik an realem schulischen Leben und Lernen entwickeln kann, stellen wir in den folgenden Abschnitten anhand konkreter Erfahrungen aus der Praxis einer Hamburger Grundschule und der Sekundarstufe I einer Hamburger Gesamtschule vor, bevor wir abschließend zu einer gemeinsamen Reflexion und zu Aussagen über Perspektiven kommen.

Rückblick auf vier Grundschuljahre[1]

Unser Geschlecht bildet sich wesentlich von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz menschlich.

(Pestalozzi 1814/15)

Dieser Ausspruch Pestalozzis wurde unser pädagogisches Leitmotiv in der Integrationsarbeit. Wir akzeptierten jedes Kind als eigenständige Person und versuchten, ihm so offen wie möglich zu begegnen.

Wir sind davon überzeugt, daß persönliche Beziehungen zwischen Kindern, Lehrerinnen und Eltern das Fundament bilden, um sich wohl und akzeptiert zu fühlen, um Mut, Selbstbewußtsein, Interessen und Kreativität zu entwikeln. Auf diesem Boden kann Lernen in der Schule gedeihen und die Integration sehr unterschiedlicher Kinder gelingen.

Wir realisierten unsere Vorstellungen von Schule und Integration durch Veränderungen im Ablauf des Schulvormittags. Vorgeschriebene Stunden- und Pausenzeiten spielten keine Rolle mehr. Wir konnten flexibel auf aktuelle Anlässe, auf Wünsche und Bedürfnisse der Kinder eingehen und boten genügend Zeit, Raum und Materialien, um die Entwicklung von persönlichen Beziehungen und Interessen, selbstbewußtes und selbstverantwortetes Lernen und Spielen zu unterstützen. Wir entwickelten folgenden Plan für die Schulvormittagszeit der Erstkläßler:

  • Lockere Anlaufzeit mit Spielen und Gesprächen

  • Gemeinsamer Gesprächskreis mit Singen, Vorlesen und mitgebrachten persönlich interessanten Dingen

  • Malen und Schreiben zu den mitgebrachten Dingen oder anderen persönlichen Interessen

  • gemeinsames Frühstück mit den nötigen Vor- und Nachbereitungen

  • freies Spielen, Basteln und Malen mit den ständig zugänglichen Materialien

  • Werkstattarbeit an den eigenen persönlichen Lernprogrammen

  • Schlußkreis mit Vorstellung der eigenen Arbeits- und Spielergebnisse, Rückblick auf den Tag, Ausblick auf den nächsten Tag

An diesem Tagesablauf wird deutlich, daß wir viele Elemente des Familienlebens in die Schule integrierten und dadurch den Kindern das Einleben in die Schule erleichterten. Wir erweiterten den Plan nach einiger Zeit um Besuche in den Elternhäusern, um gemeinsame Feiern und Feste mit Eltern, um Kochen und Backen in Gruppen, um Theater-, Konzert- und Museumsbesuche, um Ausflüge und Klassenreisen.

Wir Pädagoginnen beobachteten an uns selbst, wie entspannt und vergnügt wir in solchen eher untypischen Lernsituationen mit uns und den Kindern umgingen und welche Zufriedenheit wir daraus ziehen konnten.

Wir möchten Monika vorstellen, die als geistig behindertes Kind in unsere Integrationsklasse eingeschult wurde, und versuchen zu beschreiben, wie sie sich in ihrer Integrationsklasse entwickelte.

Zum Beispiel erlebten wir sie auf der Klassenreise im 3. Schuljahr in einem flachen Fluß spielend, tobend, schreiend. Sie versuchte zusammen mit anderen Jungen und Mädchen auf Rundhölzern zu reiten oder sich quer auf mehrere Hölzer zu legen, um ein Floß zu bilden. Zwischendurch warf sie sich lachend ins Wasser, rannte das Ufer hinauf und rollte sich auf dem abschüssigen Waldboden wieder ins Wasser.

Beim Beobachten dieser Szene kam uns wieder ins Gedächtnis, wie wir Monika kennenlernten: Sie stand, mit zusammengedrückten Händen auf dem Rücken, und beobachtete Kinder und Erwachsene. Manchmal schaute sie den anderen über die Schulter. Wenn sie aufgefordert wurde, mitzuspielen oder etwas in die Hand zu nehmen, schüttelte sie den Kopf und sagte: "Das kann ich nicht."

Wir lernten von Anfang an ihre Vorliebe für Wasser kennen: Sie wusch sich oft und anhaltend die Hände und spielte mit dem laufenden Wasser. Deshalb richteten wir einen Wasserkasten in der Klasse ein, mit dem alle Kinder mit Schiffen spielen konnten.

Zum Malen mit Wachsstiften konnte Monika keinen Zugang finden. Mit Aquarellfarben und Deckfarben auf nassem Papier entwickelte sie dagegen Begeisterung und Konzentration.

Nach längerer Anstrengung beim Rechnen und Schreiben suchte sie Entspannung bei einer Tätigkeit mit Wasser.

Sie wurde eine gute Schwimmerin und nahm im 4. Schuljahr an Schwimmwettkämpfen mehrerer Schulen teil.

Gegen Ende der Grundschulzeit gab sie das Interesse an spielerischen Wasseraktivitäten auf und kochte lieber ausdauernd und regelmäßig Suppen, Tee und Kaffee. Sie organisierte den täglichen Abwasch - eigentlich das Abtrocknen -, denn das Abwaschen selbst ließ sie sich nicht aus der Hand nehmen. Obwohl nicht zum Abwaschdienst eingeteilt, suchte sie auch auf der Klassenreise auf der Insel Neuwerk die Küche auf: Es gab dort Abwaschbecken so groß wie Sitzbadewannen.

Dies war hier Monikas selbstgewählte, selbstbestimmte und selbstverantwortlich genutzte "Wassertherapie".

Daneben stellte sich schnell heraus, daß Monika ihre Scheu, etwas in die Hand zu nehmen, auch bei rollenden und fahrbaren Geräten verlor. In solchen Situationen sagte sie niemals: "Das kann ich nicht." Alles, was sich durch Schieben, Ziehen, Drücken, Drängen, Schubsen und Rollen in Bewegung setzen ließ, übte auf Monika eine ungeheure Faszination aus; mehr noch, es setzte sie selbst innerlich und äußerlich in Bewegung.

In der Turnhalle gewann sie schnell eine große Sicherheit und eine ausgezeichnete Orientierung, wenn sie zusammen mit den anderen Kindern durch die Halle rannte, "Brückenkriegen" oder "Der Bär ist los" spielte und mit hochroten Wangen atemlos durch den großen Raum flitzte.

Wenn die Kinder aber ihre Ideen und Vorstellungen für die psychomotorischen Aufbauten begeistert heraussprudelten und sehr schnell in ihren Gruppen eine schiefe Ebene, einen Pferdeparcours aufbauten und abgrenzten oder eine Mattenschaukel installierten, hielt sich Monika mit eigenen Wünschen zurück.

Sie beobachtete das geschäftige Treiben, faßte mit an und trug auf Bitten hin Geräte herbei. Mitzumachen traute sie sich nicht sofort. Aber die Rollbretter reizten sie. Sich selber drauflegen, sich abstoßen, steuern? Nein, noch nicht! Aber einen kleinen Kasten umgekehrt auf das Rollbrett setzen, Keulen und Bälle hineinpacken und das Gefährt durch den Raum um Hindernisse herum zunächst langsam, dann immer schneller zu schieben, das traute sie sich zu.

Im Laufe der Zeit bildete sich eine "Rollbrett-Expertengruppe" heraus, zu der auch Monika gehörte. Am liebsten schob sie ihren Freund auf dem Rollbrett durch die Halle, zunächst sehr vorsichtig und behutsam mit klarer Ansage bei Richtungswechsel wie links, rechts, geradeaus, Kurve und "Kopfeinziehen", "es geht jetzt unten durch." So richtig in Fahrt gekommen, beschleunigte sie das Tempo, daß uns Pädagoginnen der Atem stockte; doch kurz vor der Wand bremste sie geschickt ab und schaute uns triumphierend an: "Na, hättet Ihr das gedacht, daß ich das schaffe?" Über diese vielfältigen Erfahrungen: Ich habe Kraft, ich kann etwas bewegen, ich kann Folgen abschätzen und gut reagieren und meine Freunde und Freundinnen lassen sich von mir vertrauensvoll schieben, wuchs in ihr das Vertrauen auch zu ihren Mitspielern.

Bei einem neu kreierten "Waggon-Spiel" faßte sie Mut: Sie stieg mit ihrer Freundin auf die zusammengekoppelten Rollbretter und ließ sich durch die Halle ziehen. "Wenn es mir zu schnell ist, ruf' ich 'langsamer'", bat sie die Zieher, und es klappte. Ihr ängstlicher Gesichtsausdruck wich bald einem Lächeln, einem fröhlichen - ja befreitem - Lachen.

Sie hatte ihre Lernsituationen immer wieder neu organisiert, ihr Lerntempo selbst bestimmt, sich Hilfen geholt und Unterstützung angenommen. Darüber hat sie Zutrauen in die eigenen Möglichkeiten aufgebaut und ihre Ängste überwunden.

Ähnlich verhielt es sich mit vielen anderen Aktivitäten. Monika beobachtete das Treiben auf der "Schiefen Ebene", in den "Höhlen", den "Matten-Reifen-Booten" und Schaukeln, ließ sich locken, probierte aus, überwand die Angst. Ja, und dann gab es kein Halten mehr für sie.

So stand sie später wie ein kühner Pirat auf dem Rand der hohen Mattenschaukel; sie hielt sich links und rechts an Seilen fest und konnte nicht hoch genug schaukeln. Das begleitende Jauchzen nahm eines Tages ein jähes Ende: "Mir wird übel!" rief es aus der Schaukel, und sofort drosselte sie das Tempo. Bleich schlich ein Mitschüler auf die Seitenbank. Monika legte ihm den Arm um die Schulter und tröstete ihn: "Früher hatte ich auch immer so ein Kribbeln im Bauch beim Schaukeln; ich glaub', ich hatte Angst. Hattest Du auch Angst? Dann schaukeln wir beim nächsten mal nicht wieder so hoch. Einverstanden?"

Keine von uns Pädagoginnen hätte situationsgerechter, verständnisvoller, einfühlsamer, tröstender oder "therapeutischer" reagieren können.

Probleme gab es in der Turnhalle kaum, mit Monika am allerwenigsten - bis zum 3. Schuljahr, als die Verkehrspolizisten dort einen Straßenparcours aufgebaut hatten, und alle Kinder nach kurzen Anweisungen viele unterschiedliche Dinge tun sollten: Das Fahrrad in Bewegung setzen, Ampeln, Haltelinien und Verkehrszeichen beachten und entsprechend reagieren, links oder rechts ein Handzeichen geben und ...!

"Bin ich jetzt dran? Was soll ich tun, was hat er gesagt? Es ist so laut! Ich kann nicht!" Monika fiel in ihre uns allen bekannten alten Verzeiflungsmuster zurück. Sie hatte gerade das Radfahren gelernt und war sehr stolz darauf. Aber die Forderungen des Polizisten verunsicherten sie, sie verzog die Mundwinkel, versteifte und verschränkte ihre Hände - wie früher - hinten auf dem Rücken. Ihre Freundin erkannte das Problem und reagierte spontan: "Fahr' einfach immer hinter mir her und hör' nicht auf ihn!"

In der nächsten Zeit verabredeten sich die Kinder mit ihren Fahrrädern auf dem Schulhof. Sie malten Haltelinien und Verkehrszeichen auf; sie trainierten das Abbiegen und Einhandfahren, bis sie sich sicher fühlten; Monika übte zusätzlich noch mit ihrem Bruder und schaffte die Fahrradprüfung im 4. Schuljahr, wie alle Kinder der Klasse.

Unseren Bemühungen, für alle Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen individuelles Lernen zu ermöglichen, kam das Lernen in Projekten entgegen. Dabei konnten die Kinder schon im 1. Schuljahr bei kleinen Projekten von den Planungen bis zur Ergebnisauswertung verantwortlich mitwirken. Auch Monikas Bedürfnissen kam der Projektunterricht zugute. Sie wählte für sich die Fragestellungen aus, für die sie sich besonders interessierte. Mit Partnern und Partnerinnen schloß sie sich zu Interessengruppen zusammen und konnte - mit pädagogischer Unterstützung - zu den Projektergebnissen beitragen.

Wir beschreiben einige Situationen aus dem Pferdeprojekt, das wir im zweiten Schuljahr den Kindern vorschlugen und mit ihnen durchführten.

Mehrmals während des Pferdeprojektes besuchten wir einen Reiterhof. Alle Kinder übten zunächst auf zwei lebensgroßen Holzpferden das Auf- und Absitzen, die Körper- und Zügelhaltung. Als dann auf den lebenden Pferden geritten wurde, trauten sich Monika und zwei Jungen nicht. Die drei bildeten an den Reiterhofvormittagen eine eigene Gruppe: Sie lernten die Pferde in den Ställen kennen, suchten sich Lieblingspferde aus, trauten sich, sie vorsichtig zu streicheln und zu füttern. Am liebsten hielt Monika Zwiesprache mit den Tieren - von Angesicht zu Angesicht - im Gang vor den Boxen. Sie freundete sich mit dem Hufschmied an, schaute ihm zu, stellte ihm viele Fragen und wurde zur Expertin für Pferdehufe. Sie spielte zusammen mit den beiden Jungen auf den Holzpferden Robin Hood, Cowboys, Jäger und Zorro: Niemand übte Druck auf diese drei Kinder aus, für sie wurden die Reiterhofbesuche zu einem großen Gewinn, obwohl sie an dem gemeinsamen Ziel des Reitens nicht teilnahmen.

Während der Weiterarbeit am Pferdeprojekt in der Schule machten wir uns die Erfahrungen auf dem Reiterhof zu nutze: Wir stellten ein Turnpferd aus der Sporthalle auf dem Flur vor der Klasse auf, banden ihm einen Schwanz an, bastelten Kopf und Mähne, liehen uns Satteldecke und Sattel, Reitstiefel und Gerte. Wochenlang "übten" die Kinder das Reiten auf diesem Pferd; sie luden Geschwister und Kinder anderer Klassen dazu ein.

Auf dem Schulhof funktionierten sie einen Bollerwagen zur Pferdekutsche um, indem sie sich selbst ins Geschirr legten und für Kinder anderer Klassen "Ponyfahrten" anboten. Monika war an diesen Aktivitäten maßgeblich beteiligt. Niemals sagte sie: "Das kann ich nicht."

Während der Projektzeit entstanden viele Texte, Zeichnungen, Poster, Fotos und Collagen, die wir zu gewichtigen Zeitungen zusammenbanden. Die Kinder konnten diese Produkte mit nach Hause nehmen und den Eltern das Pferdeprojekt noch einmal vorstellen. Monika hat unter anderem ihre Kenntnisse vom Hufschmied, ihre Lieblingspferde und deren Namen geschrieben und gemalt - jeweils mit pädagogischer Unterstützung. Diese Zeitungen lagen noch lange auf dem Tisch; Monika ließ sich oft daraus vorlesen.

Im Sandkasten wurden Ställe und Anlagen des Reiterhofs nachgebaut. Dazu wurden Naturmaterialien, aus der Schulumgebung und Pferde aus Knetmasse gebraucht. Monika arbeitete an diesem "Reiterhof" engagiert mit und fand in den nächsten Wochen oft Mitspieler und Mitspielerinnen. Sie brachte vom Schulhof "Gäste" mit, denen sie die Anlagen genau erklären konnte.

Zum Abschluß des Pferdeprojekts nahmen wir die Einladung einer befreundeten Pferdebesitzerin zu ihrer Pferdekoppel an. Es entwickelte sich zwischen ihr und den Kindern ein interessantes Fachgespräch über die beiden Haflinger. Monika und ihre FreundInnen besuchten die Pferde noch einige Male am Nachmittag. Am nächsten Morgen berichtete Monika uns dann von ihren Erlebnissen.

In der Projektarbeit haben die Kinder erfahren, daß ihre persönliche Auseinandersetzung mit einem Thema, einer Fragestellung, Tieren oder Menschen zu hoher Befriedigung führte, aber auch zur Anerkennung durch andere Personen wie Mitschüler, Lehrer und Eltern. Durch ihr interessengeleitetes Lernen haben sie ihre Begeisterung für schulisches Lernen die Grundschulzeit hindurch erhalten; die Motivation, die Neugierde blieb.

In unserem offenen und projektorientierten Unterricht wurden die Rechtschreibung oder die grammatikalischen Erfordernisse nicht als lästiges Anhängsel betrachtet. Nein, von Anfang an installierten wir die Werkstattstunden, in denen die Kinder an ihren ganz persönlichen Programmen im Lesen, Schreiben und Rechnen arbeiteten und übten. Bei den individuellen Hilfestellungen wurde uns Pädagoginnen deutlich, an welchen Punkten bei dem einen oder anderen Kind die Schwierigkeiten lagen; so konnten wir mit ihm persönlich besprechen, welche Übungen es brauchte, um an der Verbesserung zu arbeiten.

Mit dieser Arbeit an den eigenen Bedürfnissen und Interessen erreichten wir, daß die Kinder immer wußten, warum sie sich anstrengten und arbeiteten. Die persönlichen Übungen erzeugten bei den Kindern Erfolgserlebnisse, Motivation, Engagement, nie Widerwillen. Dies galt für alle Kinder, auch für Monika.

Ihre individuellen Übungsprogramme entwickelten sich aus den Wichtigkeiten ihres persönlichen Lebens. Ausgangspunkt war ihr Haus, ihre Familie, der Garten, Oma und Opa, die Freunde und Freundinnen in der direkten Nachbarschaft. Deshalb begann Monikas persönliches Lese- und Schreibprogramm mit vielen Fotos ihrer konkreten Umwelt, zu denen sie zunächst vorgeschriebene Wörter mit einem farbigen Stift nachschrieb. Später arbeitete sie mit ihrem individuellen Programm, den Karteikarten und Heften, in dem sie zu Dingen, Gegenständen und Bildern Wörter zuordnete und nachschrieb z.B.

Im Laufe der Zeit lernte Monika mit unserer Unterstützung fast alle Laute, Groß-, Kleinbuchstaben und die Druckschrift.

Das Zählen, Ordnen und Strukturieren übte sie immer wieder mit vielen kleinen Tonigeln und Holztieren, den Umgang mit Geld beim konkreten Verkaufen und Kaufen im klasseneigenen Kaufmannsladen und mit Rechenspielen. Auch die Rechenaufgaben auf ihren persönlichen Arbeitsblättern zeigten Igel und andere Tiere. Sie ging immer wieder an ihre täglichen Übungen heran - mit mehr oder weniger Schwung - und war stolz auf die richtigen Ergebnisse.

Am Ende des ersten Schuljahres wurde uns durch eine Reparatur der Sirene Monikas tiefsitzende Angst besonders deutlich. Als die Sirene laut aufheulte, sprang sie wie ein Blitz auf den Arm der Sonderpädagogin, hielt sich beide Ohren zu und weinte mit zusammengepreßten Augen. An diesem Tag ließ sie sich nicht mehr beruhigen. Ihre Angst blieb und die Mitschüler zeigten ihre betroffene Anteilnahme: "Warum hast du vor der Sirene Angst? Was machst du, wenn du allein auf dem Schulweg bist? Wie können wir Dir helfen?" Monika entwickelte eigene Strategien: Täglich fragte sie den Hausmeister nach möglichem Probealarm oder Sirenenreparatur, für den Schulweg suchte sie sich immer eine Begleitung. Ihre Mitschüler veranstalteten immer einen "Höllengegenlärm", wenn die Sirene wieder heulte. In der 3. Klasse schaute Monika von ihrer Arbeit auf, als die Sirene wieder einmal heulte und erklärte uns verdutzt Dreinschauenden: "Ich hab' keine Angst mehr, ganz einfach!"

Die Verminderung ihrer Angst vor Lärm, Neuem, Fremdem, Unbekanntem ging einher mit ihrem wachsenden Vertrauen und mit dem besseren Verstehen und Durchschauen von Zusammenhängen.

Trotz aller positiver Entwicklung gab es immer wieder Situationen, die Monika ängstigten. Sie war ihnen aber längst nicht mehr nur hilflos ausgeliefert, sondern lernte etwas dagegenzusetzen. So kam wieder große Angst in ihr hoch vor den ungewohnt tief fliegenden Düsenjägern auf der Klassenreise in der Lüneburger Heide. Sie schlug vor, an die Regierung zu schreiben und sich über die Tiefflieger zu beklagen.

Für Monikas Entwicklung waren die künstlerischen Unterrichtselemente von großer Bedeutung. Wir suchten immer wieder nach Situationen, in denen sich alle Kinder kreativ betätigen und ihren individuellen Zugang finden konnten.

Sich verkleiden, in Rollen schlüpfen, hinter einem Bettlaken und mit Hilfe einer Lichtquelle Schattenfiguren erzeugen, mit Papier und Gipsmasken und wallenden Tüchern Szenen entwikeln, einfache Sketche, Handpuppenspiele vorführen, eine Klassenreisenrevue kreieren, Märchen einstudieren... Die Liste der kreativen Lust, des Ausdrucks mit Mimik, Gestik und Sprache ließe sich um ein Vielfaches erweitern.

"Ich geniere mich immer so, wenn ich etwas vorspiele und ihr lacht!" Monika brauchte lange Zeit, bis sie Vergnügen am Sich-Verkleiden, Sich-Darstellen entwickelte und sich freier bewegte. Ihr Gesicht durfte nie bedeckt sein, und sie mußte die anderen Kinder in ihrer Verkleidung erkennen können.

Im dritten Schuljahr beschlossen die Kinder, das Märchen "Die Bremer Stadtmusikanten" aufzuführen. Die Verbindungstexte zwischen den einzelnen Szenen lernten alle Kinder gemeinsam als Chor. Die Hauptrollen wurden immer von drei Kindern besetzt. Monikas "Hundetext" saß bei den Proben noch nicht so sicher. Stockte sie im Text, sprachen die anderen "Hunde" die Sätze weiter, und Monika klinkte sich wieder mit ein. Bei der ersten Premiere (es gab ja insgesamt drei) saß Monika unter den Chorsprechern. Als die "Hundesprecherin" ihren Text vor Aufregung vergaß, sprach Monika ihn einfach weiter, und die Darstellerin fand ihre Worte wieder.

Am Ende der Klasse 4 führten Monika und zwei Mädchen die Eltern, Geschwister und Verwandten souverän durch das Programm der "Klassenfahrtrevue". Die drei Kinder freuten sich über den langanhaltenden Beifall. "Das war eine Show, nicht?" blitzte Monika ihren Bruder aus funkelnden Augen an.

Wir haben Monikas Entwicklung vier Jahre lang begleitet und sie langsam in ihrer Person besser verstehen gelernt. Wir bewunderten ihre intensive Aufmerksamkeit für innere Vorgänge und ihre spontanen Reaktionen, wenn sie entdeckte, daß jemand verletzt oder ungerecht behandelt wurde.

Sie hat es uns leicht gemacht, ihr individuelles Zeitmaß zu akzeptieren. Schwerer fiel es uns, ihre immer gleichen Geschichten anzuhören. Wir lernten, diese stereotypen Geschichten als Ausdruck ihrer Not und Angst zu verstehen und zu akzeptieren. In persönlicher Zuwendung von "Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz", konnten wir ihr alle - Kinder und Erwachsene - helfen, die Angst zu überwinden.

Monikas Übergang in die 5. Klasse der Gesamtschule bereitete ihr wieder neue, beängstigende Situationen. Da sie aber zusammen mit dem größten Teil ihrer Grundschulklasse in die Sekundarstufe I überwechselte, hatte sie verläßliche Feundinnen und Freunde, die ihre Signale verstehen konnten.



[1] Bärbel Goldbach und Renate Wibrow waren Monikas Lehrerinnen.

Rückblick auf sechs Gesamtschuljahre[2]

Es sind die Phantasten, die die Welt in Atem halten, nicht die Erbsenzähler.

(Graffiti 1995)

Im Laufe der Schulzeit nimmt die Heterogenität der Schülerschaft nicht ab, nein, sie steigert sich durchaus. In einem immer noch auf tendenzielle Homogenisierung ausgerichteten Gesamtschulkonzept ein Unterrichts- und Schulleben entfalten zu wollen, in dem sowohl 'schwerstmehrfachbegabte' als auch SchülerInnen mit 'geistigen Behinderungen' im Lernen voranschreiten können, sorgt für gut begründete Skepsis.

Wie dies möglich sein kann, soll am Beispiel von Rikes Sekundarschulzeit an einer Hamburger Gesamtschule mittels einiger Episoden veranschaulicht werden (vgl. hierzu Boban 1992a, 1995).

In unserer Praxis spielen obige kategorisierenden Begriffe zum Glück keine Rolle mehr - unsere SchülerInnen sind sehr unterschiedlich, haben sich aufgrund diverser Faktoren in verschiedensten Facetten entwickelt, tun dies zur Zeit und werden es immer tun. So ist es mit uns Menschen ja im allgemeinen. Es ist aber kein Grund, nicht auch gleiche Interessen zu entwickeln und gar dasselbe zu tun. Wichtiger als das Was ist uns das Wie, also die Überlegung, daß Themen und Unterrichtsgegenstände stets exemplarischen Charakter haben - Präferenz hat die Frage, ob Selbstbewußtsein und (Welt- und Selbst-)Erkenntnis befördert werden. So viel zu unser Grunderfahrung und Überzeugung, nun zur Praxis.

Rike, ein Mädchen, das neben vielen anderen Eigenschaften auch ein sie mehr oder weniger prägendes Down-Syndrom hat (weshalb ich sie hier in den Mittelpunkt stelle) und die Themen 'Dreieckshandel', 'Französische Revolution', 'Feindbilder', 'Hexenverfolgung', 'Nationalsozialismus', 'Vererbungslehre', 'Koordinatenkreuz', 'Statik', 'Suchtprävention', 'Familienplanung' und 'Stromkreise', 'Formen der Gewalt', 'Zukunftsvorstellungen', 'Verlaufsbeschreibungen', 'Arbeiterbewegung', 'Wahlen'... Wenn wir uns all dies vorher so richtig hätten vorstellen und im Detail ausmalen wollen, uns wäre wohl schon am Anfang unseres gemeinsamen Weges die Puste ausgegangen (obwohl wir zugleich eigentlich immer die Tendenz hatten, uns zuviel vorzunehmen). Jetzt, nachdem Rike durch die Sekundarstufe mit mehr als all diesen Themen durchgegangen ist, fällt es mir schwer, mich für einzelne Beispiele des 'Wie haben wir's gemacht und was hat sie gemacht?' zu entscheiden.

Sie hat sich entschieden: Bei der Abschlußfeier nahm Rike dem Schulleiter das Mikrophon ab und verkündete dem Plenum spontan, daß sie sich für alles bedanken wolle, was sie hier gelernt habe, vor allem, daß sie jetzt alles über Anne Frank wisse. Fragt man sie nach ihren Lieblingsfächern, so hört man die gute Mischung von Englisch, Kunst, Chemie und Politik.

Am Anfang war das noch ganz anders. Da haderte sie oft damit, nicht zu verstehen, worum es 'den anderen' eigentlich gerade ging. Dann sprang sie unvermittelt auf, rannte türenknallend in den Gruppenraum und warf sich schimpfend und sich in Selbstgespräche flüchtend auf das Sofa. Ihre MitschülerInnen und das Team der PädagogInnen eilten zunächst oft bestürzt hintendrein, um zu trösten, zu erklären, zu vermitteln.

Wir versuchten uns klarzumachen, daß für Rike die Welt permanent im Zeitraffer liefe und wie dann das Bild der Welt aussähe, wie wenig wir von diesem Film verstünden. Dies war unsere Grundhypothese für ein besseres Verstehen. Allmählich dämmerte uns aber auch das Dilemma, daß wir auf Dauer weder die Lust noch das Vermögen haben würden, dafür zu sorgen, daß sich eigens für Rike die weitere Gegenwart in der für sie notwendigen Zeitlupe - um im Bild zu bleiben - abspielen würde.

Ab nun war es unser aller Ziel, daß Rike selbst den 'Geschwindigkeitsregler' in die Hände bekam und übernahm, selbst für 'Zeitlupe' und 'Wiederholung' aktiv zu sorgen. Darin lag der einzig hilfreiche Hebel, um mehr vom Film erfassen und verstehen zu können - und um selber entscheidende Rollen darin übernehmen zu können!

"Hast Du verstanden, warum alle solche Angst vor morgen haben?" - "Nö." - "Möchtest Du es verstehen?" - "Ja, schon ..." - "Dann mußt Du nachfragen: 'Was ist los? Erklärt es mir!'!" - "Okay, wer kann mir mal erklären, was mit morgen ist?" Und Ralf springt auf, um ihr per Körperhaltung zu demonstrieren, welch angsteinflößende Typen morgen in der U-Bahn sein könnten, da sich die 'Faschos' im nahen Stadtpark zu Hitlers Geburtstag treffen wollen. "Ey Rike, wenn so einer auf Dich zukommt, was machst Du dann?" Rike holt zu einem kräftigen Schlag auf den Kopf des Angreifers aus: "Dann mach ich pusch!" Ab jetzt sind alle hochgradig engagiert und erarbeiten mit ihr im Rollenspiel andere Möglichkeiten, wie Rike morgen unbehelligt zur Schule gelangen könnte.

Das war in der sechsten Klasse. Es sollte noch dauern, bis Rike die Möglichkeit, in Situationen stärker einzugreifen, richtig für sich entdeckte und nutzte. Der Durchbruch passierte im Chemie-Unterricht im siebten Schuljahr. Es ist gerade ein klassisches Chaos ausgebrochen, der Bunsenbrenner mit einem Glasgefäß und einem brodelnden Inhalt ist umgekippt und Scherben und Flüssigkeit machen sich auf dem Pult breit, die SchülerInnen kreischen, der Chemielehrer und die Sonderpädagogin eilen fluchend hin und her. Als sich die Lage klärt und beruhigt, steht Rikes Arm in der Luft: "Was genau ist eben passiert?" Sie sorgt für Wiederholung und Zeitlupe!

Eine andere Strategie, mit der oft in vielerlei Hinsicht wenig hinreichenden (Schul-) Wirklichkeit zurechtzukommen, hat sie - entsprechend wohl vielen anderen Millionen SchülerInnen auf dieser Welt - ohne diesbezügliche Empfehlungen von ihren LehrerInnen zeitgleich selbst entwickelt: Bluffen!

Der Physiklehrer hat eine Folie auf den Overheadprojektor gelegt und behauptet, daß es sich hierbei um einen Stromkreis handele. Diejenigen SchülerInnen, die nun der Auffassung wären, daß dieser geschlossen sei, sollten sich melden. Rike meldet sich mit einigen anderen. "So, Du meinst also, dieser Stromkreis ist ein geschlossener, na, dann komm mal her, nimm den Kugelschreiber und zeig uns, wie der Strom fließt!" Rike setzt ohne Zögern an den Punkten an, die die Stromquelle repräsentieren und fährt mit dem Stift auf der Linie entlang, durch einige Symbole hindurch, bis sie wieder bei der Stromquelle ankommt. "Prima, das ist richtig, Rike hat recht, dieses ist ein geschlossener Stromkreislauf!" Ihre verblüffte, physikalisch unterbelichtete und in der Geistigbehindertepädagogik entsprechend anders geprägte, auf Konkretisierung orientierte Sonderpädagogin eilt zu ihr: "Woher wußtest Du das?" Rike winkt beruhigend ab: "Hab ich geraten!" Ist das nicht großartig? Sie hat einen Weg gefunden, 'zudringliche' LehrerInnen abzufertigen, gerät nicht unter Druck und Ratlosigkeitsverzweiflung. Wenn es sie sowieso nicht interessiert (und wie könnte einen immer alles in der Schule angehen?), aber es nun mal kein Entrinnen aus bestimmten Situationen gibt, dann kann sie handlungsfähig bleiben, und sie versucht ihr Glück mit Raten, Trefferquote 50% ... Sehr beruhigend!

Aus diesen kleinen Situationsschilderungen mag neben Rikes Entwicklung deutlich werden, daß sie sich in einem Rahmen zu bewegen lernen mußte, der sich sehr häufig nicht vom klassischen unterschied und schon längst und nicht nur ihretwegen, sondern für alle SchülerInnen verändert gehörte. Aber wider besseren Wissens und zu unseren Grenzen stehend, die oft eben die des Systems sind, konnten wir nur behutsam und in Teilbereichen Veränderungen in unserem integrativen Sinne realisieren. Während des Weges war dies manchmal schmerzlich. Jetzt im Rückblick erscheint es mir schon als historisch wichtig, immerhin an einigen Stellen etwas bewegt zu haben und Rike quasi nicht vom bundesrepublikanisch wohl typisch durchschnittlichen Unterricht ausgeschlossen zu haben, sondern ihr dessen Unzulänglichkeiten zugemutet zu haben, so wie ihren nichtbehinderten Altersgenossen. Sie hat hier die oben beschriebenen, auch für andere Situationen des Lebens nützlichen Bewältigungsstrategien entwickelt.

Aber sie hat auch von den positiven Qualitäten des Schullebens und Unterrichts einer stinknormalen Schulrealität profitiert. Hier meine ich wieder die nicht von den Erwachsenen intendierten und organisierten Effekte - auf die komme ich jetzt, nachdem ich hoffentlich sichergestellt habe, daß Rike also nicht durch einen Rosengarten ging, sondern gerade auch aus den weniger 'gelungenen' Alltagen lernen mußte und konnte!

Wie sich aus obiger Aufzählung schon schließen ließ, hatte Rike für Mathe nicht allzu viel übrig. Insbesondere hier brachte sie eine offenkundig altbewährte Kompensationsstrategie ein: Material verschwinden lassen! Das Mathebuch wurde tief hinter die Heizungstrallen geschoben und alles, was nach mathedidaktischem Utensil aussah, ging auf mysteriöse Weise verloren. Es mußte schon zuviele Situationen gegeben haben, in denen auf mehr oder weniger ansprechende Art Rike und ihr Mengenbegriff - ganz zu Schweigen vom Mengeninvarianzbegriff - focussiert worden war. Sie war mittlerweile resistent gegen Muggelsteine, Stäbchen oder montessorische Perlenblöcke. Auch noch so gut verpackte, weil lebensnähere Aufgaben wie das Zuteilen von Kompottpflaumen im Arbeitslehre-Unterricht weckten ihr Mißtrauen ...

Wir wären auf verlorenem Posten gewesen, hätte Rike nicht so begeistert auf das neue Fach Englisch reagiert. Hier waren alle damit befaßt kundzutun, daß da 'two apples' oder 'four spoons' aber 'one nose' im Spiele waren. Rikes Faible für Fremdsprachen hätten wir diesbezüglich noch stärker nutzen können, denn sie wollte später als Wahlpflichtfächer Französisch und Spanisch wählen. Sie scheiterte am Widerstand ihrer dann doch komplett arbeitsüberlasteten PädagogInnen.

Richtig sicher ist Rike im Umgang mit Mengen wie Zahlen nicht geworden. Das Problem, mit Geld zurecht zu kommen, z.B. bei ihrer Mitarbeit in der Schulcafeteria, löste sie über ihr gutes Gedächtnis: Sie lernte die Preise auswendig wie ein Gedicht und allmählich entwickelte sie Routine in allen Detailfragen des Geldtransfers - augenscheinlich, ohne dabei irgendwelche Rechen-Denk-Operationen zu vollziehen.

Hier wäre kritisch zu analysieren, inwieweit uns PädagogInnen Versäumnisse anzukreiden sind. Oder aber agierten wir gemeinsam entlang der Grenze von Rikes derzeitigem Vermögen, eventuell basierend auf einer immer noch labilen personalen Differenziertheit von der 'Ganzheit' Welt?

Es gelang uns auch im achten Schuljahr, einen Projekttag einzurichten - mittlerweile eine Einrichtung für die ganze Schule - , indem wir einige Stunden der Fächer Politik und Kunst blockten und beide FachlehrerInnen gemeinsam mit der Sonderpädagogin fächerübergreifend die Realisationsmöglichkeiten für verschiedenen Themen planten. Bei dem Projekt 'Feindbilder' mit der Fragestellung 'Wie werde Menschengruppen zu Feinden gemacht?' kristallisierten sich bei den SchülerInnen drei Interessenschwerpunkte heraus: Eine Gruppe bearbeitete die gegenwärtige Ausländerfeindlichkeit, eine weitere näherte sich dem Phänomen der Judenverfolgung während der Nazizeit und die dritte Gruppe ging der Frage nach, wie im Mittelalter Frauen zu Hexen gemacht wurden.

Rike kannte 'die kleine Hexe' und wußte, daß Hexen auf Besen und neuerdings auch auf Staubsaugern reiten und um den 'Bibi Blocksberg' fliegen. Ihre Neugier, warum irgendjemand etwas gegen Hexen haben sollte, war groß: "Außer natürlich - sie ist so fiese wie die bei Hänsel und Gretel, dann gehört sie auch verbrannt!"

Auch die anderen SchülerInnen waren noch voll von entsprechenden Klischees, die sie im Gespräch und vor allem in gezeichneten Hexendarstellungen äußerten. Eine lebensgroße, vogelscheuchenähnliche, häßliche alte 'Wakelzahn' wurde gemeinsam geschaffen und auf den Stuhl beim Lehrerpult plaziert. Sie behielt diesen zweifelhaften Ehrenplatz mit der unzweifelhaften Botschaft noch lange inne ...

Das Verständnis für die zu Hexen erklärten Frauen wandelte sich jedoch gewaltig: Mit verteilten Rollen lasen wir den Dialog einer Inquisitionsverhandlung. Die SchülerInnen äußerten den Wunsch, die Szene zu spielen. Die der 'Hexerei' verdächtigte Frau legte sich auf den Tisch, vier schwarzvermummte Folterer hielten sie an Händen und Füßen fest - "Ach ja, die Vollstrecker!" - und der Inquisitor stellte seine teuflisch brennenden Fragen. Die Gruppe entschied sich dafür, zur Verdeutlichung dessen, was da eigentlich geschieht, daß während seiner Fragen ein Teufel unter seiner Kutte hervorgehuscht kommt und der Frau eine klassische Hexenmaske auf das Gesicht legt. Versucht die Frau zu antworten, verschwindet der Teufel unter der Kutte des 'Hexenmachers' und die Frau kann ihr wirkliches Gesicht zeigen - besser kann man wohl kaum Stigmatisierungsprozesse darstellen. Rike übernahm die Rolle mit der Teufelsmaske und konnte genau erklären, daß da eigentlich eine einfache Frau ist und andere, mit bösen Absichten, nur wollen, daß sie wie eine Hexe aussieht.

Auch die anderen Gruppen stellten als Resultat ihrer Beschäftigung mit der Frage 'Wie Menschen mit jüdischem Glauben oder anderer Nation zu Feinden gemacht wurden und werden' u.a. Szenen vor. Rike fiel jetzt der Transfer leicht und sie erkannte und formulierte: "Das ist ungerecht so, alle sind Menschen, alle wollen in Ruhe leben!"

Immer wieder mußten wir uns in den letzten Jahren mit Ereignissen wie in Rostock und Mölln in der Schule befassen - wir konnten unmöglich zum Alltag übergehen. Rike verstand, warum wir alle so entsetzt waren, warum wir uns aufregten. Sie erkannte das Hexenmuster wieder, ging aus Überzeugung gegen solche 'Verfolger und Vollstreker' auf Demonstrationen und reihte sich in Lichterketten ein. Sie malte sich in einer Menschenkette voller Liebe für jedes Detail und druckte mit an einem Gedicht, das wir in die Pausenhalle hängten. Später überraschte sie uns damit, daß sie es heimlich auswendig gelernt hatte, weil es ihr Lieblingstext sei: "Wann ist endlich Frieden?" von Wolf Biermann.

Auch was sich hinter dem nichtssagenden Begriff 'Dreieckshandel' an Unglaublichem verbirgt, hat Rike über Rollenspiele nachvollzogen. In Europa vor der Tafel wurde ein Schiff mit Tand und Töpfen beladen. In Afrika vor den Fenstern wurden diese Waren angeboten und das Schiff mit gekauften Menschen beladen, die nun nach Amerika bei der Tür gebracht wurden, wo sie als Sklaven auf den Feldern reicher Leute schuften mußten. Das Schiff setzte nun seine Reise zurück nach Europa mit Gütern aus Amerika fort und vervollständigte damit den dritten Schenkel zum Dreieck, wenn also vor unserer Tafel Zucker, Baumwolle oder gar Gold angeboten wurde.

Rikes größtes Interesse galt den Sklaven, und so hielten wir uns längere Zeit in den Plantagen auf, in sengender Hitze schuftend, fern von Zuhaus, und empfanden nach, was diese Menschen wohl gefühlt haben. In einer klassenübergreifenden Gruppe, die sich einmal wöchentlich im Psychomotorikraum traf, entwickelte sich durch Rike wiederum ein Spiel zum Thema Sklaverei. Ich gab den Impuls ein, daß die Menschen in dieser Situation zu singen begannen, um ihre Gefangenschaft und Unterdrükung ertragen zu können. Die SchülerInnen fingen an, Melodien und zum Teil auch Texte zu improvisieren, die so unter die Haut gingen, daß es ansonsten ganz still wurde und alle einander fasziniert zuhörten!

Die Französische Revolution - die bei unseren 'pubertätsgeplagten' SchülerInnen insgesamt auf sehr geringes Interesse traf - war für Rike zunächst eine echte Provokation. Schließlich hatte sie ein Herz für Könige, da sie sie einfach immer als märchenhafte Typen kennengelernt hatte. Nun mußte sie erfahren, daß da ein gewisser Ludwig sich ganz und gar nicht königlich, väterlich und volksliebend verhalten hatte. Sie erfuhr, daß das hungrige Volk den Preis für das Brot nicht mehr bezahlen konnte, während Ludwig mit dem Prunk nur so praßte. Rike hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, weswegen sie in der Grundschulzeit auch zur Klassensprecherin gewählt worden war. Und so verstand sie die Empörung der Leute in Paris recht gut. Sie lernte das Lied von der armen Mademoiselle Marianne, die schließlich protestiert und sogar mit Pflastersteinen gegen die Soldaten des Königs vorgeht.

Rike, die anders als ihre MitschülerInnen nur mit großer Mühe Informationen durch Lesen aus Texten ziehen konnte, war stets angewiesen auf andere Zugangsmöglichkeiten, und so entfaltete sich eine gewisse musische Kultur, die aber mit den älter und damit oft distanzierter werdenden Jugendlichen immer schwerer zu pflegen wurde. Während die Traumreisen durch's alte Ägypten, das Anfertigen von Gipsreliefs und Pharaonenmasken, das Bauchtanzfest mit dem Couscous-Essen wie auch unser selbstgemachter Schmettersong von den alten Römern sicher noch allen in bester Erinnerung ist, nahm im Laufe der Zeit bei vielen MitschülerInnen die Lust ab oder vielleicht eher die Scheu zu, sich auch spielend, singend, träumend der Vergangenheit, der Gegenwart oder auch der Zukunft zu nähern.

Inwieweit Rike noch stärker im bildhaft, intuitiven, in der Dominanz ihrer rechten Gehirnhälfte Zugänge zur Welt sucht und allmählich ins Gleichgewicht mit der linken Hirnhälfte kommt und so die Verbindung zu rationalen, linearen Strategien gelingt, während viele Gleichaltrige hier bereits zu stark in die (schul-)gesellschaftlich rationale Vereinseitigung gerutscht sind, bleibt Hypothese.

Wenn ein 'überzeugter Geistigbehindertenschul-Pädagoge' uns manchmal hätte beobachten können, dann wäre er vielleicht schreckensbleich davongerannt, da er seine Prinzipien des kleinschrittigen Voranschreitens, der Anschaulichkeit und Sinnenhaftigkeit nicht entdecken konnte und ein - womöglich optimales - Förderprogramm, oder zumindest eine anständige, gut fundierte Lernzielorientierung vermißte.

Dann aber hätte er nicht miterlebt, wie z.B. bei der außer auf seiten der Fachlehrerin insgesamt nicht eben lustbetonten Behandlung des Themas 'Gewerkschaften' Rike plötzlich von der Zeichnung ihrer roten Nelke aufblickt und sich in das Unterrichtsgespräch einmischt: "Die SPD kenn' ich von meinem Vater; ich frag ihn nachher mal, ob er mir was mitgeben kann. Ich glaube, er findet die SPD besser als Herrn Kohl!" Tja.

Eine gewisse Abwehr oder Nüchternheit der immer stärker nach außen bzw. in die eigene Peer-Group oder Clique oder gar schon Zweierbeziehungskiste drängenden MitschülerInnen sorgte häufig für eine zunehmende Fixierung Rikes auf uns PädagogInnen.

Die latent schwelenden Identitätskrisen während dieser Lebensphase führten zu Gereiztheiten unter den Jugendlichen, die für Rike oft unerklärlich blieben, da diese mit keinem Hebel nachvollziehbarer wurden, solange die Betroffenen selbst sich kaum verstanden. Aber auch Rike geriet schließlich selbst in eine heftige Krise, in der sie die Fragen "Wer bin ich? Warum bin ich wie ich bin? Was ist anders an mir?" bearbeitete. Auch ihr Satz "Ich fühle mich einsam und elend..." (Boban & Matthies 1994) stammt aus dieser Phase. Sie so hadern zu sehen und zu hören, war nicht leicht zu ertragen, vielleicht, weil wir unter dem Erfolgsdruck standen, 'es darf einem Kind mit Behinderung in einer integrativen Situation nie schlecht gehen!' Nur langsam veränderte sich unsere Sicht der Dinge dahingehend, daß es vielleicht vor allem ein Zeichen einer normal verlaufenden Pubertät ist, was Rike uns - allerdings deutlicher als ihre MitschülerInnen - an kriseligem Selbst-ver-zweifeln zeigte. Und war es nicht ein Zeichen für die Tragfähigkeit des sozialen Netzes, daß sie uns nicht die immer positive Emotionalität des 'Sonnenscheins' zeigen mußte, sondern uns ihre Krise zumuten konnte?

In diese Zeit, im neunten Schuljahr, fällt der Besuch unserer Klasse bei einer Beratungsstelle von Pro Familia, wo sie sich gegen Ende wie folgt zu Wort meldete: "Was meinen Sie, sollte ich als behinderte Frau ein Kind bekommen oder nicht?" Bis dahin hatten viele im wesentlichen aufgenommen, daß eine Abtreibung ca. 5 Minuten dauert, man nüchtern kommen müsse und hinterher ein Frühstück bekomme. Nun jedoch trat atemlose Stille ein. Sehr zur Erleichterung der gefragten Beraterin setzte Rike selbst fort: "Ich denke eher nicht, denn ich sehe ja bei Mama und meinem kleinen Bruder, wie schwer das ist, ein Kind zu erziehen; ich glaube nicht, daß ich das schaffen könnte." Es entstand echte Nachdenklichkeit.

Rike hat sich ihr kritisches Reflektieren bewahrt und seit dem Religions- und dem Ethikunterricht um einige Fragestellungen erweitert. Auf der Abschlußreise am Lagerfeuer blickte sie in die Sterne und dachte laut über Gott, Freundschaft und die Liebe nach: "Ist die Liebe, wenn man ganz nahe bei einem sein will?"

Auch wenn wir sicher oftmals der Situation nicht voll gerecht wurden und alle Beteiligten hin und wieder überfordert waren: Wir haben alle in diesen Jahren sehr viel voneinander gelernt und sind stolz auf Rike und glücklich über diese gemeinsame Zeit. Wir meinen erkennen zu können, daß sich hier der schöne Satz verwirklichte: "Integration vollzieht sich, wenn die Anwesenheit des einen Spuren im Fühlen, Denken und Handeln des je anderen hinterläßt."

Als wir begannen, solche Möglichkeiten bildungspolitisch zu erstreiten und durchzusetzen, argumentierten wir u.a. auch damit, auf diese Weise einstmals zu 'anderen IngeneurInnen, Krankenschwestern, ÄrztInnen, LehrerInnen, NachbarInnen usw.' zu kommen. Ein Schüler, der zu Beginn seiner Schulzeit aufgrund von Wahrnehmungs- und Verhaltensproblemen auch als 'behindert' seinen Weg begann und nun das Abitur ansteuert, kommentierte dies nach der gemeinsamen Gesamtschulzeit ungefähr so: "Klar hat zum Beispiel die Tatsache, daß Rike hier war, alle beeinflußt. Das hat keinen unbeeindruckt gelassen, auch nicht die, die immer einen auf cool machen!"



[2] Ines Boban war Rikes Lehrerin

Wesentliche Erfahrungen nach 12 Jahren gemeinsamen Unterrichts

Kinder mit geistigen Behinderungen entwickeln sich häufig in Integrationsklassen in einer Weise, wie wir es nicht erwartet hätten.

In sozialer Hinsicht weisen Kinder mit geistigen Behinderungen das gleiche Spektrum an Rollen und sozialen Positionen auf wie nichtbehinderte Kinder; mitunter sind gerade sie verbindende Elemente der Klassengemeinschaft, wenn es z.B. eine Tendenz zur Teilung zwischen Mädchen und Jungen gibt. Es gibt in der Grundschule keinerlei Anzeichen für eine generelle Tendenz zu Vereinsamung und zu Frustration. In der Sekundarstufe I tauchen häufiger Krisenphasen auf; dies hängt mit verstärkter Reflexion der SchülerInnen über die eigene Person zusammen und mag phasenweise abnehmende soziale Bezüge verstärken. Gleichwohl geht in der Regel die (für alle) schwierige Phase der Pubertät in eine Phase verstärkten sozialen Zusammenhalts gegen Ende der Sekundarstufe I über - die Krisen können überwunden werden.

In kognitiver Hinsicht sind PädagogInnen und Eltern mit der Entwicklung in den meisten Fällen sehr zufrieden, häufig werden ihre Erwartungen übertroffen. SchülerInnen mit geistigen Behinderungen beschäftigen sich mit einer Vielzahl von Inhalten, mit denen sie in der Schule für Geistigbehinderte nicht in Berührung gekommen wären, seien es Fremdsprachen, das Koordinatensystem, Kolonialismus und Dreieckshandel oder Vererbungslehre und Statik.

Wir trauen uns heute zu sagen: Uns erscheint die Integrationsklasse als die Form schulischer Erziehung für Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen, die die weitaus besten Möglichkeiten zu sozialer Integration mit dem größten Potential an kognitiven Entwicklungsanregungen bietet und die deutlich andere Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung bereithält. Sie trägt zu mehr Selbstbewußtsein und Selbstreflexion, zu mehr Erkenntnisfähigkeit über sich und die Welt bei.

Gleichzeitig wird für uns zunehmend unklarer, was 'geistige Behinderung' im Zusammenhang mit unseren Erfahrungen eigentlich noch bedeutet; wir haben die Befürchtung, daß vieles, was bisher als Ausdruck 'geistiger Behinderung' interpretiert wurde, eigentlich logische Akte der Gegenwehr gegen eine Geistigbehindertenpädagogik sind, die ihre AdressatInnen sich in einer auf sie zugerichteten Welt unter den Bedingungen einer "strukturellen Deprivation" (vgl. BOBAN & HINZ 1993, 338) nur so hat entwickeln lassen.

So stellt sich anhand unserer Praxiserfahrung das 'Prinzip der kleinen Schritte' als durchaus nicht maßgeblich dar: Wir empfinden sie eher als wenig hilfreiches Prinzip von "Häppchen und Päppchen" (GOLDBACH & WIBROW in SCHWARZ 1994, 9). Auch fehlt uns der Glaube an die Sinnhaftigkeit einer 'optimalen Förderung', die immer nur als Forderung, nie aber als individueller Nachweis auftaucht. Wir neigen eher zur Pflege einer "Kultur des Unperfekten" (BOBAN 1992b, 152) und sind uns einig über den Wert des steten Zweifels ob des eigenen Tuns. Zwar ist es nicht eben immer einfach, mit der eigenen Unsicherheit offen umzugehen. Aber es erleichtert den Abschied von Allmachtsphantasien und Selbstüberschätzungstendenzen bei uns PädagogInnen in Bezug auf das, was wir mit und an Kindern 'machen' können.

Wichtiger noch als eine Diagnostik der 'Zone der nächsten Entwicklung' eines Kindes erscheint uns heute die gemeinsame Reflexion über die 'Zone der vorherigen Entwicklung', und zwar gemeinsam auch mit ihm selbst. Wichtiger als das Ambitioniertsein das Erwachsenen ist das des Kindes, ihm muß der Raum eröffnet sein. Das wichtigste ist, daß sich das Kind seiner selbst bewußt wird.

Um so leichter fällt dann auch der Abschied von der Illusion, stets operationalisierte Ziele für die SchülerInnen definieren zu müssen - und überhaupt zu können - und die damit verbundenen Gedankenübungen über die Methodik, wie denn Inhalte an sie heranzubringen seien. Notwendig ist vielmehr der aufrichtige, direkte Dialog mit den Kindern darüber, was sie lernen wollen, wie sie es lernen wollen und was sie hierzu brauchen. Dies ist oft auch ein stummer Dialog, bei dem wir PädagogInnen gefordert sind, Handlungen, Gesten oder Mimiken eines Kindes zu interpretieren und mit entsprechenden Hypothesen ein Arrangement zu treffen, das die SchülerInnen für sich nutzen können.

Kinder wirklich als Akteure ihrer Entwicklung - und nicht als Objekte unseres Unterrichts - ihre Schulzeit hindurch wachsen zu lassen, ist nicht in erster Linie ein Problem einer nicht hinreichenden Schulalltagsorganisation mit all ihren widersinnigen, einengenden, behindernden Strukturen. Zweifellos gilt es hier eine Fülle von hinlänglich beschriebenen Veränderungen vorzunehmen - angefangen bei der Aufhebung des Stundentakts und der Zergliederung in Fächer.

Die eigentlich grundlegende Veränderung muß jedoch in den Köpfen, Herzen und mit den Händen passieren: Die 'Kunst' ist, die Kinder wirklich zu verstehen (vgl. hierzu SPRINGER 1990). Eine Veränderung von Schule durch das Denken und Fühlen der PädagogInnen muß aber von bildungspolitischer Seite erkennbar gewünscht und spürbar unterstützt statt z.B. durch Erhöhung von Klassenfrequenzen, Stundendeputaten u.ä. weiter belastet oder blockiert zu werden. Zugleich werden dann eine Vielzahl von strukturellen Neuerungen durch 'integrativ motivierte' PädagogInnen geschaffen werden.

Diese von uns so betonte Beziehung zwischen SchülerInnen und PädagogInnen ist die primäre Grundlage für schulisches Leben und Lernen. Sie hat für uns deutliche Priorität vor Aussagen zu didaktischen Überlegungen.

Zur Entfaltung dieser Schulwirklichkeit für alle brauchen wir ein verläßliches, kontinuierliches, selbstverständliches und im wahrsten Sinne des Wortes all-tägliches Miteinander. In einer punktuellen 'Kooperation' ist kein Rahmen zu schaffen, der auch in krisenhaften Phasen zuverlässig hält und trägt.

Wir brauchen also Eltern, PädagogInnen und BildungspolitikerInnen, die an das Potential einer "Vielfaltsgemeinschaft" (V. LüPKE 1994) als Gewinn für alle Beteiligten glauben und es zu entfalten helfen; die demnach nicht mehr in den Kategorien Wir-Erwachsenen und Sie-Kinder, Wir-Deutschen und Sie-Ausländer, Wir-Nichtbehinderten und Sie-Behinderten usw. denken. Wir sind alle verschieden. Unser Glück ist, daß wir Gemeinsamkeit mit anderen finden und uns so verstehen können.

Literatur

BEHNKE, R., CIOLEK, A. & KöRNER, I.: Arbeiten außerhalb der Werkstatt. Die Hamburger Arbeitsassistenz - ein Modellprojekt zur beruflichen Integration für Menschen mit geistiger Behinderung. Geistige Behinderung 32, Heft 4, Praxisteil, 1993

BOBAN, I.: Neue Verhältnisse. In: SCHLEY, BOBAN & HINZ 1992a, 213-222

BOBAN, I.: Integration in Schule und Kollegium. In: SCHLEY, BOBAN & HINZ 1992b, 145-152

BOBAN, I.: Ein(-)Blick in die Praxis 'der Integration' in der Sekundarstufe I am Beispiel einer Schülerin der Gesamtschule Winterhude in Hamburg. In: Eltern für Integration Berlin (Hrsg.): Aussonderung macht kaputt. Aktualisierter Bericht vom Bundeselterntreffen 1991 in Berlin. Berlin: Selbstverlag 1995, 83-90

BOBAN, I. & HINZ, A.: Geistige Behinderung und Integration. Überlegungen zum Begriff der 'Geistigen Behinderung' im Zusammenhang integrativer Erziehung. Zeitschrift für Heilpädagogik 44, 1993, 327-340

BOBAN, I. & MATTHIES, I.: "Ich fühl mich einsam und elend" - Identitätskrisen von Jugendlichen mit Behinderungen während der Pubertät. In: ARBEITSSTELLE INTEGRATION DER UNIVERSITäT HAMBURG (Hrsg.): Die Schere geht auseinander. Integrative Prozesse in Integrationsklassen der Sek I. Bericht vom Fachtag im Mai 1994. Hamburg: Universität 1994, 25-30

BSB (Behörde für Schule und Berufsbildung): Das Aufnahmeverfahren für behinderte Kinder in Integrationsklassen an Grundschulen. In: WOKEN, H., ANTOR, G. & HINZ, A. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Grundschulen. Hamburg: Curio 1988, 77-86

GOLDBACH, B., TIEMANN, H., WIBROW, R. & SCHWARZ, H.: Haben Bienen Knochen? Gespräch über das Lernprojekt einer Integrationsklasse 3. Hamburg: Arbeitskreis Grundschule 1994

HINZ, A.: Kinder mit schwersten Behinderungen in Integrationsklassen. Theoretische Überlegungen und erste praktische Erfahrungen in Hamburg. Geistige Behinderung 30, 1991, 130-145

HINZ, A.: Heterogenität in der Schule. Integration - Interkulturelle Erziehung - Koedukation. Hamburg: Curio 1993

HINZ, A.: Das Aufnahmeverfahren für Kinder mit Behinderungen in Integrationsklassen. Ein Rückblick auf elf Jahre Aufnahmepraxis in Hamburg. Hamburg: Unveröff. Skript 1995

HINZ, A.: Körperbehindertenpädagogik zwischen spezieller Förderung und gemeinsamen Lernsituationen. Zeitschrift für Heilpädagogik 47, 1996 (im Erscheinen)

HINZ, A. & KöBBERLING, A. (Redaktion): Integrationsklassen in Hamburg. Hamburg: Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung 19942

HINZ, A. u.a.: Schwerstbehinderte Kinder in Integrationsklassen. Bericht über eine Fachtagung. Marburg: Bundesvereinigung Lebenshilfe 1992

V.LüPKE, K.: Nichts besonderes. Zusammen-Leben und Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderung. Essen: Klartext 1994

MATT, H. u.a. (Hrsg.): Integration von Kindern mit geistiger Behinderung und Kindern mit schweren Mehrfachbehinderungen. Berlin: Pädagogisches Zentrum 1992

SCHLEY, W., BOBAN, I. & HINZ, A. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Gesamtschulen. Erste Schritte zur Integrationspädagogik im Sekundarstufenbereich. Hamburg: Curio 19922

SCHWARZ, H.: Grundschule ohne Aussonderung - 'gemeinsame Schule für alle'. Unterrichtsbeispiel 'Tierparkbesuch'. In: SCHWARZ, H.: Lebens- und Lernort Grundschule. Frankfurt: Cornelsen Scriptor 1994, 57-71

SCHWARZ, H.: Interessenarbeit in der Grundschule. Gespräch mit Bärbel Goldbach und Renate Wibrow. Hamburg: Arbeitskreis Grundschule 1994

SPRINGER, K.: Ich seh dich. Lesebuch für einen individuellen, entwicklungsfördernden und heilsamen Unterricht. Linz: Veritas 1990

Quelle:

Ines Boban, Bärbel Goldbach, Andreas Hinz, Renate Wibrow: Aus Schritten wurden Wege

Erschienen in: ELTERN FüR INTEGRATION (Hrsg.): Integration in Hamburg. Hamburg: Selbstverlag

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 23.05.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation