"Ist die Liebe, wenn man ganz nahe bei einem sein will?" - ein Rückblick auf sechs Jahre Integration an einer Hamburger Gesamtschule

Autor:in - Ines Boban
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschriftenartikel
Releaseinfo: erschienen in: Nachdruck eines Beitrags aus der Zeitschrift Lernen konkret, 14. Jg., H.2, 1995
Copyright: © Ines Boban 1995

Vorbemerkung

(Zwischenüberschriften von BIDOK eingefügt)

Im Laufe der Schulzeit nimmt die Heterogenität der Schülerschaft nicht ab, nein, sie steigert sich durchaus. In einem immer noch auf tendenzielle Homogenisierung ausgerichteten Gesamtschulkonzept ein Unterrichts- und Schulleben entfalten zu wollen, in dem sowohl 'schwerstmehrfachbegabte' als auch SchülerInnen mit 'geistigen Behinderungen' im Lernen voranschreiten können, sorgt für gut begründete Skepsis. Wie dies möglich sein kann, soll am Beispiel von Rikes Sekundarschulzeit an einer Hamburger Gesamtschule mittels einiger Episoden veranschaulicht werden (vgl. hierzu BOBAN 1992, 1995).

In unserer Praxis spielen obige kategorisierenden Begriffe zum Glück keine Rolle mehr - unsere SchülerInnen sind sehr unterschiedlich, haben sich aufgrund diverser Faktoren in verschiedensten Facetten entwickelt, tun dies zur Zeit und werden es immer tun. So ist es mit uns Menschen ja im allgemeinen. Es ist aber kein Grund, nicht auch gleiche Interessen zu entwickeln und gar dasselbe zu tun. Wichtiger als das Was ist uns das Wie, also die Überlegung, daß Themen und Unterrichtsgegenstände stets exemplarischen Charakter haben - Präferenz hat die Frage, ob Selbstbewußtsein und (Welt- und Selbst-)Erkenntnis befördert werden. So viel zu unser Grunderfahrung und Überzeugung, nun zur Praxis.

Rike - ein Mädchen aus der Integrationsklasse

Rike, ein Mädchen, das neben vielen anderen Eigenschaften auch ein sie mehr oder weniger prägendes Down-Syndrom hat (weshalb ich sie hier in den Mittelpunkt stelle) und die Themen 'Dreieckshandel', 'Französische Revolution', 'Feindbilder', 'Hexenverfolgung', 'Nationalsozialismus', 'Vererbungslehre', 'Koordinatenkreuz', 'Statik', 'Suchtprävention', 'Familienplanung' und 'Stromkreise', 'Formen der Gewalt', 'Zukunftsvorstellungen', 'Verlaufsbeschreibungen', 'Arbeiterbewegung', 'Wahlen'... Wenn wir uns all dies vorher so richtig hätten vorstellen und im Detail ausmalen wollen, uns wäre wohl schon am Anfang unseres gemeinsamen Weges die Puste ausgegangen (obwohl wir zugleich eigentlich immer die Tendenz hatten, uns zuviel vorzunehmen). Jetzt, nachdem Rike durch die Sekundarstufe mit mehr als all diesen Themen durchgegangen ist, fällt es mir schwer, mich für einzelne Beispiele des 'Wie haben wir's gemacht und was hat sie gemacht?' zu entscheiden.

Sie hat sich entschieden: Bei der Abschlußfeier nahm Rike dem Schulleiter das Mikrophon ab und verkündete dem Plenum spontan, daß sie sich für alles bedanken wolle, was sie hier gelernt habe, vor allem, daß sie jetzt alles über Anne Frank wisse. Fragt man sie nach ihren Lieblingsfächern, so hört man die gute Mischung von Englisch, Kunst, Chemie und Politik.

Am Anfang war das noch ganz anders. Da haderte sie oft damit, nicht zu verstehen, worum es 'den anderen' eigentlich gerade ging. Dann sprang sie unvermittelt auf, rannte türenknallend in den Gruppenraum und warf sich schimpfend und sich in Selbstgespräche flüchtend auf das Sofa. Ihre MitschülerInnen und das Team der PädagogInnen eilten zunächst oft bestürzt hintendrein, um zu trösten, zu erklären, zu vermitteln.

Wir versuchten uns klarzumachen, daß für Rike die Welt permanent im Zeitraffer liefe und wie dann das Bild der Welt aussähe, wie wenig wir von diesem Film verstünden. Dies war unsere Grundhypothese für ein besseres Verstehen. Allmählich dämmerte uns aber auch das Dilemma, daß wir auf Dauer weder die Lust noch das Vermögen haben würden, dafür zu sorgen, daß sich eigens für Rike die weitere Gegenwart in der für sie notwendigen Zeitlupe - um im Bild zu bleiben - abspielen würde.

Ab nun war es unser aller Ziel, daß Rike selbst den 'Geschwindigkeitsregler' in die Hände bekam und übernahm, selbst für 'Zeitlupe' und 'Wiederholung' aktiv zu sorgen. Darin lag der einzig hilfreiche Hebel, um mehr vom Film erfassen und verstehen zu können - und um selber entscheidende Rollen darin übernehmen zu können!

"Hast Du verstanden, warum alle solche Angst vor morgen haben?" - "Nö." - "Möchtest Du es verstehen?" - "Ja, schon ..." - "Dann mußt Du nachfragen: 'Was ist los? Erklärt es mir!'!" - "Okay, wer kann mir mal erklären, was mit morgen ist?" Und Ralf springt auf, um ihr per Körperhaltung zu demonstrieren, welch angsteinflößende Typen morgen in der U-Bahn sein könnten, da sich die 'Faschos' im nahen Stadtpark zu Hitlers Geburtstag treffen wollen. "Ey Rike, wenn so einer auf Dich zukommt, was machst Du dann?" Rike holt zu einem kräftigen Schlag auf den Kopf des Angreifers aus: "Dann mach ich pusch!" Ab jetzt sind alle hochgradig engagiert und erarbeiten mit ihr im Rollenspiel andere Möglichkeiten, wie Rike morgen unbehelligt zur Schule gelangen könnte.

Das war in der sechsten Klasse. Es sollte noch dauern, bis Rike die Möglichkeit, in Situationen stärker einzugreifen, richtig für sich entdeckte und nutzte. Der Durchbruch passierte im Chemie-Unterricht im siebten Schuljahr. Es ist gerade ein klassisches Chaos ausgebrochen, der Bunsenbrenner mit einem Glasgefäß und einem brodelnden Inhalt ist umgekippt und Scherben und Flüssigkeit machen sich auf dem Pult breit, die SchülerInnen kreischen, der Chemielehrer und die Sonderpädagogin eilen fluchend hin und her. Als sich die Lage klärt und beruhigt, steht Rikes Arm in der Luft: "Was genau ist eben passiert?" Sie sorgt für Wiederholung und Zeitlupe!

Bluffen - eine Strategie fürs Leben

Eine andere Strategie, mit der oft in vielerlei Hinsicht wenig hinreichenden (Schul-) Wirklichkeit zurechtzukommen, hat sie - entsprechend wohl vielen anderen Millionen SchülerInnen auf dieser Welt - ohne diesbezügliche Empfehlungen von ihren LehrerInnen zeitgleich selbst entwickelt: Bluffen!

Der Physiklehrer hat eine Folie auf den Overheadprojektor gelegt und behauptet, daß es sich hierbei um einen Stromkreis handele. Diejenigen SchülerInnen, die nun der Auffassung wären, daß dieser geschlossen sei, sollten sich melden. Rike meldet sich mit einigen anderen. "So, Du meinst also, dieser Stromkreis ist ein geschlossener, na, dann komm mal her, nimm den Kugelschreiber und zeig uns, wie der Strom fließt!" Rike setzt ohne Zögern an den Punkten an, die die Stromquelle repräsentieren und fährt mit dem Stift auf der Linie entlang, durch einige Symbole hindurch, bis sie wieder bei der Stromquelle ankommt. "Prima, das ist richtig, Rike hat recht, dieses ist ein geschlossener Stromkreislauf!" Ihre verblüffte, physikalisch unterbelichtete und in der Geistigbehindertepädagogik entsprechend anders geprägte, auf Konkretisierung orientierte Sonderpädagogin eilt zu ihr: "Woher wußtest Du das?" Rike winkt beruhigend ab: "Hab ich geraten!" Ist das nicht großartig? Sie hat einen Weg gefunden, 'zudringliche' LehrerInnen abzufertigen, gerät nicht unter Druck und Ratlosigkeitsverzweiflung. Wenn es sie sowieso nicht interessiert (und wie könnte einen immer alles in der Schule angehen?), aber es nun mal kein Entrinnen aus bestimmten Situationen gibt, dann kann sie handlungsfähig bleiben, und sie versucht ihr Glück mit Raten, Trefferquote 50% ... Sehr beruhigend!

Aus diesen kleinen Situationsschilderungen mag neben Rikes Entwicklung deutlich werden, daß sie sich in einem Rahmen zu bewegen lernen mußte, der sich sehr häufig nicht vom klassischen unterschied und schon längst und nicht nur ihretwegen, sondern für alle SchülerInnen verändert gehörte. Aber wider besseren Wissens und zu unseren Grenzen stehend, die oft eben die des Systems sind, konnten wir nur behutsam und in Teilbereichen Veränderungen in unserem integrativen Sinne realisieren. Während des Weges war dies manchmal schmerzlich. Jetzt im Rückblick erscheint es mir schon als historisch wichtig, immerhin an einigen Stellen etwas bewegt zu haben und Rike quasi nicht vom bundesrepublikanisch wohl typisch durchschnittlichen Unterricht ausgeschlossen zu haben, sondern ihr dessen Unzulänglichkeiten zugemutet zu haben, so wie ihren nichtbehinderten Altersgenossen. Sie hat hier die oben beschriebenen, auch für andere Situationen des Lebens nützlichen Bewältigungsstrategien entwickelt.

Aber sie hat auch von den positiven Qualitäten des Schullebens und Unterrichts einer stinknormalen Schulrealität profitiert. Hier meine ich wieder die nicht von den Erwachsenen intendierten und organisierten Effekte - auf die komme ich jetzt, nachdem ich hoffentlich sichergestellt habe, daß Rike also nicht durch einen Rosengarten ging, sondern gerade auch aus den weniger 'gelungenen' Alltagen lernen mußte und konnte!

Problembereich Mathematik

Wie sich aus obiger Aufzählung schon schließen ließ, hatte Rike für Mathe nicht allzu viel übrig. Insbesondere hier brachte sie eine offenkundig altbewährte Kompensationsstrategie ein: Material verschwinden lassen! Das Mathebuch wurde tief hinter die Heizungstrallen geschoben und alles, was nach mathedidaktischem Utensil aussah, ging auf mysteriöse Weise verloren. Es mußte schon zuviele Situationen gegeben haben, in denen auf mehr oder weniger ansprechende Art Rike und ihr Mengenbegriff - ganz zu Schweigen vom Mengeninvarianzbegriff - focussiert worden war. Sie war mittlerweile resistent gegen Muggelsteine, Stäbchen oder montessorische Perlenblöcke. Auch noch so gut verpackte, weil lebensnähere Aufgaben wie das Zuteilen von Kompottpflaumen im Arbeitslehre-Unterricht weckten ihr Mißtrauen ...

Wir wären auf verlorenem Posten gewesen, hätte Rike nicht so begeistert auf das neue Fach Englisch reagiert. Hier waren alle damit befaßt kundzutun, daß da 'two apples' oder 'four spoons' aber 'one nose' im Spiele waren. Rikes Faible für Fremdsprachen hätten wir diesbezüglich noch stärker nutzen können, denn sie wollte später als Wahlpflichtfächer Französisch und Spanisch wählen. Sie scheiterte am Widerstand ihrer dann doch komplett arbeitsüberlasteten PädagogInnen.

Richtig sicher ist Rike im Umgang mit Mengen wie Zahlen nicht geworden. Das Problem, mit Geld zurecht zu kommen, z.B. bei ihrer Mitarbeit in der Schulcafeteria, löste sie über ihr gutes Gedächtnis: Sie lernte die Preise auswendig wie ein Gedicht und allmählich entwickelte sie Routine in allen Detailfragen des Geldtransfers - augenscheinlich, ohne dabei irgendwelche Rechen-Denk-Operationen zu vollziehen.

Hier wäre kritisch zu analysieren, inwieweit uns PädagogInnen Versäumnisse anzukreiden sind. Oder aber agierten wir gemeinsam entlang der Grenze von Rikes derzeitigem Vermögen, eventuell basierend auf einer immer noch labilen personalen Differenziertheit von der 'Ganzheit' Welt?

Projekt ‚Feindbilder'

Es gelang uns auch im achten Schuljahr, einen Projekttag einzurichten - mittlerweile eine Einrichtung für die ganze Schule - , indem wir einige Stunden der Fächer Politik und Kunst blockten und beide FachlehrerInnen gemeinsam mit der Sonderpädagogin fächerübergreifend die Realisationsmöglichkeiten für verschiedenen Themen planten. Bei dem Projekt 'Feindbilder' mit der Fragestellung 'Wie werde Menschengruppen zu Feinden gemacht?' kristallisierten sich bei den SchülerInnen drei Interessenschwerpunkte heraus: Eine Gruppe bearbeitete die gegenwärtige Ausländerfeindlichkeit, eine weitere näherte sich dem Phänomen der Judenverfolgung während der Nazizeit und die dritte Gruppe ging der Frage nach, wie im Mittelalter Frauen zu Hexen gemacht wurden.

Rike kannte 'die kleine Hexe' und wußte, daß Hexen auf Besen und neuerdings auch auf Staubsaugern reiten und um den 'Bibi Blocksberg' fliegen. Ihre Neugier, warum irgendjemand etwas gegen Hexen haben sollte, war groß: "Außer natürlich - sie ist so fiese wie die bei Hänsel und Gretel, dann gehört sie auch verbrannt!"

Auch die anderen SchülerInnen waren noch voll von entsprechenden Klischees, die sie im Gespräch und vor allem in gezeichneten Hexendarstellungen äußerten. Eine lebensgroße, vogelscheuchenähnliche, häßliche alte 'Wakelzahn' wurde gemeinsam geschaffen und auf den Stuhl beim Lehrerpult plaziert. Sie behielt diesen zweifelhaften Ehrenplatz mit der unzweifelhaften Botschaft noch lange inne ...

Das Verständnis für die zu Hexen erklärten Frauen wandelte sich jedoch gewaltig: Mit verteilten Rollen lasen wir den Dialog einer Inquisitionsverhandlung. Die SchülerInnen äußerten den Wunsch, die Szene zu spielen. Die der 'Hexerei' verdächtigte Frau legte sich auf den Tisch, vier schwarzvermummte Folterer hielten sie an Händen und Füßen fest - "Ach ja, die Vollstrecker!" - und der Inquisitor stellte seine teuflisch brennenden Fragen. Die Gruppe entschied sich dafür, zur Verdeutlichung dessen, was da eigentlich geschieht, daß während seiner Fragen ein Teufel unter seiner Kutte hervorgehuscht kommt und der Frau eine klassische Hexenmaske auf das Gesicht legt. Versucht die Frau zu antworten, verschwindet der Teufel unter der Kutte des 'Hexenmachers' und die Frau kann ihr wirkliches Gesicht zeigen - besser kann man wohl kaum Stigmatisierungsprozesse darstellen. Rike übernahm die Rolle mit der Teufelsmaske und konnte genau erklären, daß da eigentlich eine einfache Frau ist und andere, mit bösen Absichten, nur wollen, daß sie wie eine Hexe aussieht.

Auch die anderen Gruppen stellten als Resultat ihrer Beschäftigung mit der Frage 'Wie Menschen mit jüdischem Glauben oder anderer Nation zu Feinden gemacht wurden und werden' u.a. Szenen vor. Rike fiel jetzt der Transfer leicht und sie erkannte und formulierte: "Das ist ungerecht so, alle sind Menschen, alle wollen in Ruhe leben!"

Immer wieder mußten wir uns in den letzten Jahren mit Ereignissen wie in Rostock und Mölln in der Schule befassen - wir konnten unmöglich zum Alltag übergehen. Rike verstand, warum wir alle so entsetzt waren, warum wir uns aufregten. Sie erkannte das Hexenmuster wieder, ging aus Überzeugung gegen solche 'Verfolger und Vollstreker' auf Demonstrationen und reihte sich in Lichterketten ein. Sie malte sich in einer Menschenkette voller Liebe für jedes Detail und druckte mit an einem Gedicht, das wir in die Pausenhalle hängten. Später überraschte sie uns damit, daß sie es heimlich auswendig gelernt hatte, weil es ihr Lieblingstext sei: "Wann ist endlich Frieden?" von Wolf Biermann.

Auch was sich hinter dem nichtssagenden Begriff 'Dreieckshandel' an Unglaublichem verbirgt, hat Rike über Rollenspiele nachvollzogen. In Europa vor der Tafel wurde ein Schiff mit Tand und Töpfen beladen. In Afrika vor den Fenstern wurden diese Waren angeboten und das Schiff mit gekauften Menschen beladen, die nun nach Amerika bei der Tür gebracht wurden, wo sie als Sklaven auf den Feldern reicher Leute schuften mußten. Das Schiff setzte nun seine Reise zurück nach Europa mit Gütern aus Amerika fort und vervollständigte damit den dritten Schenkel zum Dreieck, wenn also vor unserer Tafel Zucker, Baumwolle oder gar Gold angeboten wurde.

Rikes größtes Interesse galt den Sklaven, und so hielten wir uns längere Zeit in den Plantagen auf, in sengender Hitze schuftend, fern von Zuhaus, und empfanden nach, was diese Menschen wohl gefühlt haben. In einer klassenübergreifenden Gruppe, die sich einmal wöchentlich im Psychomotorikraum traf, entwickelte sich durch Rike wiederum ein Spiel zum Thema Sklaverei. Ich gab den Impuls ein, daß die Menschen in dieser Situation zu singen begannen, um ihre Gefangenschaft und Unterdrükung ertragen zu können. Die SchülerInnen fingen an, Melodien und zum Teil auch Texte zu improvisieren, die so unter die Haut gingen, daß es ansonsten ganz still wurde und alle einander fasziniert zuhörten!

Die Französische Revolution - die bei unseren 'pubertätsgeplagten' SchülerInnen insgesamt auf sehr geringes Interesse traf - war für Rike zunächst eine echte Provokation. Schließlich hatte sie ein Herz für Könige, da sie sie einfach immer als märchenhafte Typen kennengelernt hatte. Nun mußte sie erfahren, daß da ein gewisser Ludwig sich ganz und gar nicht königlich, väterlich und volksliebend verhalten hatte. Sie erfuhr, daß das hungrige Volk den Preis für das Brot nicht mehr bezahlen konnte, während Ludwig mit dem Prunk nur so praßte. Rike hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, weswegen sie in der Grundschulzeit auch zur Klassensprecherin gewählt worden war. Und so verstand sie die Empörung der Leute in Paris recht gut. Sie lernte das Lied von der armen Mademoiselle Marianne, die schließlich protestiert und sogar mit Pflastersteinen gegen die Soldaten des Königs vorgeht.

(K)ein Förderprogramm

Rike, die anders als ihre MitschülerInnen nur mit großer Mühe Informationen durch Lesen aus Texten ziehen konnte, war stets angewiesen auf andere Zugangsmöglichkeiten, und so entfaltete sich eine gewisse musische Kultur, die aber mit den älter und damit oft distanzierter werdenden Jugendlichen immer schwerer zu pflegen wurde. Während die Traumreisen durch's alte Ägypten, das Anfertigen von Gipsreliefs und Pharaonenmasken, das Bauchtanzfest mit dem Couscous-Essen wie auch unser selbstgemachter Schmettersong von den alten Römern sicher noch allen in bester Erinnerung ist, nahm im Laufe der Zeit bei vielen MitschülerInnen die Lust ab oder vielleicht eher die Scheu zu, sich auch spielend, singend, träumend der Vergangenheit, der Gegenwart oder auch der Zukunft zu nähern.

Inwieweit Rike noch stärker im bildhaft, intuitiven, in der Dominanz ihrer rechten Gehirnhälfte Zugänge zur Welt sucht und allmählich ins Gleichgewicht mit der linken Hirnhälfte kommt und so die Verbindung zu rationalen, linearen Strategien gelingt, während viele Gleichaltrige hier bereits zu stark in die (schul-)gesellschaftlich rationale Vereinseitigung gerutscht sind, bleibt Hypothese.

Wenn ein 'überzeugter Geistigbehindertenschul-Pädagoge' uns manchmal hätte beobachten können, dann wäre er vielleicht schreckensbleich davongerannt, da er seine Prinzipien des kleinschrittigen Voranschreitens, der Anschaulichkeit und Sinnenhaftigkeit nicht entdecken konnte und ein - womöglich optimales - Förderprogramm, oder zumindest eine anständige, gut fundierte Lernzielorientierung vermißte.

Dann aber hätte er nicht miterlebt, wie z.B. bei der außer auf seiten der Fachlehrerin insgesamt nicht eben lustbetonten Behandlung des Themas 'Gewerkschaften' Rike plötzlich von der Zeichnung ihrer roten Nelke aufblickt und sich in das Unterrichtsgespräch einmischt: "Die SPD kenn' ich von meinem Vater; ich frag ihn nachher mal, ob er mir was mitgeben kann. Ich glaube, er findet die SPD besser als Herrn Kohl!" Tja.

Identitätskrisen und Pubertät

Eine gewisse Abwehr oder Nüchternheit der immer stärker nach außen bzw. in die eigene Peer-Group oder Clique oder gar schon Zweierbeziehungskiste drängenden MitschülerInnen sorgte häufig für eine zunehmende Fixierung Rikes auf uns PädagogInnen.

Die latent schwelenden Identitätskrisen während dieser Lebensphase führten zu Gereiztheiten unter den Jugendlichen, die für Rike oft unerklärlich blieben, da diese mit keinem Hebel nachvollziehbarer wurden, solange die Betroffenen selbst sich kaum verstanden. Aber auch Rike geriet schließlich selbst in eine heftige Krise, in der sie die Fragen "Wer bin ich? Warum bin ich wie ich bin? Was ist anders an mir?" bearbeitete. Auch ihr Satz "Ich fühle mich einsam und elend..." (BOBAN & MATTHIES 1994) stammt aus dieser Phase. Sie so hadern zu sehen und zu hören, war nicht leicht zu ertragen, vielleicht, weil wir unter dem Erfolgsdruck standen, 'es darf einem Kind mit Behinderung in einer integrativen Situation nie schlecht gehen!' Nur langsam veränderte sich unsere Sicht der Dinge dahingehend, daß es vielleicht vor allem ein Zeichen einer normal verlaufenden Pubertät ist, was Rike uns - allerdings deutlicher als ihre MitschülerInnen - an kriseligem Selbst-ver-zweifeln zeigte. Und war es nicht ein Zeichen für die Tragfähigkeit des sozialen Netzes, daß sie uns nicht die immer positive Emotionalität des 'Sonnenscheins' zeigen mußte, sondern uns ihre Krise zumuten konnte?

In diese Zeit, im neunten Schuljahr, fällt der Besuch unserer Klasse bei einer Beratungsstelle von Pro Familia, wo sie sich gegen Ende wie folgt zu Wort meldete: "Was meinen Sie, sollte ich als behinderte Frau ein Kind bekommen oder nicht?" Bis dahin hatten viele im wesentlichen aufgenommen, daß eine Abtreibung ca. 5 Minuten dauert, man nüchtern kommen müsse und hinterher ein Frühstück bekomme. Nun jedoch trat atemlose Stille ein. Sehr zur Erleichterung der gefragten Beraterin setzte Rike selbst fort: "Ich denke eher nicht, denn ich sehe ja bei Mama und meinem kleinen Bruder, wie schwer das ist, ein Kind zu erziehen; ich glaube nicht, daß ich das schaffen könnte." Es entstand echte Nachdenklichkeit.

Rike hat sich ihr kritisches Reflektieren bewahrt und seit dem Religions- und dem Ethikunterricht um einige Fragestellungen erweitert. Auf der Abschlußreise am Lagerfeuer blickte sie in die Sterne und dachte laut über Gott, Freundschaft und die Liebe nach: "Ist die Liebe, wenn man ganz nahe bei einem sein will?"

Auch wenn wir sicher oftmals der Situation nicht voll gerecht wurden und alle Beteiligten hin und wieder überfordert waren: Wir haben alle in diesen Jahren sehr viel voneinander gelernt und sind stolz auf Rike und glücklich über diese gemeinsame Zeit. Wir meinen erkennen zu können, daß sich hier der schöne Satz verwirklichte: "Integration vollzieht sich, wenn die Anwesenheit des einen Spuren im Fühlen, Denken und Handeln des je anderen hinterläßt."

Als wir begannen, solche Möglichkeiten bildungspolitisch zu erstreiten und durchzusetzen, argumentierten wir u.a. auch damit, auf diese Weise einstmals zu 'anderen IngeneurInnen, Krankenschwestern, ÄrztInnen, LehrerInnen, NachbarInnen usw.' zu kommen. Ein Schüler, der zu Beginn seiner Schulzeit aufgrund von Wahrnehmungs- und Verhaltensproblemen auch als 'behindert' seinen Weg begann und nun das Abitur ansteuert, kommentierte dies nach der gemeinsamen Gesamtschulzeit ungefähr so: "Klar hat zum Beispiel die Tatsache, daß Rike hier war, alle beeinflußt. Das hat keinen unbeeindruckt gelassen, auch nicht die, die immer einen auf cool machen!"

Literatur

BOBAN, I.: Neue Verhältnisse. In: SCHLEY, W., BOBAN, I. & HINZ, A. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Gesamtschulen. Erste Schritte zur Integrationspädagogik im Sekundarstufenbereich. Hamburg: Curio 19922, 213-222

BOBAN, I.: Ein(-)Blick in die Praxis 'der Integration' in der Sekundarstufe I am Beispiel einer Schülerin der Gesamtschule Winterhude in Hamburg. In: Eltern für Integration Berlin (Hrsg.): Aussonderung macht kaputt. Aktualisierter Bericht vom Bundeselterntreffen 1991 in Berlin. Berlin: Selbstverlag 1995, 83-90

BOBAN, I. & MATTHIES, I.: "Ich fühl mich einsam und elend" - Identitätskrisen von Jugendlichen mit Behinderungen während der Pubertät. In: ARBEITSSTELLE INTEGRATION DER UNIVERSITäT HAMBURG (Hrsg.): Die Schere geht auseinander. Integrative Prozesse in Integrationsklassen der Sek I. Bericht vom Fachtag im Mai 1994. Hamburg: Universität 1994, 25-30

Quelle:

Ines Boban: "Ist die Liebe, wenn man ganz nahe bei einem sein will?" - ein Rückblick auf sechs Jahre Integration an einer Hamburger Gesamtschule

Erschienen in: Nachdruck eines Beitrags aus der Zeitschrift Lernen konkret, 14. Jg., H.2, 1995

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 24.05.2005

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