Das vorliegende Referat wurde entnommen aus dem Bericht: Zwangssterilisation - Menschenrechtsverletzung oder Notwendigkeit? Enquete am Donnerstag, 5. März 1998 im Parlament. Veranstalter: Grüner Parlamentsklub
Inhaltsverzeichnis
Sehr geehrte Frau Abgeordnete!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, daß dieses Thema im Sommer des vergangenen Jahres in der Öffentlichkeit aktualisiert wurde. Für die damit befaßten Experten war dieses Thema nicht neu. Die Aktualisierung des Themas der Zwangssterilisation mit Blick auf Schweden hat plötzlich deutlich gemacht, daß es auch in Österreich eine einschlägige Praxis gibt. Ganz ähnlich wie bei der Verwicklung von Österreichern in andere politische Machenschaften und erbrechen der Nazizeit, von denen viele glaubten, Österreich habe damit nichts zu tun gehabt, hat Österreich plötzlich in den 90iger Jahren auch hier seine vermeintliche Unschuld verloren. Denn die Aufregung über die Situation in Schweden, war insofern scheinheilig, als es sich in Schweden um einen Tatbestand handelte, der bereits 20 Jahre vergangen war, in Österreich aber auch in den 90iger Jahren noch Realität ist. Somit stellt sich also die Frage nach dieser Praxis in Österreich.
Vorweg möchte ich meine Position zu diesem Thema klarstellen: Sterilisation soll ohne und gegen den Willen der Betroffenen grundsätzlich nicht möglich sein, denn anders als Dr. Trompitsch meine ich, daß von Zwang dann zu sprechen ist, wenn an einer Person ohne oder gegen ihren Willen eine Handlung ausgeführt wird und ein ärztlicher Eingriff ist eine solche Handlung. Ich meine also, daß der Begriff Zwang nicht nur dann zu verwenden ist, wenn es sich um staatlich verordneten Zwang handelt, sondern ganz allgemein, wenn in Persönlichkeitsrechte eingegriffen wird.
Es besteht kein Zweifel, daß in Österreich ohne und gegen den Willen Eingriffe zur Unfruchtbarmachung vorwiegend - aber nicht ausschließlich - an Frauen praktiziert wird. Ich kann allerdings keinerlei Angaben über die Quantität machen und glaube, daß niemand korrekte Zahlen kennt, wir alle sprechen von vermuteten Zahlen. Ich habe aber konkrete Belege für die Behauptung, daß es praktiziert wird. Diese Praxis spielt sich in einer rechtlichen Grauzone ab.
Diese rechtlichen Grauzone wird begründet durch den schon erwähnten Begriff der guten Sitten. Das OGH-Urteil, das von Dr. Trompitsch zitiert wurde, macht ja deutlich, daß der OGH in der Rechtsvollziehung diesen Begriff "gute Sitten" sehr weit auslegt. Das ist die eine Säule, auf der die rechtliche Grauzone beruht; die andere Säule ist die dadurch abgesicherte Praxis der ärztlichen Gutachter. Auf diesen Punkt möchte ich noch zu sprechen kommen. Ein dritter Punkt ist die rechtlich meines Erachtens nicht abgedeckte, in der Realität aber praktizierte Durchführung des Eingriffes bei Minderjährigen auf der Basis der elterlichen Zustimmung. Ich möchte deutlich machen, warum ich der Ansicht bin, daß diese Vorgangsweise rechtlich nicht korrekt ist, auch in der heutigen Rechtssituation nicht korrekt ist.
Wenn ich mit meinem Kinde zu einem Chirurgen gehen würde und sagen würde, das rechte Ohr gefällt mir nicht, schneiden sie es bitte ab, dann würde jeder sagen, das geht nicht und wenn ich dann sage, aber ich als Vater unterschreibe, ich übernehme die Verantwortung dafür, würde jeder sagen, sie können diese Verantwortung nicht übernehmen. Nun, ich habe bewußt ein plakatives Beispiel gewählt; aber der Eingriff zur Sterilisation ist nichts anderes, es handelt sich um einen verstümmelnden Eingriff! Die Frage, ob ein solcher verstümmelnder Eingriff gerechtfertigt ist, führt wieder zum Problem der guten Sitten zurück, sofern er nicht dazu dient, eine Lebensgefährdung abzuwenden.
Nun zur ärztlichen Gutachtenserstellung - dort sehe ich einen Schwerpunkt meines Beitrages, ich meine, daß das einer der wesentlichsten Punkte ist, derentwegen ich eingeladen wurde und ich möchte daher diesen Teil etwas ausführlicher behandeln und möchte ihnen von zwei konkreten Biographien in kurzen Auszügen berichten. In der einen Biographie wurde ein ärztliches Gutachten im Jahre 1989 erstellt unter dem Titel ärztliches Attest für eine 1971 geborene Frau mit folgenden Formulierungen:
Sie ist ein gut gefördertes Mädchen mit Down-Syndrom, nach dem Besuch der S-Klasse wird die Dame im September die Beschäftigungstherapie besuchen, bei einem psychologischen Test erreichte sie einen IQ von 54, obwohl Mädchen mit Down-Syndrom nur in seltenen Fällen gravid werden können, ist aufgrund der schweren allgemeinen geistigen Behinderung eine Sterilisation zu empfehlen, zumal sie sexuelle Kontakte zugibt (die sie selber gar nicht wünscht). Das Problem liegt auch darin, daß sie sich Kinder wünscht, sich jedoch die realen Dimensionen dieses Wunsches nicht vorstellen kann, an dieser Situation wird sich auch in Zukunft nichts ändern.
Das ist das ärztliche Attest, auf dessen Basis dann die Sterilisation im Jahre 1990 durchgeführt wurde. 1994 wird aus den Ambulanzakten berichtet, daß zunehmende Interaktionsprobleme auftreten mit Verdacht auf psychotische Wesensveränderung, in den Ambulanzaufzeichnungen finden sich dann Berichte der Mutter der Patientin, die unter anderem folgende Ausführungen enthalten:
... weil sie die Realität nicht akzeptieren will, lebt sie in ihrer Phantasie, in ihrer Traumwelt, mit erdachten Freunden und einem erdachten Ehemann, mit denen redet sich ganz ungeniert laut und fließend, sonst stammelt sie und bringt keinen zusammenhängenden Satz heraus.
Bald danach kommt es zu einer stationären Aufnahme zur Abklärung wegen Verdachts auf psychotische Wesensveränderung. Im Entlassungsbefund wird dann festgehalten:
Völlig selbständiges Verhalten mit hoher Eigenkompetenz im stationären Bereich, in den Beobachtungen und in den Tests gibt es keine Anhaltspunkte für eine psychotische Symptomatik, es handelt sich bei den beobachteten Selbstgesprächen um Pseudohalluzinationen über einen begrenzten Lebensbereich, nämlich Sexualität, Partnerschaft und Familie.
Das zweite biographische Beispiel gibt folgendes Bild: Frau XY kam 1977 durch eine Risikogeburt zur Welt, im Säuglingsalter trat eine halbseitige spastische Lähmung auf, ihre Entwicklung verlief verzögert, sie besuchte einen Kindergarten und dann die Sonderschule, im Alter von 9 Jahren trat eine gut behandelbare Epilepsie auf, damals sprach sie in Zwei- bis Dreiwortsätzen, bis zu ihrem 17. Lebensjahr lebte sie im Haushalt der Eltern, seither in einem Wohnheim für behinderte Menschen, bereits im 15. Lebensjahr wurde auf Initiative der Eltern die Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens über die Indikation zur Sterilisationsoperation veranlaßt, die Operation wurde schließlich eineinhalb Jahre später, das war 1994, durchgeführt. Ein Jahr danach wird eine mehrwöchige stationäre psychiatrische Krisenintervention erforderlich, in deren Verlauf deutliche Anhaltspunkte für sexuellen Mißbrauch durch den Vater festgestellt werden. Das fachärztliche Gutachten, das damals zur Sterilisation geführt hat, (Zit) bezieht sich auf den geistigen Zustand, die Einsicht zur Kritikfähigkeit, zur Schwangerschaft und zur Sterilisation und über die möglichen Auswirkungen einer Schwangerschaft sowie einer Sterilisation auf den geistigen und körperlichen Zustand. Nur kurze Gesprächspassagen beziehen sich auf das Thema. Die ärztlichen Schlußfolgerungen aus diesem Gespräch lauten:
Mit einer Schwangerschaft verbindet XY trotz ihrer Geistesschwäche konkrete Vorstellungen, sie hat beobachtet, daß Säuglinge an die Brust genommen werden und daß man ihnen auch Flaschennahrung geben kann und damit ist ihr Vorstellungsvermögen in dieser Hinsicht allerdings auch erschöpft [ich muß hinzufügen, daß über Weiteres eben nicht gefragt wurde]. Über die Herkunft der Kinder macht sie sich ebensowenig realitätsnahe Vorstellungen wie über eine Schwangerschaft, es fehlt ihr jegliches Wissen hinsichtlich Empfängnis, der Begriff einer Empfängnisverhütung ist ihr vollkommen fremd, [Keine Passage des Interviews bezieht sich auf dieses Thema!] Die Mängel der Affektsteuerung bewirken, daß XY allfälligen sexuellen Wünschen keinen Widerstand entgegenzusetzen vermag, wenngleich Schwangerschaften auch von Schwachsinnigen zuweilen gut überstanden werden, sind bei XY für den Fall einer Schwangerschaft Befürchtungen berechtigt, sind Angstzustände, die bis zur Selbstbeschädigungen gehen können, zu erwarten. Im Falle einer Sterilisation können vor dem Eingriff Angst und Abwehrmechanismen auftreten, sie sind durch ein entsprechendes vorbereitendes Eingehen auf die Eigenheiten der Patientin vermeidbar. Nach Abschluß des Eingriffes wird man mit keinen psychologischen Folgen rechnen müssen, da XY von der Bedeutung des Eingriffes keine Ahnung hat.
Ich führe jetzt weiter aus: die Durchführung der Sterilisation erfolgte gemeinsam mit einer Zahnbehandlung während eines neuntägigen stationären Aufenthaltes in einem psychiatrischen Krankenhaus. In der fachärztlichen Bestätigung des Krankenhauses wird der Eingriff, ich zitiere, unter besonderer Aufsicht und intensiver Begleitung von erfahrenem Personal, (Zitat Ende), nochmals begründet, (Zitat)"Da Frau XY aufgrund der Minderbegabung und der daraus resultierenden Verhaltensstörung keine normale gesundheitserhaltende Einstellung besitzt, und abschließend wird festgestellt, jeder geistig behinderte Mensch hat das Recht auf medizinische Betreuung und Gesunderhaltung seines Körpers unter geringster psychischer Belastung.
Ich habe ihnen diese Ausführungen ausführlich zitiert, um ihnen auch deutlich zu machen, warum ich es für sehr problematisch halte, ein weitgefaßtes Gutachterrecht zu akzeptieren. Wenn ich diese Gutachten lese, fehlt mir jedes Vertrauen dafür, daß Ärzte, die solche Gutachten machen, eine auch verschärfte Rechtssituation entsprechend ausreichend korrekt und genau handhaben würden.
In der BRD wurde in der Diskussion zur Schaffung des Sterilisationsgesetzes folgende Position in einer wissenschaftlichen Publikation im Jahre 1987 von Herrn Hönig, leitender Arzt am Epilepsiezentrum in Bethel, vertreten: "Es werden immer noch Minderjährige, insbesondere Mädchen sterilisiert, meist ohne Aufklärung über den Eingriff bzw. die Folgen der Operation; man trifft an Schulen für geistig Behinderte Klassen, in denen fast alle Mädchen sterilisiert sind und Heime, bei denen eine Aufnahme von einer vorausgegangenen Sterilisation abhängig gemacht wird, Lehrer drängen Eltern aus Angst vor Regressen wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht, Eltern drängen Ärzte aus Angst, ein vielleicht behindertes Enkelkind aufziehen zu müssen, Ärzte sterilisieren im Nebenbeiverfahren bei anstehender Appendektomie Minderjährige.."
Hönig hat hier recht eindrucksvoll die Dynamik dieses Entscheidungsprozesses im Feld zwischen Betreuern, Eltern, Ärzten, Juristen dargestellt. Er spricht hier von Ängsten und diese Ängste sind ernst zu nehmen, das ist überhaupt keine Frage! Auf diese Ängste muß man in der Diskussion und auch in der Rechtsprechung eingehen. Diese Ängste sind nicht wegzuwischen; man muß nur versuchen, diese Ängste auf ihre sachlichen Aspekte zu beziehen und auf diese sachlichen Aspekte dann konkrete Antworten geben.
Die Argumentationslinien in diesem Zusammenhang sehen etwa folgendermaßen aus:
1. Ein gesamtgesellschaftlicher Konsens über die Berechtigung des Eingriffs wird unterstellt; das enspricht dem Begriff der guten Sitten. Zitat aus einer wissenschaftlichen Publikation (Krebs 1985): "Es ist derzeit allgemeiner Konsens, Nachkommenschaft bei geistig behinderten Menschen entgegen bejahter Partnerschaft nicht zu wünschen"
2. Ein weiteres Argument, bezieht sich auf die Frage der Erblichkeit. Nun dort muß noch einmal klargestellt werden, daß man sich hier ganz grundsätzlich von Mythen freimachen muß:
Die Quantität höhergradiger intellektueller Behinderung in der Bevölkerung liegt - laut internationaler Fachliteratur je nach Definition - bei 0,3 bis 0,7%; davon sind etwa 10% genetisch bedingt. Nur dieser Teil wäre im Prinzip vererbbar. Alle anderen - geistige und sonstige Behinderungsformen - sind als erworben (d.h. auch vorgeburtlich erworben) und nicht als genetisch bedingt zu definieren und somit nicht vererbbar. Das heißt, eine große Anzahl von angeborenen Behinderungen ist nicht genetisch bedingt, sondern durch Risken im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt erworben. Ungeachtet dessen verbindet sich mit dieser Frage Behinderung / Erblichkeit ein Mythos von Vererbbarkeit, der sehr klar bestimmbare historische Wurzeln in der Eugenikdiskussion, im Rassendiskurs hat.
Dieser Diskurs wurde am Beginn des jetzt zu Ende gehenden Jahrhunderts von Wissenschaftern entwickelt, unter denen die Psychiater eine ganz zentrale Rolle gespielt haben; die Nationalsozialisten haben diese "Ideen" dann aufgegriffen, weiterentwickelt und zu geltendem Recht gemacht. Ernst Klee hat einmal sehr deutlich formuliert und etwa folgendes gesagt: "Nicht die Nazi haben die Psychiatrie mißbraucht, sondern die Psychiater konnten endlich ihre Vorstellungen unter der Herrschaft der Nationalsozialisten umsetzen, nämlich ihre Vorstellung von einer reinen Rasse". In diesem Diskurs wurzelt auch die heutige "Vererbbarkeitsmythologie". Wenn wir sie auf ihre realen Wurzeln zurückführen, ist es eine verschwindend kleine Anzahl. Dann ist noch einmal aus einer ethischen Position zu überlegen, ob es gerechtfertigt ist, in diesen Fällen zu einer eugenischen Maßnahme zu schreiten.
3. Die Frage der Elternschaft: meines Erachtens ist auch diese Argumentation höchst problematisch; denn wir haben - und hier spreche ich in erster Linie als Kinder- und Jugendpsychiater - ja auch sonst (unabhängig von geistiger Behinderung) keinerlei prognostische Instrumente in der Hand, die uns ermöglichen, Aussagen über die Qualität künftiger Elternschaft zu machen. Folgt man dieser Argumentation hieße das, immer dann, wenn wir die Qualität künftiger Elternschaft als fragwürdig bezeichnen, die radikale Konsequenz der Sterilisation zu ziehen. Die Sterilisation aller "Risikogruppen" wäre die Folge! Entwicklungen in diese Richtung gab es ja bereits: es gab im Jahre 1939 eine Statistik des Wiener Gesundheitsamtes zur Erfassung der negativen Auslese Groß-Wiens; wenn man die dort angeführten Zahlen summiert, so ergeben sich daraus 15% der damaligen Wiener Bevölkerung. So etwa sähe die Konsequenz der Argumentation zur Qualität der Elternschaft aus. Meines Erachtens scheidet daher auch dieses Argument absolut aus.
4. Die Frage des Schutzes der betroffenen Personen: Man müsse die betroffenen Personen schützen und die Durchführung der Sterilisation sei ein solcher Schutz. Nun ich frage, Schutz wovor? Sterilisation kann einen Schutz vor Schwangerschaft bieten, ansonsten aber vor nichts! Wir wissen beispielsweise, daß die Mißbrauchshäufigkeit nach durchgeführter Sterilisation ansteigt und nicht abnimmt! Etwas pointiert formuliert könnte man sagen, die Sterilisation schützt Mißbraucher und Vergewaltiger davor, entdeckt zu werden und ihren Anteil der folgen ihrer Tat zu tragen; sie schützt aber keineswegs die betroffenen Frauen vor den psychischen Folgen! Diese Folgen werden - wie auch die psychischen Folgen einer Sterilisation - fast nie diskutiert; hingegen werden die psychischen Folgen von Schwangerschaft immer wieder als Argument für die Sterilisation bemüht. Die beiden Beispiele, die ich ihnen gebracht habe, zeigen es ja deutlich, daß die Sterilisation zu psychischen Folgen, nämlich schweren, an die Grenze der Psychose führenden psychischen Krisen, führen kann.
Nun, das sind die drei wesentlichen Argumentationslinien, die immer wieder anzutreffen sind: die Heredität, der Pesonenschutz und die Frage der Elternschaft. Lassen sie mich nochmals einen kurzen in die Historie machen. Ich hatte zufällig auch die Gelegenheit, sechs Akten aus der Sterilisationspraxis der Nazizeit in Wien zu analysieren und ich habe in einer wissenschaftlichen Publikation, die in der Wiener Klinischen Wochenschrift im November des vergangenen Jahres erschienen ist, diese Akten ausführlich analysiert.
Aus dieser Arbeit möchte ich den zusammenfassenden Vergleich von Gegenwart und Geschichte kurz zitieren:
a) die Sterilisation geistig behinderter Menschen ist heute im Prinzip ebenso aktuell wie in der Zeit der faschistischen Herrschaft, der quantitative Unterschied ist allerdings bedeutsam;
b) der großzügige Verzicht auf wissenschaftliche Korrektheit in der Gutachtensargumentation ist ein durchgängiges Merkmal für heute wie damals; die Medizin liefert pseudowissenschaftliche Argumente für ein soziales Urteil - einst und heute;
c) die Argumentationslinie ist allerdings deutlich verändert: an die Stelle der rassenpolitischen Argumentation, die auch im Gesetz des Jahres 1934 vorgegeben war, wird heute der Schutz des Individuums - z.B. vor Belastungen durch eine Gravidität - gestellt."
Ich habe in dieser Arbeit dann noch einen Gedanken ausgeführt, den ich hier nur kurz anklingen lasse: "So wie in der Geschichte Zwangssterilisation und Euthanasie eng beieinanderlagen, wird auch heute parallel zur Sterilisationsdebatte auch der Gedanke der neuen Euthanasie propagiert. In beiden Fällen wurde in der Argumentation der Gedanke der Eugenik durch die Forderung nach dem Schutz des Individuums und Sorge um das subjektive Leid, die schließlich wiederum in der Tötung von lebensunwertem Leben mündet, abgelöst."
Ich komme zum letzten Punkt und damit zur Beantwortung der Frage, die an mich von Seiten der Vorsitzenden gestellt wurde: gibt es medizinische Notwendigkeiten, die für die Sterilisation sprechen? Diese Frage ist grundsätzlich mit "n e i n" zu beantworten. Es gibt allerdings einen Punkt, den ich als Neurologe nicht eindeutig beantworten kann: gibt es es aus Gründen der Lebensgefahr für die betroffene Frau absolute geburtshilfliche Kontraindikationen gegen eine Schwangerschaft / Geburt, die eine absolut sichere Verhinderung einer Schwangerschaft erzwingen würden? Diese Frage - so die bisherigen Beratungsergebnisse im Justizministerium - muß durch ein geburtshilfliches Fachgutachten beantwortet werden.
Zum Thema "Strategien der Empfängnisverhütung" kann ich aus langjähriger fachlicher Praxis sagen, daß ich keinen Grund sehe, bei behinderten Frauen auf die Variante der irreversiblen Empfängnisverhütung zurückzugreifen; die Palette von reversiblen empfängnisverhütenden Maßnahmen ist ausreichend groß und meiner Erfahrung nach finden wir mit dieser Palette das Auslangen. Sollte es dennoch - zufällig oder aufgrund des Wunsches einer betroffenen Frau - zu einer Schwangerschaft kommen, und sich im nachhinein herausstellen, daß eine ausreichende elterliche Kompetenz nicht gegeben ist, dann wird wie in allen anderen Situationen von "Erziehungsunfähigkeit" - so der amtsdeutsche Begriff - auf die entsprechenden sozialen Verantwortungen zurückgegriffen werden müssen. Dann tritt die Notwendigkeit in Kraft, daß sich die Gesellschaft darum zu kümmern hat, daß die Kinder ein menschenwürdiges Leben haben können. Als Kinderpsychiater kann ich ihnen sagen, daß dieses Problem wirklich nicht auf den Zusammenhang geistiger Behinderung beschränkt ist.
Ich danke für ihre Aufmerksamkeit!
DR. ERNST BERGER
Kinder- und Jugendneurologe
am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel
1130 Wien, Riedelgasse 5
Tel: 88000-0 (Fax: DW 360)
e-mail: 25281mab@mailbox.univie.ac.at
Quelle:
Ernst Berger: Ärztliche Sicht - "Zwangssterilisation"?
Das vorliegende Referat wurde entnommen aus dem Bericht: Zwangssterilisation - Menschenrechtsverletzung oder Notwendigkeit?
Enquete am Donnerstag, 5. März 1998 im Parlament. Veranstalter: Grüner Parlamentsklub
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Stand: 11.01.2006