erschienen in: Wr. Klin. Wochenschr. 109 / 23, 925-31, 1997
Inhaltsverzeichnis
Das Anliegen dieser Arbeit ist es, durch Vergleich historischer Akten und einer aktuellen Kasuistik Kontinuität und Wandel im medizinischen Denken und Handeln bei der zwangsweisen Sterilisation geistig behinderter Menschen anhand konkreter Biographien österreichischer Frauen und Männer zu beleuchten. Die heutige psychiatrische Fachargumentation, die Gutachterargumentation vor 50 Jahren und die daraus ableitbaren Schlußfolgerungen zu einschlägigen medizinischen Denkmustern sind auf den historischen Hintergrund zu beziehen; jedoch kann an dieser Stelle auch nicht annähernd eine Aufarbeitung des Defizits geleistet werden, das insbesondere in der österreichischen medizinischen Fachliteratur zum Themenkreis "Medizin und Nationalsozialismus" zu konstatieren ist.
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Am 14.7.1933 hat die deutsche Reichsregierung das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) beschlossen, das mit 1.1.1934 in Kraft trat (1)(2):
§ 1(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
§ 1(2) Erbkrank im Sinne des Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwerer erblicher Mißbildung.
§ 1(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.
Im § 12 wird festgelegt, daß die Sterilisation auch gegen den Willen des Betroffenen durchgeführt werden kann.
Die Sterilisation als bevölkerungspolitische Maßnahme war allerdings keine Erfindung der Nationalsozialisten und auch nicht auf Deutschland beschränkt. Der ideologische Hintergrund war der Rassenhygiene - Diskurs, der bereits um die Jahrhundertwende entstanden war. Zitate aus "Die sexuelle Frage" (3) des Schweizer Psychiaters August FOREL sollen diese Positionen charakterisieren:
Im Schlußkapitel entwirft FOREL - unter Berufung auf seinen britischen Zeitgenossen Sir Francis GALTON (1902) - ein Programm der Eugenik: Im Kampf gegen die Pathologie des Sexualtriebes und gegen das sexuelle Verbrechen ist dadurch Besserung zu schaffen, daß "...für die Zukunft die möglichste Verhinderung solcher Individuen, sich fortzupflanzen" (S 604) vorgesehen wird. Unmittelbar anschließend setzt er fort: "Endlich gibt es eine außerordentlich ernste Frage ... wie die Kulturmenschheit der Gefahr zu begegnen habe, durch inferiore Menschenrassen infolge deren großen Fruchtbarkeit überwuchert zu werden." Er warnt jedoch vor der Vereinfachung "... unterschiedslos alle Wilden und Barbaren auf der einen Seite allen Zivilisierten auf der anderen" gegenüberzustellen(S 604)und setzt fort: "... mit welcher Schnelligkeit, auf Grund seiner jetzigen Keimesenergien allein, ein kulturfähiges Volk wie die Japaner sich ohne Christentum unsere Kutur angeeignet hat ... Die Japaner sind ein Kulturvolk und müssen nun als solches behandelt werden, die Neger aber nicht, das heißt, sie sind von selbst nur zu einer niedrigen Kulturstufe befähigt." (S 605). Um zu verläßlichen Aussagen über die Wechselwirkung von "vererbten Rasseneigenschaften und ... Erziehung und sozialer Organisation" zu gelangen schlägt er vor, "...neugeborene Mongolen bei uns aufzuziehen und sie dann auf ihren Kulturwert zu prüfen" (S 606). Sein Ziel ist, "... den Boden für eine zugleich idealere und gesundere Gestaltung der sexuellen Verhältnisse" zu ebnen, ein Zustand, der nicht erreicht werden kann, "wenn wir nicht unsere Zuflucht zu einem künstlichen Hilfsmittel nehmen ... die prinzipiell und praktisch durchgeführte Unterscheidung zwischen der Befriedigung des Geschlechtstriebes und der Kinderzeugung" (S 606). Die Methode hat er bereits an früherer Stelle erläutert: "Man hat in neuerer Zeit ein operatives Mittel gefunden, das geeignet erscheint, Sterilität bei Frauen herbeizuführen, ohne die nachteiligen Folgen der Entfernung der Eierstöcke nach sich zu ziehen, indem man einfach deren Verbindung mit der Gebärmutter ... unterbricht." (S 243). Die theoretischen Grundlagen werden noch weiter entwickelt: "Die menschliche Zuchtwahl ... ist das Prinzip, das uns zu einem noch fernen Ziel führen muß" "Ein gründliches Studium der Blastophthorie sowie auch der Erscheinungen der gewöhnlichen Vererbung läßt keinen Zweifel mehr darüber walten, daß die Sache im Bereich der Möglichkeit liegt. Wie sehr hat sich nicht die Qualität der Hunde gehoben, seitdem man sich bemüht, gute Rassen zu züchten..."(S 608). "Welchen Menschentyp sollen wir nun zu produzieren suchen? Es ist vorerst leichter, hier negativ vorzugehen und diejenigen Typen zu bezeichnen, die sich nicht vermehren sollen. Als solche sind in erster Linie alle Verbrecher, schwerere oder unheilbare Geisteskranke, alle Schwachsinnigen, vermindert Zurechnungsfähige, boshafte, streitsüchtige, ethisch defekte Menschen zu bezeichnen ... Auch die Narkosesüchtigen (Alkohol, Morphium usw.) schaden durch Blastophthorie ... Eine zweite Kategorie bilden die erblich zu Tuberkulose Neigenden, die körperlich Elenden, die Rachitischen, Haemophilen, Verbildeten und sonst durch vererbbare Krankheiten oder krankhafte Konstituion zur Zeugung eines gesunden Menschenschlages unfähigen Individuen. Zur eugenischen Vermehrung besonders günstige Objekte sind umgekehrt die sozial nützlichen Menschen ... die große Freude an Arbeit haben, dabei verträglich und gleichmäßigen Humors, gutmütig und gefällig sind. Wenn sie außerdem einen hellen Verstand und regen Geist, oder gar eine künstlerische oder in anderer Richtung schöpferische Phantasie besitzen, sind sie ganz besonders glückliche und gute Keimträger für die Zukunft! Man kann gewiß in solchen Fällen leichter über einige nicht zu schlimme körperliche Gebrechen hinwegsehen" (S 609f.). Das allgemeine Credo lautet: "... wir bezwecken keineswegs eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen zu schaffen, sondern nur die defekten Untermenschen allmählich durch die Entfernung der Ursachen der Blastophthorie und durch willkürliche Sterilität der Träger schlechter Keime zu beseitigen. Dafür möchten wir bessere, sozialere und glücklichere Menschen zu einer immer größeren Vermehrung veranlassen." (S 608)
Die "wissenschaftliche" Legitimation der Zwangssterilisation - von Ärzten formuliert - lag also zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Nationalsozialisten längst vor. Auch der politische Kontext der Rassenlehre war nicht neu. Johannes RANKE, Autor des Buches "Der Mensch" (4), das von 1886 bis 1923 in zahlreichen Auflagen erschien, widmet die mehr als 600 Seiten des 2. Bandes dem Thema "Die heutigen und die vorgeschichtlichen Menschenrassen" und begründet im Vorwort aus dem Jahre 1911 die Notwendigkeit dieses Aufwandes: "Die Rassenkunde wird durch die deutschen Kolonien für uns von immer steigender aktueller Bedeutung" (S VI). Die Rassenkunde - gewissermaßen als Zwillingsschwester des Kolonialismus geboren - entwickelte sich zu einer menschenverachtenden Extremform einer Pseudowissenschaft.
Auf diesem Hintergrund gab es zeitgleich auch in anderen Teilen der Welt eine analoge Praxis der Sterilisation: "Programs of coercive sterilization were not peculiar to Nazi Germany. They have existed in much of the Western world, including the United States, wich has a history of coercive and sometimes illegal sterilization applied mostly to the underclass of our society" (S 22) (5). Als spezifisches Faktum betont LIFTON: "Only in Nazi Germany was sterilization a forerunner of mass murder" (S 22) (5).
Bereits vor Inkrafttreten des GzVeN begann die "erbbiologische Bestandsaufnahme" z.B. in Fürsorgeheimen und Hilfsschulen ((S 64)(17). Mit Kriegsbeginn 1939 erfolgte einerseits eine Einschränkung des Sterilisationsgesetzes dadurch, daß Anträge auf Sterilisation nur zu stellen waren, wenn besonders große "Fortpflanzungsgefahr" konstatiert werden konnte (S 15) (1); andererseits erfolgte eine Ausdehnung der Maßnahmen durch einen Runderlaß vom 18.4.1940, in dem der Begriff "Erbleiden" auf "alle vererbbaren Leiden und Eigenschaften, die den Wert des Betroffenen gegenüber der Volksgemeinschaft beeinträchtigen, ausgedehnt wurde; "Schwachsinn" im Sinne des Gesetzes liegt auch dann vor, wenn "schwere Ausfälle auf dem Gebiet des Willens und des Trieblebens vorhanden sind" (S 18) (1). Diese Tendenz zur inhaltlichen Ausweitung in Richtung "soziales Fehlverhalten" wird von mehreren Autoren (1)(2)(6) unter Hinweis auf zahlreiche Zitate (7)(12)(13)(14) hervorgehoben. Auch Ernst RÜDIN, ab 1934 Vorsitzender der "Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater" forderte 1935 im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik eine Erweiterung des Gesetzes: auch "moralischer Schwachsinn ohne Intelligenzdefekt" sollte ein Sterilisationsgrund sein (8).
Rückschlüsse auf die Haltung der deutschen Ärzte - abgesehen von den bereits zitierten führenden Protagonisten - zu diesen Entwicklungen ergeben sich zum Teil aus einer Einschätzung der ärztlichen Standesethik in dieser Zeit (Zusammenfassung von SCHMIEDEBACH (9) unter Berufung auf LIEK (10)): Die Ärzte verstanden sich als "geistige Elite", die anstatt einer als "liberalistisch" diffamierten Individualmedizin der "Gesundheit des Volksganzen", das nach biologischen Kriteriun definiert wurde, verpflichtet waren; die "Rassenhygiene" sollte der "natürlichen Auslese" zum Durchbruch verhelfen; die bis dahin noch umstrittene Euthanasie wurde als "rassenhygienische Maßnahme" - ergänzend zur Sterilisation - mit hohen Kosten pflegebedürftiger Erbkranker begründet (S 71 f.). Bereits 1933 waren diejenigen Ärzte, die anders dachten und handelten, ausgeschaltet worden (11). Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, daß "keine Mediziner bekannt geworden sind, die das GzVeN grundsätzlich öffentlich in Frage gestellt haben" (S 7), sondern, daß "Ärzte mehr als jede andere Berufsgruppe an der Vorbereitung und Durchführung der Zwangssterilisation beteiligt waren"; die Ärzte - insbesondere Amtsärzte - waren Antragsteller, Gutachter, Richter und Operateure (S 57f.)(1).
Die Gesamtzahl der Zwangsterilisationen auf dem Gebiet des Deutschen Reiches (ohne annektierte Gebiete) von 1939-45 wird nach einer Schätzung des Bundesfinanzministeriums von 1961 mit 320.000 angenommen (1).
Aus einer Detailanalyse in Göttingen (1) ist folgendes Bild ersichtlich: 1934-45 wurden 2432 Anträge gestellt, von denen 513 abgelehnt, zurückgenommen oder nicht bearbeitet wurden; die häufigste Indikation war mit 57,6% der "angeborene Schwachsinn", gefolgt von "Schizophrenie" mit 21,9%. Die Geschlechtsverteilung war in Göttingen - wie im gesamten Reichsgebiet - etwa ausgeglichen.
Per Verordnung vom 14.11.1939 mit Gültigkeit ab 1.1.1940 wurde das GzVeN auf die "Ostmark" ausgedehnt (1)(2). Zu diesem Zeitpunkt war die "Euthanasie-Aktion" (T4) bereits voll im Gange, sodaß der Sterilisierungsaktion in Österreich nicht mehr die gleiche Bedeutung zukam wie in Deutschland (2). Die Zahl der Sterilisierungen in Österreich ist nicht bekannt (2)(15). Jedenfalls ist die massenweise Durchführung in psychiatrischen Krankenhäusern durch Aussagen dortiger Mitarbeiter belegt (S 213)(2). Auch ein Vorschlag des stellvertretenden Gauleiters von Niederdonau, Karl Gund, zur Erprobung medikamentöser Sterilisation unter Mitarbeit des pharmakologischen Instituts der Wiener Fakultät ist bekannt (S 214) (2). Öffentlicher Widerstand aus Ärztekreisen ist hingegen nicht bekannt, da genau wie im Deutschen Reich auch in Österreich eine gründliche "Arisierung" der Ärzteschaft unter Anwendung eines weitgefaßten Rassebegriffs erfolgt war: von März bis Oktober 1938 sank die Zahl der Wiener Ärzte von 4900 auf 1700 (16).
Die Biographien im Abschn. 3. sollen beispielhaft konkretisieren, wie die Vollziehung des GzVeN in Österreich aussah.
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Das Gesetz beruht auf einer "Kann" - Bestimmung ("Wer erbkrank ist... k a n n unfruchtbar gemacht werden").
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Die Feststellung der "großen Wahrscheinlichkeit" von Erbschäden als ärztliches Fachurteil war Bedingung für die Anwendung des Gesetzes.
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Die Zuschreibung von "Erblichkeit" wird ex lege definiert. Bei den "endogenen" Psychosen koinzidiert diese Sichtweise mit der in Fachkreisen dominierenden - von eher marginalen Diskussionen (6 unter Hinweis auf BUMKE) abgesehen - Annahme der Erblichkeit; der Begriff des "angeborenen Schwachsinns" stützt sich - dem common sense entsprechend - auf die Vermutung der Erblichkeit, differenziert jedoch nicht wie es wissenschaftlich korrekt wäre - zwischen vererbbarem genetischem Defekt und prä- oder perinatal erworbener Schädigung; beim schweren Alkoholismus wird explizit von der Erblichkeitsargumentation abgesehen.
Diese Fakten lassen bereits erkennen, daß eine wissenschaftlich korrekte Anwendung des Begriffs der "Erblichkeit" nicht in der Absicht der Gesetzesschöpfer lag. Das folgende Zitat von EWALD, Direktor der Universitätsnervenklinik Göttingen, bestätigt diese Sichtweise: "Die Frage, ob angeboren, ererbt oder früh erworben, braucht uns nicht allzuviele Kopfzerbrechen zu machen, denn wir wissen alle, daß kein Schwachsinniger ein gutes Familienniveau schaffen wird" (12 zit. n. 1). Daß das eigentliche Ziel dieser rassenhygienischen Maßnahmen ganz allgemein die sozialen Randschichten waren, wird in der Analyse von ROTH (17) deutlich.
Betrachten wir das Gesetz vom formal-rechtlichen Standpunkt so ist folgendes festzustellen: Die unter a) und b) genannten Punkte lassen in der Anwendung einen formal-rechtlichen Handlungsspielraum offen, der dem Ermessen des Gutachters anheimgestellt ist. Allerdings bestand eine Pflicht zur Anzeige, deren Übertretung unter Strafe gestellt war (Geldstrafen, ev. Verlust der Approbation) (S 57)(1). Dennoch hätte es für die an den Verfahren mitwirkenden Ärzte an vielen Stellen Handlungsspielräume gegeben, die im Interesse der Patienten nutzbar gewesen wären.
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Im Archiv eines Wiener Krankenhauses wurden im Jahre 1995 zufällig sechs Gerichtsakten mit dem Aufdruck "Erbgesundheitssache / Erbgesundheitsgericht" aus den Jahren 1942-45 aufgefunden, aus denen - wohl nicht quantitativ repräsentativ, aber kasuistisch aufschlußreich - der Vollzug des Gesetzes ablesbar ist. Verhandelt wurde über 3 Männer und 3 Frauen im Alter zwischen 37 und 44 Jahren. Als Begründung im Sinne des Gesetzes wurde in 4 Fällen "angeborener Schwachsinn", in 2 Fällen "Schizophrenie" angegeben. Die Verfahren dauerten zwischen 10 und 37 Monaten; in drei Fällen liegen Bestätigungen über die Durchführung der Sterilisation vor (Oktober '44 sowie Jänner und März '45); in drei Fällen wurden im Jänner bzw. Februar 1945 Bestätigungen der "Dringlichkeit - trotz des totalen Kriegseinsatzes - wegen erhöhter Fortpflanzungsgefahr" ausgestellt.
Frau (A), geb. 1908, 8 Jahre Schulbesuch mit 3 Wiederholungen; industrielle und landwirtschaftliche Hilfsarbeit; Eheschließung mit 20 Jahren, 13 Kinder, tw. behindert; führt den Haushalt für Mann und 10 Kinder. Amtsärztliches GA: Diag: Debilität, Begründung: schwere Belastung der Sippe, Schulversagen, bringt ihren Haushalt gerade noch durch.
Frau (B), geb. 1905, 7 Jahre Schulbesuch, Fabrikshilfsarbeit; 10 Kinder (4 unehelich, 4 aus erster Ehe, 2 aus 2. Ehe) - Fürsorgeunterstützung; 06.1943 nach Begutachtung durch die Asozialen Komission Wien wegen Arbeitsscheu und asozialen Verhaltens in die Arbeitsanstalt "Am Steinhof" eingeliefert. Diag: angeborener Schwachsinn; Begründung: arbeitsscheue, verwahrloste Person mit gemeinschaftsfremdem Charakter, mangelnde Lebensbewährung.
Frau (C), geb. 1905, 7 Jahre Schulbesuch, 5 Wiederholungen, Landarbeiterin; 3 uneh. Kinder; 6 Strafvormerkungen wegen Bettelei, Landstreicherei; ab 1937 Lebensgemeinschaft, Ehewunsch 1943 - amtsärztliche Feststellung eines Ehehindernisses: "Da Th.Z. eine Ehe mit einem Mann, der aus einer äußerst minderwertigen Familie stammt und der überdies bereits vorbestraft ist, eingehen will, wäre aus dieser Ehe höchstens unerwünschter Nachwuchs zu erwarte. Nach Unfruchtbarmachung der Th.Z. bestünden keine Bedenken...". Diag: angeborener Schwachsinn leichten bis mittleren Grades.
Herr (D), geb. 1901, 8 Jahre Schulbesuch (mehrere Wiederholungen, landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter.
K.S. war das sechste von sieben Kindern; drei von ihnen starben. Die Familie stand in recht gutem Ruf. Als Kleinkind hatte er Anfälle, im Alter von 4 Jahren hatte K. S. einen Unfall; zur Familienanamnese: drei Schwestern und ein Bruder des K. S., hatten Anfälle, eine Schwester galt als schwachsinning und eine andere wurde im psychiatr. Krankenhaus wegen reaktiven Depressionen behandelt. Bei den anderen aufgeführten Familienmitgliedern sind keine Auffälligkeiten angegeben. Begründung des Antrags auf Unfruchtbarmachung: "Die Intelligenzprüfung ergibt bei K.S. eine hochgradige Unselbständigkeit im Denken und Handeln u. Urteil, stark eingeengtes Begriffsbildungsvermögen, fast vollständig Ergebnislosigkeit der Schulbildung. Zu einer selbständigen Lebensführung ist er ungeeignet. Die körperliche Untersuchung gibt keinen Anhaltspunkt, daß der zweifellose Schwachsinn Folge des behaupteten Unfalls ist. Für die Erblichkeit des Leiden spricht auch die Sippengeschichte, es ist daher mit Gewißheit anzunehmen, daß etwaige Kinder des K.S. erbkrank sein würden."
Diag: angeborener Schwachsinn
Herr (E), geb. 1904; seine Mutter starb, als er vier Jahre alt war, er besuchte nur zwei Winter die Schule und war bereits mit 8 Jahren in der Landwirtschaft seines Vaters tätig, sein Vater starb, als er zehn Jahre alt war, mit sechzehn Jahren ging er in Tagelöhnerdienste bei Bauern, Heirat 1933, 11 Kinder; eines der Kinder ist mit 3 Jahren ertrunken, sieben sind Hilfsschüler; drei Kleinkinder waren mäßig gepflegt, zwei waren an Rachitis erkrankt. Herr L.T. war 5 Jahre als Nachtwächter und 4 Jahre bei Baufirma beschäftigt; 1940 Arbeitsunfall (Schädeltrauma). 1944 31/2 Monate Krankenhausaufenthalt wegen paranoider Schizophrenie. Lebt in einem Haushalt zusammen mit Ehefrau und Kindern. Diag: Schizophrener Formenkreis, Paranoia; er biete das Bild eines geistig und charakterlich Abwegigen; zudem leidet er an Beziehungs- und Verfolgungsideen.
Herr (F) geb. 1906, Matura 1924, erlernte keinen Beruf, sondern pflegte zusammen mit den Eltern seine geisteskranke Schwester und betrieb Sprachstudien (Englisch und Indisch), schrieb Beiträge in indischer Sprache u.a. für eine indische Zeitschrift; 1939 2 Wochen freiwilliger Aufenthalt im psychiatrischen Krankenhaus; Vater an M. Parkinson verstorben, Bruder hat "Nervenleiden". Diag: Schizophrenie.
Ärztl. Begründung des Antrags: "... Trotz Abklingen des akuten Zustandes... und trotz erhaltener überdurchschnittlicher Intelligenz, nicht berufsfähig geworden. Die Aussprache mit dem Kranken deckt eine starke Herabsetzung des Willenslebens, sowie eine Neigung zu ausschweifenden Antworten auf ... Die zweifellos vorhandenen Beschwerden einer ... hyperthyreotischen Konstitution sind doch nicht stark genug, um seine soziale Unverwendbarkeit zu begründen ... Sein Verhalten it nur Ausdruck seiner Abgewandtheit und Fremdheit der Umwelt gegenüber. Der Vegetarismus ist in diesem Fall nur eine Ergänzung zum schizophrenen Gesamtbild des Kranken. Das Fehlen erotischer Triebe kann möglich, aber auch simuliert sein. Da es nicht ausgeschlossen ist, daß er Nachkommen zeugen kann und da diese Nachkommen mit Gewissheit als erbkrank zu erwarten wären, ist R. Z. unfruchtbar zu machen."
Beginn der Erhebungen Jänner 1942, Beschlußausfertigung April 1944, begründeter Rekursantrag von Herrn (F) Mai 1944, Rekursablehnung Juni 1944; im Februar 1945 urgiert das Gericht die Vorlage einer Bestätigung über die Sterilisationsoperation.
Wenngleich in jedem einzelnen Akt eine den Bestimmungen des Gesetzes entsprechende medizinische Diagnose gestellt wird, so sticht bei Betrachtung der 6 Biographien doch ein anderer Umstand ins Auge: Die medizinische Begründung ist in allen 6 Biographien leicht als Scheinargumentation erkennbar. Besonders deutlich wird dies in der Biographie Frau (C) wo von Minderwertigkeit und Vorstrafen des Mannes die Rede ist und die Vermehrung durch Sterilisation der Frau, die als geringgradig schwachsinnig beurteilt wird, verhindert werden soll. Hingegen ist allen sechs Menschen der Umstand der unzureichenden sozialen Adaptation bzw. der "mangelnden Lebensbewährung" (s. Biographie Frau (B) gemeinsam. Die Annahme, daß hier das eigentliche Motiv der Sterilisation liegt, stimmt mit den im Abschn. 2.4. angeführten Tendenzen zur Sterilisation der "Asozialen" in Deutschland vollinhaltlich überein. Als zusätzliche Bestätigung dieses Umstandes kann folgendes Faktum gewertet werden:
Das Wiener Gesundheitsamt (Abtlg. II) berichtet am 28.7.1939: "Seit Februar 1939 wird an der Erfassung der negativen Auslese Groß-Wiens gearbeitet ... Der tägliche Karteneingang ... umfaßt in der letzten Woche 1200 und wird im nächsten Monat auf 2000 - 2500 ansteigen". Der zitierte Zwischenbericht spricht von der Verkartung eines Personenkreises von 320.000 Personen (über 15% der Wiener Bevölkerung). Als Einschlußkriterien werden angeführt: Geisteskranke, Psychopathen, Trinker, Prostituierte sowie 40.000 schwererziehbare und psychopathische Kinder aus asozialen Familien (18).
Auch hier kann - wie bereits an anderer Stelle ausgeführt (19) - die Schlußfolgerung gezogen werden: Die eugenischen Maßnahmen erfaßten vorerst die psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche; sie waren aber weit darüberhinaus auf Angehörige proletarischer Familien orientiert.
Schließlich ist das Ausmaß der Verwurzelung des "Rassenhygiene-Gedankens" aus der Absurdität der Fortsetzung der Sterilisationsmaßnahmen bis unmittelbar vor Kriegsende erkennbar.
Auch in Österreich waren die Ärzte die Hauptakteure des gesamten Verfahrens. Die Amtsärzte der Gesundheitsämter waren Leiter der Vorerhebung, danach Gutachter und Antragsteller sowie gegebenenfalls Aussteller der Dringlichkeitsbescheinigung meist in einer Person; die ärztlichen Mitglieder des Erbgesundheitsgerichtes unterzeichneten gemeinsam mit dem Richter den Gerichtsbeschluß; schließlich waren Ärzte als Operateure mit der Ausführung beauftragt. Somit übernahmen die Ärzte sowohl die Funktion der "wissenschaftlichen" Begründung als auch die der treibenden Kraft des Verfahrens.
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Über die Häufigkeit der Sterilisation geistig behinderter Menschen in der Gegenwart liegen keine verläßlichen Zahlen vor. In Deutschland wurde ein Schätzzahl von mehr als 1000 Sterilisationen geistig behinderter Frauen pro Jahr publiziert (27). In vielen Fällen - jedenfalls bis zur Gültigkeit des neuen BRD-Gesetzes ab 1992 - erfolgten diese Eingriffe in einer rechtlichen Grauzone (26).
Die Zwangssterilisation geistig behinderter Frauen ist auch in der Gegenwart Gegenstand einer Fachdiskussion. Inhalte dieser Diskussion sind vor allem die Fragen der Indikation, der Methode, der rechtlichen Voraussetzungen und gelegentlich auch der psychischen Konsequenzen. Hier soll vor allem der Argumentation zur Indikation nachgegangen werden.
Eine häufig vertretene Position lautet. "Es ist derzeit allgemeiner Konsens, Nachkommenschaft bei geistig behinderten Menschen, entgegen bejahter Partnerschaft, nicht zu wünschen" (23) (S 742). Als zentrale Argumente für die Indikationsstellung werden genannt "the transmission of hereditary defect or doubts about her adequacy as a mother" (22).
Zur Frage der Heredität werden unterschiedliche Positionen bezogen. "Auch ist zu fragen, ob nicht eugenische Gründe ... für die Unerwünschtheit einer Schwangerschaft von entscheidender Bedeutung sein können: Das genetische Risiko für Oligophrenie der Nachkommen ist ... nicht unerheblich" (S 742)(23). Differenzierter ist die folgende Argumentation: "When severe mental defect is coupled with a strong hereditary component there is a clear and convincing argument for trying to prevent conception by the most effective means possible ... When hereditary factors are less important, the argument in favour of sterilisation is less clear" (22). Eine sehr dezidierte Gegenposition lautet: "The simple eugenic argument is the weakest of all. The severely handicapped are only some 0.3-0.4% of the population ... Fertility amongst the severely handicapped is negligible, and sterilisation of such individuals would make no appreciable difference to the incidence of handicap ... Furthermore, there is no reason to suppose that sterilisation of the mildly handicapped would make any substantial difference to the incidence." (24)
Auch der potentiellen Elternschaft geistig behinderter Menschen wird mit unterschiedlichen Meinungen begegnet; sie wird entweder als spezielles sozialpädagogisches Risiko definiert, da geistig behinderte Eltern "dem geborenen Kind in der Regel und ohne begleitende Hilfen kein Elternhaus mit angemessener familiärer Einbettung zu bieten vermögen" (23), oder in die Reihe anderer Risken gestellt: "Real though this risk may be, mental handicap is by no means the only defect in parents wich makes for unhappy childhood: It is notoriously difficult to predict who will make a poor parent, and I.Q. is a much less effective predictor than some social criteria." (24) Logische Konsequenz dieser Sichtweise ist die Forderung nach sozialer Absicherung des potentiellen Risikos: "... and a corollary must be that if a mentally handicapped person does have a child, society must offer and provide adequate support and supervision to the family for the child´s sake." (22).
Schließlich ist noch die Argumentation des "Schutzanspruches" anzuführen. Geistig behinderte Frauen sind in erhöhtem Ausmaß der Gefahr des sexuellen Mißbrauchs und der Vergewaltigung - auch in inzestuösem Kontext - ausgesetzt (25)(26). Die daraus abgeleitete Konsequenz wird - wenngleich sachlich nur schwer nachvollziehbar - häufig folgendermaßen formuliert: "... muß die infolge der geistigen Schwäche nicht selten bestehende Gefahr verstärkter sexueller Verführbarkeit vor allem bei den weiblichen geistig Behinderten als besonderes Problem hervorgehoben werden. Sie haben aus meiner Sicht einen besonderen Schutzanspruch. Unausweichlich stellt sich daher ... die Frage nach einer Sterilisation." (23) Nur selten wird deutlich gemacht, daß die Sterilisation lediglich vor ungewollter Schwangerschaft, nicht aber vor dem physischen und psychischen Trauma der Vergewaltigung schützen kann (21); vielmehr dürfte die Sterilisation die Wahrscheinlichkeit des sexuellen Mißbrauchs noch erhöhen (26)(S 107f.). Die psychischen Folgen der Sterilisation werden gelegentlich diskutiert, jedoch gibt es keine schlüssigen Untersuchungen (21).
Der "Arbeitskreis zur Aufarbeitung der Geschichte der Euthanasie" wandte sich in einem Appell gegen ein neues Sterilisationsgesetz in der BRD, da damit ein Instrumentarium geschaffen würde, das eine Ausweitung auf weitere Menschengruppen vorprogrammiert(31); das zentrale Argument lautet: "Zur Würde und persönlichen Integrität eines behinderten Menschen gehört das Recht auf Unverletzbarkeit des Körpers. Eingriffe, die keine Heileingriffe sind, wie z.B. die Sterilisation, dürfen nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden. Ist eine solche Zustimmung nicht möglich oder bestehen Zweifel an der Zustimmungsfähigkeit, so dürfen solche Eingriffe nicht vorgenommen werden." Mit 1.1.1992 trat dann ein neues Betreuungsgesetz in der BRD in Kraft, in dem auch die Sterilisation von geistig behinderten Menschen bei mangelnder Einwilligungsfähigkeit geregelt wurde.
Auch in Österreich wurde die Zwangssterilisation behinderter Frauen noch in der jüngsten Vergangenheit von ärztlicher Seite befürwortet (20) und wird - teilweise in einer gesetzlichen Grauzone - praktiziert. Die rechtliche Situation läßt derzeit folgenden - fragwürdigen - Weg offen: Durchführung eines Eingriffs bei nicht entscheidungsfähigen Personen (Minderjährigkeit oder volle Sachwalterschaft) auf der Grundlage der Zustimmung der vertretungsbefugten Person (Vormund bzw. Sachwalter) unterstützt durch eine medizinische Indikation (ärztliches Gutachten). Diese Vorgangsweise wird jedoch durch eine Rechtsauffassung in Zweifel gezogen, die die Zustimmung zur medizinischen Behandlung - jedenfalls dort, wo es nicht um "Heilbehandlung" geht - dem Bereich der höchstpersönlichen Rechte zuordnet, die bei mangelnder Entscheidungsfähigkeit des/der Betroffenen nur durch Gerichtsentscheid geregelt werden können. Über die Häufigkeit der Anwendung der einen oder anderen Vorgangsweise liegt uns derzeit kein Datenmaterial vor, da die ärztliche Auskunftsbereitschaft zu diesem Thema sehr gering ist. Hier sind weitere Untersuchungen angezeigt.
Jedoch soll hier anhand der Detailanalyse eines psychiatrischen Gutachtens kasuistisch der Frage nach Analogien bzw. Divergenzen zwischen Geschichte und Gegenwart nachgegangen werden. In diesem Sinne sollen Auszüge aus der Biographie einer jungen Österreicherin die heutige Praxis beleuchten.
Frau X.Y. kam 1977 durch eine Risikogeburt zur Welt; im Säuglingsalter trat eine halbseitige spastische Lähmung auf, ihre Entwicklung verlief verzögert, sie besuchte einen Kindergarten und dann die Sonderschule. im Alter von 9 Jahren trat eine gut behandelbare Epilepsie auf, damals sprach sie in zwei bis drei-Wort-Sätzen. Bis zu ihrem 17. Lebensjahr lebte sie im Haushalt der Eltern, seither in einem Wohnheim für behinderte Menschen.
Bereits im 15. Lebensjahr wurde auf Initiative der Eltern die Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens über die Indikation zur Sterilisationsoperation veranlaßt; die Operation wurde schließlich 1 1/2 Jahre später durchgeführt. Ein Jahr danach wird eine mehrwöchige stationäre psychiatrische Krisenintervention erforderlich, in deren Verlauf deutliche Anhaltspunkte für sexuellen Mißbrauch durch den Vater festgestellt werden.
Das fachärztliche Gutachten bezieht sich auf "den geistigen Zustand, die Einsichts- und Kritikfähigkeit zur Schwangerschaft und zur Sterilisation und über die möglichen Auswirkungen einer Schwangerschaft sowie einer Sterilisation auf den geistigen und körperlichen Zustand". Der Gutachter konstatiert "ausgeprägte Schäden am Gehirn", verursacht durch geburtsbedingten Sauerstoffmangel. Als Konsequenz des Hirnschadens beschreibt er "Störungen der Motorik, des Gleichgewichts und der Koordination", sowie epileptische Anfälle und setzt fort: "Weitaus dominierender sind die Folgen der Hirnschädigung in psychischer Hinsicht: es kam zu schweren intellektuellen und affektiven Behinderungen..... die an der unteren Grenze der Imbezellität einzuordnen" sind. "Die Angaben der Eltern, daß bei ihrer Tochter Gleichgültigkeit und zornige Ausbrüche miteinander abwechseln" wird als "medizinisch glaubwürdig" bezeichnet, und festgstellt, daß "Mängel der Selbststeuerung ebenfalls vorhanden sein müssen", weil "Störungen des Antriebs, der Affektsteuerung und der emotionellen Ansprechbarkeit häufig die intellektuellen Mängel begleiten".
Um die folgenden Ausführungen zum Thema "Schwangerschaft" einordnen zu können, ist die Widergabe der Gesprächsniederschrift nötig (die Fragen des Gutachters sind in Klammern gesetzt):
Mit Hilfe der Mutter als sprachliche Vermittlerin werden nun Fragen direkt an X.Y. gerichtet: (Woher kommen denn die kleinen Kinder?) Babies? (ja) so klein (woher) von da /diese Antwort ist von einer unbestimmten ausholenden Geste begleitet/ (wünschst Du Dir ein Baby) ja (warum?) Brust trinken (woher willst Du das Baby?) Brust trinken (ja, aber von wo?) und Flascherl auch (aber wie willst Du zu einem Baby kommen?) einen Lutscher (und wo holst Du ein Baby?) Baby kaufen (wo kauft man das?) im Geschäft (und wie holst Du das Baby?) einen Teddybären (was machst Du, wenn das Baby weint?) streicheln (wer bringt das Baby?) ich (und was machst Du dann?) ins Gitterbett.
Im Gutachten findet sich kein Hinweis auf weitere einschlägige Gesprächspassagen mit der Klientin. Die ärztlichen Schlußfolgerungen daraus (auszugsweise):
Mit einer Schwangerschaft verbindet X.Y. trotz ihrer Geistsschwäche konkrete Vorstellungen. Sie hat beobachtet, daß Säuglinge an die Brust genommen werden und daß man ihnen auch Flaschennahrung geben kann... damit ist ihr Vorstellungsvermögen in dieser Hinsicht allerdings erschöpft. Über die Herkunft der Kinder macht sie sich ebensowenig realitätsnahe Vorstellungen wie über eine Schwangerschaft. Es fehlt ihr jegliches Wissen hinsichtlich Empfängnis. Der Begriff einer Empfängnisverhütung ist ihr vollkommen fremd. ...Die Mängel der Affektsteuerung bewirken, daß X.Y. allfälligen sexuellen Wünschen keinen Widerstand entgegenzusetzen vermag. Wenngleich Schwangerschaften auch von Schwachsinnigen zuweilen gut überstanden werden, sind bei X.Y. für den Fall einer Schwangerschaft Befürchtungen berechtigt... sind Angstzustände, die bis zur Selbstbeschädigung gehen können, zu erwarten. Im Falle einer Sterilisation können vor dem Eingriff Angst- und Abwehrmechanismen auftreten. Sie sind durch ein entsprechendes vorbereitendes Eingehen auf die Eigenheiten der Patientin vermeidbar... Nach Abschluß des Eingriffs wird man mit keinen psychologischen Folgen rechnen müssen, da X.Y. von der Bedeutung des Eingriffs keine Ahnung hat".
Die Durchführung der Sterilisation erfolgte - gemeinsam mit einer Zahnbehandlung - während eines 9-tägigen stationären Aufenthalts in einem psychiatrischen Krankenhaus. In der fachärztlichen Bestätigung des Krankenhauses wird der Eingriff "unter besonderer Aufsicht und intensiver Begleitung von erfahrenem Personal" nochmals begründet: "Da Fr. X.Y. auf Grund der Minderbegabung und der daraus resultierenden Verhaltensstörung keine normale gesundheitserhaltende Einstellung besitzt..."; abschließend wird festgestellt: "Jeder geistig behinderte Mensch hat das Recht auf medizinische Betreuung und Gesunderhaltung seines Körpers unter geringster psychischer Belastung".
Im fachärztlichen Gutachten werden Schlußfolgerungen gezogen, für die es keine nachvollziehbaren Voraussetzungen gibt:
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Das Problem der Empfängnisverhütung wurde im Gutachtensinterview mit keinem Wort angesprochen; dessenungeachtet wird die Behauptung aufgestellt, "der Begriff einer Empfängnisverhütung ist ihr vollkommen fremd"
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Die Aussage über mangelnde Affektsteuerung und daraus resultierende Widerstandsunfähigkeit hat in der Befunderhebung keine Entsprechung.
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Weiters werden allgemeine "Erfahrungen" ungeprüft als für den gegenständlichen Fall gültig angenommen, so z.B. die Erwartung von Selbstbeschädigung bei Schwangerschaft im Vergleich zur Folgenlosigkeit der Sterilisation.
Die Bedingungen der Durchführung der Sterilisation stehen in einem eindeutigen Zwangskontext; ihre Begründungen haben einen fachlich unsachlichen, als zynisch zu bezeichnenden Charakter. Somit unterscheidet sich der Vorgang wohl nur äußerlich von den im "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" legitimierten Zwangsmaßnahmen.
Diese mangelhafte gutachterliche und ärztliche Sorgfalt sowie die Unsachlichkeit und Willkürlichkeit der Argumentation ist als Ausdruck von tendenziöser Vorurteilshaftigkeit zu werten, nach deren Hintergrund zu fragen ist.
Da die Datenlage zur Sterilisation geistig behinderter Menschen - meist Frauen - zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine allgemeingültige Aussage zuläßt, soll der Versuch gemacht werden, durch den Vergleich der exemplarischen aktuellen Fallanalyse mit dem historischen Hintergrund zur Formulierung von Hypothesen zu gelangen.
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Die Sterilisation geistig behinderter Menschen ist heute im Prinzip ebenso aktuell wie in der Zeit der faschistischen Herrschaft. Der quantitative Unterschied ist allerdings bedeutsam.
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Der großzügige Verzicht auf wissenschaftliche Korrektheit in der Gutachtensargumentation ist ein durchgängiges Merkmal. Die Medizin liefert pseudowissenschaftliche Argumente für ein soziales Urteil - einst und heute.
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Die Argumentationslinie ist allerdings deutlich verändert: an die Stelle der rassenpolitischen Argumentation, die auch vom Gesetz des Jahres 1934 vorgegeben war, wird heute der "Schutz des Indiviuums" (z.B. vor den Belastungen durch eine Gravidität) gestellt; dies ist auch im Betreuungsgesetz der BRD der tragende Gedanke.
Jedoch kann an dieser Stelle über einen uns wesentlich erscheinenden Zusammenhang nicht hinweggesehen werden: So wie in der Geschichte Zwangssterilisation und "Euthanasie" eng beieinander lagen, wird auch heute parallel zur Sterilisationsdebatte auch der Gedanke der "Neuen Euthanasie" propagiert. In beiden Fällen wurde in der Argumentation der Gedanke der Eugenik durch die Forderung nach dem Schutz des Individuums und Sorge um sein subjektives Leid - die schließlich wiederum in der Tötung von "lebensunwertem Leben" mündet - abgelöst(28). Diese vordergründige "Mitleidsposition" läßt sich meist auf die Grundposition einer utilitaristischen Ethik zurückführen (29)(30).
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Wie wir zu zeigen versucht haben, kann die Sterilisation behinderter Menschen den ihr zugeordneten Zielsetzungen gar nicht gerecht werden. Die Tatsache ihrer kontinuierlichen Propagierung muß also vielfach einer anderen Dynamik als der der Rationalität folgen. Wir wollen daher abschließend folgenden Gedanken zur Diskussion stellen: NIEDECKEN beschreibt einen bei vielen Menschen bestehenden Tötungswunsch gegenüber behinderten Menschen (32), der aufgrund mangelnder sozialer Akzeptanz meist unbewußt bleibt. Mit Bezug auf ERDHEIM (33) spricht sie von einem "Phantasma". Es wäre nun zu prüfen, ob die Sterilisation, die über weite Strecken sozial akzeptiert und damit bewußtseinsfähig ist, die Funktion einer Ersatzhandlung erfüllt.
(1) KOCH Th.: Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsfrauenklinik Göttingen. Mabuse-Verlag, F/M 1994
(2) NEUGEBAUER W.: Zur Psychiatrie in Österreich 1938-1945: "Euthanasie" und Sterilisierung. In: WEINZIERL E., STADLER K.R. (Hrsg.): Justiz und Zeitgeschichte. BMfJustiz, Wien 1983
(3) FOREL A.: Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische und hygienische Studie nebst Lösungsversuchen wichtiger sozialer Aufgaben der Zukunft. (14. Aufl.) Verl. E.Reinhardt, München 1923 (1. Aufl. 1904)
(4) RANKE J.: Der Mensch I, II. Bibliograph. Institut, Leipzig, 1923 (3. Aufl.)
(5) LIFTON R.J.: The Nazi Doctors. Basic Books, NY 1986
(6) GÜSE H.G., SCHMACKE N.: Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus I,II. Athenäum, Kronberg 1976
(7) LENZ F.: Gedanken zur Rassenhygiene ARGB 37, 84-109, 1935 (zit. n. 6)
(8) RÜDIN E.: Referat in "Niederschrift, Sitzung der AG II d. Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- u. Rassenpolitik, 11.3.35" Bundesarchiv Koblenz; Reichsjustizministerium R 22/1933, Bl. 122-39
(9) SCHMIEDEBACH P.: Ärztliche Standeslehre und Standesethik 1918-45. In: BAADER G., SCHULTZ U. (Hrsg.): Medizin und Nationalsozialismus: Dokumentation d. Gesundheitstages Berlin 1980 Mabuse, Frankf/M. 1987 (3. Aufl.)
(10) LIEK E.: Der Arzt und seine Sendung. München 1929 (7. Aufl.) (zit. n. (9))
(11) ROTH K.H.: "Auslese" und "Ausmerze". Familien- u. Bevölkerungspolitik unter der Gewalt der nationalsozialistischen Gesundheitsfürsorge. In: BAADER G., SCHULTZ U. (Hrsg.): Medizin und Nationalsozialismus; Dokumentation d. Gesundheitstages Berlin 1980 Mabuse, Frankf/M. 1987 (3. Aufl.)
(12) EWALD G.: Altes und Neues zum Sterilisierungsgesetz. Zschr.f. psych. Hygiene 7,66,1934 (zit.n.1)
(13) KOPP W.: Die Unfruchtbarmachung der Asozialen. Der Erbarzt 6,66,1939 (zit.n.1)
(14) THIELE H.: Zur Frage der asozialen Psychopathen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst 4, 394-96, 1938/39 (zit.n.1)
(15) HUBENSTORF M.: Die Wiener Medizin und der Nationalsozialimus - 50 Jahre danach / II: Medizin ohne Menschlichkeit. Wiener Arzt 6, 6-30,1995
(16) HUBENSTORF M.: Die Wiener Medizin und der Nationalsozialimus - 50 Jahre danach /I: Der Wahrheit ins Auge sehen. Wiener Arzt 5, 14-27, 1995
(17) ROTH K.H.: "Erbbiologische Bestandsaufnahme" - der Aspekt "ausmerzender" Erfassung vor Entfesselung des Zweiten Weltkrieges (S 57-100). In: ROTH K.H. (Hrsg.): Erfassung zur Vernichtung. Verlagssgesellschaft Gesundheit, Berlin 1984
(18) GESUNDHEITSAMT: Bericht über die bisher geleistete Arbeit in der Abtlg. II des Gesundheitsamtes vom 28.7.1939 (ohne AZ) Dok.Archiv Österr. Widerstand
(19) BERGER E.: Psychiatrie im Faschismus. Behinderte 11, 5, 59-62, 1988
(20) RETT A.: Klinische, genetische, soziale und juridische Aspekte der Sterilisation geistig behinderter Jugendlicher. In: MÜLLER - KÜPPERS M, SPECHT F.(Hrsg.): Recht - Behörde - Kind. Huber, Bern 1979
(21) KUNZ J, FELDER W, ZOLLINGER M, ARZT G.: Zur Sterilisation geistig behinderter Patientinnen. Schweiz. med. Wschr. 121, 1328-35, 1991
(22) WORKING GROUP IN CURRENT MEDICAL/ETHICAL PROBLEMS: Sterilisation of Mentally Handicapped. The Lancet 29, 685, 1979
(23) KREBS H.: Partnerschaft, Sexualität und Kontrazeption bei geistig behinderten Menschen. Fortschr. Med. 103, 740-43, 1985
(24) ANONYM (EDITORIAL): Sterilisation of Handicapped Minors. The Lancet 23, 352-3, 1975
(25) CHAMBERLAIN A., RAUH J., PASSER A., McGRATH M., BURKET R.: Issues in Fertility Control for Mentally Retarded Femal Adolescents.I. Sexual Activity, Sexual Abuse and Contracetption. Pediatrics 73, 445-50, 1984
(26) BECKER M.: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen mit geistiger Behinderung. Edition Schindele, Heidelberg 1995
(27) PRESSEZENTRUM DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES: Über 1000 Behinderte werden jährlich sterilisiert. Woche im Bundestag 20, 35, 1990 (zit. n. 26)
(28) KUHSE H., SINGER P.: Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener. H.Fischer Verlag, Erlangen 1993 (Orig. engl. 1985)
(29) JANTZEN W.: Glück - Leiden - Humanität; Eine Kritik der "Praktischen Ethik" Peter Singers. Zschr.f.Heilpädagogik 42, 230-44, 1991
(30) FEUSER G.: Behinderte Kinder und Jugendliche; zwischen Integration und Aussonderung. Wissenschaftl. Buchgesellsch., Darmstadt 1995
(31) DÖRNER K, WUNDER M.: Kein neues Sterilisationsgesetz. Demokrat. Gesundheitswesen 7/8 1987
(32) NIEDECKEN D.: Namenlos; Piper, München 1989
(33) ERDHEIM M.: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit; Suhrkamp, Frankfurt/M. 1984
Quelle:
Ernst Berger, Barbara Michel: Zwangssterilisation bei geistiger Behinderung
erschienen in: Wr. Klin. Wochenschr. 109 / 23, 925-31, 1997
bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet
Stand: 01.12.2011