Behinderung - Rehabilitation - Integration

Autor:in - Ernst Berger
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Collegium Publicum des Fortbildungsreferates der Ärztekammer für Wien, 23.3.1996; Kurzfassung
Copyright: © Ernst Berger 1996

Behinderung - Rehabilitation - Integration

Das Verhältnis zwischen der Medizin und behinderten Menschen ist nicht unbelastet. Die Medizin hat über viele Jahrzehnte gebannt auf den biologischen Defekt geschaut, diesen Defekt mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit klassifiziert und quantifiziert und in diesem Bemühen haben die Ärzte vielfach hinter der Behinderung den Menschen aus dem Blick verloren. In der Nazizeit und bereits davor stand die Medizin in vorderster Front bei der theoretischen Legitimation und bei der Durchführung der Zwangssterilisation und der Ermordung behinderter Menschen. Wir haben uns also an dieser Stelle auch zu einer historischen Schuld zu bekennen und eine Hypothek abzuarbeiten.

Auch in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart dienen psychiatrische Anstalten als Institutionen der "Bewahrung" - eigentlich des sozialen Ausschlusses - geistig und mehrfach behinderter Menschen. Die Psychiatrie und die Psychiater haben diese Rolle durch Jahrzehnte widerstandslos übernommen und nie öffentlich problematisiert. "Auffallendes Verhalten schrieb man dem Wesen der geistigen Behinderung zu und hielt es in der Regel nicht für nötig, zu überprüfen, ob es sich möglicherweise um die Manifestation einer psychischen Erkrankung handeln könnte. Viele dieser Personen wurden mißbraucht, vernachlässigt ... angefangen von der Isolierung bis hin zur Sterilisation. Ihr Leid wurde mit Hilfe der Irrlehre über ihre Lernunfähigkeit verdrängt" (FLETCHER 1993); so wird die Situation in den USA etwa 1960 beschrieben. In Österreich wurden diese Fakten auch im Rahmen der Psychiatriereform nur marginal thematisiert; erst durch die Neufassung des "Unterbringungsgesetzes" kam Bewegung in die Sache. Die damit zusammenhängende Diskussion und die organisatorischen Veränderungen der Betreuung sind bei weitem nicht abgeschlossen; immer noch leben behinderte Menschen "fehlplaziert" in psychiatrischen Anstalten.

In den letzten Jahren wurden wichtige Beiträge zu einem grundsätzlichen Wandel der Sichtweise des Problems "Behinderung" geleistet. Dieser Wandel ist von praktischer Relevanz in der medizinischen Hilfe für behinderte Menschen.

Mediziner sind auf dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Prägung ihres Denkens gewohnt, zahlreiche Probleme, denen sie im Umgang mit behinderten Menschen begegnen, als unmittelbare Konsequenz eines biologischen Defektes zu deuten ("Unmittelbarkeitspostulat"). So haben wir in unserer Ausbildung gelernt, unseren Blick primär auf den "Defekt" und auf das "Anderssein" des behinderten Menschen zu lenken. Diese Sichtweise verstellt aber systematisch den Blick auf den sozialen Anteil des Problems "Behinderung". In pointierter Form bringen die Selbsthilfegruppen behinderter Menschen diese Problem durch die Formulierung "gehinderte Menschen" zum Ausdruck. Die WELTGESUNDHEITSORGANISATION hat bereits 1980 folgendes Denkmodell formuliert:

Tabelle 1: Denkmodell der Weltgesundheitsorganisation

BIOLOGISCHER DEFEKT (die "Pathologie")

bezeichnet die Zerstörung oder die abnorme Funktion eines biologischen Systems.

SCHäDIGUNG

bezeichnet die unmittelbare funktionelle Konsequenz des biologischen Defekts, z.B. die Bewegungsstörung.

BEEINTRäCHTIGUNG

bezeichnet den Funktionsverlust im persönlichen Alltag, z.B. den Hilfsbedarf beim Ankleiden, Kochen etc.

BEHINDERUNG

bezeichnet die sozialen Konsequenzen eines Defekts, z.B. den Verlust des Arbeitsplatzes (WHO 1980)

D.h. der Defekt stellt den biologischen Anteil der Behinderung dar. Dieser führt in der Interaktion mit der sozialen Umwelt zur Beeinträchtigung, aus der schließlich eine Behinderung entstehen kann. SOMIT IST BEHINDERUNG NICHT EINE EIGENSCHAFT DES INDIVIDUUMS; SIE ENTSTEHT ERST IN DER BEZIEHUNG ZWISCHEN INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT.

Diese Konzeption macht deutlich, daß die Medizin keine umfassende Zuständigkeit für den Problemkreis "Behinderung" besitzt. Vielmehr ist es unsere Aufgabe als Ärzte, behinderten Menschen - so wie allen anderen auch - Dienste der medizinischen Hilfeleistung anzubieten. Diese Angebote müssen so strukturiert sein, daß sie Eigenverantwortlichkeit und Selbstkontrolle möglich machen und Isolation vermeiden. Der in Skandinavien geprägte Begriff des "NORMALISIERUNGSPRINZIPS" (NIRJE 1974) bringt diesen Gedanken am klarsten zum Ausdruck: die Lebensbedingungen behinderter Menschen sind so "normal" wie irgend möglich zu gestalten; dies gilt auch für medizinische Dienste.

Vor spezifischen Aufgaben steht die Medizin dort, wo es um das Anliegen der Rehabilitation geht. Ausgangspunkt muß auch hier ein sozialmedizinisches Grundverständnis sein sowie eine Vorstellung von "Veränderbarkeit". Als veränderbar muß jedoch vor allem die Lebenssituation, nicht unbedingt die biologische Funktionsstörung verstanden werden. Jede therapeutische Maßnahme muß danach beurteilt werden, ob sie geeignet ist, in ihren Konsequenzen die Erfahrungsspielräume des Individuums zu erweitern (Isolation zu durchbrechen, Autonomie zu vergrößern). Auch biologische Faktoren haben ihren jeweiligen Stellenwert nur im Gesamt - Lebenszusammenhang des Individuums.

Autor

Prim.Univ.Doz.Dr. Ernst BERGER

Neurologisches Krankenhaus Rosenhügel

Neurologische Abteilung für Kinder und Jugendliche

mit Behindertenzentrum

Quelle:

Ernst Berger: Behinderung - Rehabilitation - Integration

Collegium Publicum des Fortbildungsreferates der Ärztekammer für Wien, 23.3.1996, Kurzfassung

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.01.2005

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