Ablösungskrisen und die Stützung normaler Entwicklung bei behinderten Menschen

Autor:in - Ernst Berger
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Erschienen in: erziehung heute 2/1994; Österr. Studien-Verlag; Innsbruck redaktionell überarbeitete Tonbandabschrift des gleichnamigen Referates, gehalten im Rahmen der Tagung "Frühförderung - Spätförderung",veranstaltet vom Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung (TAFIE) gemeinsam mit dem Institut für Erziehungswissenschaften in Innsbruck im November 1990.
Copyright: © Ernst Berger 1994

Einleitung (Überschrift von Bidok)

Die Begegnung behinderter Jugendlicher mit Einrichtungen der Psychiatrie erfolgt vielfach aufgrund familiärer Interaktionskrisen, die von Aggressionshandlungen geprägt sind. Derartige Situationen wurden und werden häufig als unmittelbarer Ausdruck der Behinderung bzw. des biologischen Defekts interpretiert. Dieser dem traditionellen medizinischen Denken entspringende Ansatz erweist sich in der Praxis als wenig fruchtbar, weshalb die Suche nach alternativen Konzepten angezeigt ist.

Um diese psychischen Krisen zu verstehen und adäquat darauf zu reagieren, ist es notwendig, mithilfe der biographischen Methode (vgl. LURIA 1975; BERGER, JANTZEN 1989) ihre Entstehungsgeschichte zu entschlüsseln.

Zwei Lebensgeschichten

Inhaltsverzeichnis

Richard[1]

Die erste Kurzbiographie ist die eines jungen Mannes, den ich Richard nennen möchte. Er ist der zweite Sohn seiner Eltern, ist im Jahre 1954 geboren worden und hat die Geburtsklinik als Risikokind verlassen. Bereits in den ersten Phasen seiner Entwicklung fiel auf, daß seine Entwicklung verzögert verlief. Er konnte mit sechs Monaten nicht frei sitzen, mit einem Jahr nicht frei gehen, weshalb er ungefähr Ende des ersten Jahres wieder in eine medizinische Institution aufgenommen wurde und dort die Diagnose einer Mikrozephalie [2] gestellt wurde. Mit 14 Monaten wurde die Diagnose einer spastischen Parese gestellt und in der Zeit zwischen dem 14. Lebensmonat und seinem dritten Lebensjahr traten auch zusätzlich zu seiner spastischen Parese[3] auch noch epileptische Anfälle auf. Auf Grund dieser spastischen Paraparese wurde damals auch die Achillessehnenverlängerung durchgeführt.

In den folgenden Jahren war sein Leben vom Besuch des Sonderkindergartens und von regelmäßigen physikotherapeutischen Behandlungsversuchen geprägt. Er lernte unter diesen Behandlungsversuchen, einige Schritte selbständig frei zu gehen. Nach dem Besuch des Sonderkindergartens kam er in die allgemeine Sonderschule. Dort verbrachte er aber nur kurze Zeit. Nach etwa einem Jahr hatte der Direktor der Sonderschule beschlossen, Richard nicht mehr in der Sonderschule zu behalten, und er wurde nach Hause geschickt. Die Begründung für den Ausschluß aus der Sonderschule war, daß Richard zuwenig aufnähme.

Die Strategie der Mutter in dieser Situation war, daß sie beschloß, ihn einfach an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Diese Entscheidung war nicht konfliktfrei gewesen. Sie litt unter den Schuldgefühlen, zu wenig für ihn getan, zu wenig gekämpft zu haben, daß er weiter in die Schule gehen dürfe. Schließlich resignierte sie und entschied, dafür zu sorgen, daß er regelmäßig seine Therapien bekäme.

Ab dem 19. Lebensjahr wurde das Zusammenleben zu Hause immer schwieriger, wobei ein wichtiger Faktor dieser zunehmenden Schwierigkeiten Richards Ausdrucksformen von sexuellen Wünschen geworden war. Sie führten immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Familie, zu Auseinandersetzungen mit seiner Mutter, zu Aggressivität, zu Tob- und Schreianfällen. Konflikte auf der Interaktionsebene der Familie waren Anlaß dafür, daß es in der Folge, in der Zeit zwischen dem 19. und 29. Lebensjahr, zu insgesamt 19 Krankenhausaufenthalten kam, die immer länger wurden. Es handelte sich um eine prolongierte Krise, zehn Jahre hindurch, eine Interaktionskrise in der Familie.

Im Zuge dieser Spitalsaufenthalte wurden die Verhaltensstörungen als Krisensymptome klassifiziert und mit sedierenden Medikamenten behandelt. Der Effekt war eine wachsende Unselbständigkeit, die dazu führte, daß Richard schließlich die Möglichkeit des Gehens, die er im Zuge der Therapie anfangs erlernt hatte, wieder verlor und nun auf seinen Rollstuhl angewiesen war.

Seit seinem 33. Lebensjahr befand er sich in dauerstationärem Aufenthalt. Drei Jahre waren im wesentlichen dadurch geprägt, daß er nicht viel mehr tat, als im Krankenzimmer sich im Rollstuhl von seinem Bett zum Tisch zu bewegen. Gelegentlich gab es dann überraschende Aktionen: daß er nämlich im Rollstuhl aufstand, ins Badezimmer ging, das Wasser aufdrehte und badete; oder plötzlich die Station verließ und woanders das WC aufsuchte.

So war es auch zu der Zeit, als ich in das Krankenhaus am Rosenhügel kam. Als ich zum ersten Mal auf der Station Visite machte, wurde mir von den Kollegen vermittelt, daß sie sich große Sorgen darüber machten, daß Richard nun bald überhaupt nicht mehr gehen können würde. Ein anderes Mal, als ich wieder auf die Station kam, war die Tür zur Station zugesperrt. Ich fragte, warum die Türe zugesperrt sei und die Antwort war: "Weil der Richard ansonsten im ganzen Haus herumläuft". Ich dachte mir, da kann doch etwas nicht stimmen. Entweder es besteht die Sorge, daß er bald nicht mehr gehen kann oder er läuft im ganzen Haus herum. Eines von beidem konnte also nicht stimmen.

Ich drängte nun darauf, daß diese Türe offen blieb. Zu den Sorgen, daß er durch sein Herumlaufen den Ambulanzpatienten unangenehm auffallen könnte oder, daß, wenn er draußen in der Ambulanz aufs Klo ginge und seine Hose nicht heraufzöge, sich die Leute beschweren kämen, daß er ohne Hose herumginge, sagte ich: "Dann werden wir den Leuten sagen, wenn sie ihn ohne Hose treffen und es sie stört, dann sollen sie ihm helfen, die Hose hinaufzuziehen, anstatt sich zu beschweren".

Kurz - was wir getan hatten in dieser Zeit war, seine Spielräume zu erweitern. Und Richard nutzte diese Spielräume ganz massiv. Dadurch war das Problem nicht mehr gegeben, ob er gehen oder nicht gehen könne, sondern er lief tatsächlich den ganzen Tag im Haus herum und war dem Personal, den Mitarbeitern sehr lästig. Er ging in dieser Zeit in alle Räume hinein, überall. Es war ein großes Problem, ihn daran zu hindern, alle Mitarbeiter zu stören.

Diese Phase dauerte vier, fünf Wochen. Dann war es vorbei. Er hatte das Haus erkundet, das er seit 19 Jahren kannte, in dem er sein Leben seit drei Jahren ausschließlich verbrachte. Nun hatte er es erstmals erkundet. Als er dieses Haus und seine Räume kennengelernt hatte, war das Problem gelöst.

Der nächste Schritt hatte uns wieder Angst gemacht. Der führte Richard nämlich hinaus ins Krankenhausareal, wo natürlich auch Autos fuhren. Es gab dramatische Situationen: Eines Tages versteckte er sich im Direktionsgebäude im Keller und wurde den ganzen Nachmittag nicht gefunden.

Es gab einen riesengroßen Auflauf, weil wir nicht wußten, wo er war. Auch diese Phase ging vorbei. In der Zwischenzeit ist es so, daß Richard frei geht und einen Arbeitsplatz in einer Behindertenwerkstätte gefunden hat.

Diese Phase möchte ich ein bißchen erläutern, denn diese Entwicklung war nur dadurch möglich, daß es uns gelungen war, im Hause die Lebensspielräume von Richard zu erweitern. Für diesen Punkt, den ich jetzt geschildert habe, möchte ich den Begriff Spätförderung angewandt wissen. Da geht es nicht darum, im 36. Lebensjahr bestimmte Therapieformen anzuwenden, sondern da geht es darum, den Lebensraum so zu gestalten, daß neue Lernprozesse, neue Aneignungsprozesse ermöglicht werden.

Das hat einerseits bestimmte Sturkturveränderungen im Krankenhaus erfordert, aber das hat andererseits auch eine intensive Bearbeitung dieser Probleme mit Richards Mutter erfordert. Nun möchte ich noch kurz die therapeutische Begleitung der Mutter, diesen Fortbildungsprozeß, schildern. Die Kollegin Zissler, die diese Betreuungsarbeit der Mutter gemacht hat, hat einzelne Phasen herausgearbeitet und diese Phasen mit Schlagwortsätzen charakterisiert.

Der erste dieser Schlagwortsätze heißt: Mein Sohn braucht psychologische Betreuung.

Der Wunsch nach der psychologischen Betreuung ging dahin, daß sich die Mutter eine lückenlose Betreuung durch das Pflegepersonal wünschte und daß letztlich das Einwirken eines Psychologen auf Richard, seine neugewonnene Selbständigkeiten wieder reduzieren würde. Denn die Mutter hatte massive Angst vor dem, was der "kleine" Richard tun würde, was ihm passieren könnte. Der "kleine" Richard, der ja in der Zwischenzeit 36 Jahre alt geworden war.

Die zweite Phase - Schlagwortsatz: Eine Mutter muß ihr ihr Kind vor den Gefahren der Umwelt schützen.

Die Eltern von Richard waren und das stellte sich in den Gesprächen heraus - voll und ganz auf ihren Sohn als "lebenslängliches Kind" konzentriert. So beinhaltete das "Spielzimmer", das er zu Hause hatte - es war auch für den 36jährigen Richard noch immer das Spielzimmer - nur ungefährliche Möbel ohne Kanten.

Die nächste Phase ist überschrieben mit dem Satz: Richard soll wieder zur Schule gehen. Die Mutter selbst hatte den Vorschlag mit dem Hinweis "Er spielt so gern Schule" gemacht. An das Jahr, das er in der Schule verbracht hatte, konnte sich Richard noch erinnern. Von unserer Seite wurde die Idee eingebracht, einen geschützten Wohnplatz für Richard zu suchen und ihn nicht in sein Spielzimmer zurückkehren zu lassen. Die Antwort der Mutter darauf war: "Niemals würde ich meinen Sohn abschieben".

Das Unterbringen in einem Wohnheim, die Suche nach einem geschützten Wohnplatz, einem Platz in einer Wohngemeinschaft wurde als Abschieben erlebt. Dann kam plötzlich überraschend von der Mutter selbst der Vorschlag, Richard könnte doch in eine Werkstätte gehen. Und zwar in eine Werkstätte, die er vor Jahren einmal für kurze Zeit besucht hatte. Bald kam die Mutter wiederum selbst mit dem Gedanken, ein Wohnheim hätte vielleicht doch nicht nur Nachteile. Sie begann, sich damit auseinanderzusetzen, daß das Wohnen in einem Wohnheim, in einer Kleinwohneinheit, möglicherweise doch nicht nur als Abschieben zu sehen war. Mit der wachsenden Gehfähigkeit von Richard kam die Mutter dann eines Tages nach einem Wochenende, das Richard zu Hause verbracht hatte, mit der Mitteilung: "Ich war so stolz. Die Nachbarn sind vor Staunen fast aus dem Fenster gefallen, als Richard ohne Rollstuhl durch den Hof der Wohnungsanlage gegangen ist."

Der nächste spontane Schritt war, daß die Mutter selbst begann, einen Platz in dieser Werkstätte zu suchen. Die Initiative kam von der Mutter, und sie hat jetzt zuletzt selbst festgestellt, daß es für den erwachsenen behinderten Mann doch besser ist, im Rahmen einer Behindertenwerkstätte zu arbeiten, als nur Schule zu spielen.

Andreas:

Ein zweites Beispiel, das ein bißchen andere Akzente setzt - die "Fallgeschichte" von Andreas. Auch Andreas ist nach seiner Geburt mit der Feststellung "Risikokind" aus der Geburtsabteilung entlassen worden. Er lernte dann in seinem dritten Lebensjahr sprechen und gehen und wurde später in die Allgemeine Sonderschule eingeschult. Mit 13 Jahren mußte er für ein halbes Jahr ins Spital, da Knochenzysten festgestellt worden waren. Im Rahmen dieser orthopädischen Situation konnte er sich praktisch nicht bewegen und mußte bald darauf in den Rollstuhl. Im Zuge des Krankenhausaufenthaltes entwickelte er eine massive Gehstörung. Etwa ab seinem 21. Lebensjahr hatte er auf Grund der Tatsache, daß er seine Fähigkeit zu gehen praktisch vollkommen aufgegeben hatte, das Haus nicht mehr verlassen und war nur mehr in der Wohnung der Eltern.

Im April 1990 war er mit der Bitte um Behandlung seiner Gehstörung zum ersten Mal im Spital am Rosenhügel vorgestellt worden. Er war keiner der Langzeitpatienten, die über Jahre stationär behandelt worden waren, sondern seine Isolation hatte zu Hause stattgefunden.

Es handelte sich um eine linksbetonte Paraspastik, also eine spastische Lähmung der unteren Körperhälfte. Noch während der diagnostischen Phase begannen wir mit Bewegungsübungen und mit klassisch-therapeutischen Maßnahmen. Seine Gehfähigkeit nahm wieder ziemlich rasch zu. Rückblickend würde ich sagen, es war weniger der Erfolg der Physikotherapie, als die Veränderung seiner Lebenssituation: Er war aus der Isolation in der Familie zu Hause in andere Lebensbedingungen im Krankenhaus gekommen. So konnte er nach einigen Wochen Spitalsaufenthalt unter Benützung eines Stockes relativ frei gehen. Nachdem die Mutter ihn dann aus dem Spital abgeholt hatte, verlor er nahezu sofort wieder seine erworbene Selbständigkeit im Gehen und auch seine selbständige Körperpflege etc. Es kam bald danach zu einem neuerlichen Spitalsaufenthalt - die Eltern wollten auf Urlaub fahren. Er mußte wieder den Rollstuhl verwenden und konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen.

Diesmal war es uns schon klar, worum es eigentlich ging, und wir versuchten, mit ihm die Frage seiner Selbständigkeit zu erarbeiten: Was bedeutete Selbständigkeit für ihn als einen 24jährigen jungen Mann, der noch im Haushalt seiner Eltern lebte, dort auch voll versorgt wurde? Es gelang in dieser Zeit, die Selbständigkeit als einen Wert für ihn selber zu etablieren, und er begann, Wert darauf zu legen, als ein erwachsener Mann respektiert zu werden. Er war zunehmend stolz, ohne fremde Hilfe auszukommen und begann tatsächlich auch zu phantasieren, er könnte doch vielleicht allein leben, in einem Wohnheim, gemeinsam mit anderen jungen Menschen. Wir nahmen das zum Anlaß, in einem Wohnheim ein Probewohnen zu vereinbaren. Er ging für ein paar Tage dorthin, um sich das einmal anzusehen. Doch reagierte er ziemlich unwillig darauf, wie wenig dort auf ihn eingegangen würde, wie wenig man seine Bedürfnisse berücksichtigte, er wäre doch - "verdammt nocheinmal" - ein kranker Mensch und brauche die Versorgung.

Dieser Versuch war schiefgegangen. Er wurde dann aus dem Spital entlassen und kehrte in die ursprüngliche häusliche Situation zurück. Seither verbringt er praktisch die gesamte Zeit des Tages wiederum in der Wohnung, sitzt im Rollstuhl, näßt in der Nacht zeitweise ein, hat keine Freunde, keine Interessen. Der Konflikt, der zwischen dem entstandenen Unabhängigkeitswunsch einerseits und den noch vorhandenen Abhängigkeitswünschen andererseits besteht, ist in diesem Fall ein ungelöster Konflikt. Die Probleme bestehen unverändert weiter, er ist isoliert in der Wohnsituation, in seinem Rollstuhl nahezu aktivitätslos.



[1] Namen geändert

[2] Verkleinderung des Gehirnschädels

[3] teilweise Lähmung

Versuche einer Verallgemeinerung

Ich möchte nun versuchen, die Gedanken, die sich aus diesen zwei Kurzbiographien ergeben, zu verallgemeinern und Schlußfolgerungen aus dem, was wir hier gelernt haben, abzuleiten. Als theoretische Basis wähle ich ein Denkmodell, das Ähnlichkeit mit geläufigen Begriff der "ganzheitlichen Sichtweise" hat, das aber gegenüber dem Begriff der Ganzheitlichkeit meiner Meinung nach eine zusätzliche spezifische Kraft hat: der Mensch als eine biopsychosoziale Einheit.

Nun ist es deshalb wichtig, in Erweiterung des Begriffes der Ganzheitlichkeit den Begriff der biopsychosozialen Einheit zu wählen, weil uns diese Begriffswahl zwingend darauf hinweist, daß, wenn wir den Menschen als Ganzheit sehen, wir nicht übersehen dürfen, daß auf den einzelnen Ebenen - auf der biotischen Ebene, auf der psychischen Ebene und auf der sozialen Ebene - eigene Gesetzmäßigkeiten bestehen.

Wir dürfen aber nicht übersehen, daß es zwischen diesen Ebenen Übergänge gibt, wo es nicht zulässig ist, Gesetzmäßigkeiten der einen Ebene einfach auf die andere zu übertragen, sondern, wo wir die ebenenspezifischen Gesetzmäßigkeiten beachten müssen und überlegen müssen, was passiert beim Übergang von einer Ebene auf die andere. Was bedeutet ein Defizit auf der biotischen Ebene für die psychischen Lebensbedingungen eines Menschen? Was bedeuten bestimmte soziale Bedingungen für die psychische Situation eines Menschen? Ich meine, wir dürfen den Menschen nicht in seine verschiedenen Ebenen zerlegen, sondern wir müssen verschiedene Ebenen betrachten, berücksichtigen, die Übergänge anschauen und daraus das Bild der Ganzheitlichkeit aufbauen.

In den beiden Fallbeispielen stehen wir einerseits vor der Tatsache von Defekten auf der biologischen Ebene - beide Klienten hatten auf Grund ihrer komplizierten Geburtssituationen Defekte im Bereich ihres Nervensystems erlitten -, und wir stehen andererseits vor der Situation spezifischer Sozialbedingungen - konkret, vor spezifischen, familiären und gesamtgesellschaftlichen Strukturen. Gesamtgesellschaftlich gibt es eben spezielle Rahmenbedingungen, unter denen sich das Leben behinderter Menschen entwickeln kann.

Unter Berücksichtigung dieser Prämissen möchte ich versuchen, die Gedanken weiter zu entwickeln und zwei Thesen darzustellen:

Meine erste These der Verallgemeinerung nach diesen beiden Kurzbiographien lautet:

Das, was wir in diesen beiden Fällen sehen, ist eine Störung der Persönlichkeitsentwicklung, die sich in der Adoleszenz der beiden junge Männer manifestiert.

Mit Adoleszenz meine ich dabei nicht eine bestimmte Altersphase, sondern bestimmte Beziehungsprozesse.

Wenn ich versuche, dieser These nachzugehen, möchte ich mich an einem von Rousseau geäußerten Gedanken orientieren. Eine Aussage von Rousseau besagt, daß der Mensch zweimal geboren wird. Zunächst um zu existieren und später in der Pubertät, um wahrhaft menschlich zu leben. Ich denke, daß diese Formulierung von Rousseau, dieses zweimal Geborenwerden, ganz gut zwei Phasen der Entwicklung charakterisiert. Wenn wir uns die Grundaussagen aller heute relevanter Entwicklungsmodelle ansehen, so können wir dort zwei zentrale Aussagen finden, nämlich:

  • Die aktive Aneignung ist der Kernpunkt der Entwicklung von Kindern (Piaget, Wygotski). Diese Grundaussage, die im pädagogischen, aber vor allem auch im medizinischen Denken oft vergessen worden ist, gilt auch und besonders für die erste Periode im Sinne Rousseaus, also für die Phase, in der das Kind geboren wird, um zu existieren. Auch dort ist die Voraussetzung seiner Entwicklung bereits die Möglichkeit seiner aktiven Aneignung der Umwelt.

  • Die Persönlichkeitsentwicklung, die im Rousseauschen Sinne mit größter Dynamik in der Periode der Adoleszenz stattfindet, ist ein Produkt der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt (Leontjew, Erikson). Nicht, daß ich meine, daß es davor keine Persönlichkeitsentwicklung gibt, sondern die Persönlichkeitsentwicklung erhält in der Adoleszenz, der Pubertät, eine besondere Dynamik. Der Gedanke der zweiten Geburt der Persönlichkeit in der Adoleszenz meint ja nichts anderes als die Verortung der eigenen Motive im sozialen System.

Wenn wir nun versuchen, diese zwei Gedanken - die aktive Aneignung als Voraussetzung der Entwicklung und Persönlichkeitsentwicklung als Produkt der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt - zu den beiden Kurzbiographien in Beziehung zu setzen, so ist - glaube ich - deutlich geworden, daß in beiden Bereichen bei den jungen Männern Einschränkungen passiert sind: anfangs unter anderem durch biologische Defekte, später aber vor allem durch die sozialen Institutionen Schule, Kindergarten, auch durch das Krankenhaus, aber vor allem durch die soziale Institution Familie. Es ist also das passiert, was Wolfgang Jantzen mit dem zusammenfassenden Begriff "Isolation als zentrales Kriterium der Behinderung" bezeichnet. Durch Beeinträchtigungen der Entwicklung auf der biologischen Ebene und auf der sozialen Ebene, ist es zu Entwicklungsprozessen unter isolierenden Bedingungen gekommen.

Und jetzt komme ich zur zweiten These:

Die Lebensbedingungen von Familien mit behinderten Kindern beeinträchtigen die Entwicklung dieser Kinder. Das, was wir dort an Lebensbedingungen sehen, ist dennoch nichts anderes als die Zuspitzung familiärer Bedingungen im allgemeinen. Wir haben in Familien mit behinderten Kindern keine eigenen Gesetzmäßigkeiten, sondern dort spitzen sich nur die allgemeinen Bedingungen familiären Lebens in unserer Gesellschaft besonders zu. Das führt dann zu Situationen, die beispielsweise in einer Arbeit von Tatzar, Schubart und Groh aus dem Jahre 1985 unter anderem durch drei zentrale Charakteristika beschrieben werden:

  • Die Familien leben in einer ausgeprägten Isolationssituation.

  • Man findet in Familien mit behinderten Kindern sehr häufig latente Partnerkonflikte, die nicht so selten dazu führen, daß das Kind in diesen Partnerkonflikten instrumentalisiert wird.

  • In Familien mit behinderten Kindern findet man besonders häufig eine symbiotische Verstrickung von Mutter und behindertem Kind.

Ich möchte nun u.a. am letzten Kriterium der symbiotischen Verstrickung von Mutter und Kind weiterfragen, da darauf auch in den Kurzbiographien zentral hingewiesen wird. Die soziale Abhängigkeit der Mütter, der Frau innerhalb der Familie, ist sicherlich eine wesentliche Bedingung für das Fortbestehen dieser Symbiose. Ein zweiter Grund liegt in der Versorgungsfunktion, die Mütter in den Familien aufgrund traditioneller Familienkonzepte zu übernehmen haben und in den damit verbundenen mangelnden Entlastungsstrategien der Mütter in diesen Versorgungssituationen. Dazu kommt noch, daß Mütter oft ihre eigene Identität über die "Pflegefunktion" definieren. Vielleicht erleben Mütter die Macht über die Kinder, die sie in der Pflegesituation haben, als Ersatz für soziale und ökonomische Macht.

Die Frage, die sich nun stellt ist: Was sind die die Alternativen, an die wir denken sollten? Unsere Aufgabe wäre, beidseitig die Autonomie von Mutter und Kind zu stützen und sie als Bedingung der Entwicklung des Kindes zu sehen. Daß dieser Gedanke Richtigkeit haben können, zeigen Untersuchungen, die festgestellt haben, daß alleinerziehende Mütter behinderter Kinder seltener unter psychischen Störungen leiden als Mütter, die behinderte Kinder innerhalb einer Familie erziehen (vgl. dazu Jonas, S. 74). Möglicherweise ist das deshalb so - das ist jetzt eine Hypothese -, weil die Autonomie dieser Mütter zwangsläufig höher ist als die Autonomie von Müttern, die ein behindertes Kind innerhalb einer Familie erziehen. Wenn es nicht gelingt, Initiative und Autonomie zu entwickeln, dann haben wir Blockadefaktoren, die sich an der Entwicklung der Identität der Kinder bemerkbar machen. Ich würde aber nicht behaupten, daß es zwingenderweise darum geht, Autonomie und Initiative zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Entwicklungsphase zu erreichen. Es wird, wie die beiden Fallgeschichten oder zumindest die Kurzbiographie von Richard zeigt, durchaus auch später noch Möglichkeiten geben, Autonomie zu entwickeln - in einer Form von Spätförderung die Entwicklung von Autonomie zu unterstützen.

Literatur

BERGER E., JANTZEN W.: Zur Methodologie der Einzelfallstudie - Am Beispiel pubertärer Selbstbeschädigung. In: SASSE O., STOELLGER N. (Hrsg.): Offene Sonderpädagogik - Innovationen in sonderpädagogischer Theorie und Praxis" (S 379-398). Reihe Europäische Hochschulschriften/Pädagogik (XI/405). Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main 1989.

FEUSER G.: Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. Behindertenpädagogik 28, 4-48, 1989.

FEUSER G.: Perspektiven einer Behindertenpädagogik im Wandel. Behindertenpädagogik 29, 354-377, 1990.

JANTZEN W.: Allgemeine Behindertenpädagogik Bd.I (Sozialwissenschaftl., psycholog. Grundlagen) Beltz, Weinheim 1987.

JANTZEN W.: Allgemeine Behindertenpädagogik Bd.II (Neurowissenschaftl. Grundlagen) Beltz, Weinheim 1990.

JONAS M.: Trauer und Autonomie bei Müttern schwerbehinderter Kinder. Ein feministischer Beitrag. Matth.-Grünewald-Verl., Mainz 1990.

LURIA A.R.: The Mind of a Mnemonist. Penguin, Middlesex 1975.

TATZER E., SCHUBERT M.T., GROH Ch.: Behinderung des Kindes - Herausforderung für die Familie. Geistige Behinderung 3/85, 193-199, 1985.

Quelle:

Ernst Berger: Ablösungskrisen und die Stützung normaler Entwicklung bei behinderten Menschen

Erschienen in: erziehung heute 2/1994; Österr. Studien-Verlag; Innsbruck redaktionell überarbeitete Tonbandabschrift des gleichnamigen Referates, gehalten im Rahmen der Tagung "Frühförderung - Spätförderung",veranstaltet vom Tiroler Arbeitskreis für integrative Erziehung (TAFIE) gemeinsam mit dem Institut für Erziehungswissenschaften in Innsbruck im November 1990.

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 30.03.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation