"Unser ganzes Haus war voller Tränen"

Trauerarbeit braucht positive Bilder und viel Zeit

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/99; Thema: Sich erinnern Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/1999)
Copyright: © Gerald Knapp, Peter Gstettner 1999

Trauerarbeit braucht positive Bilder und viel Zeit

Der Tod und das Sterben waren jedoch zu keiner Zeit pädagogische Lehr- oder Forschungsgegenstände. Diese Themen waren und sind Teile des realen Lebens, das uns unmittelbar bewegt, erschüttert, bedroht, erfreut oder unglücklich macht. Es ist nicht der akademische Diskurs, mit dessen Hilfe wir diese Lebensthemen bewältigen. Es ist das Leben selbst, das wir als einziges "Argument" dem Tod gegenüberstellen können.

Wir danken Herrn Knapp dafür, daß wir Auszüge aus diesem Interview abdrucken dürfen. Seine Erfahrungen und seine Offenheit, Rede und Antwort zu stehen, geben Mut und Zuversicht, daß sich der Abgrund, der sich beim Verlust eines geliebten Menschen auftut, auch wieder schließen läßt. Die lange Zeit, die dafür erforderlich ist, ist keine "verlorene Zeit". Im Rückblick gehört sie zur wichtigsten Lebens- und Entwicklungszeit. (P.G.)

Peter Gstettner:

Wenn Du zurückblickst, Gerald, kannst Du dann verschiedene Entwicklungen in Deinem persönlichen Umgang mit dem Tod Deiner Frau ausmachen?

Gerald Knapp:

Ich muß vorausschicken, daß diese Zeit von 1994 bis 1996 die schwierigste und belastendste in meinem bisherigen Leben war. Ich habe überhaupt nur schmerzliche Erinnerungen daran. Wenn man es von heute aus zurückverfolgt, waren es eigentlich sechs Jahre. Also, im Oktober 1994 hat es begonnen. Ich kann mich noch sehr genau erinnern. Es war ein Mittwoch, als ich in der Pizzeria gesessen bin und mich auf eine Lehrveranstaltung vorbereitet habe. Karin, meine Frau, ist mit unseren zwei Kindern hereingekommen, tränenüberströmt. Sie hat mir gesagt, daß sie gerade bei der Gesundenuntersuchung war. Dort hat man festgestellt, daß sie ein Pankreaskarzinom hat und daß sie operiert werden muß. Ich habe überhaupt nicht gewußt, wie ich in dieser Situation reagieren soll, ich war irgendwie wie gelähmt. Wir haben beide geweint. Die Kinder waren völlig verunsichert, sie haben nicht gewußt, was da geschehen ist.

Wie alt waren eure Kinder damals?

Martin war sechs und Michi war neun Jahre alt. Ich habe sie damals einfach in die Arme genommen und gesagt, "Wir schaffen das schon!", ohne zu wissen, welche leidvollen Erfahrungen in den nächsten drei Jahren über uns hereinbrechen werden.

Hast Du schon geahnt, daß ein schwerer Abschied bevorsteht?

Ja, wobei ich dazu sagen muß, daß es ein Abschiednehmen nicht nur von meiner Frau war, weil meine Mutter gleichzeitig schwer krank geworden ist. Das heißt, wir mußten schließlich zwei Todesfälle innerhalb von einem halben Jahr erleben. Es war sehr schwer zu bewältigen, aber darauf komme ich noch später zurück.

Könntest Du bitte zunächst noch etwas über die Chronologie der Ereignisse sagen?

Ja, in groben Zügen. Wir haben dann natürlich sofort nach den besten Experten in Österreich gesucht. Wir sind dabei auf das Elisabethinenspital in Linz gestoßen. Das Erlebnis dieser Zugfahrt nach Linz war, wenn ich jetzt darüber nachdenke, sehr bedrückend. Wir waren beide wie gelähmt und der Schock saß tief in uns, so daß wir eigentlich sprachlos waren. Ich kann mich erinnern, daß wir uns im Zug gegenüber gesessen sind und die ganze Fahrt eigentlich kaum etwas miteinander gesprochen haben. Im Spital gab es gleich die erste Untersuchung und der zuständige Professor hat gesagt, "Wir müssen sofort operieren, es ist überhaupt keine Zeit zu verlieren."

Am nächsten Tag um halb sieben war ich bereits im Krankenhaus. Da war meine Frau schon am Bett und wurde Richtung Operationssaal gefahren. Die zwei Kinder, der Michi und der Martin, hatten für sie ihre beiden Lieblingstiere mitgegeben, einen kleinen Bären und einen kleinen Hasen. Die Tiere hat sie jetzt vor der Operation gehalten. Und irgendwie waren nur fünf Minuten für uns. Sie hat mich mit einem Blick angeschaut, der mir in Erinnerung bleiben wird; er hat ausgedrückt: "Ich weiß nicht, was jetzt passieren wird, aber hilf mir bitte!"

Ja, Du hattest in dieser Situation kaum Möglichkeiten, konnten die Ärzte wenigstens helfen?

An diesem Tag war es ganz schrecklich. Insgesamt hat die Operation dann acht Stunden gedauert, weil sie noch zwei weitere apfelgroße Karzinome an den Eierstöcken entfernen mußten. Ich bin fast verrückt geworden in dieser Situation. Der Professor hat mir im nachhinein gesagt: "Ich kann Ihnen sagen, wir haben alles gemacht für Ihre Frau, was nur möglich war, weil wir wissen ja, daß zwei kleine Kinder da sind. Und ich denke, wir sollten möglichst schauen, daß sie lang am Leben bleibt. Die Chancen dafür sind aber minimal."

Wie hat Deine Frau diese Situation überstanden?

Interessanterweise hat sie zum damaligen Zeitpunkt unheimlich viel Kraft entwickelt. Sie hat innerhalb von einem Monat die Operation relativ gut überstanden, einfach so, aus Ihrer Kraft heraus. Man wollte ihr gleich drei Wochen später die Chemotherapie verabreichen. Sie war aber völlig negativ gegenüber der Chemotherapie eingestellt. Es war so, daß sie gesagt hat, "Nein, das will ich nicht."

Für mich war es damals eine ziemlich schwierige Situation. Erstens habe ich die Kinder zu betreuen gehabt, zweitens war mit der Schwiegermutter überhaupt nichts anzufangen, die war wie gelähmt, daß ihre Tochter so schwer krank ist. Meine Mutter war zur selben Zeit auch schon schwer krank. Mein Vater hat mir viele Vorwürfe gemacht, "Du kümmerst dich nicht um deine Mutter!". Ich bin in einem richtigen Spannungsfeld gestanden, es war ein Alptraum.

Die Beziehung zwischen mir und Karin war in der Zeit sehr eng geworden. Ich habe noch nie so eine enge Beziehung erlebt wie in dieser krisenhaften, stürmischen Zeit.

Von einem Arzt in Wien sind wir dann zu einer Spezialklinik mit Alternativmedizin nach Stuttgart verwiesen worden. In dieser ganze Phase gab es ziemlich starke Konflikte mit meinen Schwiegereltern und der übrigen Familie, die alle die alternativen Methoden, die aber Karin wollte, ablehnten. Die Zeit in Stuttgart war insofern schwierig, weil Karin nach der Schockphase in die Phase gekommen ist, alles zu verfluchen. Diese Angst, die sie in sich gespürt hat, hat dazu geführt, daß sie wirklich sehr aggressiv geworden ist. Ich habe gewußt, daß es wichtig ist, daß sie diese Wut herausläßt, aber ich war nach diesen Wochen absolut fertig. Die Initiative "Kinderbetreuung daheim" hatte mir inzwischen ein Kindermädchen, die Anna, zur Verfügung gestellt. Ich war damals sehr froh darüber. Die Kinder haben auch zu Anna eine sehr liebevolle Beziehung aufgebaut. Das war natürlich für Karin besonders schwierig, weil sie durch den Krankenhausaufenthalt erleben mußte, daß sie immer weniger Einfluß auf die Kinder hatte und die Beziehung zu den Kindern immer mehr abbröckelte. Sie hat sich dann in ihrem Selbstwertgefühl als Mutter sehr betroffen gefühlt. Es war wirklich so, daß ich das Gefühl gehabt habe, sie leidet nicht nur an ihrer Krankheit, sondern sie leidet auch darunter, daß sie nicht mehr mit ihren Kindern zusammen sein kann.

Wie haben die Kinder darauf reagiert? Natürlich werden sie gespürt haben, daß sich ihre Beziehung zur Mutter irgendwie verändert hat.

Ja, auch für die Kinder war es sehr schwierig, obwohl sie Anna als weibliche Bezugsperson gehabt haben. Bei beiden Kindern habe ich gemerkt, daß sie auch Gefühle entwickelt haben zur Mama, die ambivalent waren. Auf der einen Seite hätten sie sich so gewünscht, daß die Mama da ist, auf der anderen Seite habe ich manchmal gemerkt, daß sie eine Wut hatten: Warum ist die Mama nicht mehr für uns da? Michi und Martin haben in dieser Zeit Tagebücher geführt. Am 26. Juni 1995, also nach der schweren Operation, wie Karin schon in Stuttgart war, hat Michi geschrieben: "Heute ist meine Mama wieder nach Stuttgart gefahren." Und dazu hat er einen Zug gezeichnet, so einen ICE, wobei mich die Form an einen Keil erinnert, also der Zug als Symbol für den Keil zwischen ihm und seiner Mutter, und dieser Keil kommt dann in seinen Zeichnungen immer wieder vor. Die Kinder haben versucht, diese Trennungserlebnisse und diese Beziehungsbrüche irgendwie durch Bilder zu verarbeiten.

Deine Frau hat zu der Zeit keinen Funken Hoffnung mehr gehabt?

Ja, wobei ich sagen muß, daß Karin in dieser Phase auch einen Selbstmordversuch gemacht hat. Sie wollte, daß ich ihr dabei helfe. Nachdem ich als einziger mit den Ärzten geredet habe, habe ich gewußt, wie es tatsächlich um Karin steht und daß es überhaupt keine Hoffnung mehr gibt. Trotzdem konnte ich ihr damals nicht helfen, mit ihrem Leben Schluß zu machen. Ich glaube, ich hätte es den Kindern später nie sagen können, daß ich ihr dabei geholfen habe. Ich habe versucht, Karin in dieser Phase anders zu unterstützen, habe ihr Mut zugeredet und ihr das Gefühl gegeben, daß sie nicht allein ist. Das war sicher eine ganz wichtige Sache. Dabei habe ich immer versucht, die Kinder zu schützen und diese brutalen Erlebnisse, die ich gehabt habe, den Kinder nicht als traumatische Erlebnisse mitzugeben. Ich habe immer geschaut, daß die Kinder in ihrem Zimmer sind und sich mit irgendwas beschäftigen, wenn ich gemerkt habe, es eskaliert. Ich habe dann versucht, diese schwierige Phase zu bewältigen, indem ich nicht mehr darüber nachgedacht habe, was kommt auf uns zu, sondern ich habe einfach nur jeden Tag aufs Neue als Herausforderung gesehen. Karin war inzwischen in eine Phase gekommen, in der sie die Situation zu akzeptieren begann und sich sagte: "Okay, es ist so, und ich muß jetzt damit leben." In der Phase habe ich sie positiv bestärkt, indem ich versucht habe zu sagen: "Wir haben nicht mehr unendlich viel Zeit und versuchen wir, die Zeit, die wir haben, möglichst positiv zu besetzen." Wir haben uns dann kurzfristig entschlossen, eine Mittelmeerreise zu machen.

Wie war das für euch?

Diese Reise war, wenn ich heute darüber nachdenke, gefühlsmäßig sehr ambivalent. Auf der einen Seite haben wir uns über die Reise gefreut und auf der anderen Seite habe ich das Gefühl gehabt, es ist vielleicht unsere letzte Reise... Es war, wie wenn einem die Angst im Nacken sitzen würde. Es ist uns ganz schwer gelungen, eine Atmosphäre des Loslassens und des Lockerseins zu schaffen. Obwohl wir eine wunderschöne Reise gemacht haben, waren wir unter sehr starker Anspannung.

Nach der Reise sind wir wieder in den Alltag zurückgekommen und das ganze Spiel ist von vorn losgegangen, also Krankenhaus, Chemotherapie usw. Wenn sich dann zwischendurch die Krankheit ein bißchen beruhigt hat, so daß wir das Gefühl gehabt haben, vielleicht hat es doch gewirkt, dann haben wir uns darauf konzentriert, möglichst viel Zeit miteinander zu verbringen, insbesondere auch mit den Kindern. Wir haben dann auch im Juli gemeinsam eine Türkeireise gemacht. Das war dann unsere letzte Reise. Es war für die Kinder nach den ständigen Beziehungsabbrüchen unheimlich schön, drei Wochen dort gemeinsam zu verbringen, einfach aufzuatmen. Wir sind mit den Kindern schwimmen gegangen und so weiter. Sie haben diese Zeit wirklich sehr intensiv und positiv erlebt.

Ja, und dann im Herbst ist die Krankheit so ausgebrochen, daß überhaupt keine Chance mehr war. Es kam dann ein Darmverschluß hinzu, der in Villach operiert werden mußte, gefolgt von der schrecklichsten Zeit, die ich erlebt habe. Am 15. Dezember ist meine Mutter gestorben. Zur selben Zeit hatte Karin ihre Operation. Es ist wirklich von Tag zu Tag bergab gegangen. Die Schmerzen haben massivst zugenommen. Sie hat dann jeden Tag hohe Morphiumdosen bekommen bis zu dem Ende.

Ich glaube, die Kinder hatten in Wahrheit schon Abschied genommen. Das heißt, für die Kinder war es kein Abschied, der abrupt passiert ist, sondern es war ein fortlaufender Prozeß des Abschiednehmens in dem Sinn, daß sie immer weniger Zeit mit ihrer Mutter erlebt haben. Ich habe das Gefühl gehabt, Anna hat sie in der Situation gut aufgefangen und natürlich auch ich - so hoffe ich wenigstens. Martin hat vor einem halben Jahr zu mir gesagt: "Weißt du Papa, wie die Mama gestorben ist, war unser ganzes Haus voller Tränen." Da wird er wohl recht gehabt haben.

Kannst Du Dir vorstellen, daß eine Art von Sterbebegleitung als Hilfe von außen in dieser Situation überhaupt möglich ist?

Ich glaube, das Wichtigste ist, daß Menschen da sind, die dem Betroffenen nahe stehen, also unmittelbare Familienmitglieder, insbesondere der Lebenspartner oder auch die Eltern und Freunde. Das war auch so. Es war der 30. August 1996. Sie hatte mich schon zuvor angerufen und gesagt, es ginge ihr ganz schlecht. Ich komme dann in das Krankenzimmer und sie liegt da. Man hat ihr in der Zwischenzeit eine Beruhigungstablette gegeben zu den Morphiumpflastern, die sie sowieso jeden Tag bekommen hat. Sie schaut mich so an und ich habe gemerkt, daß jetzt der Zeitpunkt kommen wird, an dem wir Abschied nehmen müssen. Ab elf Uhr vormittag ist sie in eine Phase eingetaucht, in der sie langsam ihr Bewußtsein verloren hat. Es ist alles zusammengebrochen.

Weil du vorhin die Sterbehilfe angesprochen hast; ich habe das erlebt, was man in der Situation tun kann und was nicht. Karin war in einem ganz kleinen Raum, ganz alleine da drinnen. Ich war seit sieben Uhr früh bei ihr und habe sie einfach nur gehalten. Ich habe versucht, mit ihr zu reden, aber sie war schon sehr schwach. Ich denke, es wäre schrecklich, wenn man alleine in so einem Krankenhaus sterben müßte. Um halb elf sind auch die Eltern gekommen und der Bruder von ihr. Sie ist ab zwölf nicht mehr ganz bei Bewußtsein gewesen, aber sie hat gespürt, daß jemand da war. Ich habe ihr einfach nur die Hand gehalten und habe sie gestreichelt und habe sie dann noch mit Öl eingeschmiert, daß sie ein bißchen besser Luft bekommt. Ich habe den ganzen Nachmittag neben ihr nur geweint. Ich weiß nicht, ob sie das mitbekommen hat. Auf alle Fälle weiß ich eines: Bevor sie ins Koma gefallen ist, hat sie mit ihren Händen liebevoll über mein Gesicht gestreichelt und gesagt: "Ich glaube, daß es für Dich auch schon genug ist." Es war wie eine Liebeserklärung.

Um halb neun war es dann vorbei.

Ich habe dann überhaupt nicht gewußt, wie mir geschieht. Ich habe in der Zwischenzeit angerufen und meinen Nachbarn gebeten, die Kinder zu sich zu nehmen. Die Kinder haben dann beim Nachbarn geschlafen. In der Situation, habe ich nicht gewußt, wie es weitergehen soll. Ich war wie völlig gelähmt; es war wirklich so. Einer der schwierigsten Momente in meinem Leben war die Situation, als ich es meinen Kindern sagte. Michi saß auf meinem Schoß und wir haben beide geweint. Irgendwie habe ich nicht gewußt, halte ich mich am Buben fest oder er sich an mir, wahrscheinlich war es wohl beides. Dann habe ich es Martin gesagt. Wir haben geweint miteinander. Der Trauerprozeß ist durch diese Tränen eingeleitet worden. Das Interessante war, wir haben anscheinend so viel geweint, daß an dem Tag, an dem das Begräbnis war, keiner der Jungen mehr geweint hat. Am 4. September war das Begräbnis. Es hat geregnet in Strömen. Ich habe das Gefühl gehabt, als würde der Himmel seine Tränen herabfallen lassen. Weder Michi noch Martin haben geweint, sondern Abschied genommen. Das wichtigste im Zusammenhang mit dem Begräbnis war für mich, daß ich versucht habe, die Kinder nicht von diesem Ereignis fernzuhalten, sondern sie bewußt in diese Feierlichkeiten, vor allem auch bei der Vorbereitung des Begräbnisses, miteinzubeziehen.

Kannst Du darüber etwas erzählen, wie das war mit den Trauerritualen?

Ja, wir haben zum Beispiel einen Abend gestaltet, an dem wir Bilder aus unserem gemeinsamen Familienleben projiziert haben und jeder von den Freunden und auch von den Kindern konnte irgendetwas vorlesen oder vorzeigen, was in Beziehung zu Karin und uns stand. Michi hat interessanterweise genau die Stellen aus seinem Tagebuch vorgelesen, die ich dir vorhin gezeigt habe: Abschied von der Mutter. Und die Freude, als sie wieder von Stuttgart zurückgekommen ist.

Karin und ich haben eigentlich eine sehr liebevolle Beziehung gehabt, natürlich auch mit Konflikten. Wir haben uns gegenseitig Bücher mit Gedichten geschenkt, die uns einfach gefallen haben. Ich habe bei diesem Anlaß zwei schöne Gedichte vorgelesen, die mich an eine Zeit erinnert haben, die sehr schön war mit Karin.

Diesen Trauerprozeß mit den Kindern zu gestalten, stellte mich vor die Frage: Wie schaffen wir es, diese schwierige Situation nicht zu verdrängen, sondern bewußt zu erleben und daraus positive Kräfte zu schöpfen? Ich habe gemerkt, daß die Kinder sehr unterschiedlich damit umgehen. Michi hat sich zurückgezogen, war oft in seinem Zimmer. Zum Beispiel, was mich auch sehr betroffen gemacht hat, hat er in seinen Schreitisch vorne mit einem Messer "Mama" hineingeritzt und dann das Wort "Mama" durchgestrichen, das heißt, sie existiert nicht mehr. Martin hat ganz anders reagiert. Er ist sehr aggressiv geworden. Diese Angst, die in ihm gesteckt ist, und diese Unsicherheit, die da war, hat er ausgelebt. Er hat zum Beispiel angefangen, die Türen wie wild zuzuschlagen. Ich habe versucht, das einfach zuzulassen, weil ich mir gedacht habe, jetzt ist es ganz wichtig, daß sie reagieren dürfen, ohne daß sie unterbrochen oder in irgendeiner Form dafür bestraft werden. Ich denke mir, bei diesem Trauerprozeß ist es das wichtigste, daß man den Kindern und sich selbst sehr viel Zeit einräumt und nach Möglichkeit versucht, eine vertrauensvolle, schützende Atmosphäre aufzubauen. Dieser Ansatzpunkt hat mich verstärkt, Trauer nicht nur so zu erleben, daß man immer nur weiter weint. Wir haben nichts mehr zum Weinen gehabt, wir hatten alles an Tränen heraus gelassen. Es ging jetzt darum, sich bewußt Bilder, Fotos, Erinnerungsstücke anzuschauen. Ich habe mit den Kindern monatelang nichts anderes gemacht, als positive Erfahrungen und Erlebnisse, die wir mit Karin gehabt haben, also schöne Situationen und schöne Ereignisse, ins Bewußtsein zu holen, um dieses Vorstellung, "die Mama ist in uns", zu stärken. Je mehr wir das gemacht haben, desto ruhiger ist Martin geworden. Die Aggressivität hat sich nach drei, vier Monaten gelegt. Michi ist wieder Basketball spielen gegangen, ist wieder unter seine Freunde gegangen. Ich habe es auch an der Stimmung gemerkt, die Kinder haben wieder gelacht, sie haben sich wieder über Dinge gefreut. Wobei ich eines sagen muß: Was ich bis jetzt erzählt habe, war die Arbeit mit den Kindern. Dann ist die Arbeit mit mir gekommen. Ich war dann im Februar an einem Punkt, wo ich das Gefühl hatte, ich muß etwas für mich tun, weil ich es so nicht mehr schaffe. Ich habe körperliche Beschwerden gehabt, ich habe Kopfschmerzen und starke Kreuzschmerzen bekommen. Ich habe geglaubt, ich kann in der Früh nicht mehr aufstehen, obwohl ich gewußt habe, ich muß aufstehen, die Kinder müssen um sechs Uhr ihr Frühstück haben. Es war wirklich so, daß ich mich bewußt dafür entschieden habe, jetzt auch etwas für mich zu tun, nämlich Hilfe zu holen.

Ich habe dann zwanzig oder mehr Therapiestunden genommen, in denen ich versucht habe, mir alles von Anfang an noch einmal anzuschauen. Es hat mir sehr geholfen, nicht mehr vom Standpunkt der Kinder und vom Standpunkt der Karin aus die Situation zu betrachten, sondern zu fragen, wie es dabei mir gegangen ist. Ich habe dann auch darüber gesprochen, welche Wut ich manchmal auf Karin hatte, wenn sie mich anklagte und in mir Schuldgefühle produzierte. Diese Dinge habe ich versucht, systematisch aufzuarbeiten. Nach ungefähr einem dreiviertel Jahr, also Ende 1997, habe ich mich einigermaßen gefaßt gehabt, wobei es dann immer wieder Einbrüche gegeben hat. Ich muß heute dazu sagen, wenn man es selber nicht schafft, diese Gefühle, die da waren, wirklich anzuschauen, ehrlich dazu zu stehen, dann ist es auch ganz schwierig, mit den Kindern Trauerarbeit zu machen. Du kannst den Kindern nichts geben, wenn du selbst gefühlsmäßig gefangen bist in der Situation. Wobei ich glaube, es wird von Zeit zu Zeit bei den Kindern immer wieder aufbrechen. Bei dem jüngeren Buben werden die Bilder blasser werden, bei Michi nicht. Michi war neun Jahre alt und hat viele Dinge viel bewußter miterlebt als Martin mit seinen sechs Jahren. Eines steht ganz sicher fest: Es war nach dieser Phase des Trauerns sehr schwierig, den Mut zu haben, ein neues Leben in Angriff zu nehmen.

Hat das Thema Tod bei euch jetzt einen anderen Stellenwert als früher? Sprecht ihr jetzt öfters oder anders über den Tod? Welche Beziehung hattet ihr zu Leben und Tod, als Karin noch gesund war?

Dieses Thema war für uns, wie für viele andere Menschen, kein Thema. Wir waren gesund, wir haben eine Perspektive gehabt. Wir haben zwei gesunde und liebevolle Kinder gehabt. Wir haben gemeinsam ein Haus gebaut usw. Für mich hat sich jetzt aus dem zeitlichen Abstand heraus sehr viel verändert. In der Phase, als ich davon stark betroffen war, habe ich das negativ gesehen. Heute sehe ich das rückblickend für mich persönlich als einen wichtigen Reifungsprozeß und Lernprozeß. Durch den Tod Karins ist mir erst bewußt geworden, daß auch meine Lebenszeit nicht unendlich ist, daß ich in meinen Möglichkeiten begrenzt bin. Mir ist bewußt geworden, daß ich mit meinem Leben und vor allem mit mir selbst viel bewußter und zärtlicher umgehen möchte. Das Erlebnis, daß jemand mit 42 Jahren sterben muß, hat mir erst die Perspektive eröffnet, es als Chance anzusehen, mich selbst zu verändern. Ich muß ehrlich sagen, ich habe mich verändert, und zwar deshalb, weil meine Prioritäten völlig anders geworden sind. Das heißt nicht, das ich jetzt keine Lust am Beruf und am Arbeiten habe, aber ich sehe es heute zum Beispiel als ganz wichtig an, noch wichtiger als früher, viel Zeit mit den Kindern zu verbringen. Wenn ein schöner Tag ist, diesen schönen Tag einzufangen und bewußt zu genießen, was ich vorher so nicht konnte. Das ist etwas, wo ich unheimlich viel gelernt habe. Mir ist auch klar geworden, daß es ganz wichtig ist, darüber nachzudenken, was ich in meinem Leben möchte: Was will ich bewußt wahrnehmen und was will ich ablehnen. Ich freue mich jedes Mal, wenn mir das heute besser gelingt als früher.

Quelle:

Gerald Knapp, Peter Gstettner: "Unser ganzes Haus war voller Tränen" - Trauerarbeit braucht positive Bilder und viel Zeit

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/99; Reha Druck Graz

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Stand: 09.03.2006

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