"Man muß durch den Schmerz hindurch gehen, um wieder frei zu sein"

Themenbereiche: Kultur
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/99. Thema: Sich erinnern Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/1999)
Copyright: © Helene Pumm, Peter Gstettner 1999

"Man muß durch den Schmerz hindurch gehen, um wieder frei zu sein"

Abschied nehmen von einem geliebten Menschen und die Trauer um ihn gelten in unserer Gesellschaft als sehr persönliche Angelegenheiten. Gerade deshalb ist die Kommunikation darüber wichtig, aber auch nicht leicht, weil ungewohnt. Jedes Gespräch dieser Art kann zum Balanceakt über die Tiefen und Untiefen der Erinnerung und des wieder auftauchenden Schmerzes werden. Diese Gespräche sind aber gleichzeitig auch Akte des Vertrauens und des Vertrautmachens, Akte des Gebens und des Beschenktwerdens. Sie eröffnen die Chance, uns als Personen einzubringen und sie entlassen uns als andere, die wir zuvor waren.

Die realen Erfahrungen, die uns durch Tod zugänglich sind, sind vorerst die des ausweglosen Gefangenseins im Schockerlebnis, in der Trennungsangst, im Abschiedsschmerz und in der grenzenlosen Trauer über den erlittenen Verlust. Wie darüber hinwegkommen? Wie ist das zu verarbeiten und mit wem? Kann angesichts des Todes eine neue Sicht auf das Leben gewonnen werden?

Im Gespräch mit Peter Gstettner, Universität Klagenfurt, erzählt Heli Pumm, wie sie den Prozeß der Trauer um Carina erlebt und durchlebt hat, wie und wodurch die Erinnerung an ihre Tochter fortlebt..

Die Dokumentation dieses Gesprächs soll Carina gewidmet sein (14.1.1976- 28.3.1999). Carina wird allen in Erinnerung bleiben, die sie gekannt, geschätzt und geliebt haben.

Carina war eines der ersten "Integrationskinder" in Wien. Um die Integration mußte damals noch gekämpft werden. Heli Pumm war eine der Mütter, die mit Mut und Kraft die Integrationsbewegung in Österreich in Schwung brachten. Viele kannten deshalb Carina als geglückten "Integrationsfall". Das Wesentliche des Menschen ist jedoch nicht in solchen Rollen festgeschrieben. Es besteht in einer unsichtbaren Qualität des Menschseins, die sich vor allem im Achten der menschlichen Würde ausdrückt. (P.G.)

Peter Gstettner:

Wenn Du heute darüber nachdenkst, kannst Du im Rückblick verschiedene Phasen der Auseinandersetzung mit dem Verlust Deiner Tochter unterscheiden?

Heli Pumm:

Ja, also, wenn der Schock nachläßt, dann kommt irgendwann so etwas wie ein Schreck, daß es wirklich wahr ist. Für mich war es so, daß es mir zu Beginn sehr geholfen hat, daran zu glauben, daß es ein Leben nach dem Tode gibt. Das ist etwas, woran ich glaube. Damit meine ich jetzt nicht so sehr den reinen Glauben, Katholische Kirche usw., sondern einfach so, daß ich wirklich glaube, daß wir öfter leben und daß der Tod vielleicht auch Erlösung ist. Auch unter diesem Aspekt: Carina geht es gut., sie hat ihre Prüfungen bestanden, sie durfte gehen. Das waren so meine Überlegungen oder Gedanken und Gefühle, damit ich sie loslassen konnte. Das ist dann irgendwann umgeschlagen in Wut, im Sinne von "verdammt noch einmal, aber mir geht es schlecht". In dem typischen Mutterverhalten, alles zu tun, damit es ihr gut geht, und in dem Glauben, ihr geht es jetzt gut, habe ich meine ganzen Gefühle hintangestellt. Und irgendwann in diesem Prozeß der Projektion ist aber dann das eigene Gefühl gekommen, "...ja aber mir geht es schlecht, mir geht es verdammt schlecht. Ich finde das ungerecht". Da ist also diese Wut gekommen und das Gefühl der Ungerechtigkeit.

Meinst Du "ungerecht" in dem Sinn, warum passiert mir so ein Schicksalsschlag? Oder: Warum wird mir dieser Schmerz angetan?

Nein, so ist mir das nie vorgekommen.

In welche Richtung ging dieses Gefühl der Ungerechtigkeit?

In Richtung "Bestimmung". Ich muß den Schmerz jetzt aushalten. Aber auch nicht im Sinne, warum gerade ich. Vielleicht schon, aber das ist mir zu plakativ: "Warum gerade ich?" So plakativ habe ich mir das nicht vorgestellt. Das habe ich gelernt, das mit dem Annehmen-lernen der Behinderung meiner Tochter, sich Schicksalsschlägen zu stellen und zu sehen, daß diese Herausforderungen oder Prüfungen auch sehr viel Positives haben im Sinne von Entwicklung; einfach auch so mit dem Gedanken, da steckt ein tieferer Sinn dahinter. Also in diesem Moment war es eher die Frage, was muß ich jetzt lernen? Was ist da jetzt die Aufgabe? So habe ich es damals auch geschafft, die Behinderung meiner Tochter anzunehmen. Und so habe ich mich auch jetzt dieser Situation genähert. Dieses ganze Gedankengut hat mich auch zunächst getragen. Und irgendwann ist die Wut darüber gekommen, daß ich das jetzt alles aushalten muß. Ja, vielleicht steckt dahinter auch das "Warum gerade ich?" Ich habe es nicht in diesen Worten gedacht, weil ich das für mich gar nicht mehr zulassen konnte. Dann habe ich aber angefangen, mich wieder auf mich zu konzentrieren. Das hat auch sicher damit zu tun, daß ich sehr bald nach dem Tod von Carina professionelle Hilfe angenommen habe. Dadurch habe ich auch bewußter angeschaut, was da mit mir passiert. Ich weiß nur, daß irgendwann Wut da war über die Situation. Nie auf Menschen sondern Wut darüber, daß das passieren hat müssen und daß es mir jetzt ganz schlecht geht damit.

Wenn Du sagst, "es hat passieren müssen", meinst Du, daß es vorbestimmt war, oder meinst Du, daß es vielleicht auch irgendwie vermeidbar gewesen wäre?

Nein, für mich fällt so etwas unter "Bestimmung". Ich glaube das ganz fest, aber nicht erst jetzt, sondern eigentlich schon früher. Das glaube ich. Ich glaube, daß die wesentlichsten Stationen in unserem Leben vorbestimmt sind. Da glaube ich wirklich an Bestimmung. Und ich bin sehr froh, daß ich an das glaube. Das gibt mir sehr viel Kraft. Das macht es, denke ich, ein bißchen leichter.

Und das gehört wahrscheinlich zu dem, was den Sinn herstellt.

Was den Sinn herstellt?

Ja, der Tod war dann nicht etwas, das völlig willkürlich zugeschlagen hat.

...ja, das stimmt.

Über den anderen Aspekt der Sinnstiftung hast Du vorher gesagt, daß Du den Verlust für Dich als Prüfung, als eine Aufgabe siehst, die zu bewältigen ist. Warum muß das aber mit so einem schmerzlichen Verlust verbunden sein? Es gibt eine Menge anderer Möglichkeiten, an Aufgaben zu wachsen. Warum muß es so etwa sein, das als Aufgabe der Bewältigung aufgegeben ist?

Das begreife ich genau so nicht, wie ich nicht begriffen habe, daß mein Kind behindert ist; und daß ich mich mit dem Schock auseinanderzusetzen habe.

Ist das irgendwie vergleichbar? Als plötzlicher Schock? Oder wächst das Bewußtsein über die Behinderung allmählich?

In der Deutlichkeit, wie die Diagnose dann war, war es schon ein plötzlicher Schock, weil da vorher einfach die Verdrängung sehr gut gegriffen hat. Es waren immer Gründe da, warum Carina gewisse Dinge jetzt nicht versteht oder nicht hört. Auch verbunden mit sehr viel Hoffnung: Das wird sich auflösen oder so. Da war dann die Diagnose schon ein Keulenschlag, in der Heftigkeit oder Schwere.

Aber das Unwiederrufliche, Unwiederbringbare ist wahrscheinlich beim Tod gleichzusetzen mit dem Endgültigen.

Ja, das ist noch einmal eine andere Dimension. Ja, man kann es auch nicht wirklich vergleichen. Vom Schock her kann man es zwar schon vergleichen. Es ist der Schock, mit etwas konfrontiert zu werden, wo du außer Schock nur Schock spürst. Weil das Begreifen, was das heißt, das kommt erst später. Also bei der Mitteilung von Carinas Tod habe ich so das Gefühl gehabt, es wird mir etwas aus dem Leib gerissen. Und bei dem anderen Schock der Diagnose "Behinderung" habe ich sofort nur eine Lähmung gespürt. So war das also. Es ist beides ein Trauma, aber es ist doch anders, verschieden. Man erlebt sich in dem Moment jedenfalls traumatisiert. Ja, traumatisiert im Sinne, es gar nicht wahrhaben zu können.

Wie ist das mit der Trauer, auch im Vergleich dieser beiden Traumatas?

Über das habe ich noch nicht nachgedacht. Es gibt wahrscheinlich Parallelen. Ich glaube, es geht einfach darum, mit etwas leben zu müssen, wobei man das Gefühl hat, man hält es nicht aus. Und über die Mitteilung, daß das Kind behindert ist, trauerst du, wie du über nicht erreichbare Erlebnisse oder über den Verlust ganz banaler Dinge trauerst, die dir vorher völlig normal erschienen sind. Und dann kommst Du darauf, das wird so nie sein. Du trauerst über so ...

...verlorene Möglichkeiten?

Ja, und irgendwann kommst du darauf, daß du dafür andere Möglichkeiten geschenkt bekommst. Das ist der Unterschied zum Trauern über den Tod. Du bekommst keinen Ersatz für das, was du glaubst, verloren zu haben, und was auch so ist. In diesem Trauerprozeß trauerst du um etwas, was unwiderruflich ist, wo du mit dir ganz alleine fertig werden mußt. Es können dich Menschen begleiten und unterstützen, aber letztendlich bist mit deiner Trauerarbeit alleine. Die ist alleine zu leisten. Und über dieses Bewältigen und Annehmen kommst du in einen Prozeß, der sehr schön ist, der dich bereichert. Also insofern bekommst du doch einen Ersatz für das, was du nicht mehr bekommen kannst, einen Ersatz, der wahrscheinlich mehr wert ist als das, was du selbstverständlich zu besitzen glaubst. Darum erlebe ich es als Prüfung. Ich denke mir, die Prüfung besteht darin, darüber hinweg zu kommen und es irgendwann als "es war eine Prüfung" leben zu können. Wobei ich glaube, daß die Intensität des Schmerzes wahrscheinlich mit der Zeit geringer wird, wenn ich die Prüfung bestanden habe. Nein, ich glaube es eigentlich nicht, ich kann es mir auch nicht vorstellen, wie das ist, wenn der Schmerz geringer wird. Ich weiß es nicht, in ein paar Jahren vielleicht.... Ich denke nur, ich habe aufgepaßt, mich nicht zu betäuben. Also nie irgendwelche Medikamente zu nehmen, auch nicht beim Begräbnis. Mein Ziel war immer, mich zu spüren, um mich so diesen Gefühlen zu stellen, sie anzuschauen und aufzuarbeiten. Für mich ist das die einzige Chance, wenn man so will, die Prüfung zu bestehen. Ich glaube einfach, daß dieser Schmerz nur bewältigt werden kann, wenn er heraus kann, in welcher Form auch immer; ganz am Anfang einfach das Herausschreien oder Ausweinen, darüber zu reden oder darüber nachzudenken. Ich glaube nicht, daß dieser Schmerz überwindbar ist durch Verdrängung. Da glaube ich, daß er immer größer wird.

Was für eine Rolle spielt dabei die Erinnerung? Hast Du das Gefühl, daß bewußtes Erinnern hilfreich ist, einen bestimmten Stellenwert in der Trauerarbeit hat?

Die Frage ist deshalb kompliziert, weil das Erinnern auch in Phasen verläuft. Also, ganz am Anfang war die Erinnerung an den letzten gemeinsam verbrachten Abend, der sehr gelungen, harmonisch und angenehm war. Das war sogar jener Abend, bevor das mit dem Unfall passiert ist. Ich habe es als Geschenk erlebt, mich daran erinnern zu können. Daß das im Kreis der ganzen Familie war, wo sich alle wohl gefühlt haben, wo keine Konflikte waren. Das war die Erinnerung ganz am Anfang. Dann erinnerte ich mich bewußt an bestimmte Situationen. Ich kann mir bewußt bestimmte Situationen herholen. Das ist ein Erinnern, das angenehm ist. Dann sind auf einmal Bilder gekommen, also z.B. ein Erlebnis im Schwimmbad. Ein kleines Mädchen mit Schwimmflügerln hat eine irrsinnige Freude am Schwimmen. Das Mädchen hat mich erinnert an die Carina, wie sie so klein war. Carina hat sich auch immer pudelwohl im Wasser gefühlt. Und in dieser Erinnerung war eine derartige Trauer, die mich schlagartig, völlig unvorbereitet erwischt hat, daß ich einfach in Tränen ausgebrochen bin. Was da an Erinnerungen hochgekommen ist, die Freude, mit Carina gelebt zu haben. Ich habe sie lachen gehört. Ich habe ihre Augen gesehen. Das war wie ein Film, den ich mir angeschaut habe. Das war aber eine Erinnerung, die ich mir nicht bewußt hergeholt habe, sondern die ausgelöst wurde durch Erlebnisse.

Dann die nächste Phase, die mich eingeholt hat, ohne daß ich es bewußt wollte, war die Erinnerung an Situationen, wo ich das Gefühl gehabt habe, als Mutter falsch reagiert zu haben. Das war das Schlimmste. Also, wo ich absolut in Schuldgefühle darüber verfallen bin, wie ich anders reagieren hätte müssen. Jetzt weiß ich ganz genau, daß das alle Mütter und Väter kennen, das Gefühl, dieses und jenes hätte ich eigentlich anders machen sollen. Das Schlimme in der Phase war, daß es wieder wie ein Film abgelaufen ist, mit allen schrecklichen Szenen, vom zweijährigen Kind bis zur 23jährigen Carina. Und dann diese selbstzerfleischenden Schuldgefühle: Was habe ich denn alles verbrochen an dem jungen Menschen und ich kann es nicht mehr gut machen; gleichzeitig wissend, ich habe mein bestes gegeben. Es hat einfach irrsinnig weh getan. Es war ein anderer Teil dieser Trauerphase. Es ist dann soweit gegangen, daß ich mir vorstellte, wenn ich damals das und jenes nicht gemacht hätte, dann hätte Carinas Leben einen völlig anderen Verlauf genommen, dann wäre sie vielleicht zu diesem Zeitpunkt nie dort gewesen und wäre nicht überfahren worden. Das habe ich wirklich bis zur Selbstzerfleischung zu Ende gedacht. Also, wenn ich alles anders gemacht hätte, dann wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen. Aber Gott sei Dank wußte ich gleichzeitig, daß das krankhaft ist, was ich da tue. Das zu wissen, hat mir geholfen, ein paar Tage später mich wieder zu fassen; aber dieses Wissen hat mir überhaupt nicht geholfen in dem Moment des Schmerzes. Meine Therapeutin hatte dafür eine sehr gute Definition. Sie hat gesagt: Das schlimmste ist die Ohnmacht, daß etwas passiert, wo man überhaupt keinen Einfluß darauf hat. Es gibt eigentlich nichts Schlimmeres als Ohnmacht. Daher ist einem noch immer lieber, man hat Schuldgefühle, weil man sich dann sagen kann: Wenn ich das getan hätte, dann wäre das nicht passiert. Insofern sind die Schuldgefühle auch für etwas gut; man braucht als Mensch das Gefühl, ich habe Einfluß auf den Verlauf der Dinge. Das gibt anscheinend Sicherheit. Das war dann eigentlich eine ganz gute Erklärung für mich.

Ist es nicht auch notwendig, gewisse Erinnerungen an Erlebnisse zu verdrängen oder zu vergessen, weil man weiß, sie tun einem nicht gut, wenn sie ständig auftauchen, ohne daß man sie herbeiruft?

Ich weiß es nicht. Ich glaube, indem ich Gefühle und Erinnerungen einfach so zulasse, wie sie sind, und dann versuche, das, was hochkommt, anzuschauen und aufzuarbeiten, habe ich alles, was ich erlebt habe, in dieser Intensität nur einmal erlebt. Das dauert schon eine Zeit bis es aufgearbeitet ist, aber es ist in der Intensität nie wieder gekommen.

Was ich für mich als hilfreich erlebe, ist, mich auf das, was mich wirklich bewegt, einzulassen und nichts zu verdrängen. Ich bin froh, wenn ich im Alltag so gefordert bin, daß ich wirklich abgelenkt bin und mich auf Dinge konzentrieren kann, wie zum Beispiel auf meinen Job, oder auch mit Freunden etwas zu genießen und zu lachen und einfach das Leben zu spüren. Genauso lasse ich zu, wenn ich spüre, es kommt ein großes schwarzes Loch. Dann versuche ich eigentlich nicht, dieses schwarze Loch zu verdrängen, sondern ich schaue, was ist in dem Loch. Ja, auch das anschauen zu können, um es dann wieder loslassen zu können. Und wenn es um die Schuldgefühle geht, einfach auch verzeihen können - auch mir. Auch in dieser Phase des Verzweifeltseins und Weinens, auch dann zu sagen, o.k., das war jetzt sehr schmerzhaft, aber es ist o.k., so wie es war. Dann habe ich das Gefühl, es ist fertig gedacht, fertig gespürt. Das fällt für mich unter "keine halben Sachen machen".

Und das funktioniert immer so gut?

Das funktioniert manchmal. Aber ich glaube nicht, daß es funktioniert, wenn es wirklich so als Lawine hochkommt. Dann funktioniert es nicht wirklich. Was ganz schwierig ist, ist folgendes: Auch in den schlimmsten Trauerphasen kommen Zeiten, wo du dich auch wieder freuen kannst, wo du lachen kannst. Es ist interessant, daß da dann Schuldgefühle entstehen. Wenn man zwei, drei Tage hat, wo man sich vielleicht schützt und sagt, jetzt tue ich ein bißchen ausrasten, dann kommen Schuldgefühle, wie die Angst, Carina zu vergessen, oder der Vorwurf, ich darf ja jetzt gar nicht lustig sein. Das ist auch interessant, daß man sich manchmal bewußt die Trauer herholt.

Du mußt ja nicht nur für Dich die Trauerarbeit leisten und den Verlust bewältigen. Du hast ja noch eine zweite Tochter. Und du mußt ja auch ein Stück weit mit ihrer Trauer mitleben und wahrscheinlich auch im Auge behalten, was sie für Möglichkeiten hat, mit dem Verlust umzugehen.

Interessant ist, daß Melanie etwas anderes braucht als ich. Melanie hat wirklich einen "Erinnerungsaltar" im Zimmer aufgebaut, wo alle Fotos von Carina festgemacht sind, von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Es stehen dort auch Erinnerungsstücke, die halt eine bestimmte Geschichte haben. Die Melanie trägt zum Beispiel gerne Schmuck und Kleidungsstücke von der Carina, um das Gefühl zu haben, ihr nahe zu sein, sie bei sich zu haben. Ich habe eigentlich außer den Fotos, die ich vorher auch im Haus aufgehängt habe, in erster Linie die Erinnerung an den Abschied. Also, das ist etwas, was ich einfach auch noch nicht wegräumen kann. Das ist die Abschiedskarte, das ist das Foto, das wir dann auch für die Abschiedskarte verwendet haben und das sind die vielen Briefe und Karten, die in einem Ausmaß gekommen sind, das ich mir überhaupt nicht habe vorstellen können. Wie Menschen, von denen ich es nicht annähernd erwartet hätte, ihre Herzen geöffnet haben und da ihren eigenen Schmerz und ihre Betroffenheit aus der Feder haben rinnen lassen, das hat großen Halt gegeben, da habe ich mich getragen und gehalten gefühlt in dem ganzen Schmerz. Was ich mit Melanie ganz intensiv von Beginn an getan habe, ist eben auch dieses bewußte Umgehen mit Trauer. Nichts hinunter schlucken, nichts vertuschen, nichts verdrängen. Wenn ihr nach Weinen ist, dann soll sie weinen. Wenn sie das Gefühl hat, sie braucht professionelle Hilfe, dann soll sie es sagen. Ich habe ihr immer gezeigt, wie es mir geht. Ich habe ihr immer erzählt, was mich bewegt, was mir hilft. Auch immer den Blick darauf zu haben, was in dem Film "Das Leben ist schön" ausgedrückt wird, nämlich neben dem ganzen Schmerz das Leben als Ganzheit zu erfassen. Sich immer wieder daran zu erinnern, daß neben dem furchtbaren Schmerz das Leben eben schön ist, ja, weil auch nichts mehr selbstverständlich ist. Eine Umarmung ist etwas besonderes, weil wir das noch können. Mit Carina können wir es nicht mehr. Aus diesem Schock, du kannst in der Früh weggehen und am Abend ist der andere nicht mehr da, wird ein wirklich bewußtes Sich-wieder-sehen.

Was wir jetzt auch brauchen, ist einfach immer wieder nachzufragen, wie es dem anderen geht und wo er ist. Sich vorzustellen, daß jetzt vielleicht noch einmal so etwas passiert, das nimmt einem fast die Luft zum Atmen. Aber im Vordergrund steht, daß bei uns beiden Trauer und Schmerz nicht verdrängt werden. Melanie hat sich jetzt für die Matura entschlossen, die Fachbereichsarbeit über "Trauerarbeit" zu schreiben. Als sie anfing, die ersten Bücher zu lesen, habe ich mir gedacht, sie ist überfordert, weil sie furchtbare Trauereinbrüche gehabt hat. Sie konnte nicht weiterlesen. Ich habe ihr dann auch gesagt, wenn sie glaubt, daß ihr das zuviel ist, dann soll sie das einfach lassen. Vielleicht ist sie auch viel zu sehr betroffen, um das überhaupt in dieser Form bearbeiten zu können. Sie hat aber dann nach einer Pause gesagt: Nein, sie will das machen, es ist ihr wichtig. Sie hat aber im Arbeitsverlauf dann erkannt, sie braucht professionelle Hilfe. Sie steckt. Sie braucht etwas, was ihr nur jemand geben kann, der eben kein Angehöriger ist, der nicht beteiligt oder betroffen ist.

Würdest Du sagen, daß sich eure Beziehung verändert hat?

Ich habe zur Melanie eigentlich von Beginn an eine sehr harmonische Beziehung gehabt. Das war eine sehr problemlose Mutter-Tochter-Beziehung - viel problemloser als mit Carina. Das hat sich jetzt noch einmal vertieft, gefestigt. Es gibt jetzt auch gewisse Reibungspunkte nicht mehr. Das hat zum einen damit zu tun, daß sie jetzt achtzehn ist, daß sie aus der ärgsten Pubertät heraus ist. Aber ich glaube, das hat auch damit zu tun, daß wir beide gelernt haben, nicht über Dinge zu streiten, die einfach nicht wichtig sind. Eine Gelassenheit gegenüber Dingen, die man normalerweise überbewertet. Ich glaube, daß es die Reibungspunkte auch deshalb nicht mehr gibt, weil sie ganz rücksichtsvoll und behutsam mit mir umgeht, weil sie auch auf meine Trauer Rücksicht nimmt. Ja, ich glaube, daß das so läuft.

Glaubst Du, daß die Melanie jetzt gewisse Funktionen, die die ältere Schwester gehabt hat, mit erfüllen muß?

Von mir aus gesehen nicht, aber ich glaube, daß es für sie so ist. Die Melanie hat sich zum Beispiel relativ schwer getan mit dem Lernen und der Schule. Das ist etwas, wo sie oft eher das Gefühl gehabt hat, ich will schon, aber ich schaffe das einfach nicht, ich habe die Kraft nicht. Jetzt habe ich den Eindruck, sie bringt die Kraft auf. Ich glaube, daß das zum Teil daher kommt, daß es jetzt die große, starke, übermächtige Schwester nicht mehr gibt. Ich glaube, daß das unbewußt vielleicht zum einen befreit, weil sie nicht mehr gemessen werden kann. Zum anderen ist es auch so, und da macht sie es sich sicher nicht leicht, daß sie die Anstrengung auch für die Carina macht. Weil der Carina halt viel daran gelegen ist, daß die Melanie das jetzt schafft und daß sie sich überwindet und daß sie jetzt ihren Weg geht. Ja, ich denke, das hat auch etwas mit der Carina zu tun, nicht nur mit der Geschwisterposition in der Familie. Es wird, denke ich, von allem ein bißchen sein.

Was ist Dir an der professionellen Hilfe am wichtigsten? Worauf kommt es dabei an?

Daß ich mich ganz auf meine Gefühle konzentrieren kann, ohne Angst haben zu müssen, daß irgend etwas von dem, was ich sage, gewertet wird. Und daß ich nie in die Situation komme, auf denjenigen, dem ich das jetzt zumute, Rücksicht nehmen zu müssen oder womöglich den noch trösten muß, weil der das nicht aushält. Ich war gerade am Anfang sehr oft in der Situation, daß ich andere getröstet habe. Das hat auch seine Berechtigung und ist auch etwas Schönes. Aber es ist zuwenig.

Ja, und auch irgendwie eine Rollenumkehr.

Ja, ich weiß selbst, wie das ist. Es ist angenehm, sich nicht ständig um die Hilflosigkeit des anderen kümmern zu müssen. Auseinandersetzung mit dem Tod erzeugt oft beim Gegenüber Hilflosigkeit. Das ist einmal die allererste Stufe. Jemand der da überhaupt noch nichts gemacht hat, der ist gelähmt, der kann nicht einmal sagen, daß er mir nichts sagen kann. Er ist einfach überhaupt nicht fähig, irgendwie zu reagieren. Diejenigen, die sich schon mit dem Tod auseinandergesetzt haben, die können es sich schon selbst vorstellen, wie das wäre, wenn es dem eigenen Kind passiert. Und das nimmt ihnen die Luft. Das bringt sie in einen Zustand, der mich in einen Zustand bringt, sie trösten zu müssen.

Ein unmögliches Vorhaben.

Ja, aber es geht. Also, ich habe es geschafft, weil ich mich intensiv mit Leben und Tod schon beschäftigt habe, bevor das mit Carina passiert ist. Ich glaube, daß mir das wesentlich geholfen hat, mich mit dem auseinanderzusetzen. Tod war für mich nicht etwas, das nicht zum Leben gehört. Für mich war das schon etwas, womit ich mich sehr bewußt auseinandergesetzt habe.

Die Hilfe empfindest Du dann als professionell, wenn man nicht Rücksicht nehmen muß, wie es dem Helfer dabei geht. Das würde ich auch unter Professionalität verstehen, daß man da auf sich schauen kann und daß jemand einem dabei unterstützt und daß der Helfer nicht selbst wie ein Betroffener agiert.

Ja, und daß die eigenen Gedanken und Gefühle ernst genommen werden. Das Schlimmste wäre, das hat zu mir persönlich zwar noch niemand gesagt, hören zu müssen: "Es wird schon wieder" oder "Die Zeit heilt alle Wunden" oder solche banalen Dinge, wo man eigentlich versucht, vom Schmerz abzulenken, um wieder auf schönere Zeiten hinzuweisen. Ich glaube, daß man durch den Schmerz hindurchgehen muß, um wieder frei zu sein von diesem Schmerz. Mit der richtigen professionellen Hilfestellung geht das. Das darf alles so sein, wie es kommt. Und so wie es kommt, wird es bearbeitet, wertfrei. Das ersetzt aber nicht die Anteilnahme und Betroffenheit von Freunden. Das ist mir schon wichtig. Das eine ersetzt das andere nicht. Man braucht beides. Auch die Hilflosigkeit und das Ausdrücken der Hilflosigkeit sind Zeichen von Liebe und Mitspüren. Sie bedeuten: Ich spüre mit deinem Schmerz. Das tut auch mir weh. Das ist schon sehr viel Unterstützung, gehalten zu werden. Das andere, das wertfreie Anschauen und Bearbeiten, das ist nicht schlecht, aber es ist zu wenig.

Anmerkung der Redaktion

"Wenn ein Kind stirbt ..." - aus dieser Erfahrung haben sich Eltern in Österreich zu Selbsthilfegruppen zusammengefunden. Wenn auch Sie Unterstützung und Hilfe brauchen, können Sie sich an folgende Personen wenden:

Salzburg

Sybille Brunner

Georg v. Trapp Str. 24

5026 Salzburg

Tel. 0662/636509

Mag. Helga Brugger

Samstr. 30

5023 Salzburg

Tel. 0662/661790

Wien

Pauline Schönauer

Karl-Zwilling-Gasse 45/4

2340 Mödling

Tel. 02236/44054

Sighilt Horniczek

Neukettenhoferstr. 7

2320 Schwechat

Tel. 01/7061890

Vorarlberg

Gabriele Zengerle

Hospiz der Caritas

Maria Mutherweg 2

6800 Feldkirch

Tel. 05522/7002-0

Tirol

Marlies Diaz

Dorfstr. 5

6074 Rinn

Tel. 05223/78710

Oberösterreich

Hilde Casatta

Rennerweg

5280 Braunau

Tel. 07722/87007

Josefine Mülleder

Althellmonsödt 17

4202 Hellmonsödt

Tel. 07215/3502

Mathilde Holzinger

Linzer Str. 117a

4810 Gmunden

Tel. 07612/77212

Ursula Leithinger

Eichendorffstr. 14

4020 Linz

Tel. 0732/347369

Steiermark

Helga und Paul Goditsch

Sparbersbachgasse 41

8010 Graz

Tel. 0316/826154

Mag. Karin Schindlbacher

Stiftingtalstr. 51

8010 Graz

Tel. 0316/321429

Christine Jung

Neubaug. 15

8230 Hartberg

Tel. 03332/63992

Traude Kreiner

Erlsberg 82

8953 Donnersbach

Tel. 03683/2231

Renate Klöpfer

Gniebing 244

8330 Feldbach

Tel. 03152/2972

Kärnten

Margit Klaritsch

Mozartstr. 63

9020 Klagenfurt

Tel. 0463/262127

mobil 0676/5452052

Kontaktadresse in Deutschland

Verwaiste Eltern Hamburg e.v.

Esplanande 15

D - 20354 Hamburg

Tel. 0049/40/355056-44

Fax 0049/40/35718767

Quelle:

Helene Pumm, Peter Gstettner: "Man muß durch den Schmerz hindurch gehen, um wieder frei zu sein"

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 27.11.2007

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation