Zur Lebensgeschichte in der Arbeit mit behinderten Menschen unter der Perspektive des Sinns

Reflexionen der erfahrenen Praxis mit sog. geistig behinderten Menschen

Autor:in - Ferdinand Klein
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/99. Thema: Sich erinnern. Redigierter Vortrag, gehalten am 17. März 1999 bei einer Fachtagung am Schwarzacher Hof der Johannes-Anstalten Mosbach in Baden-Württemberg. Die Abhandlung ergänzt und vertieft den Beitrag "Logotherapie - Menschen mit ‚geistiger' Behinderung" in Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 19, 1996/4, 35-44; dabei wird insbesondere das Sinnkriterium der Erziehung beachtet. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/1999)
Copyright: © Ferdinand Klein 1999

1. Durch Lernhilfe dem Anderen seine subjektive Perspektive ermöglichen

1.1 Zur Lebensgeschichte unter dem Anspruch des Sinnkriteriums der Erziehung

Lebensgeschichte und Erziehung bilden einen anthropologischen Zusammenhang, der nicht ohne Sinn denkbar ist. Ich trete in meinem Lebenslauf mit anderen Menschen handelnd und erleidend in Beziehungen, was zur Entstehung meiner Lebensgeschichte führt. Die Lebensgeschichte besteht grundlegend aus dem, was ich in meinem Lebenslauf tue und was mir dabei von anderen widerfährt. Ich erlebe meine Handlungen als Folge von Geschichten, die ich mache und die mir passieren oder widerfahren. Meine Lebensgeschichte ist durch Einmaligkeit gekennzeichnet und bildet einen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang läßt "sich als Lebensgeschichte erzählen und dabei in Situationen, Episoden und Epochen gliedern" (Loch 1979, 16). Das wage ich im Folgenden an den Anfängen meiner beruflichen Lebensgeschichte etwas zu skizzieren.

Anmerkungen zu meiner beruflichen Lebensgeschichte

Ich erzähle also nun von meiner Lebensgeschichte, die mit meinem Bemühen um heilpädagogische Professionalität zusammenhängt:

1952 betreute ich mit 18 Jahren in den Sommerferien in der Heil- und Pflegeanstalt Bruckberg bei Ansbach eine sehr heterogene Gruppe mit etwa 20 schwerbehinderten Kindern und Jugendlichen. Aus der Erinnerung kann ich heute sagen: Ich machte hier Erfahrungen, die meine berufliche Lebensgeschichte entscheidend beeinflußten.

Ich konnte hier ganz unmittelbar und wie selbstverständlich grundlegende pflegerische und erzieherische Erfahrungen sammeln. Bald danach beim Studium vertiefte ich diese Erfahrungen. So erkannte ich, daß in der Erziehungssituation auch immer Teile des Pflegens und der Therapie enthalten sind. Es wurde mir zunehmend bewußter, daß Erziehung, Pflege und Therapie eine Wirkungseinheit bilden, die dem Menschen, der diese ganzheitliche Hilfe benötigt, dienen will. Ich lernte vor allem aber Menschen wahrnehmen und achten, für die wir inzwischen viele typisierende Bezeichnungen kennen. Denken wir nur daran, daß wir heute allein beim frühkindlichen Autismus Symptom- und Checklisten mit bis zu 82 Merkmalspunkten und über 60 Verursachungstheorien dieses immer noch rätselhaften menschlichen Phänomens kennen.

Ich machte weitere Erfahrungen beim Aufbau der Erlanger Lebenshilfe-Einrichtung für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. In den Jahren von 1964 bis 1980 begegnete ich vielen Eltern und ihren Kindern. Eltern, die anfangs eher zurückhaltend waren, oft zu resignieren oder zu verzweifeln schienen, anvertrauten mir und meinen über 60 Mitarbeitern nach und nach die Betreuung ihrer Kinder. Es waren bald über 130 Menschen aller Altersstufen in unserer Einrichtung, die wir anfangs auch etwas außerhalb der Legalität aufbauten. Und ab 1970 begleitete ich - in enger Zusammenarbeit mit einem Kinderneurologen einer Kinderklinik - zusätzlich Eltern und ihre sehr kleinen Kinder. Diese Erfahrungen reflektierte ich 1978 in einer wissenschaftlichen Studie zur häuslichen Früherziehung (Klein 1979).

In dieser Aufbauphase erlebten wir eine ungeahnte Erfolgsfreude, die Eltern und Mitarbeiter teilten. Endlich, 19 Jahre nach dem Ende der Diktatur der Inhumanität, konnten wir an die Tradition der deutschen Hilfsschularbeit anknüpfen, die Schule für Geistigbehinderte in ihrer speziellen sozialen Struktur aufbauen und auf verschiedenen Ebenen erste Bildungspläne erstellen.

Während meiner Tätigkeit als Hochschuldozent (seit 1980) machte ich vor allem in Studien- und Forschungsprojekten viele schmerzliche Erfahrungen, die für den beginnenden wissenschaftlichen Diskurs dokumentiert und veröffentlicht wurden. Ich erlebte vor allem gleich zu Beginn meiner Arbeit an der Universität Würzburg, wie Mitarbeiter in Klinikabteilungen für schwer- und mehrfachbehinderte Kinder dem medizinischen Behandlungskonzept folgten, die Kinder eher nur äußerlich pflegten und medikamentös versorgten. Ich erlebte die Ratlosigkeit bei bewußtlos erscheinenden Kindern mit dem apallischen Syndrom und ich erlebte auch Kinder, die seit Jahren hinter einem verschlossenen Gitterbett wie in einem Käfig ihr Leben verbringen mußten. So hatte Hans tagein tagaus kaum eine Ansprache. Er schaute weg. Sein menschliches Antlitz konnte ich nicht gleich wahrnehmen. Wir setzen uns auf den Boden, eine Decke begrenzte äußerlich unser Aktivitätsfeld. In der engen leiborientierten Beziehungssituation beim Umarmen, Schaukeln, Singen und rhythmischen Hin- und Herbewegen entdeckte ich sein Antlitz (wieder). Und die Studierenden nahmen an diesen Versuchen mit Empathie teil. Wir ahnten gemeinsam etwas vom Sinn des Bemühens in der dialogischen Erziehungssituation.

In dieser elementaren Beziehungssituation, die für mich erzieherische Realität war, nahm ich auch skeptische Blicke wahr. Einige kritische Beobachter schienen diese erzieherische Beziehungsrealität zu negieren. Zusammen mit Studierenden, die mein Erziehungsbemühen kritisch begleiteten, sich selbst in der Beziehungssituation erprobten und ihre Erkenntnisse in wissenschaftlichen Arbeiten reflektierten, versuchte ich diese Erfahrungen weiter zu ordnen und zu verarbeiten. Später versuchten wir auch Mitarbeiter der Klinik in unser Nachdenken mit hineinzunehmen.

Diese Zeit war für mich sehr bedrückend. Es gelang mir nicht, mit allen Klinikmitarbeitern einen offenen Dialog im Hinblick auf die heilpädagogische Aufgabe und zum Wohle der Kinder zu pflegen. Vorurteile und fixierende Meinungen drängten unser Bemühen in Sinnkrisen. Andererseits motivierten diese Erlebnisse und Erfahrungen mich und die Studierenden zu einem vertieften Nachdenken, zum Suchen nach Lösungen.

Für mich wurde in dieser Zeit das Gedicht von Rainer Maria Rilke bedeutsam:

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, daß er nicht mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie der Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf. - Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille -

und hört im Herzen auf zu sein.

Ich notierte folgende Sinn-Worte in mein Tagebuch, die meine weiteren Erfahrungen begleiteten:

Ist eine Sache geschehen,

dann rede nicht darüber;

es ist schwer,

verschüttete Wasser wieder zu sammeln.

(Chinesisch)

Das Tun sei von dir,

nicht von den Geschehnissen geleitet.

(Bhagawadgita)

Mißtrauen ist ein Zeichen von Schwäche.

(Mahatma Gandhi)

Meine Praxis-Erkenntnis

Meine erfahrungsbezogene Erkenntnis lautet: Der Mensch mit sogenannter geistiger Behinderung ist voller Sehnsucht nach menschlicher Nähe, einem festen Halt, verläßlichen Beziehungen, Bestätigung seines Seins, seines Wollens und Tuns. Er will er selbst sein, er will dabeisein und mitmachen, anerkannt und geschätzt werden. Mit Jean Vanier teile ich die Überzeugung: "Menschen mit Behinderungen, besonders mit schweren Behinderungen, sind besonders verletzlich, denn sie können ihre Sehnsucht nach Beziehungen nicht hinter Geschäftigkeit verbergen. In gewisser Weise bestehen sie nur aus Herz: aus einem verwundeten, ganz und gar offenen Herzen" (Vanier 1985, 139).

Für die Aus-, Fort- und Weiterbildung hat das Erfahren dieser Sinnperspektive eine zentrale Aufgabe zu sein. Ich finde sie in den autobiographischen Berichten von Eltern, insbesondere von Müttern behinderter Kinder. So sagt die Sängerin Nina, die in der Zeitschrift "Hörzu" über das Leben mit ihrem schwerbehinderten Sohn Christopher berichtet: Das alles hat seinen Sinn. "Er hat mich gelehrt, in Demut zu leben. Ich bin bewußter geworden" (zit. n. Lebenshilfe-Zeitung 1990/2, 14). Albert Görres erläutert diese Sinnperspektive: "Menschen sind Rechtssträger, weil ihr Dasein einen vorgegebenen unbedingten Sinn und Wert hat. ... Oft gibt ein Tropfen Sinnverständnis mehr Trost und Kraft, mehr Mut und Phantasie der Bewältigung als ein ganzes Faß von psychologischer und psychiatrischer Gelehrsamkeit. ... . Der beste Berater, den die Eltern finden können, ist nicht der Psychologe oder der Arzt. Es ist der Behinderte selbst, und er rät uns sehr gut, wenn wir auf ihn hören. Ein behindertes Kind greift in das Steuerrad unseres Lebens. Es weist uns beständig darauf hin, daß Menschsein nicht nur in Form von Prachtexemplaren stolzer autonomer Vernunft und mündiger Selbstbestimmung vorkommt. ... Wenn wir von unseren behinderten Kindern den guten Rat annehmen, ihre undurchschaubare Not und Hilfsbedürftigkeit, ihr ans Herz greifendes Vertrauen, ihre demütige Dankbarkeit in allem Elend auch als Bedingung unseres eigenen Daseins anzuerkennen, sind wir wahrhaft gut beraten, und dann wissen wir, warum wir dem behinderten Menschen nicht nur die Pflicht der Gerechtigkeit zu erfüllen, sondern auch eine große Dankesschuld abzutragen haben" (Görres 1972, 14 f. und 1987, 110 f.).

Reflexive Besinnung

Kehren wir nach dieser erläuterten Skizze meiner anfänglichen beruflichen Lebensgeschichte, die mein subjektives Bemühen um heilpädagogische Professionalität andeutet, nun zur systematischen Betrachtung der Lebensgeschichte zurück: Was einem Menschen ohne sein Zutun widerfährt, ohne daß er dafür etwas kann, nennen wir Schicksal. Wie er ein solches Schicksal - zum Beispiel eine vorgeburtliche zentralnervöse Schädigung, geboren als Kind armer oder reicher Eltern oder Ausgeliefertsein einer unangemessenen Betreuung - subjektiv verarbeitet, das zeigt sich darin, wie er im zeitlichen Kontinuum versucht, sich im helfenden und begleitenden Zusammensein mit anderen im Leben selbst zu verwirklichen, seine personale und soziale Identität zu gewinnen oder auszubalancieren.

Wie nun der Einzelne seine Identität bildet, hängt wesentlich von den Bedingungen ab, die ein Mensch auf seinem Lebensweg erfährt. So führte mich in meiner beruflichen Lebensgeschichte das Miterleben und Miterleiden der Isolation anderer Menschen in eine krisenhafte Situation. Ich suchte nach Wegen der Enthospitalisierung, der basalen Hilfeangebote, der Verständigung und Kommunikation.

Die Identitätsbildung im Sinne der Entfaltung der subjektiven Perspektive hängt aber auch davon ab, wie der Einzelne seine Lebens- und Lernerfahrungen, die wir ihm ermöglichen, im Verlauf der Entwicklung in seine Lebensgeschichte, die ja seine Lerngeschichte ist, integriert. Auf diese Erziehung oder Lernhilfe, die wir dem Lernenden entwicklungsbegleitend ermöglichen, gehe ich nun näher ein.

Bei diesem Lebens- und Lernprozeß treten auch Entwicklungs- oder Identitätskrisen auf, von denen zum Beispiel das Buch von Erika Schuchardt "Jede Krise ist ein neuer Anfang. Aus Lebensgeschichten lernen" (Schuchardt 1984) handelt. Aus 131 biographischen Kurzgeschichten, die Menschen mit unterschiedlichen Behinderungsarten, Krankheiten oder Krisen schrieben, wählte sie 12 aus. Die Autoren lassen uns teilnehmen an ihren Problemen. Als erstes Kernproblem zeigt sich ihre "psychosoziale Auseinandersetzung mit dem Behinderten-Dasein im alltäglichen Leben" und als zweites Problem wird die "lautlose Diskriminierung ... durch die Umwelt" - sei es in der Freizeit, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit - genannt. Und das dritte Kernproblem, auf das die Biographien verweisen, zeigt uns, daß die betroffenen Menschen "trotz wiederholten Scheiterns und mangelnder Begleitung durch Mitmenschen auf der Suche nach ... Lernwegen zur Krisenverarbeitung ... bleiben. Eine wirklich tiefgreifende Bereitschaft, umzudenken und zu lernen, setzt ... offenbar Kräfte dafür frei, das lebenslange Lernen auch durchzuhalten im Blick auf das Ziel, Sinn in dem veränderten Dasein zu entdecken" (Schuchardt 1984, 13 f.).

Wir können davon ausgehen, daß diese drei Problembereiche unsere erzieherische Arbeit, unser Helfen und Begleiten grundlegend mitbestimmen. Dabei haben wir die Lernhilfe, die wir geben, am Sinnkriterium der Erziehung zu orientieren: Sich in dem Augenblick überflüssig machen, in dem der Lernende wieder sich selbst lernend Gegenstände aneignet, "nicht irgendwann später, sondern immer dann, wenn sich zeigt, daß der Lernende selbständig weiterlernen kann, das ist das entscheidende Sinnkriterium der Erziehung, ... " (Loch 1979, 21). Diese Lernhilfe, auch "Wachstumshilfe" (Montessori) oder "Enkulturationshilfe" (Wurzbacher) genannt, je nachdem, ob wir stärker die biologisch-anthropologische Seite oder die soziologisch-kulturelle Seite des Lernen sehen, unterscheidet sich prinzipiell von Methoden der Dressur oder Indoktrination, die sich mit meinem Erziehungsbegriff nicht mehr vereinbaren lassen.

1.2 Zu meiner Grundposition des Erkennens und Handelns

Ich spreche in der Regel von Kindern oder von Menschen und meine stets alle Menschen, die wir mit distanzierenden und etikettierenden Bezeichnungen wie geistig behindert oder schwer mehrfachbehindert belegen. Auch die Bezeichnung "kognitiv beeinträchtigt" verwende ich. Und nur dann, wenn ich nach außen wirke, meiner Mandatspflicht nachkomme, Partei ergreife, Interessen stellvertretend artikuliere oder ein spezielles Anliegen bewußt machen will, werde ich den in der Isolation lebenden Menschen, als behindert, ausgegrenzt oder benachteiligt bezeichnen. Damit verbinde ich die Hoffnung, daß wir in unserer Arbeit zunehmend zu der Überzeugung kommen, daß Behinderung ein soziales Problem ist, auf das uns der russische Sprach- und Kulturforscher Wygotski aufmerksam gemacht hat: "In unseren Händen liegt es, so zu handeln, daß das gehörlose, das blinde, das schwachsinnige Kind nicht defektiv sind. Dann wird auch das Wort selbst verschwinden, das wahrhafte Zeichen für unseren eigenen Defekt" (Wygotski 1975, 72). Nicht der Behinderte, auch nicht der Menschen mit einer Behinderung ist meinem Handeln und Denken zuerst gegeben und aufgegegeben. Zuallererst nimmt mich dieser Menschen, der nicht namenlos ist, in die Verantwortung des Helfens und Begleitens. Ganz im Sinne des griechischen Wortes Therapeuein bin ich bemüht, ihm in einer verehrenden und dienenden Haltung und Einstellung zu begegnen und ihm nichts abzunehmen, ihn nicht zu bevormunden, sondern seinem Leben und seiner Entwicklung zu dienen. Das entspricht dem Sinnkriterium der Erziehung und auch dem ursprünglichen Verständnis von Erziehung als Dienst für das Kind. Gerade weil diese Dienstpädagogik weitgehend zur Herrschaftspädagogik degeneriert ist, die - wie Janusz Korczak sagt - das Kind gegen seinen Willen zur Selbstgestaltung - "kneten und ummodeln" will, sollten wir ein Zeichen setzen und uns darum bemühen, dem Anderen seine subjektive Entwicklungsperspektive zu ermöglichen. Dieses helfende Begleiten ist nicht denkbar ohne Hoffnung. Hoffnung ist nicht Optimismus und auch nicht die Überzeugung, daß alles immer gut ausgeht, Hoffnung ist eine gestaltende und in die Zukunft weisende Gewißheit, daß mein Wirken einen Sinn hat, ohne zu wissen, wie es ausgehen wird. Hier zeigt sich jene Hoffnung, von der Ernst Bloch sagt, daß sie etwas "in unsere Gegenwart vorausgreifendes in sich" hat (vgl. Klein 1998, 167).

Für das Erziehen, Begleiten und "Behandeln" der Menschen, die uns und unserem Tun anvertraut werden, kennen wir oft imponierende Berufsbezeichnungen, die ihre Berechtigung in speziellen Situationen haben mögen. Ich werde dennoch bei der anschaulichen Bezeichnung "Erzieher" (und "Erziehen") bleiben, dessen heilpädagogische Professionalität mir am Herzen liegt. Bei näherem Betrachten heilpädagogischer Erörterungen entdecken wir, daß im Grunde jede Situation des Vermittelns und Aneignens von Erlebnissen und Erfahrungen, von Können,Wissen und Werten eine Beziehungssituation ist, in der Menschen einander begegnen und mit ihrem Empfinden und Fühlen, mit ihrem Wollen und Denken aufeinander einwirken. In diesem Dialog, in diesem Zusammen- und Miteinandersein eröffnen sich Perspektiven des Überwindens der Isolation und jeder kann sich mit seinen Möglichkeiten in die gemeinsame Situation einbringen. Dabei ist das Prinzip der Achtung des Anderen grundlegend, das wir in der Praxis pflegen können. Dadurch geben wir unserem Dasein und unserer Lernhilfe einen Sinn.

Um dies zu ermöglichen, sollte das Erinnern an sich selbst ein Grundbaustein der Erzieherausbildung sein. Erfahrungen aus der eigenen Kinder- und Schülerzeit wirken - oft unbewußt - in die Praxis hinein. In Untersuchungen wurde festgestellt, daß Erlebnisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit das Verhalten in der Erziehungssituation entscheidend mitbestimmen können. Deshalb wird es darauf ankommern, die gegenwärtige Praxis als Teil der vergangenen Praxis zu verstehen, aber auch die vergangene Praxis aus der gegenwärtigen Praxis heraus in einem neuen Sinnzusammenhang wahrnehmen zu lernen. Stets geht es bei dieser arbeits- und aufgabenbezogenenen Erinnerungsarbeit um das Erkunden und Deuten von Lebens- und Lernzusammenhängen. Wir treten hier zum Vergangenen und Gegenwärtigen in Beziehung und dadurch konstituieren wir Sinn und gewinnen so Bedeutsames für unser erzieherisches Handeln. Die hier erforderliche Erinnerungsarbeit kann schmerzlich sein. "Ängste und Probleme, Hemmungen und Nichtigkeitsgefühle - all dies wird sorgsam gehütet vor den Augen anderer und vor mir selbst. Erinnerungsarbeit ist folglich auch ein Stück Arbeit gegen die eigene Natur, so daß Bichsel zu Recht fragt: "Wer erträgt die Erinnerung an sich selbst?" (Homfeldt/Schulz 1991, 137).

Ich habe kürzlich auf drei Therapien hingewiesen, die für die aufgabenbezogene Identitätsfindung des oft emotional sehr belasteten Erziehers hilfreich sein können: Die logotherapeutisch orientierte Autobiographie von Viktor Frankl und Elisabeth Lukas, die Primärtherapie von Konrad Stettbacher und das Alterswerk von Reinhard Tausch "Lebensschritte. Umgang mit belastenden Gefühlen" (Klein u.a. 1999, 123 ff.). Bei dieser Erinnerungsarbeit wird es um das Sich-selbst-verstehen gehen, das eine Voraussetzung dafür ist, den Anderen aus seiner Perspektive noch besser zu verstehen. Wir erkannten in einem Forschungsprojekt zum basal-dialogischen Prinzip in der unmittelbaren Begegnung, das sich auf die Entwicklung und Selbstentfaltung des Kindes mit schwerer geistiger Behinderung konzentrierte: Das Sich-selbst-verstehen-lernen macht frei vom Zwang zur Projektion - häufig verdrängter - Erwartungen, Ängste, Vorstellungen und Bilder und bereitet die unmittelbare Begegnung mit dem Anderen auf der Ebene des leiblichen Dialogs vor (Klein/Kübler 1997).

1.3 Zur heilpädagogischen Professionalität

Die heilpädagogische Professionalität findet ihren Sinn in Adornos Bildungsbegriff: "Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat" (Adorno 1971, 88). In diesem Bildungsbegriff begegnet uns jene Ehrfurcht vor dem Leben, die dem helfenden und begleitenden Tun einen Sinn gibt. Die hier enthaltene ethische Dimension bringt Emmanuel Lévinas auf den Punkt: Aus der Nähe zum Anderen, dessen Antlitz wir wahrnehmen, erwächst eine klare und unabweisbare Verantwortung für sein Wohl. Nach Lévinas ist die Verantwortung aus der Nähe zum Andern dem Menschen durch sein Menschsein gegeben; diese Verantwortung liegt aller Erfahrung voraus. Dem Antlitz des Anderen können wir nicht ausweichen. Es nimmt uns unmittelbar in die Pflicht des Handelns. Lévinas erkannte eine bisher verborgen gebliebene Tiefenstruktur menschlichen Daseins, bei der er die hellen und die dunklen Möglichkeiten der menschlichen Natur auszuloten versuchte, daß dieses verantwortliche Handeln jedem Vertrag, also allen sozialen Regeln und Vereinbarungen vorausgeht. Seine erkannte Botschaft heißt: "Der einzige absolute Wert, den es gibt, ist die Fähigkeit des Menschen, dem Anderen den Vortritt vor sich zu lassen" (Lévinas 1995, 139).

Diese Erkenntnis entspringt dem "Wesentlichen des menschlichen Gewissens", das Lévinas in Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" findet, wo eine seiner Personen sagt: "Wir sind alle verantwortlich für alles und alle, und ich noch mehr als die anderen" (Lévinas 1995, 137 und 134). Darin zeigt sich Lévinas' Vorstellung von der "Asymetrie der Subjektivität": Das Antlitz des Anderen kann mich nicht gleichgültig lassen, es nimmt mich ohne Wenn und Aber in die Pflicht des verantwortlichen Handelns und für den Anderen Gutes zu tun. Dies bedeutet für die Beziehungs- und Erziehungssituation: "Das Kind zielt ... auf das Innere des Lehrers, auf seine Emotionalität und seine Moralität. ... Heilpädagogische Professionalität, die ihren primären Sinn im Anderen, in den uns anvertrauten Kindern, in den uns begegnenden Eltern und Kollegen, in ihrem unbedingten Wertsein sucht und daher auf der unbedingten Achtung vor dem Anderen gründet, kann die ethische Dimension nicht sich selbst überlassen. Sie muß integrierter Bestandteil unseres Berufsverständnisses sein. ... Es kann nicht wahr sein, daß die Maximen unseres Handelns nur aus bloßen Diskursen ... hervorgehen sollen" (Speck 1999, 10 f.).

1.4 Zur Rekonstruktion der Subjektivität durch reflexive Besinnung

Die beschriebene heilpädagogische Professionalität möchte ich im Hinblick auf das Verstehen und Deuten lebensgeschichtlicher Zusammenhänge noch ergänzen. Ich setze mich zum Vergangenen ins Verhältnis und versuche das Vergangene zu erinnern und für die Gegenwart bewußt zu machen, was Orientierung und Identitätsbildung ermöglicht. Diese Identitätsbildung spiegelt nicht nur Vergangenes wider, sondern sie verändert sich im Vollzug des Prozesses der Erkenntnis. Indem ich mich bemühe, "das Ganze in seiner Entwicklung (zu) verstehen, um so mehr verstehe ich mich selbst und umgekehrt" (Plato 1996, 156). Bei dieser Erinnerungsarbeit wird auch Widersprüchliches zu finden sein, das aus dem Zusammenhang des Ganzen der Arbeit entsteht. Dieses Widersprüchliche ist Teil des menschlichen Lebens. So finde ich bei mir widersprechende Gesichtspunkte, die ich zu Fragen werden lasse. Ich greife den Widerspruch auf und führe ihn zur Frage im Hinblick auf das, was noch fehlt. Hier arbeite ich konstruktiv an Lösungen und die Lösung ist nicht mehr ein unüberwindbares Problem. Freilich könnte ich diese Erinnerungsarbeit in einer distanzierten und kühlen Begrifflichkeit betreiben und Erlebnisse, die mich gefühlsmäßig ansprechen, ausblenden. Ich nehme aber in meine reflexive Besinnung diese Gefühlsbildung mit hinein, was mir eine ganzheitliche Beziehung zum Gegenstand der Erziehung ermöglicht. Hier bin ich mit meiner heilpädagogischen Professionalität in der Verantwortung für den Anderen. Diese Erinnerungsarbeit ermöglicht die Bildung eines persönlichen Urteils, bei dem ich versuche, mich in das Verhältnis zum Vergangenen im Blick auf das Gegenwärtige zu setzen.

Durch diese emotional fundierte reflexive Besinnung, die Widersprüche wahrnimmt und unter der heilpädagogischen Idee reflektiert, bilde ich mir einen neuen, vorläufigen Standpunkt mit einem Möglichkeits-Sinn, der auch Zukunftskeime enthält (Klein 1999, 248). Auf diese Weise stelle ich zu vergangenen Lebens- und Lernzusammenhängen Sinnbeziehungen her. Dadurch kann ich auch die Subjektivität des Kindes in mühsamer Sucharbeit rekonstruieren und es so verstehen lernen, daß meine Lernhilfe seine subjektive Perspektive ermöglicht. Damit bin ich für den Anderen handelnd verantwortlich.

Die Thematik gebietet es, die Zeitsituation kurz zu charakterisieren und darauf eine Antwort zu geben, denn ich möchte nicht zu den Wissenschaftlern gehören, die für ihr Schweigen bezahlt werden.

2. Antwort auf die desintegrative Zeitsituation

2.1 Eine Frage, die mich mit Sorge erfüllt

Folgen wir dem Bielefelder Soziologen Heitmeyer (1999), so müssen wir feststellen, daß der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft weder in der Politik noch in der Wissenschaft ernsthaft diskutiert wird. Er konstatiert eine Dethematisierung von Ungleichheit. Wird z.B. in der Politik die Ungleichheit als dynamisches Prinzip des modernen Kapitalismus gesehen, so entsteht gerade bei Menschen in ungesicherten beruflichen Positionen Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg. Aber auch in der Wissenschaft wird die Ungleichheit weggeredet; ich denke hier an die moderne, soziologisch orientierte Erziehungswissenschaft. Sowohl das Beispiel "Politik" als auch das Beispiel "Wissenschaft" führen dazu, daß Ungleichheit oder Verschiedenheit der Menschen als Ungleichwertigkeit thematisiert werden. Hier ist der Nährboden für Macht über Schwache und Gewalt gegen Schwache zu suchen. So führt die Pluralisierung mit ihrer Anerkennung des Kontingenzprinzips (alles kann ja auch immer ganz anders sein) zur Auflösung von Strukturen und Ordnungen, was in biographische Diskontinuitäten und Brüche einmüden kann, sofern sich die heilpädagogische Professionalität dem egologischen und indifferenten Diskurs mit seiner Distanz zur Sinn- und Wertdimension preisgibt. Angesichts dieser desintegrativen Zeitsituation stellt sich die brennende Frage: Wie können wir dem Anderen zeigen, daß er in dem Gemeinwesen, in dem er lebt, das wert ist, was er meint, wert zu sein, damit er seine Identität ausbalancieren und finden kann? Wie können wir ihm durch Begleitung das Erfahren der Menschlichkeit und ein waches Bewußtsein für die offenen oder sublimen Macht- und Herrschaftsprozesse ermöglichen?

2.2 Wechsel der Perspektive: Pflege einer Kultur der Solidarität

Dieser Außenblick der Soziologie nimmt mich in Pflicht, die heilpädagogische Professionalität näher zu erläutern, die - wie bereits hervorgehoben - im Wahrnehmen des Anderen ihren Ausgang zu nehmen hat. Im Wahrnehmen des Anderen begegnet mir ein Mensch, der Schutz und Hilfe, Annahme, Bestätigung und Begleitung erwartet. Seinem Blick kann ich nicht ausweichen, er nimmt mich in die Verantwortung. Dieser Wechsel der Perspektive ist radikal: Von der dominanten Orientierung am eigenen Ich, wo der Andere zum Objekt herabgewürdigt wird, hin zum Primat des Anderen. Eberhard Grisebach argumentierte bereits 1924 gegen diese individualistische Anschauung, die er als gewaltigen "Militarismus einer Ichpartei" (Grisebach 1924, 39) charakterisierte, der das Gesetz der Gemeinschaft als ein Bescheiden des Ich im Hinblick auf das Du nicht zu kennen scheint. Er setzte diesem Individualismus, den Hans-Joachim Maaz als "inneren Faschismus" und Emmanuel Lévinas als "ichlichen Imperialismus" (Lévinas 1998, 313) bezeichnen, eine "wirkliche Kultur" entgegen, die "das erreichbare dialektische Geschehen in der Gemeinschaft ist" (Grisebach 1924, 23). Hier fange ich an eine Kultur der Solidarität zu pflegen. Ich bin für den Anderen handelnd verantwortlich.

Diese Orientierung am Anderen ist ethisch bedeutsam. Sie kann in der institutionellen Zusammenarbeit mit Anderen, die sich auch gegen den egologischen und ichlichen Zeitgeist handelnd stellt, geübt werden. So kann auch heute in den Institutionen ein soziales Ethos im Hinblick auf eine Kultur der Solidarität entstehen. Hier können wir uns gemeinsam auf den Weg zur "inneren Demokratie" bewegen, zu einem "psychischen Zustand, in dem Menschen es nicht mehr nötig haben, seelisch Fremdes abzuspalten und auf andere Menschen zu projizieren" (Maaz 1993). Dieser Weg eröffnet uns die Möglichkeit,

  • den Anderen in seinem Anderssein, in seiner Individualität und Subjektivität wahrzunehmen,

  • zu lernen, den Anderen von seinen Voraussetzungen, seinen biographischen und sozialen Lebens- und Entwicklungsbedingungen her zu verstehen und

  • uns vom Anderen her zu sehen.

Ist, so frage ich mit Carl Friedrich von Weizsäcker, dieses Wahrnehmen "des Mitmenschen nicht ein Aspekt des Guten" (Weizsäcker 1991, 230), das dem Anderen ein Urvertrauen ermöglicht?

2.3 Dem Anderen Urvertrauen ermöglichen und Mut machen

Wie können wir dem Anderen Urvertrauen ermöglichen? In seiner Phänomenologie zwischenmenschlicher Begegnung sucht Lévinas die Rationalität des Menschen. Sein Forschungsinteresse gilt nicht konstruierten Begriffen, in denen sich die Wissenschaft konstituiert. Lévinas untersucht die ethischen Voraussetzungen der Kommunikation, die intersubjektiven Beziehungen, das Verhältnis des einen Menschen zum Antlitz des Anderen. In dem von ihm erkannten Antlitz symbolisiert sich reine Kontingenz des Anderen: als Leben und Sterben, als Stärke und Schwäche, als unverstellte Menschlichkeit, als schutzloses Ausgeliefertsein. Zeigt sich hier nicht "Liebe ohne Eros, caritas, Liebe, in der das ethische Moment das leidenschaftliche dominiert, Liebe ohne Begehrlichkeit". Lévinas sagt gleich weiter: "Das Wort Liebe mag ich nicht so sehr, es ist so abgegriffen und mißbraucht. Lassen Sie uns von einem Aufsichnehmen des anderen Schicksals sprechen" (Lévinas 1995, 132). Indem wir das Schicksal des Menschen, den wir als behindert bezeichnen, auf uns nehmen, ermöglichen wir ihm ein Urvertrauen. Was können wir unter Urvertrauen verstehen?

Fredi Saal - mit einer schweren spastischen Lähmung geboren, nach amtsärztlichen Gutachten im siebten und vierzehnten Lebensjahr als nicht bildungsfähig erklärt, elf Jahre in verschiedenen geschlossenen Einrichtungen für geistig Behinderte, mit achtzehn Leben außerhalb von Anstaltsmauern - wurde von Klaus Dörner in "Tödliches Mitleid" als einer der "philosophischsten Denker der deutschsprachigen Gegenwart" (Dörner 1988, 96) bezeichnet.

In seinem Essay "Behindertsein - Bedeutung und Würde aus eigenem Recht oder: Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens als Postulat der Vernunft" (Saal 1998) überläßt Fredi Saal sich einem tragenden Vertrauen in das Sein. Dieses Urvertrauen ermöglicht ihm das Reifen der Erkenntnis, daß dem Menschen a priori Bedeutung und Würde zukommt, allein dadurch, daß er ist. Er sagt: "Jeder Mensch ist sein eigener Bedeutungsträger, erst einmal unabhängig davon, ob die Mitwelt ihm dies zubilligt oder nicht. ... Meine Identität finde ich nur in mir selbst, niemals im neidisch-resignierenden Vergleich mit anderen" (Saal 1998, 61 und 62). Diese Identität trotzt den Bedeutungszuweisungen, Erwartungen, Forderungen und Wertungen der schier übermächtig wirkenden Umwelt, weil es das Urvertrauen gibt. Das tragende Vertrauen in das Sein ermöglicht Fredi Saal bei sich zu bleiben. "Erst wenn ich bei mir bleibe, kann ich es wagen, vom sicheren Grund des Eigenseins meinen Fuß auf das Terrain des Anderen zu setzen, um sein Land zu erkunden und dort als für mich vielleicht brauchbar Gefundenes in das eigene Lebenskonzept einzufügen" (Saal 1998, 72).

Dieses Urvertrauen schließt die Praktik "Fishing for Compliments" aus, die darin besteht, sich zu bemühen, andere für sich gewogen zu machen. Für Fredi Saal ist der Andere durch nichts legitimiert, ihm etwas zuzusprechen oder abzusprechen, denn allein dadurch, daß es mich gibt, ist die "einzigartige Bedeutung meiner unverwechselbaren Individualität" (Saal 1998, 64) gegeben.

Ein Mensch mit einer schweren Behinderung ist in gleicher Weise wie ich einmalig und einzigartig. Über uns Menschen darf nicht durch Setzungen von außen, wie das beispielsweise bei der Frage der Schulbildungsfähigkeit, der operationalisierten Lernziele oder der Qualitätskontrolle geschieht, verfügt werden. Geschieht dies dennoch, indem aufgrund von Kriterien nachgewiesen wird, daß der eine oder andere bestimmte Funktionen nicht mehr oder nicht mehr ausreichend erfüllt, so beginnt hier das Zerlegen und Zergliedern, das Zuordnen und Zuschreiben, das Sortieren und Aussortieren. Indem auf diese Weise Menschen und Institutionen, Verordnungen und Gesetze über andere Menschen verfügen, wird er in die Isolation gedrängt, und er fängt an zu fühlen und zu denken: Ich falle mir zur Last und ich falle anderen zur Last. Deshalb müssen wir zum Ursprung, zum Vertrauen in das Sein und in unser Bewußtsein, das uns erlaubt zu sagen: "Vor aller Zuweisung von Aussagen durch andere bin ich vom Ursprung her der autonome Träger eigener Bedeutung und eigener Würde. Dies könnte mir selber eine durch nichts zu erschütternde Selbstsicherheit im Leben geben. Denn was von vornherein als Baustein des Daseins gegeben ist, kann mir eigentlich nicht genommen werden - es sei denn, man überantwortet mich dem Tod. Von daher verböte sich also jede Mißachtung eines menschlichen Lebens. Uns fehlt jede Legitimation, willkürlich über den Anderen in einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu verfügen. Ich bin, der ich bin, das ist genug!" (Saal 1998, 65).

Wenn wir es mit der Idee der Integration und Normalisierung wirklich ernst meinen, dann haben wir uns auf diese Grundfragen menschlichen Seins und Bewußtsein in der dialogischen und kommunikativen Situation einzulassen.

Wir können dies an dem Ort tun, an dem wir unsere heilpädagogische Professionalität realisieren. Zu diesem solidarischen Tun kann uns auch der geschichtliche Befund von Andreas Möckel motivieren. In seinem Beitrag "Die heilpädagogische Institution als sinnerfüllte Lebenswelt" sagt Möckel: "Es ist merkwürdig, daß sich gerade in der Konfrontation mit behinderten Kindern in den vergangenen zwei Jahrhunderten soziale Selbstheilungskräfte der Gesellschaft geregt haben". Möckel zitiert nun ein Wort von Selma Lagerlöf. Sie sagt: "Niemand kann die Welt von ihren Leiden erlösen. Aber dem wird viel vergeben werden, der ihr wieder hilft, ihre Leiden zu tragen" (Möckel 1991, 10).

Heilpädagogik hat gerade in schwierigen Zeiten an ihre Ursprünge angeknüpft. Diese heilpädagogische Bewegung kann nicht resignieren. Sie hat konkrete Aufgaben, die nicht aufschiebbar sind. "Sie ... übt Solidarität und fordert sie. Sie praktiziert den Frieden mit den Schwachen, und zwar schon in einer Zeit, in der die Großmächte noch glaubten, Imperialismus und Kolonialismus hätten Zukunft" (Möckel 1991, 10). Eine so verstandene Pädagogik, die ich Heil- und Sozialpädagogik nenne, gehört in die Zukunft, sofern sie "den Mut behält und nicht aufhört, anderen Mut zu machen" (Möckel 1991, 11).

3. Menschsein heißt sinnorientiert sein: Der Mensch sucht "kraft seines Willens zum Sinn nach einem Sinn" (Frankl)

3.1 Meine / unsere Sorge im Hinblick auf eine sich vertiefende Motivation

Zunächst möchte ich zusammenfassend festhalten: Die Zeitsituation hinterläßt bei mir Spuren. Die Sorge um die Zukunft unserer Kinder bedrückt mich sehr. Dieser Befund kann uns existentiell treffen und zu enttäuschenden Erlebnissen führen und eine persönliche und berufliche Sinnkrise droht zu entstehen. Dabei bleiben wir aber nicht stehen. Wir suchen nach Antworten. Eine sich vertiefende Motivation kann sich entwickeln.

Ich stelle mich mit der mir möglichen heilpädagogischen Professionalität der herausfordernden Aufgabe und gebe Antworten. Ich erlebe das Sinnerfüllungspotential mit den Menschen, die uns und unserem Tun anvertraut sind. Ihr Verständnis vom Sinn des Lebens, ihre Augenblicke der Freude und des Staunens können uns in vielfältiger Weise zur reflexiven Besinnung unter dem Sinnkriterium der Erziehung anregen.

3.2 Zum Wahrnehmen und pädagogischen Verstehen des Anderen, skizziert und gedeutet an zwei Beispielen

Diese lebensgeschichtlichen Fragen können wir nun in individuellen Lebensläufen vergegenwärtigen (a). Wir können sie auch altersstufenbezogen erörtern (b). Das skizziere ich nun in der gebotenen Kürze an zwei Beispielen.

Zu a: Wie erlebt der alte Mensch sich und seine Vergangenheit? Welche Lernhilfe können wir ihm geben? Ich denke hier an den Lebenslauf von Paul Spann, der uns seine Lebensgeschichte erzählt und nach einem 80jährigen Leben, das er größtenteils in Berliner Heimen und Nervenkliniken verbrachte, Bilanz zieht: "Ach was, ich will doch keinem Menschen viel erzählen. Meine Mutter, die hat mich im Kohlekasten geboren, deshalb hab ich kein Glück auf der Welt. ... Ja, ja, ich bin auch ganz zufrieden hier". Folgen wir der Spurensuche in der Kindheit, so finden wir in den Fürsorgeerziehungsakten den medizinischen Untersuchungsbefund vom 02. Juli 1918: "Der Junge ist erheblich psychopathisch, außerdem intellektuell ziemlich zurückgeblieben, ist leicht erregbar, wütend, schlägt um sich, ...". Und am 27. August 1918 erläßt das Amtsgericht den rechtskräftigen Beschluß zur polizeilichen Einweisung in das Erziehungsheim am 15. Januar 1919. An diesen Tag erinnert sich Herr Spann sehr genau. Er schreibt im Januar 1988 in sein Tagebuch: Das "ist für mich ein Gedenktag. Da nehme ich Abschied von zu Hause - lange Jahre. Das ist eben mal so!" (Preuß/Spann 1989, 25 f.). Paul Spann - ein Menschenschicksal? Finanzielle Sorgen und schwierige Verhältnisse der Eltern zueinander prägten seine frühen Lebenserfahrungen. Unsere Lernhilfe für Menschen wie Paul Spann besteht vor allem darin, Erinnerungen hervorzulocken, subjektiv sinnvolle Zusammenhänge zu finden und so seine Identität zu stärken.

Zu b: Wie erfährt der Säugling den leibhaften Kontakt der Mutter? Was spürt und empfindet er? Urangst? Urvertrauen? Ist seine Mutter als "genügend gute Mutter" (Winnicott 1984) fähig, jene Bedingungen für ihn zu schaffen, die es ihm ermöglichen, sich nach seinem Gefühlsleben und nach seiner individuellen Perspektive zu entwickeln? Wie wirken sich die mütterlichen oder elterlichen Empfindungen und Gefühle auf die frühe Entwicklung des Kindes aus, wenn sie - häufig völlig unvorbereitet - an Stelle des Wunschbildes mit dem Enttäuschungsbild konfrontiert werden? Eine Mutter schreibt: "Hier lag ich zerbrochen, ohnmächtig, haltlos, ohne Schutz und Hoffnung und Mut. Und ohne Liebe. Denn das Kind, das ich stolz während der Monate in mir getragen hatte, war gestorben. Und mit ihm alle Vorstellungen von einem Leben mit ihm" (Lebéus 1989, 20). In dieser Lebenskrise, getragen vom Zweifel am Sinn, an der Gerechtigkeit und am positiven Selbstbild, bricht die erwartete Lebensperspektive mit den subjektiven zukunftsbezogenen Vorstellungsbildern zusammen. Das Kind als Sinnmitte ist nicht mehr da. Wie soll unsere Lernhilfe sein, die unbedingt auch die häusliche Beziehungs- und Erziehungssituation mit zu bedenken hat? Diese Frage muß sich die heilpädagogische Professionalität in Zukunft mit viel mehr Nähe und Empathie stellen. Dann wird die Lernhilfe, die wir in den Instiutionen geben, zum Wohle des Kindes noch besser gelingen können.

Gerade die Anmerkungen zu den Lebensaltersstufen lassen die Bedeutung der individuellen Lebensgeschichte erkennen. Soll unsere Lernhilfe gelingen, so haben wir die Lerngeschichten so weit wie möglich in ihrer Subjektivität zu verstehen und zu deuten. Dieses pädagogische Verstehen und Deuten ist eine lebenslange und unabschließbare Aufgabe. Dabei ist zu bedenken, daß wir den Anderen aus dessen Situation heraus im umgreifenden Zusammenhang seiner Lebensbedingungen und Lebensmöglichkeiten zu verstehen und dabei jene Sinnstrukturen zu beachten haben, in denen sich der subjektive Sinn realisiert. So können wir zu einem schöpferischen Verstehen und einer bejahenden Deutung kommen.

In seiner Theorie der Geisteswissenschaften hat Otto Friedrich Bollnow das Verstehen erörtert und dabei erkannt: "Seine wirklich letzte Möglichkeit wird das Verstehen nur dann freigeben, wo sich der Verstehende aus innerster Verbundenheit zum Verstandenen bekennt" (Bollnow 1949, 33). Dies hat uns Albert Görres in dem oben referierten Beitrag gezeigt. Und wir Erzieher sollten noch viel aufmerksamer wahrnehmen, was uns behinderte Menschen sagen und unser Handeln und Denken daran orientieren: Christopher Nolan, 31 Jahre, ist stumm und fast völlig gelähmt. Er kann seinen Kopf etwas bewegen. Wie nimmt er zu seiner körperlichen Behinderung und seelischen Frustration Stellung? Er ringt in freier Entscheidung dem Schicksal seines Stummseins und Gelähmtseins einen Sinn ab. Er schreibt Gedichte und Texte mit Hilfe eines an seiner Stirn befestigten Stabes, den er lachend "das Horn des Einhorns" nennt. Seine innere Einstellung ist von keiner Ursache mehr ableitbar. Sie ist Ausdruck seiner Freiheit. Christopher Nolan spricht sich mit Entschiedenheit "für das Lebensrecht Schwerstbehinderter aus und weist nachdrücklich darauf hin, was ihm alles entgangen wäre, hätten die Ärzte ihn als Baby sterben lassen oder gar dabei nachgeholfen" (Lukas 1990, 140). Und was würde den Menschen fehlen, hätten sie nicht seine geistreichen Gedanken, die aus dem Ringen um Sinn und Wert des Lebens entstehen, denen wir auch bei Fredi Saal nachspüren konnten?

Diese Gedanken weisen uns auf die von Viktor E. Frankl begründete Existenzanalyse und Logotherapie hin, auf die ich nun näher eingehe. Dabei ergänze und vertiefe ich die Ausführungen des Beitrages "Logotherapie - Menschen mit 'geistiger' Behinderung", der 1996 in Heft 4 dieser Zeitschrift erschienen ist (vgl. auch Fußnote).

4. Zur Logotherapie in erzieherischer Hinsicht

4.1 "Die Trotzmacht des Geistes" (Frankl)

Die Logotherapie versteht sich als Hilfe zur Sinnfindung, sie versucht die Erfahrung der Sinnlosigkeit durch die Erfahrung von Sinn zu überwinden. Sie sieht im Willen zum Sinn das bewegende Moment eines jeden Menschen und trifft damit die Sinnmitte menschlicher Existenz. Die Grundstruktur dieses Urmotivs des Menschen erprobte Viktor E. Frankl vor allem als Häftling in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz (Frankl 1977). Unter äußerst qualvollen Bedingungen bestätigt er die als menschliches Urvermögen bezeichneten Kräfte der Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz. Diese beiden Grundkräfte ermöglichten ihm den Weg "in ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums" - und damit das Überleben. "Die Trotzmacht des Geistes" (Frankl 1982, 115 und Frankl 1987, 124)) sagt ein Ja zum Leben: Man kann dem "Menschen im Konzentrationslager alles nehmen, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. ... Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, läßt auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten" (Frankl 1977, 108 und 109).

Frankl hinterfragt die Einstellung des Menschen zu seinem Schicksal. Er fragt nach dem Sinn, und es bleibt ihm in der Extremsituation des Leidens, in der Situation äußerster Entmenschlichung, nichts mehr als der Glaube an den Sinn des Lebens, den es zu erspüren und zu erfüllen gilt. "Der Mensch ist fähig, sich innerlich von einem Geschehen zu distanzieren, sich in innerer Schau einem anderen Erleben zuzuwenden und auch an dem Negativen noch das kleinste Positive herauszufiltern, eben trotzdem Ja zum Leben sagen zu können" (Rebensteiner-Zips 1996, 181). Frankl antwortet auf die seine Existenz bedrohende "Sinn-Leere" mit einer haltgebenden und wertgeleiteten "Sinn-Lehre".

Der Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie sieht den Menschen im Spannungsfeld von Sein-Können und Sein-Sollen, von Freiheit und Verantwortung. In diesem dialektischen Feld wirken die beiden menschlichen Grundkräfte

  • der Selbstdistanzierung und

  • der Selbsttranszendenz.

Sie weisen über das Gegebene hinaus auf das "Aufgebene" und "Verheißene" hin; darauf macht uns vor allem auch die Pädagogik des "Äußeren und Inneren Halts" von Paul Moor (Moor 1960) aufmerksam.

Zur Selbstdistanzierung: Für Frankl ist der Mensch nicht dazu da, "um sich selbst zu bespiegeln. Zum Wesen des Menschen gehört das Hingeordnet- und Ausgerichtetsein, sei es auf etwas, sei es auf jemanden, sei es auf ein Werk oder auf einen Menschen, auf eine Idee oder Person. Nur in dem Maße, in dem wir solcherart intentional sind, sind wir existentiell; nur in dem Maße, in dem der Mensch geistig bei etwas oder bei jemandem ist - nur im Maße solchen Beiseins ist der Mensch bei sich". Der Mensch braucht also eine Aufgabe in seinem Leben, die es ihm ermöglicht, Sinn zu erfüllen. Und in dem Maße, in dem er diese sinnvolle Aufgabe tut und verantwortet, verwirklicht er sich selbst. "Selbstverwirklichung stellt sich dann von selbst ein als eine Wirkung der Sinnerfüllung, aber nicht als deren Zweck. Nur Existenz, die sich selbst transzendiert, kann sich selbst verwirklichen" (zit. n. Hahn 1994, 43).

Zur Selbsttranszendenz: Die Selbstverwirklichung läßt also den Menschen von sich selbst absehen und öffnet den Blick für das Wahrnehmen des Anderen, für das Wahrnehmen sozialer, gesellschaftlicher und politischer Gegebenheiten. Mit folgendem Beispiel unterstreicht Frankl die Bedeutung der Selbsttranszendenz: "Wie sehr die Selbsttranszendenz menschlicher Existenz bis in deren biologische Tiefen und Grundlagen hineinreicht, ließe sich an der Paradoxie demonstrieren, daß auch das menschliche Auge selbsttranszendent ist: Seine Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen, ist unabdingbar davon abhängig, daß es nicht fähig ist, sich selbst wahrzunehmen. Wann sieht das Auge sich selbst - außer im Spiegel - oder etwas von sich selbst? Wenn es am grauen Star erkrankt ist, sieht es einen Nebel, nämlich seine eigene Linsentrübung. ... Analog verwirklicht der Mensch sich selbst, wenn er sich selbst übersieht, sei es, daß er einem Partner sich hingibt, sei es, daß er in einer Sache 'aufgeht'" (zit. n. Hahn 1994, 43 f.).

Im Unterschied zu Sigmund Freuds Willen zur Lust und im Unterschied zu Alfred Adlers Willen zur Macht und zum Kampf um soziale Geltung, entdeckt Viktor E. Frankl das Sinnbedürfnis als Grundbedürfnis des Menschen. An vielen tausend Beispielen konnte nachgewiesen werden, daß "Sinnfindung jedem Menschen offensteht, grundsätzlich unabhängig vom Intelligenzquotienten, unabhängig vom Bildungsgrad, unabhängig auch von seiner Geschlechtszugehörigkeit und von seinem Alter" (Frankl/Kreuzer 1986, 33).

Im Verständnis der Logotherapie ist Sinn keine abstrakte Kategorie, sondern die konkrete und praktische Möglichkeit eines jeden Menschen, sich in die gemeinsame Lebens- und Lernsituation nach der Sinnperspektive einzubringen. Der Erzieher begleitet das Kind auf seinem Weg der individuellen Sinnfindung, und er wird ihm - bei sorgfältiger Beachtung des Sinnkriteriums der Erziehung - helfen, in der gegebenen Situation die konkrete Sinnmöglichkeit selbst handelnd zu entdecken, an der es sich weiter orientieren kann. So kann er dem Kind durch die "vorbereitete Umgebung" (Montessori), in der er für das Kind selbst ein Teil ist, jene Bedingungen schaffen und Hilfen geben, die es ihm ermöglichen, den Sinn in der konkreten Situation selbst zu suchen und zu finden. Wir können den Sinn nicht von vornherein festlegen und verordnen, wir können ihn aber für den Anderen freilegen. Ist das nicht eine interessante Erziehungs- und Unterrichtsaufgabe, die zwischen den Polen Freiheit und Verantwortung oszilliert und das Kind in der Gegenwart für dessen Zukunft vorbereitet?

4.2 Den individuellen Sinn suchen und finden

Im Zentrum der Erziehung steht also der Mensch in seiner Geistigkeit, in seiner Sinnorientiertheit. Jeder Mensch kann kraft seines Willens zum Sinn den individuellen Sinn suchen und finden. Frankls eigene, existentiell und professionell erprobte Lebensgeschichte, seine Erfahrungen mit körperlich und psychisch kranken, mit psychisch gestörten und behinderten Menschen, führten zur Unterscheidung von drei Wertgruppen, die dem Menschen zur Verwirklichung seines Lebenssinns zur Verfügung stehen. Er sagt: "Eine phänomenologische Analyse des unmittelbaren, unverfälschten Erlebens, wie wir es vom schlichten und einfachen 'Mann auf der Straße' erfahren können und nur noch in die wissenschaftliche Terminologie zu übersetzen brauchen, würde nämlich enthüllen, daß der Mensch nicht nur - kraft seines Willens zum Sinn - nach Sinn sucht, sondern daß er ihn auch findet, und zwar auf drei Wegen. Zunächst einmal sieht er einen Sinn darin, etwas zu tun oder zu schaffen. Darüber hinaus sieht er einen Sinn darin etwas zu erleben, jemanden zu lieben; aber auch noch in einer hoffnungslosen Situation, der er hilflos gegenübersteht, sieht er unter Umständen einen Sinn. Worauf es ankommt, ist die Haltung und Einstellung, mit der er einem unvermeidlichen und unabänderlichen Schicksal begegnet. Erst die Haltung und Einstellung gestattet ihm, Zeugnis abzulegen von etwas, wessen der Mensch allein fähig ist; das Leiden auf der menschlichen Ebene in eine Leistung umzusetzen und umzugestalten" (Frankl 1996, 50). Jeder Mensch kann also auf seine individuelle Art und Weise in der konkreten Situation

Werte verwirklichen

  • durch Tätigsein,

  • durch Erleben und

  • durch seine Einstellung zum eigenen Leben.

Dabei eröffnen sich ihm ungeahnte Möglichkeiten der Sinnerschließung: durch Verwirklichung von

  • schöpferischen Werten,

  • Erlebniswerten und

  • Einstellungswerten.

In diesen drei Dimensionen ist Sinnfindung des Lebens dadurch möglich, daß sich die Individualität und der Wille des Menschen zur Gestaltung bringen. Der konkrete Lebenssinn des Einzelnen hängt von den Erlebnissen und Erfahrungen in seiner individuellen Lebensgeschichte ab. Auch wenn die logotherapeutisch orientierte Erziehungssituation primär nach dem Sinn der individuellen Existenz fragt, so ist sie offen für die religiöse Dimension des Lebens, für den letzten Sinn, den Übersinn. Damit stößt sie in die Fragen des "Sinnglaubens des Menschen" vor (Hahn 1994, 50 und 81).

5. Zur Pädagogik der Achtung durch ein solidarisches und sinnerfülltes Handeln

Stellen wir uns vor dem Hintergrund dieser existenzanalytischen und logotherapeutischen Einsichten nochmals die Frage nach der Erziehung, dann können wir Wolfgang Kleinicke zustimmen: "Wir verletzen ein Grundrecht, das Recht auf Menschenwürde, wenn wir Menschen zu Objekten unserer Lernzielerfüllung machen. Es ist die technokratische Einstellung der nekrophilen Psychologierichtung, ... die Menschen zu Objekten herabwürdigt" (Kleinicke 1986, 40). Es kommt doch in der Erziehung nicht primär auf Techniken an, sondern darauf, daß wir eine Pädagogik der Achtung und Wertschätzung pflegen und uns bemühen, in der Beziehungssituation verläßlich und vertrauenswürdig zu sein. Der Mensch will von Beginn seines Lebens an auf seinem individuellen Lernweg geachtet, bestätigt und bestärkt werden und dadurch seine Kräfte selbstgestaltend ausformen. Es handelt sich hier um eine alte pädagogische Weisheit, daß nämlich jeder Mensch ein fundamentales Bedürfnis nach Achtung, nach Seins- und Selbstbestätigung hat. Diese Lebensweisheit wird durch neuere biologische, ökologische und systemische Erkenntnisse gestützt.

Dabei ist lernbedeutsam, mit welcher Einstellung der Erzieher dem Kind begegnet und es auf seinem Lebensweg begleitet. Versucht er in die Erziehungssituation Achtung und Wertschätzung, Bestätigung und Bestärkung so einzubringen, daß sich das Kind in seinem Sein, in seinem Tun und Wollen geachtet, bestätigt und bestärkt fühlt, dann sind beide auf dem rechten Weg. In dem Maße, in dem die Lernhilfe des Erziehers das Kind auf diese Weise in seiner Würde achtet, können auch die seelischen Verletzungen des Kindes zurückgehen.

Durch eine Pädagogik der Achtung können die verborgenen guten Kräfte im Menschen hervortreten und die Potentialität von Geist und Sinn kann sich im Zusammen-sein und Beieinander-sein der Menschen entfalten. In der Hingabe für eine Aufgabe kann die in der Lebens- und Lernsituation geborgene Sinnmöglichkeit gesucht und gefunden werden. Hier wird den Vorurteilen oder der Mißachtung der Boden entzogen. Die Hingabe eint und verbindet Menschen, was wir auch in der gelebten Pädagogik der Achtung von Janusz Korczak entdecken können (Klein 1997).

Wer einen Menschen mit speziellen Lernbedürfnissen erziehen und begleiten will, muß mit ihm auf der Grundlage einer persönlichen Lebensbeziehung umgehen. In dieser intersubjektiven Beziehung, die der Erzieher verantwortet, offenbart sich der Sinn des gemeinsamen Wohin, sofern in dieser Beziehung Vertrauen, Achtung, Anerkennung und Bestärkung voraussetzungslos gegenwärtig sind. Hier kann der Erzieher durch seine Lernhilfe die - noch verborgenen - Kräfte im Anderen entfalten helfen.

In Frankls Lebensgeschichte, die wir in seiner Logotherapie und Lernhilfe erfahren, begegnet uns ein gütiger, humorvoller und heiterer Mensch, der auch für die heilpädagogische Professionalität Beispiel sein kann. Seine Praxis baut auf schmerzliche Erfahrungen auf, denen er durch sinnvolles und schöpferisches Handeln im Hinblick auf das Aufgebene und Verheißene geantwortet und die er zum Inhalt seiner Sinn-Lehre gemacht hat. Nach Viktor E. Frankl ist der Sinn des Lebens dadurch zu beantworten, daß wir das eigene Leben und das Leben des Anderen durch unser Handeln verantworten (Frankl 1987).

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Bollnow, O. F.: Das Verstehen. Mainz 1949

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Frankl, V. E.: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Frankfurt 1987

Frankl, V. E.: Das Leiden am sinnlosen Leben. Freiburg 1996

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Klein, F.: Janusz Korczak. Sein Leben für Kinder - sein Beitrag für die Heilpädagogik. Bad Heilbrunn 1997

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Klein, F./Meinertz, F./Kausen, R.: Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehr- und Studienbuch. Bad Heilbrunn 1999

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Der Autor

Prof. Dr. Ferdinand Klein, Jahrgang 1934, Volks- und Sonderschullehrer, Sonderschuldirektor, Dozent für Lern- und Geistigbehindertenpädagogik an der Universität Würzburg (1980-1982), Universitätsprofessor für Heil- und Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik an den Hochschulen Mainz (1982-1990), Reutlingen (1990-1992; ab 1994) und Halle (1992-1994), emeritiert. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Heilpädagogik und Anthroposophische Heilpädagogik im Dialog, Integrationspädagogik, schwere Behinderung, ethische Grundfragen; Dialog mit der Heilpädagogik in einigen östlichen Ländern, insbesondere in der Slowakei, dort Aufbau einer Sozialstation und Begegnungsstätte.

Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg

in Verbindung mit der Universität Tübingen

Postfach 2344

D-72713 Reutlingen

Quelle:

Ferdinand Klein: Zur Lebensgeschichte in der Arbeit mit behinderten Menschen unter der Perspektive des Sinns

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 18.01.2006

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