Behindertsein II - Bedeutung und Würde aus eigenem Recht

oder: Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens als Postulat der Vernunft

Autor:in - Fredi Saal
Themenbereiche: Selbstbestimmt Leben, Eugenik
Schlagwörter: Ethik, Menschenbild, Euthanasie
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/98; Thema: Bewußtsein und Bewußtheit Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/1998)
Copyright: © Fredi Saal, 1998

VII Von einem Augenblick zum anderen

Von einem Augenblick zum anderen anderen kann die Geschäftsordnung entfallen, die die Unanfechtbarkeit unserer Existenz garantiert.

Der Behinderte gehört zu jenen Gruppen, dessen Existenzberechtigung immer wieder in Frage steht. Man mag ihm nur schwer ein sinnvolles Dasein zubilligen. Weit eher verweist man auf die Last, die er sich und den anderen bedeutet. Schnell kommt der Gedanke an "Erlösung" auf. Auch dort wo er geduldet wird, läßt man ihn sein untergeordnetes Ansehen in der zwischenmenschlichen Beziehung spüren. Selten darf er sich als gleichwertig mit anderen vorkommen. Das wird zwar gerne bestritten, doch in der täglichen Praxis unzählige Male stets auf's Neue bestätigt. Dazu begebe man sich nur einmal im Rollstuhl in der Begleitung eines Nichtbehinderten auf Bahnreise. Schon bald wird man sich als ein lebendes Gepäckstück vorkommen. Es fällt schwer, im Gelähmten, geistig Zurückgebliebenen, Blinden, Schwerhörigen, Taubstummen einen Menschen wie du und ich zu sehen. Das gilt nicht nur für die Vertreter der Bio-"Ethik", von denen manche vielen Behinderten das Person-Sein überhaupt absprechen.

Gewiß, "den" Behinderten gibt es nicht - ebensowenig wie "den" Nichtbehinderten, "den" Christen, "den" Juden, "den" Moslem. Jeder Mensch ist anders. So geschieht es natürlich auch immer wieder, daß sich im individuellen Bereich respektable Beziehungen ergeben, welche die Rede von der beklagten Außenseiterposition des Behinderten zu widerlegen scheinen. Man spricht dann davon, der Betreffende sei voll in seine Umwelt "integriert". Dies mag erfreulicherweise zutreffen. Doch eine solche Ausnahme - und um die handelt es sich auf das Ganze gesehen - bestätigt nur die Regel, sonst brauchte man gar nicht darüber zu sprechen. Denn auf der interindividuellen "Meta-Ebene" - dort wo die Gruppenprozesse stattfinden, die dann in das Verhalten der Einzelnen zueinander überschwappen - sieht es ganz anders aus. Dort bilden sich positive, negative oder gar ambivalente "Trends" hinsichtlich eines bestimmten Sachverhaltes, aus denen sich unsere Vor-Urteile speisen, die entstehen, ohne genau hingeschaut zu haben und uns die eigene Vergewisserung ersparen. Daß hier eine Meinung vorherrscht, in der Behinderte nicht gerade gut wegkommen, wird nicht nur existentiell hautnah erfahren; solches läßt sich auch mit soziologischen Daten belegen. Wenn überhaupt, kann der allgemeinen Minderbewertung behinderten Daseins mit Aufklärung begegnet werden. Das braucht einen sehr, sehr langen Atem. Manchmal scheint dieser Versuch schon gründlich gescheitert. Jahrzehntelange Bemühungen auf diesem Gebiet nehmen sich oft wie vergebliche Liebesmühe aus. Im Gegenteil, die Stürme der Abwertung leistungsgeminderten und "lebensunwerten" Lebens haben an Stärke zugenommen, auch wenn die Ausdrucksweise der Argumentationen für die Verhinderung oder vorzeitige Beendigung "fragwürdigen" Daseins in gemäßigtem Ton abläuft. Die Bio-"Ethik"-Debatte im Gefolge von Peter Singer und anderer Universitätsgrößen ist ein alarmierendes Indiz dafür. Man muß die Aktionen aufgebrachter Körperbehinderter nicht billigen, um ihre Wut zu verstehen. Der Behinderte wird so wenig ernst genommen, daß man ihn - wie geschehen - nicht einmal vor Gericht stellt, wenn einer von ihnen vor laufenden Kameras auf den Bundespräsidenten mit der Krücke einschlägt.

Ebensowenig wie es eine emotionsneutrale Haltung zum Behinderten gibt - entweder stellt man ihn bewundernd für die Meisterung seines "schweren Schicksals" auf ein "Heiligenpodest" oder es wird versucht, ihn als dauernden mitleiderregenden Stein des Anstoßes aus dem Wege zu räumen - läßt sich eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der "Euthanasie" des Dritten Reiches samt seiner Vor- und Nachgeschichte ausmachen, in dem mit Hilfe eines "schönen Todes" ein "unwürdiges" Leben würdevoll beendet werden soll. Vielleicht ist solch eine Auseinandersetzung auch gar nicht möglich.

Dazu bietet sich ihr Gegenstand, Tötung unwert erachteten humanen Daseins, als viel zu ambivalent dar. Auf der bewußteren Ebene verfällt diese in der verbal zum Ausdruck gebrachten Meinung auf breiter Front der Ablehnung; in den weniger bewußten Schichten jedoch erfreut sie sich offensichtlich so etwas wie "klammheimlicher" Sympathie. Sonst könnte die lebensfeindliche Bio-"Ethik", die potentiell das Dasein jedes Einzelnen bedroht, sobald er bestimmte Kriterien nicht mehr erfüllt, nicht so relativ unangefochten ihr gespenstisches Unwesen treiben. Geben wir das Prinzip der Unantastbarkeit auf, kann niemand mehr seines Daseins sicher sein. Von einem Augenblick zum anderen kann die Geschäftsordnung entfallen, welche die Unanfechtbarkeit unserer physischen und seelisch-geistigen Existenz garantiert.

Die vorzeitige Freigabe irgendeines Menschenlebens läßt sich niemals rechtfertigen. Dennoch sehen wir uns ständig mit ihr konfrontiert. Wie überhaupt eine angemessene Aufarbeitung dieses Themenkomplexes aussehen könnte, ist nicht einmal in Umrissen erkennbar, und noch viel weniger, wie sich der angerichtete Schaden wenigstens in Ansätzen wieder "gut machen" läßt, um wenigstens den Schuldenberg andeutungsweise abzutragen. Gestohlenes Leben ist nicht zu ersetzen. Gelänge solch eine Aufarbeitung wirklich, hätten wir es an seinem Ende mit einem ganz anderen Menschen zu tun, durch den die Welt radikal zur Friedfertigkeit verändert würde. Es will schwerfallen, dem Menschen solch einen Aufschwung humaner Verantwortung und solch eine Willensenergie für eine diesem Ziel angemessene Utopie samt ihrer Realisierung zuzutrauen. Solange uns das Bewußtsein dafür fehlt, daß wir uns im Anderen selbst unser eigenes Schicksal bereiten, bleibt alle Liebesmüh' vergeblich.

Es wird zuweilen beklagt, Einrichtungen für Behinderte seien am wenigsten zu der Aufarbeitung ihrer Unterlassungen zum Schutz der ihr Anvertrauten bereit. Wie aber sollten sie, werden sie doch an dieser Stelle am schmerzlichsten an der Kluft zwischen Anspruch und Praxis getroffen? Zudem: Heime, ganz gleich ob durch eugenische Tötungsdelikte vorbelastet oder nicht, sind Teil jener Inhumanität, aus der sich der Antrieb zur Euthanasie speist. Infolgedessen gilt es vielmehr, diese Orte weitgehend überflüssig zu machen. Eine Haltung, die dazu führt, Behinderte und andere randständige Menschen in besonderen Einrichtungen auszusondern, muß zwangsläufig immer wieder bei der Suche nach einer "endgültigen" Lösung landen.

Selbstverständlich sind Mitarbeiter einer Anstalt erst recht überfordert, wenn sie die dunkle Geschichte ihres Hauses in Punkto Euthanasie gegenüber ihren "Schützlingen" zur Sprache bringen sollen - obwohl sie vielleicht zum Zeitpunkt jener Geschehnisse nicht einmal geboren waren. Trotzdem drücken sie sich schon vor geringeren unangenehmen Wahrheiten (s. "KK 68" in Fredi Saal: "Leben kann man nur sich selber", Düsseldorf 1995). Sie stehen in der Tradition eines Selbstverständnisses ihrer Aufgabe, die keine Verunsicherung durch Zweifel am eigenen Tun duldet. Sicherlich spielt dabei das Syndrom der "hilflosen Helfer"(Schmidtbauer) keine geringe Rolle. Ihnen liegt zwar auch so etwas wie eine "soziale Utopie" zugrunde, aber diese begräbt den Einzelmenschen unter sich mit seiner Unaustauschbarkeit, seiner Vollwertigkeit - seiner ihm eigenen Würde. Alle Versuche der Aufklärung in den zurückliegenden Jahrzehnten konnten nicht bewirken, jedem Behinderten wie jedem anderen Menschen ein eigenes Gesicht zu geben. Wäre dies geschehen, man sähe sich außerstande, über seine Verhinderung oder gar Vernichtung nachzudenken. Sicherlich läßt sich so verstehen, wenn manche dieser Aufklärer das Gefühl nicht loswerden, mit ihren Bemühungen gescheitert zu sein. Zu niederschmetternd scheint das Ergebnis eines oft ganzen Lebenswerkes.

Danach ließe sich ein Plädoyer für das Verständnis des Anderen ableiten. Denn auch wenn ich durch andere mißachtet werde, geschieht das ja häufig nicht nur aus Mangel an "gutem Willen", sondern aus verstehbaren Motiven, wenn man ihren Hintergrund ausleuchtet. Die "Wahrheit" liegt darum oft im "zwischen uns"(Levinas). Es läge deshalb nahe, auch dem Anderen Gerechtigkeit in seiner "Ungerechtigkeit" widerfahren zu lassen. Dies wäre schon allein deswegen nicht falsch, weil alles, was mich betrifft, sich auch in dem mir gegenüberstehenden Mitmenschen widerspiegelt. Auch er kann nicht anders sein als er sich in der Welt vorfindet. Er muß sich annehmen, um andere annehmen zu können und um sich selbst nicht alle Lebensmöglichkeiten zu verbauen. Doch um zu dieser Sicht zu gelangen, ist es erforderlich, jene Sperren zu überwinden, die sich dadurch ergeben, daß wir oft nicht einverstanden mit uns selber sind und nicht selten lieber jemand anders sein möchten - eben, z. B. einer ohne diese oder jene Behinderung. Nun kann aber niemand anders sein, als der, der er ist, zu dem auch das gehört, was er als wenig schmeichelhaft an und in sich empfindet. Meine Behinderungen zählen unabdingbar dazu. Ich habe mich mit dem einzurichten, was ich als mir gegeben in mir vorfinde. Der Andere existiert unter den gleichen Vorgaben, und solange ich dies nicht voll und ganz respektiere, kann ich weder ihm noch mir selbst jemals gerecht werden.

Ich bin nicht der Andere, dessen physische, psychische und intellektuelle Ausstattung mir vielleicht besser gefällt. Das Individuum muß sich in seinem eigenen "Sosein" auf seine Weise einrichten. Dies jedoch heißt nicht, es solle z. B. seine Depressionen "beherrschen" lernen. Abgesehen davon, daß dies überhaupt nicht praktikabel ist - eine schwere Depression läßt sich nicht "beherrschen" - führt dies nur zu zusätzlichen Verkrampfungen. Man muß vielmehr mit seinen "Schwächen" leben anstatt vergeblich zu versuchen, sie auszumerzen. Es gilt, mit ihnen zu leben, wie mit allem, was zu einem gehört. Es bleibt aber auch gar nichts anderes übrig, als mich selber zu leben. Das ist nicht nur mein Recht, es ist auch meine Pflicht. Meine Grenzen beginnen allein dort, wo sie unerlaubterweise den Lebensraum eines anderen einengen. Meine Depressionen oder sonstigen Behinderungen lassen sich nicht aussperren. Ich muß sie in mein Dasein einpassen wie ein Möbelstück, das ich nicht veräußern oder wenigstens auf dem Dachboden abstellen kann. Ohne sie wäre meine Einrichtung außerdem einfach unvollständig. Etwas fehlte an meiner Individualität, wenn es sie nicht gäbe. Kurzum: Ich wäre nicht mehr ich selber. Dies bedeutet nicht einem wolkigen Idealismus das Wort zu reden, sondern es beruht auf einer Tatsache individueller Befindlichkeit, von deren Evidenz sich jeder überzeugen kann, der sich ohne Vorbehalte auf die eigene Existenz einläßt.

VIII Ich erscheine dem Anderen durch die Brille seines Mitleidens als Vorwurf.

Jeder steht auf seinem Fleckchen Dasein, und er kann nur von diesem Standpunkt aus berichten, wie er die Welt sieht - wie er sie aus seiner Sicht deutet. Jeder trägt so seinen Teil zur "Wahrheit" bei. Auch unter dieser Voraussetzung bleiben wir nur Suchende - und Irrende. Das sollte uns zur Zurückhaltung mahnen und uns Vorsicht lehren in unserem Bestreben, mit endgültigen Urteilen vorzupreschen, die in ihrer Stringenz den Anderen in seiner Autonomie vergewaltigen. So kann ich einen gegebenen Sachverhalt nur beschreiben, wie er sich aus meiner derzeitigen Sicht darstellt und muß darauf hören, was der Andere in seinem verwirrenden Plural aus seinem Blickwinkel dazu beiträgt. Vielleicht gelangen wir zu einem gemeinsamen Schluß; vielleicht aber müssen wir auch unsere Argumente nebeneinander stehen lassen - soweit wenigstens, wie sie den Anderen nicht an Seele, Leib und Leben gehen. Der Wert des Lebens - und in dieser Hinsicht läßt sich den Geringschätzern humanen individuellen Daseins mit nichts anderem als dem Wertbegriff beikommen - ist zu hoch, als daß man ihn auch nur dem geringsten Risiko einer verantwortungslosen Nichtachtung aussetzen dürfte. Unantastbarkeit des Lebens als oberster Wertbegriff ist durch nichts zu ersetzen. Hinter ihm birgt sich für unser Wissen das absolute Nichts. Ein toter Mensch bleibt tot, mögen wir ihn auch noch so sehr ins irdische Dasein zurückwünschen. Darum stimmt auch der Vorwurf des Autoritären nicht, der gegen die Gegner eines "selbstbestimmten Sterbens" gerne erhoben wird. Für einen vorzeitigen Tod durch die Hand anderer gibt es letztlich kein stichhaltiges Argument. Denn diese Handlung bleibt in alle Ewigkeit unkorrigierbar. An diesem Punkt ist wirklich nur konsequente Unbeugsamkeit und Offenhalten bis zum natürlichen Ende geboten. In dieser Hinsicht muß ich mich selbst binden, indem ich jede forcierende "Sterbehilfe" von außen ausschließe - auch wenn ich mir gegenüber untreu würde und meinem Leben von eigener Hand ein Ende bereitete. Es steht mir nicht zu, von einem anderen meinen vorzeitigen Tod zu verlangen. Darüber hinaus jedoch kann mir niemand das Recht nehmen, meinen Standpunkt durchzuhalten, bis mir neue Einsichten etwas anderes nahelegen und ich mit dieser Haltung nicht einem Anderen wissentlich vermeidbaren Schaden zufüge. Das beinhaltet keine penetrante Prinzipienreiterei, sondern es bedeutet einen Akt der Aufrichtigkeit gegenüber mir selbst.

Es wäre falsch, aus dem Bisherigen zu folgern, es solle versteckt eben doch einem verabsolutierten Selbstbestimmungsrecht das Wort geredet werden. Mitnichten. Eine solche Form der Selbstbehauptung läßt sich nämlich immer nur auf Kosten des Anderen durchsetzen und verhindert damit den um Verstehen bemühten Umgang miteinander. Wir blieben bei dem gängigen Ritual, in dem der Stärkere immer seine eigenen Interessen durchboxt und in dem ich als der "betrogene Betrüger" dastehe, wenn meine Einflußmöglichkeiten schwinden. Zudem kann ein verabsolutiertes Selbstbestimmungsrecht gar nicht anders, als sich dem Verdikt der Bio-"Ethik" zu beugen. Was sich nicht (mehr) ordnungsgemäß in das Ganze einfügt, muß ausgeschieden werden - sei es durch Abtreibung oder durch die Ermöglichung eines vorzeitigen "würdigen" Sterbens. Das, was hier gemeint ist, schließt im Gegenteil ausdrücklich jedes Selbstbestimungsrecht zu Lasten anderer aus; schon allein deshalb, weil das Unrecht am Anderen potentiell immer wieder auf mich zurückfällt, sobald meine Bäume aufhören, scheinbar in den Himmel zu wachsen. Gewiß, der Andere und ich - wir beide sehen uns unentrinnbar ineinander verwoben. Das ändert jedoch nichts daran, daß sich diese Vielfältigkeit im Miteinander des Daseins für mich auf der Bühne meines Inneren abspielt. Auf ihr bin und bleibe ich der Hauptakteur, die anderen "nur" die Mitwirkenden - wie in einer Theateraufführung. Versäume ich es, den nur mir zugedachten Einsatz zu spielen, helfen mir alle zugeflüsterten Stichworte nichts - ich befinde mich augenscheinlich in der falschen Rolle. Ich vermag nicht den Part des Anderen zu übernehmen - und er nicht den meinen.

Mir bleibt es verwehrt, eine andere Rolle als die meine auszufüllen. Nichts anderes gilt für das mir unterstellte Leid. Durch das ihm folgende, aber überhaupt nicht vollziehbare Mit-Leid mit mir stellt der Betrachter sich selber unter unerträglichen seelischen Druck und schafft damit möglicherweise tatsächliches Leid - mein eigenes. Es entsteht angesichts des Anderen, dessen individuelle Gegebenheit er nicht ändern kann und auch nicht ändern wollen darf.

Wer sich nicht daran hält, landet rasch bei dem von Klaus Dörner so anschaulich beschriebenen "tödlichen Mitleid". Die Identifizierung durch Mitleid des Anderen mit mir und meiner Behinderung muß schon allein deshalb schiefgehen, weil er überhaupt nicht auf sie eingerichtet und deshalb durch sie rettungslos überfordert ist. In seiner Vorstellung muß Behinderung zu einem Horrorbild werden, denn es fehlt ihm jegliche Erfahrung mit ihr. Er wurde nie und nimmer dafür geschaffen, sich in meiner Existenz einzurichten. In ihr zu wohnen bleibt ihm lebenslang versagt, nicht anders wie es ihm nie vergönnt sein wird, in die Haut eines noch so geliebten Menschen zu schlüpfen. Wir stehen immer vor der Tür, die uns keinen Einlaß gewährt. Versuchte es jemand dennoch, sie aufzustoßen, müßte er unweigerlich Schiffbruch erleiden. Damit fühlt er sich im Falle einer Behinderung nur noch hilfloser. Ich werde für ihn sozusagen ein dauernder Stein des Anstoßes. Er muß sich an meiner Person blutig reiben. Dies hat zur Folge, daß er alles daran setzt, sich meiner zu entledigen, mich also dauerhaft zu "entsorgen". Ihm bleibt auch gar nichts anderes übrig, solange ich ihm durch die Brille seines Mitleidens als wandelnder Vorwurf erscheine. Sein Mitleid nützt mir nichts; ihm aber schafft es lebenslanges Leid, von dem er sich zu befreien trachtet.

Dieser Fluchtimpuls vor dem "schweren Schicksal" eines Mitmenschen - als sei dieser von einer schweren ansteckenden Krankheit befallen - droht jeden einzelnen zu seinem Opfer zu machen - spätestens im Alter. Im Grunde weiß das jeder. Es ist nicht zu begreifen, wie dieses Wissen trotzdem ignoriert wird. Um das zu belegen, braucht man nur viele unserer Pflegeeinrichtungen für alte Menschen zu betrachten. Da werden vom Staat z. B. Häuser genehmigt, die jeder Humanität spotten. Sie sind billiger als andere Heime und da sie als private Unternehmungen firmieren, müssen sie auch noch Gewinne machen. Schon der architektonische Grundriß eines solchen Baues ist so angelegt, daß man alle Bewohner einer Station immer gleichzeitig im Auge hat. Unwillkürlich drängt sich der Eindruck einer Legebatterie für Hühner auf. Da sitzen dann in einem großen Raum an die dreißig alte Leute und starren stumpf vor sich hin. Es fällt schwer, an Menschen zu denken bei dem, was man vor sich sieht. Auf den schnurgeraden schmalen Fluren sind Sitzgelegenheiten gar nicht erst vorgesehen, ebensowenig wie in den Zimmern. Nur daß es nicht mehr wie früher Schlafsäle gibt. Zuvor landete das bisherige Leben mit der Auflösung des Haushaltes buchstäblich auf dem Sperrmüll. Dort liegen die Gegenstände als stumme Zeugen achtlos weggeworfenen Daseins von vielen Jahrzehnten. Kein Wunder, wenn unter diesen Bedingungen solch ein alter Mensch um so schneller verfällt.

Dieser Exkurs zeigt deutlich, daß es überhaupt nicht des "Sonderproblems" der Behinderung in allen Lebensaltern bedarf, um unsere Verwobenheit mit dem Ergehen des Anderen kenntlich zu machen. Wir befinden uns damit wieder hautnah bei unserem Thema - dem Umgang mit dem Anderen und seine Rückwirkung auf uns selber. Aus ihm entspringt zwangsläufig die lebensverachtende Konsequenz, wie sie sich aus dem Weltbild der Bio-"Ethik" ergibt, und für deren Lösung sie sich dann selber als rettenden Ausweg anpreist - die Verhinderung oder Eliminierung "lebensunwürdigern" Lebens. Wie alte Häuser läßt man die "Unbrauchbaren" körperlich, geistig, seelisch verfallen, um dann um so kräftiger "Skandal!" zu schreien und deshalb in mitleidsvoller Pose "Erlösung" anzumahnen. Ist dies unsere grundgesetzlich garantierte Menschenwürde? Eigentlich weiß jeder, daß ihm ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schicksal wie das der unter erbärmlichen Umständen abgeschobenen alt und "unbrauchbar" gewordenen Menschen ins Haus steht. Wir hätten also allen Anlaß, schon aus purem Eigennutz konsequent praktizierte Menschenwürde als nicht zu überschätzendes Gut zu pflegen. Woher kommt diese ganz und gar unbegreifliche Verblendung, die uns nicht einmal das eigene Interesse sehen läßt? Denn darum handelt es sich, konsequent pragmatisch betrachtet.

Was hier scheinbar so sehr nach vulgärem Materialismus klingt, geboren aus extrem berechnender Ichbezogenheit, bringt nichts Geringeres zur Sprache als die existentielle Bedingung meiner in sich gerundeten, also befriedeten Seinsmöglichkeit, die ich mir im Umgang mit dem Anderen selbst bereite. Sie bildet den Kern dessen, aus dem ich mein Dasein bestreite - der mir auch dann noch bleibt, wenn alle gesellschaftliche Reputation unter dem Schutt materieller, körperlicher, geistiger Verelendung begraben liegt, und zwar nicht nur unter dem Blick des Anderen, sondern gerade auch unter meinem eigenen. Nur wenn ich diesen unzerstörbaren Kern im Andern erkenne, anerkenne und als unveräußerliches Gut respektiere, kann ich mich auch selbst nicht verlieren. Es handelt sich um jenes gewisse "Mehr" existentieller Gegebenheit, das mich zu dem macht, was ich bin. Halte ich mich daran, kann ich mich nie ganz verlieren. Für dieses "Mehr" fehlt mir einfach jedes Gespür, zeige ich mich unfähig, dieses beim Anderen auch nur, zu vermuten. Ich degradiere mich zu bloß funktionierendem Dasein, das man unter diesem Gesichtspunkt zu recht als unbrauchbar verwirft, läßt er keinen Nutzen mehr erkennen. So etwas wird ja ganz offensichtlich mit den Einrichtungen praktiziert, in denen wir den "Menschenmüll" entsorgen. Dabei ist dies nur die Spitze eines Eisberges, der sich in uneinsehbaren Tiefen aus tausendfachen Verstümmelungen und Selbstverstümmelungen speist. Wer einen Anderen nicht achtet, kann sich auch selbst nicht achten, fällt er in eine jener vielen Gruben, die das Schicksal irgendwann einmal auch für ihn bereithält.

Wem das Gespür für die eigene Würde abgeht, die ihm aus sich selbst zukommt, jenseits allen Ansehens beim Anderen, der vermag sie beim unscheinbar wirkenden Nächsten noch weniger zu erkennen. Die Erfahrung vom Wert der eigenen Existenz, jenem "Mehr", das sich selbstbewußt über jede bloße Daseinsfristung erhebt, will sorgsam gepflegt werden, sonst verdorrt es und rächt sich auf die Dauer mit tödlich wirkenden Anfällen unabweisbaren Minderwertigkeitsgefühls, bleiben die allgemein anerkannten und bewunderten Erfolge aus. Suche ich die Grundlage meiner Würde von der Geltung bei der Umwelt abhängig zu machen, erlebe ich zwangsläufig jeden Einbruch auf meiner Ansehensskala im Blick des Anderen auf mich als lebensbedrohliche Katastrophe. Wie kann ich erwarten, bei mir etwas ohne Minderwertigkeitsgefühle akzeptieren zu können, das ich schon immer beim Blick auf den Anderen als entwürdigend empfand? Was ich bisher als die Substanz meiner Würde ansah, speiste sich aus dem, was mir die Umwelt an Bedeutung zumaß. Entzieht sie mir diese Zuteilung, stehe ich ohne eigenes "Kapital" da. Es gibt nichts mehr aus dem ich sinnvoll weiterzuleben vermag.

IX Es gibt nur eine Würde des Menschen

Es gibt nur eine Würde des Menschen, dafür jedoch unzählige Gelegenheiten, sie unwürdigen Bedingungen auszusetzen.

Es gilt noch einmal darauf hinzuweisen, daß Selbstbestimmung nicht mit puren Egoismus gleichzusetzen ist, sondern sie ist als die ihrer selbst gewissen Autonomie anzuerkennen, die aus souveränem Selbstbewußtsein jedem Anderen das gleiche Recht auf unantastbares Eigensein läßt. Anders wäre eine entspannte Beziehung zum Mitmenschen überhaupt nicht zu verwirklichen. Verharre ich in der Haltung des Egoismus, kann es gar nicht ausbleiben, daß sich der meine an dem des Anderen bricht - und umgekehrt. Auf die Dauer wäre dabei für niemanden etwas gewonnen. Eine derartige Selbstbestimmung trägt bereits den Keim des Scheiterns in sich. Soll sie zu einem lebendigen Austausch führen, bedarf sie der Freiheit, die mir und dem Anderen Raum zum Atmen läßt. Erst auf dem Boden einer solchen inneren Unabhängigkeit findet unsere Würde die Bedingungen, unter denen allein sie wachsen und sich entfalten kann. Das Scheitern aller humanitären Ideale seit der Französischen Revolution, läßt sich sicherlich auch damit erklären, daß sie sich nicht von außen verordnen lassen, sondern jeweils im existentiellen Vollzug individuellen Daseins ergriffen werden müssen, und zwar im vollen Umfang. Daher darf man auch in der Würde nicht etwas sehen, das Fragment bleiben muß, weil es im Dasein des Menschen nie zur positiven Deckung im Sinne einer totalen Einheit mit sich und anderem gelangt. Zu meiner Würde gehört alles, was ich bin - auch meine Brüche und Widersprüche. Solange ich nicht auch zu meinen Nachtseiten stehe, erhalte ich überhaupt keine Chance, mit mir und in der Beziehung zum Anderen ein hinlänglich ausgewogenes Miteinander zu erreichen, das jeden eine eigene Einheit sein läßt, ohne irgendeinen Vergewaltigungsversuch. Eine gesellschaftlich verordnete Brüderlichkeit wird durch diesen Fakt einer nur souveränen Entscheidung des Einzelnen immer wieder in ihre Schranken verwiesen.

Meine Würde ist immer dann absolut, wenn ich in ihr - bei aller nicht zu leugnenden Unzulänglichkeit ihrer substantiellen Ausstattung - als zu der mir allein zugesprochenen Daseinsmöglichkeit stehe. Eine andere als die an meine Existenz gebundene läßt sich nicht vorstellen. Denn abgesehen davon, daß sich aus den vielen in sich ruhenden Einzelnen ein in sich befriedeter Gesamtkörper des Gesellschaftlichen zusammensetzt, kann es für mich Würde immer nur individuell geben. So etwas wie "Gesamtwürde" steht im Widerspruch dazu. Das ist wie das mysteriöse "Gesamtvolumen des Glücks", das ein Peter Singer mit seiner "Praktischen Ethik" installieren will. Auch Glück läßt sich nur individuell erfahren. Das übervolle Glückskonto des einen, falls er dabei überhaupt auf Dauer seines Lebens wirklich froh werden kann, bringt keinen Ausgleich für den leer Ausgegangen. Dieses "Gesamtvolumen" ist niemals imstande, wie ein warmer Frühjahrsregen als pures Gold aus dem Füllhorn des Schicksals auf das Insgesamt der z. Zt. präsenten Menschenwelt mit all ihren unterschiedlichen Gruppierungen niederzugehen, um sich dort nach dem Motto "je größer die Gesamtsumme, desto größer der Anteil des Einzelnen" in einem "Pro-Kopf-Einkommen" auszuzahlen. Nach dieser Rechnung würde dann jedes Glück eines ausfallenden "Anteilseigners" dem Gesamtkapital an Glückserfahrung zugeschlagen. Klingt das nicht reichlich abstrus? Dadurch, daß einige "Unglückliche" weniger am Dasein teilnehmen, vergrößert sich nicht das Glück der anderen. Im Gegenteil - sie sehen sich verunsichert, weil sie fürchten müssen, im Falle einer Änderung ihrer Situation selbst durch einen "würdigen" Tod von ihrem "Unglück" "befreit" zu werden.

Nein, die Würde einer Existenz schließt ihre volle, der Person innewohnende Brüchigkeit in sich ein. Durch sie ist sie in sich ein Ganzes. Natürlich, bleibe ich mein Leben lang Fragment. Aber dies bedeutet zugleich, daß dieses zur Totalität meines Soseins gehört, auf das sich meine persönliche Würde gründet. Auch als Fragment bin ich das in sich Gerundete. Ob dies im Angesicht eines möglichen Absoluten einmal Bestand haben wird, darüber zu spekulieren scheint müßig - ja gefährlich, weil es mich möglicherweise daran hindert, mein Hier und Jetzt mit den ihm eigenen Potentialen auszukosten. Ich soll mein aktuelles Dasein führen - ein anderes steht mir nicht zur Verfügung. Es ist zu führen, als gäbe es nichts darüber hinaus. Meine Würde besteht in allem was ich bin und dem, was ich aus meinem Dasein mache, solange ich damit nicht in unzulässiger Weise in die Integrität des Anderen eingreife. Auch in Leid und Verlassenheit kann diese Würde nicht verloren gehen. Sie bleibt gewahrt als Kern dessen, was mich als uneinholbares Individuum von allen anderen Menschen grundlegend unterscheidet, mich also in meiner Einmaligkeit unangreifbar machte, verlöre ich nicht dauernd die Stärke dieser Einsicht aus Auge und Bewußtsein.

Es fehlt oft die Fähigkeit, die Tiefendimensionen dieser Zusammenhänge zu sehen. Würde gerät dann rasch zu einem gesellschaftlichen Statussymbol, das fortfällt, sobald die Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen. Würde wird dann leicht zu einem Argument umgeschmiedet, mit dem sich trefflich jonglieren läßt, wenn es um den Lebenswert unangepaßter Menschen geht. Darum das erstaunte Augenreiben, ausgerechnet bei der Lektüre von Denkern nationalsozialistischer Anschauung wie Carl Schmitt auf die Verteidigung der Würde zu stoßen, weiß man von ihnen doch, daß sie eugenisches Eingreifen nicht gerade als verwerfliche Untat betrachten. Wenn gerade sie vehement für die Würde des Menschen eintreten, scheint erhöhtes Mißtrauen angebracht, zumal wenn damit gleichzeitig ein "Terror der Werte" (Schmitt) abgewehrt werden soll. Und in der Tat wird man den Verdacht nicht los, hier handle es sich eigentlich um etwas ganz anderes als um die ehrenwerte Verteidigung hehrer humanitärer Ziele. Jedenfalls scheint eine andere Vermutung nicht ganz abwegig: Hier wird die Würde instrumentalisiert, um an ihr die "Würdelosigkeit" bestimmter Menschen zu demonstrieren, deren "würdeloses" Leben es als "humanen" Akt durch einen "würdigen Tod" zu beendigen gilt. Diese Mißdeutung wahrer Würde erhält auf diese Weise dann sogar noch den Glanz tiefempfundener Mitmenschlichkeit. Der Mörder als Wohltäter. Das kann doch nicht sein. Es gibt nur eine Würde des Menschen, dafür jedoch unzählige Gelegenheiten, sie unwürdigen Bedingungen auszusetzen. Diese gilt es zu beseitigen - nicht das in sich stimmige Individuum. Seine Würde ist unteilbar. Sie ist immer an ein unaustauschbares Wesen - wie mich selbst gebunden. Es fällt dagegen schwer, sich Vergleichbares von einem sozialen Zusammenschluß vorzustellen. Würde verlangt nach der Geschlossenheit individueller Existenz. Deshalb erübrigt sich wohl auch von selbst die Frage, ob es sich bei der Bedeutung - einer gleichrangigen Schwester der Würde - um ein qualitatives oder um ein quantitatives Moment handelt. Da mir nur meine unabsprechbare Würde Bedeutung verleiht, entfallen alle quantitativen Aussagen von vornherein - ganz besonders auch im Vergleich mit dem Anderen. Das Volumen von Bedeutung und Würde bleibt konstant. Es geht stets um die nicht bewertbare Identität eines bestimmten Menschen eines konkreten Selbst - also letzten Endes um mich allein.

Die mir genuin zugehörende Würde umfaßt damit aber auch ganz selbstverständlich meine durch mich gelebte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gegenüber mir selbst ebenso wie gegenüber dem Anderen in all seinen Erscheinungen. Kein persönliches Attribut disqualifiziert den Menschen, soweit er es nicht zum Schaden anderer einsetzt. Auch Einschränkungen körperlicher, geistiger, seelischer Beweglichkeit nicht. Sie gehören zu ihm. Ohne sie müßte er als in sich selbst amputiert erscheinen. In ihnen manifestiert sich die Eigenart eines bestimmten Menschen, der sich gerade durch dieses Sosein auszeichnet. Mit ihnen rundet sich alles in ihm zu einem geschlossenen Ganzen. Wir hätten es mit einem anderen als ihm selbst zu tun, träte er uns nicht in dieser Gestalt gegenüber. Die Monade des Gottfried Leibniz bietet dafür ein anschauliches Bild. Sie bildet einen in sich ruhenden Körper, der sich in einzigartiger Weise von jedem anderen Dasein abhebt. Man wagt es kaum, dieses Bild noch zu gebrauchen. Zu sehr muß man des Vorwurfs überzogener unsozialer Neigung zur Vereinzelung gewärtig sein. Darum, welche Überraschung, es unbefangen bei Emamnuel Levinas in der Erörterung über "Die Zeit und der Andere" in die Debatte geworfen zu finden. Im Fortgang dieser Lektüre drängt sich der Begriff der "prästablierten Harmonie" beinah von selbst wieder auf. Monaden sind die in sich, abgeschlossenen Individualitäten, die über die "prästablierte Harmonie" auf ihren Bahnen kreisen, ohne miteinander zu kollodieren. "Prästablierte Harmonie" bedeutet alles andere als ein statisches Modell; sie repräsentiert vielmehr ein dynamisches Prinzip, das die Möglichkeit zum freien Miteinander für jeden weit offen läßt. Die Autonomie des Individuums erhält damit in einem anschaulichen Bild seine schöne Begründung.

Dann allerdings trifft es den Leser auf dem Gegenpol umso befremdender, wenn Levinas daraus ein An-sich-selbst-gekettet-sein herausliest. Vermittelt er zuvor im Bild der Monade den Eindruck des In-sich-ruhens und des In-sich-geschlossen-seins, läßt er nun an einen wütenden Hofhund denken, der besinnungslos an seiner Leine reißt. Wäre dies eine zutreffende Charakterisierung, dann hätten doch jene tausendmal und noch viel mehr recht, die mich wegen meiner Behinderung bemitleiden und mich um jeden Preis von ihr befreien möchten - und sei es um den meines vorzeitigen Todes. Ich könnte gar nicht anders, als empört die Ungerechtigkeit meines Schicksals in die Welt hinauszuschreien. Niemals käme ich auf den Gedanken, in Verbindung mit meinem Ergehen von Würde zu sprechen. Unternähme dies ein anderer - ich müßte ihn des unerträglichen Zynismus zeihen. Das Dasein geriete mir zu einer bald nicht mehr verkraftbaren Qual. Dann wäre tatsächlich Euthanasie das Gebot wahrhaft humanitärer Haltung.

Nein, ich bin nicht an mich gekettet. Ich bin "richtig" in meinem Sosein. So bin ich "bei meinem Namen gerufen". Solange ich es anders empfinde, kann ich nur mein Dasein verfluchen. Zumindest müßte ich ein anderer sein wollen als ich es bin. Abgesehen davon, daß dies überhaupt nicht im Bereich des Realisierbaren liegt; wieviel Rollen will ich denn in meinem doch recht kurzen Leben durchspielen, bis ich den mir passenden Part gefunden habe? In Wirklichkeit verfüge ich nur über einen einzigen. Er wurde mir von Anfang an gegeben - auch mit einer schweren spastischen Lähmung. Mit ihm bilde ich in mir eine Einheit, finde mich in meinem Sosein als mir gegeben vor. Aus dieser Einheit wächst die Würde, die meinem Dasein Sinn, Bedeutung und Wert gibt. Dies kann natürlich durch den Anderen in Frage gestellt werden, indem er sich weigert, meine Würde anzuerkennen. Er bringt mich dadurch in dauernde Verunsicherung und läßt mich oft genug selbst an meinem Einssein mit mir zweifeln. Gebe ich dem nach, bin ich für ein eigenes Leben rettungslos verloren.

Was sich in unserer Beschreibung als so überaus dramatisch darstellt - Beschuldigung des Anderen, Übeltäter und als solcher Anlaß unserer Schwierigkeiten in und mit der Welt um uns zu sein - relativiert sich rasch, wenn wir daran denken, daß wir alle miteinander ein Anderer des Anderen sind. Als Andere können wir uns - wenigstens in kostbaren Augenblicken des Überschwangs - das höchste Glück bedeuten, aber auch - und das viel weniger selten - als furchterregende Bedrohung - zumindest dann, wenn es darum geht, in der Rivalität mit dem Anderen einen festen Platz im Leben zu finden und vor allen Anderen zu behaupten. Diese Bedrohung beginnt schon dort, wo es darum geht, auf unseren festgefügten (Vor-)Urteilen zu verharren, um nicht in Gefahr zu geraten, mit unserer Sicht der Dinge und Verhältnisse ins "Rutschen" zu kommen. Der Andere - z. B. durch seine provozierend ungewohnte Erscheinung oder durch eigenwillige, vom Üblichen abweichende Ansichten stigmatisiert - bereitet uns peinigendes Unbehagen, wenn nicht gar ausgesprochene Angst, die wir uns aber nicht einzugestehen wagen.

Allerdings braucht der Andere dazu nicht einmal uns durch seine Auffälligkeit zu provozieren. Es genügt schon, daß wir ihn generell als undurchschaubar erleben. Aber während sich dies im Laufe des Kennenlernens mit großer Wahrscheinlichkeit überwinden läßt, kommt es im Falle von Behinderungen beim Anderen gar nicht erst zu der Bereitschaft, ihn wirklich kennenzulernen. Weil wir ihn in seiner Eigenart nicht angemessen einschätzen können - er uns ebenso "ungeheuerlich" wie fremd anmutet - wird er für uns zum ganz und gar "unsicheren Kandidaten". So entwickelt sich in uns ein vitales Bestreben, uns gegenüber diesen beunruhigenden Mitmenschen in jeder Hinsicht vorbeugend abzusichern. Wir wissen nicht, womit wir uns bei ihm einlassen; darum riskieren wir es erst gar nicht, näheren Kontakt mit ihm aufzunehmen. Das Ergebnis sehen wir - wenn auch, wie schon gesagt, in meist abgeschwächter Form, nicht nur im Falle des Stigmatisierten - in den Schwierigkeiten des täglichen Umgangs miteinander. Unsere Unsicherheit angesichts des Anderen, der sich nicht als berechenbare Größe in unser Weltbild einordnen läßt, bringt uns wieder und wieder in ein verkrampftes Verhältnis zueinander, das eigentlich keinen selbstverständlichen Umgang und zwanglosen Austausch von Mensch zu Mensch erlaubt. Stets heißt es auf der Hut zu sein vor möglichen Übergriffen.

Aber jeder Mensch ist für sich und den anderen ein unauslotbares "Geheimnis". Es gilt dieses "Geheimnis" des Anderen ebenso zu achten wie das meine. Durch dieses "Geheimnis" bin ich mehr, als was sich rational von mir aussagen läßt. Der Andere verliert seinen Schrecken für mich, wenn ich aus dieser Haltung an ihn herantrete - und ich brauche meinerseits keinen Schrecken zu verbreiten unter jenen, denen gegenüber ich mir überlegen vorkomme, weil ihnen in meinen Augen keine Geltung zukommt; auf die ich herabsehen und bei denen ich mich berechtigt fühle, ungehemmt meine Frustrationen abzuladen. Ich muß dem Anderen kein angebliches Wissen bezüglich seiner Individualität überstülpen, um ihn in einer Schublade einordnen zu können. Aus der Sicherheit des "Wissens" um die bergende Kraft meines "Geheimnisses" vermag ich ihm das seine zu lassen, in dem mir seine Würde als Grundstein seines Daseins aufscheint. Die Respektierung dieses "Geheimnisses" verbietet ein gewaltsames Eindringen in die Integrität des Anderen eigentlich von selbst - jedes Verfügen über den Mitmenschen und seine Geschicke aus vermeintlich besserer Einsicht kommt einer Vergewaltigung gleich. Die Würde stellt ebenso wie die Bedeutung des Individuums eine Konstante menschlicher Existenz dar, mag sie nun von anderen zugebilligt werden oder nicht. In diesem Sinne kann sie auch nicht zerstört, sondern nur mißachtet werden. Es steht nicht im Belieben des Anderen zu entscheiden, ob mir Würde und Bedeutung zukommt oder nicht. Ich besitze sie kraft meines Daseins! Sie sind einfach da, so wie ich als ihr Träger da bin. Man kann sie nur beseitigen, indem man das Subjekt von Würde und genuiner Bedeutung endgültig beseitigt. Mit dem grundgesetzlichen Schutz der Würde geht somit die Unantastbarkeit des Lebens als ihrem einzigen Ort ihrer Verwirklichung einher. Doch welchen Bio-"Ethiker" wird das überzeugen? Daher sein Insistieren auf der Würde. Da sie in ihren Augen nicht jedem zukommt, erheben sie Anspruch auf die Legitimation "unwürdiges" Dasein "würdig" zu beenden.

Dies ist die notwendige Konsequenz, wenn ich mich dem Urteil des Mitmenschen unterwerfe, der oft in sich selber unsicher ist. Dieser kann gar nicht anders, als mit mir nach seinen sprunghaften Überzeugungen umzuspringen, die ihm heute dieses und morgen jenes zur "Wahrheit" werden lassen. Es kann zu spät sein, wenn ich darauf warte, bis er vielleicht aus eigener Erfahrung zu der Einsicht gelangt, daß die Unantastbarkeit des Lebens unteilbar ist und somit meine genuine Bedeutung wieder zum Tragen kommt. Ich mache ihn damit letzten Endes zu jemandem, der über Leben und Tod entscheidet. Da hilft mir kein "nacktes Gesicht", von dem Emmanuel Levinas spricht mit dem Appell: Du wirst mich nicht töten. Wir schlagen trotzdem tagtäglich auf diese vertrauenheischenden Gesichter ein. Die unzählig trostlosen Beispiele aus Geschichte und Gegenwart brauchen gar nicht erst angeführt zu werden. Scheinbar bietet auch Levinas mit der Einführung des "alter ego" eine Lösung für die positive wie negative Bedeutungszuweisung durch den Anderen an: Der Andere als Widerspiegelung meines Ichs. Finde ich mich im Anderen wieder, so stelle ich potentiell immer mein eigenes Dasein in Frage, sobald ich den Anderen zur Disposition freigebe. Denn auch ein flüchtiger Blick auf die real existierende Lebenswelt sollte mir bewußt machen, wie rasch sich das Schicksalsblatt von jedem zu wenden vermag. Es gehört schon ein ziemliches Maß an Sorglosigkeit dazu, davon auszugehen, ungeschoren für alle Zeiten meinen erlangten Status im Dasein zu halten.

Bei Wahrung des "Geheimnisses", in dem jedes Menschenwesen steht, das "existiert" - in Sinne von: aus der bloßen Daseinsfristung herausragen - das also "transzendiert", indem es sich selbst übersteigt, umgeben von der schätzenden Aura des Eigenseins, wäre das "alter ego" tatsächlich so etwas wie das non plus ultra des Umgangs der Menschen miteinander. Nur wird eben der Andere in der Regel nicht als ein "alter ego" gesehen, dem es sich nur behutsam zu nähern gilt, um ihn nicht seiner eigenen Sphäre zu entkleiden und ihm mein eigenes Bild überzustülpen, das er meiner Ansicht nach repräsentieren sollte. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit dem Mitleid. Es wird als eine der edelsten Tugenden des Menschen angesehen. Mit Recht? Nur in wenigen Ausnahmefällen. Es ist nämlich überhaupt nicht zu "leisten", weil ich nicht in der Haut des Anderen stecke und so sein "Leiden" in mir immer nur als mein "Leiden" im Blick auf den Anderen erfahre. Da mir also eine solche Gefühlsregung nur in meiner Vorstellung, im Vor-Urteil möglich ist, die auch nicht einmal annähernd in den existentiellen Bereich des Anderen in seiner Konkretheit reicht, bin ich immer in Gefahr, den Anderen mit meinem möglicherweise voreiligen Mitleid zu vergewaltigen.

Da ich an seiner Stelle unter seinem Zustand unendlich leiden würde, meine ich, er könne auch selber nur im Leid versinken, mag er noch so sehr das Gegenteil beteuern. Was für mich gilt, soll auch für den Anderen gelten. Ich mißachte die Integrität seines individuellen Soseins, wünsche einen anderen an seiner statt; und da dies nicht zu bewerkstelligen ist, gehe ich daran, ihn von seinem "Leid" zu "erlösen" - notfalls mit der Auslöschung seiner ganzen Existenz. Durch mein ebenso unvollziehbares wie auch vielfach unangebrachtes Mitleid erzeuge ich bei mir selbst schwer erträgliches Leid; denn das von mir unterstellte Übel läßt sich ja durch mich nur selten beheben. Daß es sich hier um die mögliche Vorwegnahme des eigenen Schicksals handelt - zumindest im unausweichlichen Alter mit all seinen Gebrechen und Ausfällen - wird auf sträfliche Weise ignoriert. Daraus ergibt sich beinah von selbst: Die Argumentation mit dem "alter ego" stellt sich als eine äußerst zweischneidige Angelegenheit heraus. Auf der einen Seite vermag sie bei Gutwilligen die uneingeschränkte Achtung vor jedem Mitmenschen zu begründen; auf der anderen eröfffnet sie aber auch seiner Vergewaltigung bis hin zur Vernichtung seines Daseins Tor und Tür.

Im Respekt vor der Eigenständigkeit des Anderen steht es mir offen, unbefangen auf diesen zuzugehen, mich ihm in absichtsloser Neugier zu nähern, ihm mein Interesse zu zeigen. Im "Mich-Angehen", von dem Emanuell Levinas spricht, bin ich mit dem Anderen unaufhebbar verwoben. Das geschieht einmal unter dem Zeichen des Geheimnisses, das es mir verbietet, dem Anderen in plumper Weise zu nahe zu treten; zum anderen unter dem des gefährlich ambivalenten "alter ego", unter dessen Einfluß ich rasch in Versuchung gerate, das Gegenüber in die Netze eigener Vorstellungen zu bannen, Aber - um im Bilde zu bleiben: Ich kann mein Dasein in seiner unauslotbaren Tiefe mit seinen weitgehend nur mir zugänglichen Quellen lediglich ausschöpfen, wenn ich bereit bin, dieses ebenso jedem anderen zuzubilligen. Aber das Gleiche gilt auch dem Anderen. Wir haben uns gegenseitig in unserem individuellen Sein zu achten, sonst kann niemand mehr aus Angst vor dem Anderen ruhig schlafen. Ich darf es mir dann nicht erlauben, krank, alt, gebrechlich, hinfällig zu werden. Mit der Mißachtung des nicht "genormten" Menschen überantworte ich mich selbst dem Schrotthaufen der Untauglichkeit, falls ich den Ansprüchen der "normalen" Welt nicht mehr genüge, ja noch schlimmer: Mit diesen Maßstäben kann ich mich selber nicht mehr ausstehen, sobald es auch mich "erwischt". Dies bedeutet nicht, daß wir um unser "Geheimnis" in voller Klarheit - sozusagen mit exakten Daten - wissen, sondern nur, daß wir unerklärbar aus ihm leben. Leuchtet hier nicht hell die "prästablierte Harmonie" von Leibniz wieder auf, die für die Ausbalancierung des Insgesamt der individuellen "Geheimnissen" sorgt? Wir brauchen viel weniger "tun", wenn wir einander "sein lassen". Eigentlich sollte uns gar nichts anderes übrig bleiben. Denn der Wert des Lebens ist viel zu hoch, als daß man ihn leichtfertig dem Risiko von Manipulationen aussetzen dürfte. Nur das Leben des Anderen sichert mir das meine.

Dem gefährlichen Begleiter eines mißverstandenen "alter ego" begegnen wir im Anspruch des Anderen - mit dem ihm von mir zugestandenen Recht dazu - mir eine Bedeutung zuzugestehen oder sie mir nach Belieben zu versagen. Ich muß sie mir dann auch noch durch den Nachweis meines "Gebrauchtwerdens" immer wieder neu legitimieren lassen. Nichts anderes beinhaltet z. B. die Aussage, Arbeit gäbe einem Menschen Bedeutung. Darum müßte selbst der Schwächste zumindest noch die Werkstatt für Behinderte aufsuchen - ganz gleich, ob sich dies wirtschaftlich auszahlt oder nicht. Allein Arbeit - und sei sie auch nur nominell - verleiht aus dieser Sicht dem Menschen Adel und damit Bedeutung für andere. Sonst fällt er der Bedeutungslosigkeit anheim, wird sich und den anderen eine unerträglich Last. - Wenn dies keine Einladung zur rational begründeten Euthanasie bedeutet! Von daher wird es noch unverständlicher, wieso man sich freiwillig in die "Geiselhaft des Anderen" (Levinas) begeben kann. Bedeutung läßt sich mir doch nur zusprechen, weil ich in mir kraft meines Daseins bereits über eigene von anderen losgelöste Bedeutung verfüge - unabhängig davon, welche gesellschaftlich erwarteten Werte von mir realisiert werden. Ökonomisch ist ja sowieso irrelevant, mit welchem Aufwand ich in Stunden das vollbringe, was ein anderer in Sekundenschnelle erledigt.

Auch Levinas belegt in seiner Erörterung der Anderen die Arbeit mit einem bedeutungsschweren Imperativ. Wieso er dahin gelangt, wird nicht klar ersichtlich, zumal er im gleichen Atemzuge in diesem Zusammenhang selbst von Mühe, Anstrengung und Schmerz spricht. Dort, wo so mancher von uns herkommt - dem "Kleine-Leute-Milieu" - bedeutet Arbeit nichts als eine weitere Verschärfung von Mühe, Anstrengung und Schmerz. Sie träumen davon, mit Hilfe eines Lottogewinns nicht mehr arbeiten zu müssen. Ja gewiß, im Alltag schuften sie wie die Wilden, reißen sich um jede Überstunde. Aber nicht, weil sie in ihrer Aufgabe aufgehen und von dort ihr Selbstverständnis beziehen, sondern um möglichst viel Geld zu verdienen, damit sie eines Tages endlich "richtig" leben können. Sie nehmen sich für nichts anderes Zeit, und wenn sie dann zur Ruhe kommen, sind sie so ausgebrannt, daß ihnen auch die ansehnlichste Rente kaum noch etwas nützt. Das Schicksal vieler alter, nicht mehr berufstätiger Mitbürger ist ein erschreckender Beleg dafür.

Die meisten Menschen bekommen von Anfang an überhaupt kein anderes Marschgepäck mit, als das Bewußtsein, nur in der beruflichen Arbeit einen Lebenssinn und eine eigene Bedeutung zu gewinnen. Dieses System funktioniert so gut, daß sich selbst ein ohne eigenes Verschulden in die Arbeitslosigkeit Entlassener schämt, Leistungen aus der Versicherung in Anspruch zu nehmen, in die er doch zuvor wie jeder Arbeitnehmer seine Beiträge einzahlte. Bei keinem anderen Zweig der Assekuranz wäre so etwas auch nur im Entferntesten denkbar. Jeder sieht es als selbstverständlich an, im Falle eines versicherten Schadens Anspruch auf die vereinbarte Summe zu besitzen. Niemand wird sich deshalb als Schmarotzer betrachten. Er besteht nur auf seinem guten Recht. Es muß also einen anderen Grund geben, weshalb Nichtarbeit zumindest solange ich sie mir finanziell nicht "leisten" kann - derart mit negativer Geltung überzogen wird. Dieses läßt sich eigentlich nur so erklären, daß hier radikal ein eisernes Prinzip durchgesetzt werden soll - und zwar um jeden Preis: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". Niemand soll unberechtigt auf der "faulen Haut" liegen, und andere auf die Idee kommen lassen, es ginge auch ohne geregelte Arbeitszeit.

Darum: Wer nicht acht Stunden am Fließband, an der Werkbank, am Schreibtisch sitzt, verliert in den Augen der Mitwelt seine "Würde". Und dies bei ständig wegrationalisierten Arbeitsplätzen. Die ohne Nachsicht durchgesetzte "Arbeitsmoral" hat für alle zu gelten - egal ob sie das nötige Einkommen sichert oder nicht. Sonst fänden sich auch jenseits der stark subventionierten "Werkstätten für Behinderte" zumindest einige andere Angebote sinnvoller und befriedigender Lebensgestaltung, solange es keine reale Möglichkeit gibt, sich durch gewerbliche Tätigkeit seinen Lebensunterhalt selbst zu sichern.

Eigentlich gälte es, drei Ebenen der Arbeit zu unterscheiden und auch unterschiedlich zu benennen.

1. Da finden wir einmal jene Tätigkeit, in der Neigung und Einkommenssicherung zusammenfallen. Es handelt, sich um die Verwirklichung eines Ideals, das nur verhältnismäßig wenigen widerfährt. Hier verweben sich Leben und Beruf zu einem befriedigenden Ganzen. Eines läßt sich nicht ohne das andere denken.

2. Danach kommt die Arbeit als der bloße Zwang, mit einer ungeliebten Tätigkeit das tägliche Brot zu verdienen. Und schließlich

3. jener Status, in dem weder das eine noch das andere seine Legitimation findet und bei dem es einerseits nur noch um das Prinzip "wirtschaftlicher" Anstrengung geht (ein nennenswertes Einkommen wird ja nicht erzielt), andererseits begegnet uns an dieser Stelle natürlich auch die pure Einfallslosigkeit, nach sinnvollen Alternativen zu der "beruflichen" Tätigkeit zu suchen.

Ein achtstündiger Arbeitstag läßt sich eben besser regeln, als das "Chaos" spontaner Kreativität. Aber es geht auch um's "eiserne" Prinzip! Wo andere unerbittlich schuften müssen, soll niemand "dem lieben Herrgott den Tag stehlen" und sich "auf die faule Haut legen". Als Honorierung winkt ihm dann der ebenso geneneröse wie fragwürdige Zuspruch von Bedeutung durch andere, die sich selber keineswegs damit zufrieden gäben. Da liegt es nahe, nach der Deckung solcher "Bedeutungsschecks" zu fragen. Es stehen Ja keine "Aktiva" in Form meßbarer Leistung dahinter, die sich auf irgendeine Art im sozialen "Jones-Index" niederschlagen. Wie sollte man da nicht diese "faulen Papiere" aus dem Verkehr ziehen und dem Reißwolf überlassen!? Das ist der Preis, wenn wir die genuine Bedeutung eines jeden Menschen zugunsten einer willkürlichen Bedeutungszuweisung durch den anderen fahren lassen.

Nein, die gängige Diskussion darüber, wie Bedeutung sich durch Gebrauchtwerden etablieren läßt, ist nicht nur falsch - sie ist auch hochgefährlich. Sie gibt den Lebensverächtern freiwillig wohlfeiles hochexplosives Material in die Hand. Denn nur zu leicht gelingt es diesen, die Haltlosigkeit der Rede vom Gebrauchtwerden auch des schwerer Behinderten nachzuweisen. Im Gegenteil müssen wir darauf bedacht sein, den Kosten-Nutzen-Rechnern ihr eigenes Interesse an der Existenz "Unbrauchbarer" zu wecken. Nur durch sie bleibt einige Aussicht, nicht selbst in ein schwarzes Loch zu fallen, sollten sich unsere bisher glücklichen Umstände in eine schwerer verkraftbare Zeit wandeln.

X Ich finde mich als mir zugehörig vor.

In unseren Tagen sprach der Historiker Eberhardt Jäckel in Verbindung mit den Greueltaten des Naziregimes vom Zusammenbruch, ja von der Katastrophe der Vernunft, die eigentlich noch unfaßbarer sei, als das Versagen von Moral und Ethik. Und in der Tat, humanitäre Werte wie Nächstenliebe und Solidarität mag man als einen schönen Luxus abtun, gut für mildtätige Seelen, deren Tagesablauf nicht ausgefeilt ist und die materiell zudem aus dem Vollen schöpfen können - kurz, für eine Feiertagsbeschäftigung in üppigen Zeiten. Sonst ist kein Platz für dergleichen "Gefühlsduseleien", oder nur insoweit, wie sie der Legitimation einer radikalen Lösung sozialer Probleme dient. Mit der Vernunft verhält es sich anders. Sie ist ein natürliches "Verkehrssystem" zwischen den Individuen, Gesellschaften und Kulturen. Als - wenn auch schwächlicher, immer wieder dem Selbstzweifel preisgegebener - Ersatz für den tierischen Instinkt, der das Töten der eigenen Art als genetische Anlage von vornherein ausschließt, stellt sie im Menschen so etwas wie das "Organ" dar, das sozusagen aus Einsicht "instinktiv" in der Bedrohung des Anderen die Gefährdung eigener Lebensmöglichkeiten erkennen sollte. Vernunft ist etwas anderes als rationaler Verstand. In ihr kommen Werte zum Tragen, die über den Anderen mir selbst zugute kommen. Aber auch aus dem Blickwinkel kühler Rationalität läßt sich daraus ohne unzulässige Übertreibung die Schlußfolgerung ziehen: Schon der banale alltägliche kreatürliche Egoismus gebietet es dringlich, den Altruismus nicht als moralisch überflüssigen Luxus abzutun. Er garantiert mein menschenwürdiges Überleben in allen Wechselfällen des Daseins - nicht nur meines individuellen, sondern mit ihm auch das des sozialen Körpers und darüber hinaus der übrigen Umwelt, indem es nur durch Abwesenheit permanenter Bedrohung der Existenz insgesamt zu einer beruhigenden Befriedung gelangen kann.

Ausgerechnet Carl Schmitt, dem juristischen Rechtfertiger des nationalsozialistischen Unrechtssystems, zieht man als Kronzeugen heran, wenn es um die Würde des Menschen und die Abwehr des "Terrors der Werte" geht. Ausgerechnet ein Mann, der die größten Greueltaten an Individuen verteidigte, die wie jeder von uns Menschenantlitz trugen, - ausgerechnet er insistiert darauf, daß Werte nur den Sachen zukommen, nicht aber dem humanen Dasein. Den Menschen jedoch zeichne allein seine Würde aus. Daraus wird dann all denen rasch ein Vorwurf gemacht, die den Argumentationen dieses Wissenschaftlers auch heute noch mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnen. Plötzlich stehen sie als die wahren Menschenverächter da. Das Plädoyer dieses einflußreichen Denkers für die Würde des Menschen muß tief beeindrucken. Zeugt es nicht von schwer überbietbarer Humanität? Bei jemandem, der dem nicht zustimmt, kann es sich doch nur um ein borniertes Individuum handeln. Hier wird geschickt der Spieß umgedreht, die Fronten verkehren sich - mit einem Mal stehen die Mörder von gestern als die Verteidiger hoher Menschlichkeit da. In Wahrheit waren sie es, die unter dem anderen Regime Menschen wie Sachen behandelten, die man wie Unkraut vernichten kann. Greifen Zeitgenossen wie sie heute auf die Würde zurück, dann sind zumindest starke Vorbehalte angezeigt. Das Argument der Würde läßt sich schnell als Rechtfertigung der Beendigung eines "würdelosen" Lebens instrumentalisieren.

Der von Schmitt erhobene Vorwurf einer unzulässigen Vermengung von Rechte stiftenden Prädikatszuweisungen mit vorrangiger Würde beim Menschen wirkt auf diesem Hintergrund eher wie eine mürrische Abwehr dessen, was er einen "Terror der Werte" nennt. "Terror der Werte" - darunter könnten rasch alle Menschenrechte fallen. Jede Diktatur kann gar nicht anders, als hier mit Schmitts Abwehr wertorientierter Menschenrechtsdiskussionen gleichzugehen. Rechte auf einklagbare Werte lassen sich einfordern. Da wird es für die Machthaber brenzlig.

Natürlich besteht Würde - aber eben auch die Bedeutung eines Menschen, aus sich heraus - als ein unaufhebbarer Zustand des Menschseins, unaufgebbar im Sinne eines autonomen Existentials. Sie gehört zur Grundaustattung humanen Daseins und eigentlich läßt sie sich zwar durch Ignoranz in Frage stellen, nicht jedoch in ihrer Substanz vernichten. Auch ihre Mißachtung ändert nichts daran, daß sie bis zum letzten Atemzug immer gegeben ist. Trotzdem sprechen wir hier von einem a priori, das als völlig unverbindliche Münze in Umlauf gesetzt wurde. Man kann sie vernachlässigen. Mit ihr werde ich keinen Bio-"Ethiker" beeindrucken, der sich in den Kategorien der Kosten-Nutzen-Rechnungen bewegt. Ich muß vielmehr versuchen, ihm auf dieser Werte-Ebene zu begegnen, um die Gültigkeit seiner Kalkulationen in Zweifel zu ziehen. Und ich muß ihm sein eigenes Interesse an der Unantastbarkeit des Lebens seiner Mitmenschen vor Augen führen, weil es sonst auch für das eigene Dasein keine Sicherheit gibt, auf die sich eine Existenz maßgeblich gründet. Dieses wird ihn wohl kaum von seinem grausigen Geschäft abhalten, aber solche Argumente sind nicht leichtfertig als Gefühlsduselei vom Tisch zu wischen. Das beunruhigt offensichtlich. Sonst wäre dieser Aufschrei "Terror" nicht zu erklären, wenn von den absoluten Werten des Menschseins die Rede ist.

Es wirft ein bezeichnendes Licht auf das, was Schmitt unter Würde des Menschen versteht, wenn man seine vehemente Verteidigung der "hoch angesehene(n) deutsche(n) Gelehrte(n)" Hoche und Binding liest. Diese beiden Wissenschaftler - Jurist der eine, Mediziner der andere - hatten 1920 in einer gemeinsamen Schrift die Freigabe der Tötung lebensunwerten Lebens gefordert. Schmitt meint, diese honorigen Männer hätten nicht voraussehen können, was Politik und Justiz aus ihrer Arbeit machen würden. "Damals, 1920, war es möglich, in aller Humanität und Gutgläubigkeit die Vernichtung lebensunwerten Lebens zu fordern." ("Terror der Werte", S. 48, Hamburg 1979). Wie das? Handelt es sich hier nur um ein Gedankenspiel im Sinne von l'art pour l'art? Wäre das weniger verwerflich?

Dieses mutet noch makaberer an als die Verteidigung "unschuldiger" Kernforschung. Ein Universitätsphilosoph wie Martin Heidegger wurde zu Recht wegen vergleichsweise Geringerem an den Pranger gestellt. Jedenfalls will es nicht gelingen, nach dem obigen Zitat in Carl Schmitt einen Gegner der Euthanasie aus Achtung vor der Würde des Menschen zu erkennen. Wer ihn trotzdem in dieser Angelegenheit zum Kronzeugen aufruft, erliegt einem schweren Irrtum, der gerade das verhindert, was angestrebt wird: Der absolute Schutz humanen Daseins. Es bedeutet nicht im Geringsten einen Akt der Humanität, auch nur ansatzweise die aktive Beendigung eines Menschenlebens in Erwägung zu ziehen. Wo da die Vokabel "Gutgläubigkeit" überhaupt noch irgendeinen Platz findet, bleibt das Geheimnis des Verfassers. Jedem, dem es wirklich um Würde geht, muß dabei unwillkürlich der Atem stocken. Ihm bleibt der Zusammenhang nicht nachvollziehbar. Nicht die Blauäugigkeit gegenüber den Intentionen des Staates bildet hier das Problem, sondern: wie konnte solch ein Gedanke wie die Freigabe menschlichen Lebens überhaupt aus der Feder "angesehener Gelehrter" auf das Papier und von dort in den Druck und in die Buchhandlungen gelangen? Trägt nicht der Verfasser die Hauptverantwortung - und dann ein Verlag, der sich nicht weigert, solche Gedanken zu transportieren?

Jeder Mensch, dessen Schicksal es einigermaßen gut mit ihm meint, kann nur mit Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen, für diesen oder jenen seiner Zeitgenossen wenigstens ein gewisses Maß an Bedeutung gewonnen zu haben. Viele andere müssen dieses Geschenk entbehren. Besitzen sie deswegen keine Bedeutung? Das läßt sich doch im Ernst von niemandem vertreten. Das wäre ja geradezu eine Einladung, ja ein unabweisbares Gebot der Menschlichkeit, den Zustand solch einer existentiellen Hölle so rasch wie möglich zu beenden. Wie schnell könnte dabei jeder von uns Bedeutung und Leben verlieren. Woher nehme ich die Vermessenheit, zu glauben, einem anderem Menschen Bedeutung zusprechen zu können, die ihm ohne meine Gewogenheit nicht zukäme? Welch eine Verantwortung bürdete ich mir damit auf! Wohl wahr, wir leben in einem Geflecht gegenseitiger Bedeutungszuweisungen, aber sie sind doch nur Beigaben zum Eigentlichen, das allein in mir und in jedem anderen selbst liegt. Nicht einmal mit diesen Beigaben gehen wir zum Wohle des mit ihnen Bedachten um. Immer wieder nutzen wir sie für Anschläge auf die Existenz des Anderen. Denken wir nur an die vielen Schwerstmehrfachbehinderten, zumal an jene Kinder, die lediglich als unzumutbare Belastung angesehen werden. Wo die anscheinend unansprechbare Tochter, Nichte, Enkelin Dorothea nicht als Dornröschen sondern als Ärgernis erregender Stachel empfunden wird. Machten wir dieses Leben von der Bedeutungszuweisung anderer abhängig, wäre es bereits verwirkt.

XI "Wir werden wir selbst in dem Maße, als der andere er selbst wird..."

Wir sagten, jeder Mensch sei eine eigenständige Monade. Kehren wir dahin noch einmal zurück. Als solche steht sie an ihrem Platz im Kosmos des Daseins. Wird sie herausgebrochen, gerät alles um sie herum ins Wanken. Viele sehen das nicht. Sie interpretieren den Begriff der Monade recht modifiziert und eigenwillig. Von der Idee her ist ihr von Leibniz keine Möglichkeit eigens, sich selbst zu überschreiten. Wie am Sternenhimmel mit seinen Planetenbahnen herrschte ohne eine "prästablierte Harmonie" auch im menschlichen Miteinander das totale Chaos. Es ist mir nicht gegeben, aus mir auszusteigen. Dennoch fühle ich mich nicht an mich gefesselt. Ich finde mich als mir selbst zugehörig vor. Von dort gehe ich auf die Welt zu und kehre immer wieder zu mir zurück, eben weil mir nichts näher liegt als ich mir in meinem unübersteigbaren "Sosein". Wäre es anders, müßte ich Tag für Tag wütend gegen die "Ungerechtigkeit" des Schicksals anrennen, das mich meinem "So-Sein" überließ. Mir bliebe dann wirklich nichts, als mich im fortwährenden Neid auf den scheinbar priviligierten Anderen aufzureiben und mein eigenes Dasein zu versäumen. Doch mir bleibt kein anderes Leben als das meine. Ein anderes steht mir - schon gar nicht in dieser Fülle - zur Verfügung. Aber Vorsicht: es geht nicht an, mein autonomes Selbstsein mit den von außen, also von anderen Menschen aufgedrängten Bedingungen meiner Lebensumstände zu verwechseln. Daß ich mein Dasein im Rollstuhl verbringe, gehört unabtrennbar zu mir; daß ich von der Umwelt daran gehindert werde, es mit allen in ihm liegenden Möglichkeiten auszuschöpfen, aber nicht. Läßt man mich, bleibe ich gerne bei mir - denn nur dies schafft die Voraussetzung am Abenteuer des Daseins teilzunehmen. Dieses spielt sich nur auf der Bühne in mir selbst ab, auf keiner anderen.

Wenngleich es sich bei wirklichen Würdigung des Menschseins von vornherein verbieten sollte, den Maßstab der Werte anzulegen, läßt sich diese Rechnungseinheit doch nicht umgehen. Nur mit ihr können wir dem bioethischen Denken auf seinem eigenen Felde begegnen. Auch außerhalb der Hochschulen findet sich ein aufnahmebereiter Acker, der sich dankbar dem "wissenschaftlichen" Segen bioethischer Anschauung öffnet. Selbst wo von Würde die Rede ist, sieht sich etwas anderes gemeint - der Wert, festgehalten in der Kosten-Nutzen-Rechnung. Gotteskindschaft, Bedeutung, Würde finden darin außer als wohlfeile humanitäre Worthülsen keinen Platz. Berücksichtigt werden sie nur in dem Maße, in dem sie der Legitimation eugenischer Eingriffe in das Dasein unangepaßter Mitglieder eines sozialen Zusammenhanges dienen. Da helfen weder Theologie, allgemeine Moral noch Grundgesetz. Sie gelten bestenfalls als Meinungsäußerung rückständiger Vertreter larmoyanter Sentimentalität. Was zählt, läuft auf die Effektivität jedes Einzelnen als Produktionsfaktor oder wenigstens als ausgabefreudiger Konsument hinaus. Bei der Rede von Bedeutung und Würde handelt es sich dagegen in dieser Sicht "nur" um Attribute luxuriöser Menschlichkeit. Sie sehen sich respektiert, solange die übrige Rechnung stimmt. Humanität wird ihnen für erbauliche Stunden der Regeneration, sozusagen als skurriles Freizeitvergnügen, zugestanden.

Eigentlich handelt es sich aber dabei um einen überflüssigen Luxus, denn für die eigene Würde und für die eigene Bedeutung wird schon der sichtbare Erfolg und das damit verbundene Einkommen sorgen. Einem "gemachten Mann" oder einer durchsetzungsgewohnten Frau wird niemand so schnell Respekt und Anerkennung versagen. Es ist die eigene Leistung, der zwangsläufig das innere Wohlbefinden folgen muß. Überdies hat man noch niemals einen Menschen an Vernachlässigung der "Seele" sterben sehen. Man leidet nur an dem Gefühl der gesellschaftlichen Überflüssigkeit. Und dagegen hilft nur eine gut dotierte Leistung, deren Erträge sich im Alter wohlgemut in die klingende Münze ungetrübten Glückes wechseln lassen. Daß es sich hierbei um einen gefährlichen Trugschluß handelt, könnte sich jeder leicht vor Augen führen, der einen Blick auf das Schicksal vieler gegenwärtig lebender alter Menschen wirft. Ihnen bleibt im Falle der Hinfälligkeit oder gar der Altersverwirrtheit auch bei gut gefülltem Bankkonto nicht sehr viel an Geltung, wenn er sie bisher vorrangig aus dem Ansehen bei dem Anderen bezog und nicht aus dem unversieglichen Quell des Selbst.

Bedeutung und Würde lassen sich also nur solange ignorieren, wie ich noch selbst ungehindert am ausfüllenden "Voll-im-Leben-stehen" teilhabe. Die stets drohende Möglichkeit des "Nicht-mehr" der ursprünglichen persönlichen Ressourcen wird ausgeblendet oder gar nicht erst wahrgenommen. Dabei steht ihre konkrete Anwesenheit dauernd vor unserer Tür und lauert nur darauf, sich den Eintritt zu verschaffen. Man ignoriert das ins Haus stehende und glaubt es gebannt, weil man sich blauäugig darauf verläßt, die Anerkennung der eigenen Existenz durch den Anderen besitze in allen Lebenslagen Ewigkeitswert. Hinzu tritt die Feststellung: auch Leute ohne ausgewiesene Bedeutung oder gar Würde sterben nicht an diesem Mangel. Schon deswegen stellen Würde und Bedeutung keine Werte dar, denen biologisch irgendeine Relevanz zukommt. Was zählt, ist allein die Effektivität, die einem Menschen "natürliches" Ansehen bei der Umwelt schafft. Zudem besteht ja immerhin zumindest theoretisch - die Aussicht, daß sich eine prekäre Situation unter günstigeren Bedingungen wieder ändert und so das gewohnte gute Ansehen bei den Mitlebenden wieder zurückbringt. Es fehlt der Ernst absoluter Endgültigkeit. Solange es noch einen Schimmer der Hoffnung gibt, kann sich doch alles zum Besseren wenden. Damit sei "alles halb so schlimm". Potentiell behält jeder in dieser Sicht seine Chance, über irgendwelche "Verdienste" im Ansehen der "Gesellschaft" aufzusteigen. Auch wer tief absinkt in seinem sozialen Status darf danach auf einen Aufschwung hoffen. Solange wir unserer Existenz verhaftet bleiben, ist nichts unwiederbringlich verloren. Allerdings handelt es sich ununterbrochen um eine Zitterpartie angesichts der Unberechenbarkeit des Anderen, mit der er dem einen Würde und Bedeutung zugesteht, dem anderen aber nicht. Doch immerhin - niemand sieht sich in dieser Argumentionskette absoluter Endgültigkeit gegenüber. Immer noch findet sich ein Schlupfloch, durch das ich mir in meinen Überlegungen entkommen kann, wenn ich beim Anderen mit eigenem potentiellen Schicksal konfrontiert werde. Mit der Spruchweisheit "Kommt Zeit, kommt Rat" läßt sich alles in Ruhe abwarten. Bedeutung und Würde brauchen nicht endgültig verloren gehen, wenn ich meine Angelegenheiten wieder in den Griff bekomme. Warum sich also unnötig graue Haare wachsen lassen?

Anders steht es allerdings mit dem Ernst der Frage, vor die uns die Unantastbarkeit des Lebens stellt. Hier helfen keine Ausflüchte mehr. Jeder einigermaßen verständige Mensch kommt nicht umhin anzuerkennen: nichts ist so endgültig wie der Tod. Daran können wir selbst ermessen, welches Risiko es für uns bedeutet, wenn wir der gewaltsamen Beendigung wenigstens des menschlichen Lebens keinen Riegel vorschieben. An dieser energischen Wendung hin zum absoluten Lebensschutz hängt unser eigenes Dasein. Denn, warum sollten plötzlich in Sachen Lebenswert andere Kriterien zugrunde gelegt werden, gerate ich selber in die Lage des von mir degradierten Anderen, die mich gleich ihm nach den geltenden Normen zu einem Entsorgunsproblem machen? Bringe ich es fertig, einen Anderen als Abfall anzusehen und ihn damit der Müllverwertung zu überlassen, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mich selber auf dieses Schicksal vorzubereiten.

Der Philosoph E. Levinas beschwört eindrucksvoll das Bild des Anderen mit seinem "nackten Gesicht" herauf, das vertrauend und bittend den Blick wie den Appell an mich richtet: "Du wirst mich nicht töten...". Wir wissen heute mehr als jemals zuvor: dieser Anruf des Anderen, sein Leben zu achten, hat noch zu keiner Zeit etwas Nachhaltiges bewirkt. Wir töten munter und unterschiedslos weiter - Männer, Frauen, Kinder, Andersgläubige, von der gängigen Norm Abweichende. Für uns bietet das Sein des Anderen allein keinen hinreichenden Grund, in seiner Existenz etwas anderes als bloße Verfügungsmasse zu sehen. Sonst hätte eine Disziplin wie die Bio-"Ethik" gar nicht erst entstehen können. Da für sie nur rationale Fakten gelten, bedeutet für sie die Aufforderung des Anderen, auf Achtung seines Lebens bedacht zu bleiben, kaum mehr als eine gefühlsselige Anwandlung, die sich ein "Wissenschafter" nicht leisten darf.

Die bisherige Ethik basierte auf der Anschauung: alles, was ich zugunsten des Anderen unternehme, beruht auf der schönen Tugend uneigenütziger Großherzigkeit. Ich schaffe mir mit ihr im besten Falle eine gute Empfindung. Sonst entstehen für mich in der Beziehung zum Anderen keine Konsequenzen, schon gar nicht, wenn ich darauf verzichte, meine "humanitäre Ader" zu pflegen. Frei von Verantwortung für das Wohlergehen des Anderen lebt es sich recht angenehm. Daß es sich hierbei auf Dauer gesehen um einen Fehlschlag handelt, geht uns erst auf, wo wir uns wirklich und ernsthaft selbst ins Spiel bringen. Dann geht uns auf, wie sehr wir unser eigenes Schicksal in dem des Anderen vorbereiten.

Deshalb: eine Ethik, die als moralischer Imperativ zum moralischen Handeln aufruft, trägt nicht mehr. Dafür ist diese Haltung viel zu sehr in mein persönliches Belieben gestellt. Wer oder was sollte mich verpflichten, "meines Bruders Hüter" zu sein? Es bestehen keine unantastbaren Größen mehr, die dazu in der Lage wären.

Über lange Zeiten gestaltete sich das anders. Man sah sich unerbittlich mit der Frage konfrontiert: wie vermeide ich so gut wie möglich eine allzu heftige Auseinandersetzung mit den mächtigen Über-Ich-Autoritäten, von denen ich mich in meinem Dasein abhängig weiß? Um mit sich, der Umwelt und vor allem dem Transzendenten, dem strafenden Gott in Einklang zu leben, galt es, feststehende Regeln und eherne Gebote zu beachten. Es bedurfte des "guten Gewissens", damit jemand vor sich selbst bestehen konnte, und um der Angst vor dem Verlust des Ansehens beim Mitmenschen wie den Drohungen des Jüngsten Gerichtes zu entgehen. Das Fehlverhalten gegenüber den gesellschaftlichen Regeln zog den Ausschluß aus dem Miteinander der Anderen nach sich; der Ungehorsam gegenüber himmlischen Mächten die ewige Verdammnis.

Diese (formalen) Werte der Regelung zwischenmenschlichen Verhaltens, die allerdings auch nie für alle selbstverständlich zum eisernen Muß gehörten, haben als verbindliche ethische Normen noch weiter an allgemeiner Geltung eingebüßt, solange ihnen nicht strenge Gesetze Nachdruck verleihen. Kein göttliches Gebot besitzt mehr die Kraft, ethisches Handeln durch Androhung von Strafe zu erzwingen. Zudem zerbröselt individuelle und öffentliche Moral immer rascher unter dem Druck diverser Kosten-Nutzen-Rechnungen.

Letztendlich trägt jenes Ideal des Humanismus nicht mehr, das sich durch die Verantwortung für den Anderen in die Pflicht genommen sah. Es besitzt keine Kraft mehr, um als innerer Kompaß zu dienen. Was bleibt, ist allein unser ureigenes Interesse, im Umgang mit dem Anderen die Fundamente für das eigene Schicksal zu legen. Wollen wir uns ein Dasein sichern, in dem nicht nur der blinde Zufall darüber entscheidet, ob unser Dasein in allen Lagen über einen eigenen unumstößlichen Wert verfügt, müssen wir dies auch jedem Anderen zubilligen. Ohne einen breiten Grundkonsens in dieser Frage geht nichts. Verwerfe ich heute ein Dasein als nicht lebenswert, so wird mir morgen das Gleiche geschehen, gerate ich selbst in die von mir abgewertete Situation eines Anderen. So will es die List der Vernunft, daß wir uns doch wieder genötigt sehen, unser Augenmerk im eigenem Interesse auf den Anderen und auf sein Wohlergehen zu richten - nicht weil wir uns von himmlischer Nächstenliebe oder von einer überschäumenden Humanität gedrängt fühlen, sondern weil wir uns selbst nur so unseren eigenen Lebensraum bewahren können. Auch dies ist eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung, aber eine, die aufbaut, nicht vernichtet - heute den Anderen, morgen mich selbst. Oder um noch einmal das Zitat von Karl Jaspers vom Anfang unserer Überlegungen zu wiederholen: "Wir werden nur wir selbst in dem Maße, als der andere er selbst wird, werden nur frei, soweit der andere frei wird".

Der Autor

Abb.1: Foto von Fredi Saal

Fredi Saal, Jahrgang 1935, wurde in Hannover (D) mit einer schweren spastischen Lähmung geboren. Galt nach amtsärztlichen Gutachten im siebten und im vierzehnten Lebensjahr als nicht bildungsfähig. Auf Einspruch der Mutter Beobachtungsaufenthalt in der Psychiatrie. Von dort für insgesamt elf Jahre Einweisung in verschiedene Heime, davon sieben in einer geschlossenen Einrichtung für geistig Behinderte mit angegliederter Hilfsschule. Mit achtzehn Leben außerhalb der Anstaltsmauern. Weiterbildung durch Teilnahme an Kursen der Volkshochschule. Vierzehn Jahre eingeschränkte Berufstätigkeit als Aufzugsführer in einer Schokoladenfabrik. Danach Bezieher einer Erwerbslosenrente. Seit 1974 mit der Lehrerin Helene Saal verheiratet. Lebt jetzt in Mülheim an der Ruhr. Ab 1960 Vorträge und Veröffentlichungen zu Behindertenfragen, darunter die beiden Bücher "Warum sollte ich jemand anderes sein wollen?", Gütersloh 1992, und "Leben kann man nur sich selber",

Düsseldorf 1994.

Strippchens Hof 25

D-45479 Mülheim/Ruhr

Anmerkung der Redaktion:

Dieser Beitrag ist eine Fortsetzung des Artikels "Behindertsein - Bedeutung und Würde aus eigenem Recht" in Heft 4/5/98

Quelle:

Fredi Saal: Behindertsein - Bedeutung und Würde aus eigenem Recht oder: Die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens als Postulat der Vernunft

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/98; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 28.02.2005

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