Gemeinsamer Unterricht von Kindern mit unterschiedlichem Förderbedarf

Autor:in - Thomas Maschke
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/2000; Reha Druck Graz Praxis in der Heftmitte S. 1-10 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/2000)
Copyright: © Thomas Maschke 2000

Historische und grundsätzliche Vorbemerkungen

Methodisch-didaktische Notwendigkeiten und Chancen beim Unterrichtsprojekt "Hausbau" in einer 3. Klasse

Seit vielen Jahren gibt es innerhalb der anthroposophisch - heilpädagogischen Schulbewegung je unterschiedlich ausgestaltete Schulmodelle bzw. -Praxis zur gemeinsamen Unterrichtung von Kindern mit unterschiedlichem Förderbedarf. So beschrieb z.B. Windeck[1] die Wuppertaler Christian-Morgenstern-Schule. Einen einheitlichen Lehrplan gibt es allerdings nicht. Lediglich die Anregungen Rudolf Steiners in den verschiedenen Kursen, gehalten für Lehrer der Waldorfschule,[2] sowie der "Heilpädagogische Kurs"[3] dienen als Grundlage für ein Erkenntnis-Ringen der Lehrer und Betreuenden um das Wesen des jeweiligen Zöglings. Dieses je individuelle Erkennen ist Basis einer Unterrichtsgestaltung, welche sowohl den Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums als auch den Notwendigkeiten einer Gruppe gerecht zu werden versucht.

Während in einigen deutschen Bundesländern die genehmigungsrechtlichen Grundlagen im Titel z.B. einer "Schule eigener Art"[4] geschaffen wurden, ist es in den 90er Jahren in Baden-Württemberg zur Entwicklung eines spezifischen Lehrplanes einer integrativ arbeitenden "Waldorf-Sonderschule"[5] gekommen. Dieser wurde zwischen Vertretern der "Arbeitsgemeinschaft heilpädagogischer Schulen auf anthroposophischer Grundlage in BW" einerseits und dem Kultusministerium andererseits intensiv diskutiert und letztlich als geeignet für den bezeichneten Zweck (nämlich die gemeinsame Unterrichtung von Schülern mit unterschiedlichem Förderbedarf) anerkannt[6] Die Erstellung eines Lehrplanes widerspricht allerdings nicht dem oben postulierten Ringen um individuelle Erkenntnis des Schülers, sofern dieser im Sinne der Autoren als Anregung für die Vorbereitung und unterrichtliche Arbeit des Lehrers benutzt wird und somit nicht den Charakter einer rechtlich-verbindlichen Vorgabe erhält. Der Lehrplan baut aber auf anthropologischen sowie daraus folgenden methodisch-didaktischen Grundannahmen auf, welche diese Formen des gemeinsamen Unterrichtes ermöglichen. Diese wurden bereits an anderen Stellen dargestellt und diskutiert.[7]



[1] Windeck 1983

[2] Steiner hielt erstmals in direktem Zusammenhang mit der Gründung der ersten Waldorfschule 1919 in Stuttgart pädagogische Kurse zur Lehrer-Aus- bzw. -Weiterbildung, später hielt er im In- und Ausland weitere pädagogische Vorträge; z.B. Steiner 6, 1990 und Steiner 9, 1992

[3] Steiner 7, 1985

[4] vergleiche Genehmigungserlass für die Christian-Morgenstern-Schule Wuppertal, in Windeck 1983

[5] Etterich/Allgaier/Maschke 1996

[6] Diese Anerkennung erfolgte nicht im juristischen Sinne formal, sondern in Gesprächen und Verhandlungen zwischen Vertretern des Ministeriums für Kultus und Sport des Landes Baden-Württemberg und der Arbeitsgemeinschaft heilpädagogischer Schulen auf anthroposophischer Grundlage. Die Fachabteilungen des LEU (Landesinstitut für Erziehung und Unterricht) diskutierten und bewerteten die spezifischen fachdidaktischen Kapitel des o.g. Lehrplanes.

[7] Maschke 1996; Maschke 1998; Kaschubowski/Maschke 1999

Gemeinsame Unterrichtung: individuelle Unterrichtsziele und Differenzierung

Soll von Integration im Unterricht gesprochen werden, so gilt es, allen Schülern je individuelle Lernerfahrungen am gemeinsamen Gegenstand zu ermöglichen.[8] Für eine heterogen zusammengesetzte Schülergruppe (hier als Beispiel: Schüler der Schule für Erziehungshilfe = "Verhaltensgestörte" und Förderschüler = "Lernbehinderte" in der ganzen Bandbreite des jeweiligen Behinderungsbegriffes) gilt es, einen mehrdimensionalen Ansatz zu finden, um wirklich jedem Schüler einen grundsätzlichen Zugang in je persönlicher Weise zum Unterrichtsgegenstand zu ermöglichen.

Vorausgeschickt sei, dass auch in den auf anthroposophischer Grundlage arbeitenden heilpädagogischen Schulen der "Epochenunterricht" durchgeführt wird. Dies bedeutet, dass innerhalb eines bestimmten Zeitraumes (ca. 4 Wochen) der Klassenlehrer mit seinen Schülern im allmorgendlich stattfindenden "Hauptunterricht" (Dauer ca. 2 Zeitstunden) an einem Unterrichtsgegenstand, an einem Fachgebiet arbeitet (z.B. Epoche zur Römischen Geschichte oder Hausbau, aber auch Rechnen oder Schreib-Lese-Epoche etc.). Eine intensive Auseinandersetzung der Lerngruppe mit der jeweiligen Thematik ist der positive Effekt dieser Unterrichts-Struktur.[9] Der jeweils aktuelle Unterrichtsgegenstand kann aber auch im Sinne der Prinzipien "mehrdimensional" und "fächerübergreifend" über den Hauptunterricht hinaus Platz im Klassen- oder gar Schulgeschehen greifen.

Um allen Schülern der Lerngruppe je individuelle Lernschritte zu ermöglichen, muss der Lehrer seinen Unterricht Lernziel-differenziert anlegen, ein gemeinsames Erleben der Klasse am gleichen Gegenstand aber (vgl. 8) ist ebenso wichtiges Anliegen.

Denken, Fühlen und Handeln (Tun) sind die Zugangsweisen des Menschen (des Schülers insbesondere) zur Welt.[10] Aus dieser Erkenntnis lässt sich (das jeweilige Lebensalter sowie die je individuelle Entwicklungsstufe berücksichtigend) eine "Hierarchie der Lernprozesse" ableiten: die unmittelbarsten und eindrücklichsten Erfahrungen (durch Auseinander-setzen) werden mit den Händen (z.B.) gemacht, hier erfolgt die Aufnahme einer Beziehung vom Menschen zur Umgebung. Das Erwecken eines Gefühles in mir wirft mich dann in einem nächsten Schritt auf mich selbst zurück, die Erfahrung des "Außen" wird verinnerlicht. Im Gedanken gehe ich dann über mich hinaus und gelange (im Idealfall) zur Erkenntnis von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Diese Stufung

  • Denken

  • Fühlen

  • Handeln ("Wollen")

ist nicht in einem statischen Sinne zu verstehen. Diese unterschiedlichen Weisen der Auseinandersetzung durchdringen und bedingen sich durchaus. Die hier mehr analytisch aufgestellte Trennung der "Stufen" kann aber für eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Schüler und eine daraus folgende Unterrichtsplanung von Nutzen sein.

Gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit unterschiedlichem Förderbedarf muss also bei einem gemeinsamen Unterrichtsgegenstand ansetzen, der den Schülern Erfahrungen gemäß des je individuellen Entwicklungsstandes erlaubt und Möglichkeiten eines tätigen, sowie gefühlsmäßigen und letztlich erkennenden Zuganges beinhaltet.

Im Folgenden möchte ich am Beispiel einer "Hausbau-Epoche" exemplarisch differenzierenden Unterricht veranschaulichen.



[8] In diesem Zusammenhang sei besonders auf die Arbeiten von Feuser hingewiesen, z.B. Feuser 1987 und Feuser 1999

[9] Die waldorfschulspezifische Form des epochalen "Hauptunterrichts" geht zurück auf die o.g. grundlegenden Vorträge Steiners, vgl. Fußnote 2.

[10] Steiner 6, 1990

Der Bau eines Hauses in der 3. Klasse

In der Praxis vieler auf Grundlage der Waldorfpädagogik arbeitenden Schulen ist das 3. Schuljahr in seinem Charakter als das Jahr der tätigen Auseinandersetzung der Schüler mit der Welt zu erleben. Dieser Duktus wird in Kenntnis des besonderen Schrittes in der kindlichen Entwicklung, welcher um das 9. Lebensjahr herum erfolgt,[11] eingerichtet und bestätigt sich immer wieder in der schulischen Realität: Kinder in diesem Alter erleben sich als individualisiert, getrennt von der sie umgebenden Welt und in ihnen reift somit das Bedürfnis, diese Außenwelt zu erfahren, zu begreifen, sich handelnd mit ihr zu verbinden. Ein möglicher Unterrichtsgegenstand ist die Planung und Realisierung der Erstellung eines "richtigen" Gebäudes, in unserem speziellen Fall der Bau eines Gerätehauses mit Stallanbau für unsere Laufenten im Schulgarten.

Der besondere pädagogische Wert eines solchen unterrichtlichen "Großprojektes" liegt in seiner Vielschichtigkeit: vielfältigste Lernanlässe ergeben sich sowohl auf der handelnden, der emotionalen sowie auf der Ebene des Erkennens. Auch wird die soziale Wahrnehmungsfähigkeit und Kompetenz der Schüler (sowohl innerhalb der Klasse, als auch der ganzen Schule) angesprochen.

Grobziele sind somit für den je einzelnen Schüler, für die o.g. Bereiche differenziert, zu formulieren:

  • Sozialer Bereich: Der Schüler erkennt die Bedeutung seiner Arbeit für die soziale Gemeinschaft. Nach Fertigstellung des Backhauses kann z.B. bei Schulfesten Brot oder Pizza für alle Schüler und Gäste gebacken werden. Gleichzeitig erlebt der Einzelne während der Tätigkeit, dass er auf die Hilfe der Kameraden angewiesen ist, um z.B. den Mörtel von der Mischmaschine zur in Arbeit befindlichen Mauer zu transportieren und eventuell hoch zu hieven. Viele Möglichkeiten, auch anderen Schülern zu Hilfe zu kommen, ergeben sich wie von selbst.

  • Handlungsebene: (Fast) Alle Tätigkeiten zur Errichtung ihres Hauses werden von den Schülern selbst ausgeführt. Bei speziellen (Aufrichten des Dachstuhles) kann dem hier notwendigen Fachmann nicht nur zugeschaut, sondern auch zur Hand gegangen werden.

  • Emotionale Ebene: Die bei aller Tätigkeit entstehenden Gefühle, z.B. der Freude über das Gelingen, des Staunens, der Anspannung, der Wut und des Ärgers bei Misserfolg, der nachlassenden Kraft oder deren Anwachsen etc., führen zu einer tiefen Verbindung der Schüler mit dem Unterrichtsgegenstand. Die Bereicherung der tätigen und denkenden Beschäftigung durch künstlerische Elemente (Malen von Bildern für das Epochenheft, Singen von Handwerkerliedern, Rezitation von Gedichten und Zunftsprüchen usw.) stärkt das fühlende Erleben im Unterricht.

  • Erkennende (kognitive) Ebene: Es soll natürlich auch besprochen und verstanden werden, wie der Hausbau ausgeführt wird. Anfertigung von elementaren und Betrachtung von professionellen Planungsskizzen gehören hier ebenso dazu wie die Kenntnis der verschiedenen Formen der Mauerverbände, welche den zu errichtenden Wänden erst die notwendige Stabilität verleihen. Es sollten die Grundelemente eines Hauses ebenso kennengelernt werden wie die Berufe der Fachleute vom Bau.

An diesen nur beispielhaft ausgewählten Lernzielen wird die Verknüpfung der o.g. Ebenen sichtbar: der in der Theorie schon bekannte Mauerverband wird in der Praxis ausgeführt, wie groß ist die Freude über die Bestätigung des Gelernten und die Haltbarkeit der Mauer! Oder die umgekehrte Möglichkeit wird für den Schüler zum Erlebnis: nachdem die Mauer errichtet wurde, folgt die Erklärung für deren Haltbarkeit. Verstehendes Tun oder fühlendes und tätiges Verstehen bilden die Grundlage einer tiefen Verbindung der Schüler mit dem Unterrichtsgegenstand. Alle Schüler sollten auf verschiedenen Ebenen einen Ansatzpunkt der je individuellen Auseinandersetzung finden, und sei es "nur" durch das (vermeintlich) passive Miterleben der Geschäftigkeit auf der als Gemeinschaftswerk erlebbaren Baustelle.



[11] Lievegoed 5, 1990 und Steiner 6,1990

Ein Gerätehaus mit Entenstall für unsere Schule

1. Die Planungsphase

Der Grund für den Bau eines kleinen Hauses, in dem die Werkzeuge für den Gartenbauunterricht aufbewahrt und gleichzeitig unsere Laufenten eine feste und sichere Heimstatt finden würden, war für die Drittklässler schnell und unmittelbar in der täglichen Begegnung mit den Tieren und dem Erleben gärtnerischer Tätigkeit der älteren Schüler einsichtig. Sie wollten ja auch, wie die 3. Klassen in den Jahren zuvor, selbst bauen. So überlegten wir gemeinsam:

  • wo sollte unser Haus stehen,

  • wie groß musste es sein,

  • wie sollte der entstehende Raum aufgeteilt werden, damit beide angestrebten Funktionen des Gebäudes sinnvoll miteinander bestehen können?

Wir fanden am Rand des Schulgartens einen Platz zwischen zwei alten Apfelbäumen und wurden uns klar, dass wir unser Haus so bauen wollten, dass keiner dieser Bäume Schaden nimmt. So streuten wir mit Sägespänen einen Grundriss auf den gewählten Platz. Der Gärtner wurde befragt und nach einigem "Hin- und Herschieben" war der genaue Standort klar und die Ausmaße hatten sich eingependelt zwischen den Faktoren Idee, Notwendigkeit und Machbarkeit. Nun nahmen wir Maß: mit den Füßen die einen, mit dem Meterstab die anderen. Wir übertrugen das gefundene Maß auf den Fußboden unseres Klassenzimmers mit Klebeband. Der Vater einer Schülerin, von Beruf Architekt, half uns, eine Skizze des Grundrisses zu erstellen. Alle Schüler konnten durch ihren Blick von oben auf den geklebten Umriss (manche stellten wir hierfür auf einen Tisch) die Verkleinerung auf das Papier mitvollziehen. Wir zeichneten in unser Heft die Skizze unseres Hauses aus der Vogelperspektive (= Grundriss). Die dann erstellte professionelle Zeichnung des Architekten ließ uns dessen Werkzeuge und Fertigkeiten erleben. Von ihm nahmen wir auch gerne einige Gesetze des Bauens an, wie z.B. die Notwendigkeit eines starken Fundamentes etc. Unser Werklehrer (ein Schreiner) kam ebenfalls zu Besuch und versprach, den Dachstuhl mit uns aufzurichten und entsprechende Vorarbeiten zu leisten. Wir bekamen von einer Schülermutter für die Bauzeit eine Betonmischmaschine geliehen und der Hinweis auf ein neu einzudeckendes Dach in der Nachbarschaft bescherte uns genügend alte Dachziegel. So wurde schon in dieser Phase ein Zusammenwirken von Schülern, Lehrern, Eltern und Freunden der Klasse ein richtiges Fest. Täglich wurde Anteil genommen, die Schüler erlebten sich mit ihrem Projekt aufgehoben in einer größeren Gemeinschaft.

2. Die verschiedenen Bauaktivitäten

Der Besuch in der Ziegelei des Nachbarortes zeigte uns die Herstellung der benötigten Mauersteine und mündete in deren Bestellung vor Ort. Dass alle Schüler hier einen Meterstab (ein richtiges professionelles Werkzeug!) geschenkt bekamen, machte sie mächtig stolz.

Die Umrisse des nun auszuhebenden Fundamentgrabens wurden abgesteckt. Dabei wurde das verwendete Seil immer wieder abgerissen. So streuten wir wieder mit Sägemehl eine für alle sichtbare Fläche ab. Diese musste weggegraben werden, keine Späne blieben auf dem Boden sichtbar. Wir fertigten uns Stäbe an, die uns mit ihrer Länge anzeigten, wie tief der Graben werden sollte. Nun begann ein eifriges Hacken und Schaufeln. Sehr imponierten hier diejenigen Schüler, die in der Klasse nicht auch nur einige Minuten ruhig sein konnten, durch ihren kräftigen Einsatz. Ich erinnere noch genau das Bild eines "hyperaktiven" Jungen, der bei strömendem Regen in der Baugrube mit nacktem Oberkörper freudig und ausdauernd schaufelte. Er genoss die Tätigkeit und bekam die von ihm oft vermisste Anerkennung vom Lehrer und den Klassenkameraden.

Gleichzeitig wurden die Baumaterialien angeliefert. In der Klasse hatten wir gelernt, wie Beton für das Fundament herzustellen sei. Nun bildete sich eine Schülergruppe von "Facharbeitern zur Betonherstellung". Das sich immer wiederholende Einfüllen von nacheinander 6 Schaufeln Sand, 3 Schaufeln Zement und einer Schaufel Kalk hielt sie selbst zu kleinen (manchmal absichtlichen, manchmal zufällig z.B. durch eine Verwechslung entstandenen) Rechenspielen an: Ich nehme jetzt 6 Schaufeln Zement, wie viel Sand und Kalk brauche ich nun? Die Mischmaschine lief auf Hochtouren, die Schüler arbeiteten beim Mischen, Transportieren und Einfüllen des Fundamentbetons in kleinen, sich abwechselnden Gruppen, sodass durch tägliche Arbeit innerhalb von einer Woche die Basis unseres Hauses zu einem Großteil erstellt war. Wir gerieten unter Zeitdruck, da am kommenden Montag mit dem Mauern begonnen werden sollte, und ließen so den verbliebenen Rest unseres Grabens am Freitag vom Transportbetonwagen des nahegelegenen Kies- und Betonwerkes auffüllen. Wie staunten die Kinder, dass innerhalb weniger Minuten ebensoviel entstehen konnte, wie durch ihre gemeinsame Mühen durch eine ganze Woche! Die Bedeutung technischer Innovation als Hilfe für den Menschen konnten sie direkt wahrnehmen.

Während dieser und der nachfolgenden Phasen bis zur Fertigstellung des Baues besprachen wir unsere geleisteten und geplanten Arbeiten in der Klasse und dokumentierten sie in kurzen Texten und Bildern in unserem "Hausbau-Heft". Auch die faktischen Grundlagen unserer Arbeit (Betonrezept, verschiedene Arten von Mauerverbänden etc.) wurden dort zusammengefasst.

Täglich erklangen auf der Baustelle Lieder der Maurer.[12] Wenn nach einiger Arbeitszeit warmer Tee gebracht wurde, genossen wir gemeinsam unsere wohlverdiente Pause. Wir hatten in unser Fundament einen Grundstein eingelassen: einen Hohlkörper, der von jedem Schüler ein schön gestaltetes Blatt mit seinem Namen und seinen Wünschen (in schriftlicher oder gemalter Form) enthielt. Zur Grundsteinlegung luden wir unsere Nachbarklassen ein und übten schon jetzt den Richtspruch. Wir planten ja bereits ein Richtfest und die feierliche Einweihung unseres Hauses gemeinsam mit Eltern und Freunden.

In der beschriebenen Phase wie auch später fand jeder Schüler der Klasse, ob nun im diagnostischen Sinne "lernbehindert" oder "verhaltensgestört", seine Aufgabe. Die Klasse von 9 Schülern wurde immer von mindestens 2 Lehrkräften begleitet, sodass es zu vielfältigster Anleitung und praktischer Hilfestellung kam. Die Schüler halfen sich aber auch gegenseitig: hier wurde die Herstellung von Beton gezeigt, dort an der Schaufel des schwächeren Mitschülers mitangefasst, um die Last gemeinsam zu bewegen. Im Sinne der oben dargestellten "Hierarchie der Lernprozesse" konnten alle Kinder je individuell handelnde, gefühlsmäßige und soziale Erfahrungen machen. Der kognitiven Ebene kommt somit zwar nicht geringe, aber geringere Bedeutung zu. Hier wurden natürlich ebenfalls Lernschritte vollzogen, die (weil vielleicht am ehesten vergleichbar) als sehr stark gestreut erschienen.

Das Hochziehen der Mauern wurde durch den Bau kleiner Häuser in der Klasse vorbereitet. Mit Hilfe von vorgefertigten Formen stellten die Schüler aus rohen Lehmklumpen kleine Mauersteine her. Mit Kraft und Fingergeschicklichkeit wurde jeder einzelne Stein in der Form glattgestrichen. Nachdem unsere Modellsteine einige Tage an der Luft getrocknet waren, erübten wir den Mauerbau konkret: wir erlebten, dass das gerade Übereinanderschichten der Steine nicht die gewünschte Haltbarkeit erbringen konnte. Die verschiedenen Formen des Mauerverbandes wurden ausprobiert und als wirksamer erkannt. Auch das Problem der Tür- und Fensterstürze kam hier im Kleinen schon auf uns zu und konnte mit Phantasie gelöst werden. So konnte unser richtiges Bauwerk mit vereinten Kräften zügig errichtet werden.

Voller Erwartung kamen die Schüler zu Beginn der 4. Projektwoche Montagmorgen in die Schule. Sie konnten kaum in der Klasse gehalten werden: denn heute sollte der Dachstuhl aufgerichtet werden. Der Werklehrer hatte alle notwendigen Balken vorbereitet, teilweise im Werkunterricht mit den oberen Klassen. Nun lag alles bereit. Unser für manche Schüler etwas beängstigende Baugerüst verlor seine Schrecken, als alle mit anfassen mussten, um die Balken emporzuheben. Wieder ging die Arbeit nur gemeinsam voran, wieder erlebten auch die schwächsten Schüler, dass sie (und sei es nur durch das reine Anfassen am Balken) zum Gelingen der großen Anstrengung beitrugen. Den Abschluss eines schweißtreibenden Vormittages krönte das von den Schülern geschmückte Richtbäumchen auf dem Dachfirst und der nach gemeinsam gesprochenem Richtspruch genossene "Handwerkerpunsch". Das Eindecken des Daches konnte mit Hilfe einer Schülerkette vom Lagerplatz der Ziegel bis zum Haus an einem weiteren Vormittag vonstatten gehen. Schaute man nun auf einzelne Kinder und verglich ihr Handeln mit demjenigen vom Beginn unserer Epoche, so ließ sich feststellen, dass die meisten initiativer, kräftiger und mutiger geworden waren. Alle erklommen den Dachfirsten, einzelne von den Lehrkräften und tatkräftigen Mitschülern fast hinauf gehoben! Voller Stolz schweifte von hier oben der Blick hinüber zum Schulhaus und in die Weite.

Spezielle Restarbeiten (das Einsetzen der Fenster und der Tür sowie das Verputzen) wurden von Fachleuten aus der Schulelternschaft an Wochenenden erledigt, sodass noch vor Einbruch des Winters ein großes Einweihungsfest als Abschluss der Epoche gefeiert werden konnte.

3. Die Feste

Aus der Beschreibung der Bauaktivitäten geht hervor, dass wir jede Gelegenheit zu feiern gerne nutzten. Grundsteinlegung, Richtfest und Einweihung sind in der handwerklichen Tradition verankert. Wir feierten diese Feste immer mit Gästen: anderen Klassen, den Familien und Freunden. So stand unsere Aktivität innerhalb eines sie begleitenden, Anteil nehmenden Rahmens. Jüngere Kinder freuten sich schon auf "ihre" Hausbauepoche, Ältere blickten überlegen und sich erinnernd zurück. Das gemeinsame Feiern war auch immer zusätzlicher Lohn für die Mühen der Kinder und Dank an unsere Helfer.



[12] Diese Lieder finden sich in vielen Liederbüchern, z.B. "ars musica", Bd.1

Rückblick und Auswertung

Der unterrichtliche Erfolg eines solchen Großprojektes muss sich messen lassen an den erreichten Zielen, welche in unserem Falle ja viel weiter gesteckt waren als in der bloßen Erstellung des Gerätehauses. Entwicklungen anzustoßen in den Bereichen aktiven, emotionalen, sozialen und kognitiven Lernens bei je unterschiedlichen Voraussetzungen unserer beeinträchtigten Kinder war das Hauptanliegen. Ich hoffe, dass in der Beschreibung die vielfältigen Lernanlässe deutlich geworden sind. In den so verschiedenartigen Betätigungsfeldern liegt die Qualität dieser vom Lehrer ja für seine Klasse individuell zu gestaltenden Epoche. Sie bietet die Möglichkeit, die je unterschiedlichen Fähigkeiten eines jeden Kindes anzusprechen und weiter zu entwickeln. Das breite Spektrum der Möglichkeiten differenzierender Unterrichtsgestaltung ermöglicht es allen Schülern, gemäß ihrer je individuellen Voraussetzungen am gemeinsamen Gegenstand zu lernen (vgl. Anm. (8)) und ist somit ein geeignetes Feld zur gemeinsamen Unterrichtung von Kindern mit unterschiedlichem Förderbedarf. Hiermit ist also auch eine Form integrativen Unterrichts beschrieben !

Literatur

Etterich, Martina/ Allgaier, Susanne/ Maschke, Thomas: Lehrplan für eine Waldorfschule zur Unterrichtung von Kindern mit unterschiedlichem Förderbedarf (Sonderschule), Überlingen 1996

Feuser, Georg: Integration - eine Frage der Didaktik einer Allgemeinen Pädagogik. Zur Kritik der "Integrationspädagogik" als Artefakt nicht überwundener Segregation ?, in: Schmetz/Wachtel 1999

Feuser, Georg und Meyer, Heike: Integrativer Unterricht in der Grundschule: ein Zwischenbericht, Solms-Oberbiel 1987

Kaschubowski, Götz und Maschke, Thomas: Gemeinsamer Unterricht verhaltensauffälliger und lernbehinderter Schüler - Unterricht auf der Grundlage der anthroposophischen Heilpädagogik., in: Schmetz/Wachtel 1999

Lievegoed, B.C.J.: Entwicklungsphasen des Kindes, 5, 1990

Maschke, Thomas: Einleitung zum Lehrplan, in: Etterich/Allgaier/Maschke 1996

Maschke, Thomas: "Waldorf-Sonderschulen" Ihre rechtliche Anerkennung mit eigenem Lehrplan in Baden-Württemberg, in: Zeitschrift Erziehungskunst, 62.Jg. Heft 2 Stuttgart 1998

Schmetz, Ditmar und Wachtel, Peter (Hg.): Sonderpädagogischer Kongress 1998: Entwicklungen - Standorte - Perspektiven. vds, Würzburg 1999

Steiner, Rudolf: Heilpädagogischer Kurs, Dornach/CH 7, 1985

Steiner, Rudolf: Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches, Dornach/CH 6, 1990

Steiner, Rudolf: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Dornach/CH 9, 1992

Windeck, Ingo: Zur pädagogischen Förderung verhaltensgestörter und lernbehinderter Kinder auf der Grundlage der Pädagogik Rudolf Steiners in Waldorf-Sonderschuleinrichtungen, Diss., Dortmund 1983

Wolters, Gottfried (Hg.): ars musica. Ein Musikwerk für höhere Schulen. Band 1: Singbuch, Wolfenbüttel/Zürich 1968

Der Autor

Thomas Maschke, geb. 1962, verheiratet, vier Kinder, Sonderschullehrer und Schulleiter der Kaspar Hauser Schule Überlingen am Bodensee. Studium der Sonderpädagogik in Würzburg und der Behindertenpädagogik in Bremen, sowie der Waldorfpädagogik in Stuttgart. Berufliche Tätigkeit in einer Sonderschule für Geistigbehinderte, Förderschule sowie Schule für Erziehungshilfe auf Grundlage anthroposophischer Heilpädagogik. Dozententätigkeit in der Ausbildung von Lehrern an heilpädagogischen Schulen.

Kaspar-Hauser-Schule

D-88662 Überlingen/Rengoldshausen

Tel. 07551-3393

Quelle:

Thomas Maschke: Gemeinsamer Unterricht von Kindern mit unterschiedlichem Förderbedarf

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/2000; Reha Druck Graz Praxis in der Heftmitte S. 1-10

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 10.05.2005

zum Textanfang | zum Seitenanfang | zur Navigation