Sozialtherapie

Leben und Arbeiten mit erwachsenen Menschen mit Behinderung

Autor:in - Armin Küttner
Themenbereiche: Therapie
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/2000; Reha Druck Graz S. 31-34 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/2000)
Copyright: © Armin Küttner 2000

Inhaltsverzeichnis

Sozialtherapie

Der Begriff Sozialtherapie,[1] mit dem in der anthroposophisch orientierten Behindertenhilfe die Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung bezeichnet wird, rückt explizit die Begegnung zwischen Menschen und die Gestaltung des sozialen Gefüges als therapeutisch wirksames Element in den Mittelpunkt. Sie versucht, die Leiblichen, seelischen und geistigen Bedürfnisse des Einzelnen in soziale Prozesse und Formen abzubilden, um die Entwicklung des Einzelnen im Spiegel des Gegenüber und der Gemeinschaft zu fördern.

Die Gemeinschaft, die jeder Einzelne mitverantwortet und mitgestaltet, findet ihre Orientierung in einem Leit- und Menschenbild und in gemeinsamen Aufgaben und Werten.

Ziel der sozialtherapeutischen Bemühungen ist es, Entwicklungsprozesse im Erwachsenenalter zu fördern und den dafür notwendigen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört soziale Integration, Selbstfindung und Selbstverwirklichung und die Entwicklung von Mündigkeit zu fördern, die die Möglichkeit zur geistigen, sittlichen und wirtschaftlichen Selbstbestimmung schafft. Dies geschieht mit großem Respekt vor dem individuellen Schicksal, das differenzierte Lösungen erfordert.

Fachlich ergibt sich daraus die Aufgabe, Formen der Begleitung, Beratung und Formen des Gemeinschaftslebens bzw. des Gemeindewesens zu entwickeln, die es dem Menschen mit Behinderung ermöglichen, angepasst an seine Fähigkeiten eigene Entwicklungsschritte vollziehen zu können.

Rudolf Steiner hat durch seine jahrzehntelange Forschung, ausgehend von philosophischen Überlegungen zur Freiheit, ein umfassendes Menschenbild entwickelt, indem das Ich im Zentrum der Gesamtpersönlichkeit des Menschen steht. Danach lässt sich das Ich in drei Erfahrungs-Ebenen beschreiben, die zusammen die Grundlage für die Selbstentwicklung geben.

In den Idealen, langfristigen Lebenszielen, Sinnbezügen und ethischen Grundhaltungen erlebt der Mensch seinen geistigen Wesenskern, den Rudolf Steiner auch das wahre Ich oder Selbst nennt. Er bleibt unbewusst und wird intuitiv erlebt. Dieser Wesenskern ist gesund - niemals behindert - und bildet den Ausgangs- und Bezugspunkt für die Entwicklung des Menschen.

Gleichsam polar erfährt sich das Ich verwurzelt im eigenen Leib als räumlich existenzielle Identität. Die gesunde Ausbildung des 'Leib-Ich' als personale Identität ist keineswegs selbstverständlich und hängt neben organischen Bedingungen im Besonderen von den sozialen Gegebenheiten ab. Es bildet sich in frühester Kindheit durch voraussetzungslose Annahme des Kindes und liebevolle Zuwendung, Pflege und Versorgung. Daraus resultiert ein tiefes Urvertrauen in die Welt. Es setzt sich später fort in einem sozialen Gefüge, das den Menschen annimmt, wie er ist, und ihm Vertrauen und Sicherheit gibt.

Auf einer dritten Ebene erlebt sich das Ich selbstbewusst zwischen diesen Polen in den Gefühlen, im Denken und aktiv handelnd im Willen. Es ist die entwickelnde und ordnende Kraft des Seelischen und bildet dessen Mittelpunkt.

Ein tragfähiges Selbstkonzept bildet sich dann, wenn den Bedürfnissen dieser drei Persönlichkeitsebenen entsprochen wird und sich eine gesunde Dynamik zwischen ihnen entwickeln kann, die es erlaubt, innere Lebensziele umzusetzen und die eigene Lebenssituation aktiv gestalten zu können.

Im Zusammenleben mit Menschen mit geistiger Behinderung ist dafür eine besondere Bemühung notwendig. Der Mensch mit geistiger Behinderung braucht ein Gegenüber, das den Blick durch die Behinderung hindurch wagt, um den vielleicht tief verborgenen geistigen Menschen mit seinen Lebens- und Sinnfragen und Bedürfnissen zu erkennen und zur Erfahrung zu bringen. Er braucht ein Umfeld, das er verstehen und einen gefühlsmäßigen Anschluss finden kann, um seinen Möglichkeiten gemäß handeln zu können. Und er braucht eine Mitwelt, die ihm soviel Wertschätzung und Verständnis entgegen bringt, dass er sich mit seiner Behinderung und seinen Möglichkeiten des Lebens identifizieren kann.

Die anthroposophische Sozialtherapie versucht, durch die Gestaltung des kulturellen Lebens, der sozialen Beziehungen und geeigneter Arbeitsverhältnisse Hilfen zur Entwicklung eines Selbstkonzeptes zu geben, das Voraussetzung für Integration und Selbstbestimmung ist.

In den 50er Jahren ist als erste sogenannte Dorfgemeinschaft Botton Village[2] in England entstanden. Sie wurde von Dr. Karl König[3] begründet, der Jahre zuvor mit einer Gruppe von Menschen im Exil in Schottland die Camphill-Bewegung ins Leben gerufen hat. Als Leitbild liegt ihnen das Dorf in seiner ursprünglichen Form zugrunde, in dem Menschen verschiedener Generationen und mit verschiedenen Fähigkeiten und Berufen gleichberechtigt leben und in dem sich ein kulturelles, soziales und wirtschaftliches Leben entfaltet, das von den Bewohnern weitgehend selbst gestaltet werden kann.

In Hausgemeinschaften leben Menschen mit und ohne Behinderung oft mit einer Familie mit Kindern zusammen. Die Mitglieder der Hausgemeinschaft versorgen sich selbst, bereiten die Mahlzeiten, führen den Haushalt und halten Haus und Garten in Ordnung. Dabei übernimmt jeder entsprechend seinen Fähigkeiten die Verantwortung für verschiedene Aufgaben.

Über die Hausgemeinschaft hinaus entstehen Beziehungen, Freundschaften und Partnerschaften in der Nachbarschaft. Langfristig angelegte konstante Beziehungen mit gegenseitiger Wertschätzung und Interesse für den anderen geben Sicherheit und Vertrauen und die Behinderung tritt hinter den Menschen zurück. Regelmäßige biographische Gespräche helfen, auch schwierige Situationen zu bewältigen.

Der Arbeitsbereich gliedert sich in mehrere Werkstätten, sehr oft einer Landwirtschaft sowie Bäckerei und Käserei. Jeder - auch derjenige mit großem Hilfebedarf - geht tagsüber einer Arbeit nach und findet in einem Team, das arbeitsteilig arbeitet, seinen Platz, an dem er - und sei es nur mit einem kleinen Handgriff - an der Herstellung eines Produktes mitwirkt. Dabei legten die anthroposophischen Einrichtungen von Anfang an Wert darauf, Waren zu produzieren, die gebraucht werden. So wurden zum Beispiel auf dem Lehenhof[4] schon Anfang der 70er Jahre in der Bäckerei 500 (phasenweise bis 1000) Brote täglich gebacken und in einem Umkreis von mehr als 200 km geliefert. In der Kistenfabrik wurden bis zu Beginn der 90er Jahre zwischen 700 - 1000 Kisten für die Obstbauern im Bodenseegebiet hergestellt.

Durch die gemeinsame Verantwortung für die Arbeit und deren Qualität erlebt sich der Mitarbeiter mit Behinderung als Wert habend, da er an der Wertschöpfung aktiv Teil hat und bezogen auf seine Möglichkeiten nicht weniger Leistung erbringt als ein anderer. Er wird urteilsfähig für bestimmte Arbeitsabläufe, die überschaubar angelegt sind und gewinnt eine entsprechende Kompetenz, die er als Partner einbringen kann.

In einem reichen kulturellen Leben mit Theateraufführungen, Orchesterarbeit, Lesungen, Konzerten, Tanz, Gesprächen über aktuelle Zeitfragen, das sowohl von den Dorfbewohnern selbst gestaltet wird, als auch von eingeladenen Künstlern und Vortragenden, erleben sich die Gemeinschaftsmitglieder als Kultur-Schaffende und tauchen in eine geistige Auseinandersetzung über verschiedenste Inhalte ein. Die Menschen mit Behinderung werden ernst genommen und in den kulturellen Bildungsprozess mit einbezogen. Darin finden sich die Grundlagen und Anregungen für Gespräche über soziale und persönliche Fragen und es entsteht Interesse für das, was in der Welt vorgeht.

Durch eine klare und rhythmisch angelegte Struktur des Gemeinschaftslebens mit langfristigen Konstanten und wiederkehrenden Elementen wird das Leben insgesamt so durchschaubar gemacht, dass sich jeder Betreute seinen Fähigkeiten gemäß sicher und frei in diesem Rahmen mit eigenen Handlungsmöglichkeiten als Mitgestalter bewegen kann.

Soziale Formen zur Mitgestaltung und Mitbestimmung finden sich in verschiedenen Strukturen wie Hausabend, Werkstattrat und Dorfversammlung, in denen alle Anliegen besprochen werden und die Menschen ihre Bürgerrechte wahrnehmen.

Da in den Gemeinschaften oft mehr als die Hälfte der Bewohner Menschen mit geistiger Behinderung sind, geben sie dem Dorf ein eigenes Gepräge mit eindeutigen Werten wie Offenheit, Ehrlichkeit und Unverstelltheit. Es entsteht eine Atmosphäre, in der Anders-Sein akzeptiert wird und Hilfe selbstverständlich gewährt wird. Die Menschen mit Behinderung tragen einen großen Teil der Verantwortung und sind damit vollgültige Mitglieder der Gemeinschaft.

Aus dieser Dorfgemeinschafts-Idee und den ersten Umsetzungen entwickelten sich bis heute in über 40 Ländern mehrere hundert solcher Einrichtungen, die je nach Land und Situation unterschiedlichste Verwandlungen erfahren haben. Viele haben selbständige Wohngruppen angegliedert oder die Möglichkeit geschaffen, in Wohnungen allein zu leben. Es gibt auch zunehmend Gemeinschaften, die Stadtteil-integriert sind.

Eine Kritik, die den klassischen Dorfgemeinschaften entgegengebracht wird, ist, sie würden sich gegen außen abschließen und keine Integration in die Gesellschaft gewährleisten. Diese Kritik ist nicht unberechtigt. Die Entwicklungen in jüngster Zeit, sich in die Umgebung zu öffnen durch die erwähnten Erweiterungen, durch Öffentlichkeitsarbeit und Kooperationen, kommen dieser Kritik in ihren berechtigten Punkten nach. Allerdings bedeutet räumliche Integration noch keine soziale Integration und rein praktisch ergeben sich zum Beispiel aus einer Wohnsituation in einer Stadt mit einem räumlich weit auseinanderliegenden Arbeitsplatz Einschränkungen in der Selbstbestimmung und freien Bewegungsmöglichkeit, weil Begleitung oder ein spezieller Fahrdienst notwendig werden können. In einer Dorfgemeinschaft können die Wege allein bewältigt werden und frei Umwege gemacht werden. In vielen Dorfgemeinschaften gibt es Busverbindungen zu den nächsten Dörfern mit festen Fahrplänen, so dass auch die betreuten Bewohner, ohne fragen zu müssen, dorthin gehen können.

Die größere Kritik kommt aber vielleicht von den Bewohnern und Mitarbeitern der Dorfgemeinschaften selbst, die weitere Entwicklungen anmahnen. Dazu gehören die weitere Fortführung der Öffnung und Bildung von Netzwerken mit Einrichtungen und Betrieben im Umkreis der Gemeinschaften, die weitere Differenzierung der Lebensmöglichkeiten im und außerhalb des Dorfes und das Einrichten von Lehr- und Wanderjahren für Menschen mit geistiger Behinderung.

In diesem Beitrag sind einige Grundlagen und Qualitätsmerkmale der sozialtherapeutischen Arbeit dargestellt worden. Andere Gesichtspunkte wie die theoretischen Grundlagen für die soziale Gestaltung und die Gestaltung des religiösen Lebens sind nicht näher ausgeführt worden. Sie können zum Beispiel in dem Buch "Lebensformen in der sozialtherapeutischen Arbeit"[5] nachgelesen werden.

Die anthroposophische Sozialtherapie stellt die Frage nach dem Mensch-Sein in den Vordergrund der Arbeit. Sie versucht, dem Menschen mit geistiger Behinderung ein volles Mensch-Sein zu ermöglichen und zu fördern. Die Forderungen des Normalisierungsprinzips und der Empowerment-Bewegung ergeben sich selbstverständlich aus diesen Bemühungen, allerdings erhalten sie in der sozialtherapeutischen Arbeit einen anderen Stellenwert.

Methodisch geht sie von der Gestaltung des sozialen Lebens durch die dargestellten Qualitätsmerkmale und Werte aus, das für alle menschlichen Entwicklungsprozesse die Voraussetzung bildet. Dadurch gewinnt der Einzelne die Freiheit, die einem erwachsenen Menschen gemäß ist. Direkte Beratung und therapeutische Intervention erfolgt bei Bedarf. Der erwachsene Mensch mit Behinderung soll also keinesfalls mehr erzogen werden, sondern als Partner in der Gemeinschaft leben, sie verantwortlich mitgestalten und Entwicklung im Sinne der Selbsterziehung vollziehen.



[1] Der Begriff wurde in den 60er Jahren vom Vorstand der Werkgemeinschaft (damaliger Zusammenschluss der deutschen anthroposophischen Einrichtungen) geprägt. Heute: Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V. in Deutschland.

[2] Botton Village, Danby, GB-Whitby, North Yorkshire.

[3] Dr. Karl König (1902-1966), Arzt und Heilpädagoge, Begründer der Camphill-Bewegung

[4] Camphill-Dorfgemeinschaft Lehenhof, D-88693 Deggenhausertal

[5] Lebensformen in der sozialtherapeutischen Arbeit, Johannes Denger (Hrsg), Stuttgart 1995, Verlag Freies Geistesleben, ISBN 3-7725-1179-1

Der Autor

Dr. Armin Küttner, geb. 1960

1981-85 Ausbildung zum Heilerzieher

1986-92 Lehramtsstudium der Biologie und Physik

1992-95 Promotion zum Dr. rer. nat. in Neurobiologie

1992-99 Heimleiter einer anthroposophischen Wohneinrichtung für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung in Berlin

seit 1999 Mitarbeiter der Camphill Schulgemeinschaft Föhrenbühl

Heimsonderschule Föhrenbühl

D-88633 Heiligenberg

E-Mail: a.kuettner@foehrenbuehl.de

Quelle:

Armin Küttner: Sozialtherapie. Leben und Arbeiten mit erwachsenen Menschen mit Behinderung

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/2000; Reha Druck Graz S. 31-34

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 17.03.2005

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