Heilen und Erziehen

Eine Einführung in die anthroposophische Heilpädagogik

Autor:in - Götz Kaschubowski
Themenbereiche: Theoretische Grundlagen
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/2000; Reha Druck Graz S. 11-20 Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (6/2000)
Copyright: © Götz Kaschubowski 2000

Heilen und Erziehen

Die anthroposophische Heilpädagogik wurde und wird immer wieder in Form ihrer Praxis wahrgenommen. Besonders die Heimeinrichtungen, dort praktizierte Sozialformen und das kulturelle Miteinander stehen in der Öffentlichkeit in gutem Ansehen.

In diesem Beitrag soll versucht werden, den Kern der Arbeit, nämlich das Ringen um die Erkenntnis des Einzelnen, zur Darstellung zu bringen.

Der Mensch ist nicht ein stehenbleibendes Wesen,

er ist ein Wesen im Werden.

Je mehr er sich selbst in die Möglichkeit versetzt zu werden,

desto mehr erfüllt er seine wirkliche Aufgabe.

Rudolf Steiner

Als die beiden Wiener Georgens und Deinhardt den Begriff Heilpädagogik im Jahre 1861 prägten, verbanden sie damit den Anspruch, die von ihnen betreuten Kinder zu erziehen und zu heilen. Dieser Gedanke war sicher insofern berechtigt, als bis dato die Mehrheit behinderter Kinder ein gesellschaftliches Außenseiterdasein fristeten. Die gemachten Erfahrungen in ihrer Betreuung waren begrenzt bzw. relativ unbekannt. So sollten pädagogische und medizinische Maßnahmen helfen, diesen Kindern einen weitgehend normalen Lebensweg zu ermöglichen. In den folgenden Jahren differenzierte sich die Bewegung inhaltlich - jedoch unter gleichem Namen - aus.

Auch in Deutschland und der Schweiz gewann die heilpädagogische Idee viele Anhänger, wurde einerseits zu einer Glaubens-, andererseits zu einer politischen Angelegenheit (vergl. Möckel 1988). Die Eugenikbewegung der 20er Jahre wurde von den Nationalsozialisten aufgegriffen und führte Anfang der 40er Jahre zu den bekannten Massenmorden an behinderten Menschen.

Die Nachkriegszeit schloss zunächst unreflektiert an die Vorkriegszeit an. Sowohl der Terminus Heilpädagogik als auch die Menschen, die von heilpädagogischem Tun erreicht wurden, blieben dieselben; ebenso diejenigen, die wegen der Schwere ihrer Behinderung ausgeschlossen waren.

Daneben hat sich auf dem geisteswissenschaftlichen Hintergrund der Anthroposophie eine eigene anthroposophisch-heilpädagogische Bewegung entwickelt.

Seelenpflege-bedürftig

Bereits in der ersten Waldorfschule, die 1919 vom Direktor der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik Emil Molt in Stuttgart begründet wurde, war mit dem österreichischen Philologen Dr. Karl Schubert ein Lehrer heilpädagogisch tätig. Schubert leitete die sogenannte Hilfsklasse, die eine Durchgangseinrichtung war. Zu ihm kamen Schüler, die epochenweise gefördert wurden, um dann wieder in ihre alten Klassen zurückzugehen.

Im Klinisch-Therapeutischen Institut in Arlesheim bei Basel - dem ersten anthroposophischen Krankenhaus - wurden Anfang der 20er Jahre behinderte Kinder auf besonderen Wunsch der Eltern von Dr. Rudolf Steiner und seiner ärztlichen Mitarbeiterin Dr. Ita Wegmann betreut.

Steiner hatte selbst als junger Mann in Wien einen als bildungsunfähig ausgeschulten hydrocephalen Jungen über einige Jahre als Hauslehrer betreut und damit sein "Studium der Psychologie gemacht... Ich wurde gewahr, wie Erziehung und Unterricht zu einer Kunst werden müssen, die in wirklicher Menschenerkenntnis ihre Grundlage hat." (Steiner GA 28).

Es gelang ihm, den Hydrocephalus zurückzubilden, den Jungen in die Regelschule zu integrieren, wo er das Abitur machte, um später Medizin zu studieren.

Eine mehrjährige intensive Beziehung hatte Steiner zu einem halbseitig gelähmten Mädchen, das zusätzlich an einer epileptischen Erkrankung "mit bis zu einhundert Absencen täglich" (Matile 1995) litt. Dieses Mädchen war die Tochter eines Freundes.

Im Jahr 1923 traten drei junge Männer an Steiner heran und fragten ihn, wie unter anthroposophisch-geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Arbeit mit behinderten Kindern aussehen müsse. Sie hatten, aus den Trüperschen Anstalten in Jena (Thüringen) kommend, eine eigene Heimeinrichtung begründet und wollten den klassischen, schulmedizinisch orientierten Rahmen der Arbeit verlassen. Steiner beriet sie, schaute sich Heim und Kinder an und begründete den Namen Seelenpflege-bedürftig. "Es muss schon aus dem Titel ersichtlich sein, was dort geschieht.... Wir müssen einen Namen wählen, der die Kinder nicht gleich abstempelt" (Strohschein 1967).

Danach war erstmals in der Geschichte der Heilpädagogik ein förderorientierter Ansatz der Arbeit begründet. 50 Jahre bevor er Eingang in die Literatur und in die akademische Heil- und Sonderpädagogik fand, hat Rudolf Steiner sich für das individuelle Kind und damit gegen die vorherrschende Stigmatisierung behinderten Seins entschieden.

Die wenigen Überlieferungen Steiners zu heilpädagogischen Fragestellungen - im Wesentlichen handelt es sich um einen von Teilnehmern mitstenographierten Kurs - lassen deutlich werden, dass Steiner Heilpädagogik für ein dialogisches Tun hielt. Er ging davon aus, dass kindliche Entwicklung sich abhängig von der Entwicklung seines erwachsenen Begleiters vollzieht.

Seelenpflege beim Kind setzt demnach seelische Schulung beim Heilpädagogen voraus.

Bis in die dreißiger Jahre wurden insbesondere in Deutschland eine Reihe anthroposophisch-heilpädagogischer Einrichtungen gegründet, die jedoch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wieder geschlossen wurden. Neben den zwangsweisen Schließungen - anthroposophische Tätigkeit war verboten - erfolgten freiwillige, um die Kinder vor der Erfassung und anschließenden Euthanasie zu bewahren. Es ist eine interessante Randnotiz der Geschichte der Heilpädagogik, dass es gelang, die Spuren vieler behinderter Kinder durch Umzüge und private Unterbringung derart zu verwischen, dass ihre Ermordung verhindert werden konnte. Selbst Kinder mit offensichtlichen Behinderungen - etwa dem Down-Syndrom - konnten überleben (vergl. Kaschubowski 1998).

Während auf dem Kontinent - mit Ausnahme der Schweiz - die Arbeit weitgehend zum Erliegen kam, begann eine Gruppe junger Menschen um den Wiener Arzt Dr. Karl König in Schottland die Arbeit mit behinderten Kindern. Die heute weltweit verbreitete Camphill-Bewegung war begründet.

Nach 1945 konnte in allen westlich orientierten Staaten die Arbeit wieder oder neu aufgenommen werden. Heute zählt die anthroposophisch-heilpädagogische Bewegung annähernd 500 Einrichtungen auf allen fünf Kontinenten.

Die Kontinuität und die Weiterentwicklung dieser Arbeit war und ist nach 80 Jahren noch immer möglich, weil sie von einer bestimmten Anschauung des Menschen ausgeht. Danach hat menschliches Sein stets einen Sinn. Entwicklung schließt auch die Entwicklung des individuellen Menschen ein. Begegnungen, Ereignisse, Lebens- und Schicksalssituationen sind nicht zufällig, sie sind aber auch nicht offenbar.

Die Erkenntnisfrage

Die heilpädagogische Praxis zeigt, dass kein Kind systematisch erfahrbar ist. Jedes diagnostische Verfahren führt zu vorübergehenden Ergebnissen, denn spätestens mit der Veränderung der Fragestellung bzw. des Blickwechsels auf das Kind wird das Testergebnis fragwürdig. Es ist evident, dass der Fragesteller einen wesentlichen Teil des Ergebnisses strukturiert.

Eine pädagogische Beziehung ist stets auch eine doppelt subjektive. Der Heilpädagoge ist zunächst in seinen eigenen Lebensbezügen, aus denen heraus er denkt, fühlt und handelt, gefangen. Von ihnen kann er sich auch im pädagogischen Alltag nicht (immer?) freimachen. Der Subjektivität des Kindes begegnet der Heilpädagoge mit seiner eigenen. Und so strukturiert sich eine Beziehung, in der sich jeder Augenblick des Zusammenseins von jedem anderen unterscheidet. Allein das Anerkennen dieser fundamental menschlichen Situation hilft, den Blick für den Augenblick, das Individuelle und das Neue im Leben des uns anvertrauten Kindes freizuhaben.

Der Begriff ganzheitlich erfährt damit eine Erweiterung und verliert jede Statik.

Will man dieser Wirklichkeit gerecht werden, bedarf es eines Erkenntnisinstrumentariums, welches die angedeuteten subjektiven Momente als produktive aufgreift.

Ein solches ist von Rudolf Steiner in unterschiedlichster Weise beschrieben und erörtert worden. Allen Darstellungen gemeinsam ist das Element der Übung. Da Erkenntnisbildung eben grundsätzlich von dem Subjekt Mensch betrieben wird, kann das Ergebnis niemals objektiv sein (s.o.). Der Erzieher hat also die Aufgabe, zunächst seine eigene Subjektivität zu erkennen und sie dann fortzuschaffen, um dem Kind Raum zu geben. Eine Annäherung an das Kind setzt die Distanz zu sich selbst voraus. Anthroposophische Erkenntnisbildung ist daher ein ständiges Üben.

Beispiel:

Man lasse jeden Abend vor seinem inneren Auge das Kind entstehen. Es soll so plastisch wie möglich sein: die Gestalt soll in allen Details erscheinen, der Klang seiner Sprache trifft auf unser inneres Ohr, wir erleben seine Bewegung, wir vertiefen uns noch einmal in eine bestimmte Situation, die wir miteinander erlebt haben.

Diese Bildgestalt aufzubauen, ist schwer genug. In einem zweiten Schritt folgt der Bildgestalt das bewusste Vergessen und in einem dritten begegnen wir dem Kind mit dem Erarbeiteten. Ist uns sein Verhalten jetzt deutlicher geworden? Können wir es bald besser verstehen? Haben wir vielleicht unsere eigene Beteiligung erkannt?

Man kann sich im Weiteren zeitliche Limits setzen oder solche Übungen anderweitig fortsetzen.

Unsere alltägliche Begegnung mit dem Kind wird damit zum Bewusstsein gebracht und ihre Reflexion erhält eine erweiterte Grundlage. Schließlich kann das Gefühl - welches sich evtl. zum Bewusstsein steigert - entstehen, das Wesen des Kindes erfahren zu haben.

Solcherlei Tun setzt weder ein bestimmtes Menschenbild noch einen besonderen Wissenschaftsbegriff voraus. Jeder pädagogisch Tätige kann dies tun und wird die Einfachheit aber auch Wirkung kennen lernen: man ist dem Kind näher.

Das Verhältnis von Methode und Gegenstand ist mit diesen einführenden Bemerkungen beleuchtet. Wissenschaftliches Arbeiten setzt im Weiteren ein planvolles, gezieltes Vorgehen nach Regeln voraus. Rudolf Steiner hat den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit formuliert und die Grundlagen hierzu in seinen erkenntnistheoretischen Werken gelegt (vergl. Kaschubowski 1998 bzw. Schneider 1985).

Anthroposophisch fundierte Erkenntniswege

Was im Folgenden zur Darstellung kommt, ist für die um Objektivität (welche eigentlich?) bemühte Erziehungswissenschaft immer wieder schwer zu verstehen. Jedoch hat die Reformpädagogik und haben einzelne große Pädagogen gezeigt, dass Meditation oder Kontemplation den Zugang zur Wirklichkeit des Kindes ermöglichen.

So hat Martin Buber in seinem Umfassungsbegriff die "... elementare Erfahrung ... (des Kindes/G.K.) mit der das eigentlich Erzieherische anfängt und auf der es sich gründet" (Buber 1986) beschrieben. "Ich nenne sie die Erfahrung der Gegenseite. .. Erweiterung der eigenen Konkretheit, Erfüllung der gelebten Situation, vollkommene Präsenz der Wirklichkeit, an der man teilhat. Ihre Elemente sind: erstens ein irgendwie geartetes Verhältnis zweier Personen zueinander, zweitens ein von beiden gemeinsam erfahrener Vorgang, an dem jedenfalls eine der beiden tätig partizipiert, drittens das Faktum, dass diese eine Person den gemeinsamen Vorgang, ohne irgendetwas von der gefühlten Realität ihres eigenen Tätigseins einzubüßen, zugleich von der anderen aus erlebt" (a.a.O.).

Buber spricht sich für die miterlebte Erfahrung des Kindes aus, die erst die Grundlage für das von ihm postulierte "dialogische Verhältnis" bildet. Dieses wesentliche Element in Bubers Pädagogik wird bei der Inanspruchnahme des dialogischen Prinzips in der Regel nicht beachtet.

Auch Janusz Korzcak fordert diesen Aspekt des gemeinsamen Erlebens. "Einen Menschen kennen lernen heißt vor allem, ein Kind zu erkunden, auf jede mögliche Art und Weise. Ich versuche das nicht auf dem wissenschaftlichem Wege - ich sehe dem Kind ins Auge. Mir scheint, dass im Intellekt kein Unterschied ist. Das Kind und ich - derselbe Gedankengang, alles dasselbe. Nur eins - ich lebe länger. Aber in den Gefühlen ist ein Unterschied. Es heißt daher, nicht mit ihm zusammen zu verstehen, sondern mit ihm zusammen zufühlen: wie ein Kind sich freuen und traurig zu sein, zu lieben und böse zu sein, sich zu schämen und beleidigt zu sein, sich fürchten und Zutrauen zu haben - wie macht man das? Und wenn ich das nicht fertig bringe - wie kann ich andere lehren?" (Korczak zit. nach Langhanky 1993)

Rudolf Steiner differenziert diese verstehende Erkenntnismethode aus, indem er verschiedene Erkenntnisstufen benennt, die ein jeweils vertiefendes Verständnis des Kindes ermöglichen.

Meditation, Kontemplation in Steiners Sinn meint jedoch nicht Vertiefung in die eigene Innerlichkeit, meint auch nicht seelische Erbauung, Trance o.ä., sondern das exakte Gegenteil. Steiner postuliert eine sich denkend vollziehende Vertiefung in voller Wachheit, in Gedankenklarheit und in methodischer Exaktheit. Seine grundlegenden Schriften enthalten Darstellungen, in welcher Weise diese Klarheit erreicht, aber auch verpasst werden kann.

Dass es eine nichtsinnliche Realität gibt, ist evident. Gedanken, Träume, Hoffnungen, Wünsche bestimmen unser Leben, sind systematisch nicht zu erfassen. Dass wir etwas nicht beweisen können, sagt also nichts über seine Wirklichkeit aus. - Umgekehrt lässt sich etwa die Existenz des Zwergmausmakis auf Madagaskar nicht logisch beweisen, man muss ihn erlebt haben, um etwas über seine Wirklichkeit aussagen zu können.

Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage sind die Aussagen Steiners auf ihre innere Stringenz hin zu überprüfen. Das kann hier jedoch nicht geleistet, sondern nur angedeutet werden. Es sei verwiesen auf Schneider 1985 und Kaschubowski 1998.

Von Imagination spricht Steiner, wenn sich die Wahrnehmungen vom Kinde zu einem Bild steigern lassen. Während der Alltag mir unreflektiert viele Eindrücke vom Kind vermittelt, kann ich Aspekte seiner Erscheinung immer wieder ins Bewusstsein rufen, bis sie sich zu einem Bild verdichten. Es können auch mehrere sein, die zueinander in Beziehung gesetzt werden. Man erlebt Eigenschaften des Wesens des Kindes.

Will man seine Wahrnehmung weiter steigern und zum Wesen des Kindes vorstoßen - das todüberdauernd und vorgeburtlich ist - verlangt Steiner eine Steigerung des Fühlens zu einem objektiven Mitleiden (=Empathie). Man nimmt Anteil am inneren Wesen des Kindes, was Steiner Inspiration nennt.

Und schließlich ermöglicht die Intuition das Leben wie im Inneren des Kindes. Man kann die Welt quasi aus seiner subjektiven Sicht erfahren.

Diese drei Qualitäten durchdringen sich immer wieder, blitzen auf und verschwinden. Sie sind abhängig von der übenden Tätigkeit des Heilpädagogen.

Ein solches, bewusst auf subjektive Erkenntniskräfte setzendes Verfahren, birgt nicht geringe Gefahren.

Die Möglichkeit zu irren und dem Kind nicht gerecht zu werden ist vorhanden. Daher hat sich in der anthroposophischen Heilpädagogik die Kinderkonferenz als ein Ort der gemeinsamen Bemühung um das Kind durchgesetzt. In dieser Konferenz treffen sich alle Menschen, die mit einem Kind befasst sind. Jeder ist vorbereitet trägt seine, an Phänomenen orientierte Beschreibung bei, versucht aber auch, die der anderen anzuhören, einzuordnen, zu gewichten. Dabei wird geübt, nicht vorschnell zu beurteilen, das eigene Bild zu revidieren, neuen Gesichtspunkten Raum zu geben.

Es soll ein Bild entstehen, ein Bild des Kindes, in dem es von allen wieder- oder neu erkannt wird.

In einem weiteren Schritt wird gefragt, was sich dort schicksalhaft ausdrückt, wie die gesamte Lebenssituation, die Schwierigkeiten, Freuden, Leiden, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Kindes zu verstehen sind.

Erst dann werden heilpädagogische und therapeutische Maßnahmen in einem dritten Schritt angedacht.

Solcherlei Bemühen ist äußerst anstrengend, für den Einzelnen wie auch für die Gemeinschaft. Es hilft dem Einzelnen jedoch, dem Kind nahe zu kommen. Es verhindert aber auch dessen "Verrennen" in falsche Vorstellungen, wirkt also wie eine soziale Kontrolle.

Müller-Wiedemann, der als Heimarzt annähernd 40 Jahre tätig war, sieht in diesem diagnostischen Bemühen auch eine gesellschaftliche Aufgabe. "Das Überwinden der ausschließlichen Wahrnehmung des Defektes" sei es, was von der Gesellschaft immer wieder geleistet werden müsse. Sie müsse ihren Begriff von Normalität überwinden und durch ein Recht auf individuelles Sein ersetzen (Müller-Wiedemann 1992).

Selbsterziehung

Wie immer man sich zu der dargestellten Methode verhalten mag, die Tatsache, dass eine pädagogisch strukturierte Beziehung zu einem Kind erfolgreicher ist als eine unstrukturierte, kann jedermann in seinem pädagogischen Alltag überprüfen. Erhebt man den Anspruch auf Dialogik, ist man aktiv Beteiligter und als solcher zur Überwindung seines Alltagsmenschen aufgefordert. Die Selbsterziehung tritt damit notwendig als gestaltendes Element in unseren Blickpunkt.

Sie hat in der Geschichte der Pädagogik eine gute Tradition.

Der große Philanthrop C. G. Salzmann formuliert die Fragestellung so: "Mein Symbolum ist kurz und lautet folgendermaßen: Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muss der Erzieher den Grund in sich selbst suchen" (Salzmann 1948).

Auch Korczak fordert diese Selbsterkenntnis "Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest." (Korczak zit. n. Klein 1998)

Paul Moor stellt im Sinne einer immerwährenden Entwicklung des Menschen das Kind und den Heilpädagogen nebeneinander:" Dass ich selber ebenso wie das Kind auch erst auf dem Wege bin in der Arbeit an mir selbst..." (Moor 1994).

Schließlich formulierte Rudolf Steiner gar ein pädagogisches Gesetz, in welchem er direkte Wirkungsweisen vom Erzieher auf das Kind beschrieb und daher eine dauernde Schulung desselben als Grundlage aller erzieherischen Tätigkeit forderte (Steiner GA 317).

Selbsterkenntnis und Selbsterziehung werden damit zu einem Erkenntnisparadigma. Ohne sie wird pädagogisches Handeln möglicherweise zur Willkür, sicher aber zu einer Technik und damit verstößt sie gegen die Würde des Kindes. Andererseits wird in diesem pädagogischen Denken der Person des Erziehers eine herausragende Rolle zugemessen. Kein zwischenmenschliches Moment gleicht dem anderen und so wird dem Sein des Erziehers dieselbe Bedeutung zugemessen wie dem nach Hilfe fragenden Kind. Der Heilpädagoge, Lehrer, Erzieher ist jedoch in der Regel der Handelnde, weshalb seinem Tun besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist.

Rudolf Steiner gibt daher in seinen pädagogischen Vorträgen eine Fülle von Anregungen für die Selbsterziehung. In seinem Heilpädagogischen Kurs werden seine Ausführungen von der Grundfrage aller Diagnostik geleitet, die sich wohl so formulieren lässt: Konstatieren wir lediglich eine kindliche - vielleicht schwierige - Lebenssituation oder kann uns die Erkenntnis eine neue Handlungsebene erschließen. Und für den anthroposophischen Heilpädagogen bedeutet jede neue Situation eine bewusste, auch von der Erkenntnis der eigenen Beteiligung durchdrungene innere Haltungsänderung.

Es ist deutlich, das hier mancherlei Gefahr lauert. Die Selbsterkenntnis kann zur Fehleinschätzung werden, die Selbsterziehung willkürliche Ergebnisse erbringen. Große Worte entpuppen sich als Leerformeln. Um solchen Gefahren vorzubeugen, rät Steiner, einen Schulungsweg zu gehen. So solle der Heilpädagoge mit der Andacht zum Kleinen beginnen und "diese Andacht zum Kleinen in der allerallerbescheidensten Weise entwickeln" (a.a.O.). Bereits in kleinen Phänomenen drücke sich oft der ganze Mensch aus. Der Heilpädagoge solle das Kind regelmäßig vor sein inneres Auge stellen, es beschreiben und mit diesem Bild wieder prüfend an es herantreten. Kennt er wirklich alle Details? Hat er richtig gewichtet, manches vielleicht übersehen? Aber auch der eigenen Entwicklung können solche Übungen dienen. Man kann sich fragen, ob es hilfreich ist, mit seinem privaten Ärger, seinen Aggressionen gegen Dritte, u.ä. vor das Kind zu treten oder ob der Privatmensch nicht - wie Steiner es fordert - an der Garderobe abgegeben werden sollte.

"Sich nicht nach Vorschriften richten, Mut zu entwickeln, das Richtige zutun, dem Kind mit Humor begegnen ...." (a.a.O.) - wer einmal versucht, solche Ratschläge tagtäglich in der Arbeit umzusetzen, wird bemerken, wie sehr unser Alltagsmensch bewusstes Tun immer wieder verhindern und zugunsten eines situativen und damit emotionalen aufgeben will.

Es ist das große Verdienst der Psychoanalyse, die Abhängigkeit zwischen frühkindlichen Erfahrungen und dem späterem Erleben der Welt sowie dem Handeln in ihr aufgezeigt zu haben. Es ist Steiners Verdienst, Wege aufgezeigt zu haben, wie man in einem bewussten Umgang mit sich und der Welt dieser Gefahr begegnet und sich so der Wirklichkeit des Kindes nähern kann.

Wie notwendig die Auseinandersetzung mit dem Gedanken der Selbsterziehung ist, kann jeder pädagogisch Tätige alltäglich erfahren: er ist ständig in Situationen eingebunden, in denen es grundverschiedene Möglichkeiten gibt, auf kindliches Verhalten zu reagieren. Jedes Mal stellt sich - unausgesprochen - die Frage, ob seine Reaktion der Weiterentwicklung des Kindes, der Lösung einer Schwierigkeit oder einem Bedürfnis seiner selbst entspricht.

Aspekte einer Ethik

Wenn es richtig ist, dass jedes Leben einen Sinn hat, dann auch behindertes. Dann haben die Kinder, die ein solches führen, ein Recht darauf, in ihrer Individualität erkannt zu werden. Es liegt in der Verantwortung des Heilpädagogen, ihrem Sein Geltung zu verschaffen.

Es darf behauptet werden, dass ein Unterlassen dieser Erkenntnisbemühung zum Verlust der Legitimation führt, mit diesem Kind tätig zu sein. Denn jedes Kind ist zunächst ein Rätsel und fragt stets aufs Neue nach erzieherischen Qualitäten. Dass diese nicht einfach vorhanden sind, sondern immer wieder im Ringen gegen die eigenen Schwächen erworben werden müssen, bildet die wesentliche Grundlage für heilpädagogisches Handeln.

Karl König stellt mit Bezug auf dieses kindliche Rätsel fest, dass wir nicht nur kaum die Wirklichkeit erreichen, sondern dass wir sogar wissen, nichts zu wissen (König 1984).

Müller-Wiedemann versucht dem erkennenden Blick daher eine andere Richtung zu geben und macht die "Grunderfahrung einer existentiellen Gemeinsamkeit" (Müller-Wiedemann 1994). "Da erleben wir etwa ein Kind mit einem auffallend großen Kopf und bemerken, dass die Diskrepanz zwischen der Leibesgestalt und der Kopfgestalt im Vordergrund steht. Wir bemerken aber auch eine schon an das Krankhafte grenzende seelische Disharmonie, indem dieses Kind uns verträumt erscheint, weiter, dass es unter Aufmerksamkeitsstörungen oder Konzentrationsstörungen leidet und nur schwer in der Schule mithalten kann, usw. Indem wir uns in eine solche Situation einfühlen, bemerken wir, dass auch wir solche Zustände in unserer Seele tragen: wo wir träumen, wo wir nicht aufpassen können, vor allen Dingen ermüdet sind, und wo uns das Bewusstsein gegenüber der physischen Welt, unsere Wachheit verschwindet, verloren geht oder vermindert wird. Wir bemerken, dass vieles in uns lebt, zugedeckt von unserer äußeren Leibesgestalt - wie ein zweiter Mensch. Es tritt nur nicht wie beim behinderten Kind heraus, es tritt nicht in die soziale Öffentlichkeit" (a.a.O.).

Wendet man den Blick dergestalt, verändert sich die Beziehung zum behinderten Kind: die eigene Beteiligung am Prozess der Behinderung wird erfahren; das Denken über Behinderung kehrt sich geradezu um. Es wird nicht länger das Besondere, Pathologische oder Trennende, sondern das menschlich Gemeinsame gesucht.

Verstehen wir die Lebenssituation des Kindes als Vereinseitigung oder Übersteigerung an sich "normaler" Vorgänge, können wir versuchen, diese leiblich nachzuvollziehen.

Wer solcherlei übt, wird ganz erstaunliche Erfahrungen machen.

Erweiterte Erkenntnisbildung und übendes Tun können nicht gefordert werden. Wer die Verantwortung nicht annimmt, kann nicht dazu genötigt werden. Sie liegen im freien Willen des Heilpädagogen. Blickt man auf die Chance, die in dieser Freiheit liegt, erfährt Heilpädagogik eine gesellschaftliche Dimension: Abhängigkeiten müssen abgebaut werden.

So wird versucht, in anthroposophisch-heilpädagogischen Einrichtungen durch kollegiale Führungsstrukturen jedermann in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Das bedarf vieler Gremien, erfordert einen erheblichen Zeitaufwand und ist sicher nicht immer leicht zu leben. Der langjährig tätige Mitarbeiter schaut vielleicht in anderer Weise auf eine Situation, die der jüngere gerade mit Schwung völlig verändern möchte. Daneben sind im Alltag Entscheidungen zu treffen, müssen Alltäglichkeiten geregelt werden, die der großen Konferenz nicht vorgelegt werden. Die Kollegen, die hierfür verantwortlich sind, müssen sich jedoch auch ohne Abstimmung des Vertrauens des Kollegiums sicher sein dürfen.

Schließlich fällt dem Umgang mit Geld eine wesentliche Rolle zu: Ein freies Miteinander ist nur möglich, wenn äußere Qualifikationen und die damit verbundenen Einkommen als sozial bestimmende Faktoren entfallen. So wird in vielen anthroposophischen Einrichtungen auf die Entlohnung im üblichen Sinne verzichtet und durch ein gemeinsames Wirtschaften - auf der Grundlage individueller Notwendigkeiten - in Form von Sozialfonds ersetzt.

Anthroposophische Heilpädagogik reicht damit weit über das hinaus, was man üblicherweise unter Heil-, Sonder-, Behinderten oder Rehabilitationspädagogik versteht. Sie beschäftigt sich vielmehr "...mit Grundfragen unserer menschlichen Existenz. Sie will in der gegenwärtigen Situation und auch in der Zukunft nicht eine bestimmte oder spezifische Weltanschauung sein, sondern vor allen Dingen eine menschenwürdige Erkenntnismethode, eine Anthroposophie als Impulsierung des Erkenntnis- und Heilerwillens, wobei neue Freiheitsräume, die zugleich Würderäume sind, geschaffen werden." (a.a.O.).

Normatives Denken und ein an ihm orientiertes Handeln würde sowohl die Freiheit einschränken, als auch die Würde (des betreuten Menschen) verletzen. Anthroposophisch orientiertes Erkennen und Handeln will der Besonderheit jedes individuellen Menschen Geltung verschaffen.

Heilpädagogische Praxis

Die dargestellten Arbeitsgrundlagen haben dazu geführt, dass in anthroposophischen Einrichtungen bereits seit Mitte der 20er Jahre der Bildungsanspruch aller Kinder - also auch der sogenannten geistigbehinderten - eingelöst wurde. In der St. Johns Waldorf - School in Camphill, Schottland, hatte Karl König bereits in den 4oer Jahren die gemeinsame Unterrichtung der Mitarbeiterkinder mit den Seelenpflege-bedürftigen Kindern eingeführt. Damit gab es eine integrative Beschulung, lange bevor der Begriff überhaupt erfunden war.

Obwohl es keine Dachorganisation gab, lange Zeit nicht einmal einen Verband, jede Einrichtung also völlig autonom ihre Strukturen und Arbeitsinhalte bestimmte, entwickelte sich ein Charakteristikum anthroposophisch-heilpädagogischer Arbeit: die therapeutische Gemeinschaft (vergl. insbesondere Grimm 1995).

Dieser heilpädagogische Organismus lässt sich beschreiben als der Versuch, das Nebeneinander von erzieherischen, schulischen, medizinischen und therapeutischen Maßnahmen zugunsten eines Miteinanders aufzulösen. Über Jahrzehnte geschah dies insbesondere in Form von Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, die Heimschulen (für Kinder und Jugendliche) oder Dorfgemeinschaften (für Erwachsene) waren.

Heute wird die ganze Bandbreite der Heilpädagogik abgedeckt: von der Frühberatung über die Frühförderung hin zu allen Formen der Sonderschule, sowohl als Heim-, wie auch als Tageseinrichtung; berufsvorbereitende und -qualifizierende Maßnahmen, Einrichtungen der Erziehungshilfe, sozialtherapeutische Wohngemeinschaften und Dorfgemeinschaften.

Hinzu kommen unterschiedlichste Angebote im Bereich der sozialen Arbeit: Drogenhilfe, Straßenarbeit, Betreuung straffällig gewordener Menschen, sowie Einrichtungen der Psychiatrie.

So unterschiedlich die einzelnen Arbeitszusammenhänge und die Einrichtungen selbst sind, allen gemeinsam ist das Streben nach Vermenschlichung der Lebenszusammenhänge. Es darf wohl für alle auf der Basis der Anthroposophie Arbeitenden konstatiert werden, dass heilen und erziehen nicht nur caritative Hilfestellung und schon gar nicht Anpassung an gesellschaftliche Wertvorstellungen bedeutet, sondern den täglich wiederkehrenden Versuch, die betreuten Menschen in ihrem Wesenskern zu verstehen.

Literatur

Buber, Martin: Reden über Erziehung, Heidelberg, 7. Aufl. 1986

Grimm, Rüdiger: Perspektiven der Therapeutischen Gemeinschaft in der Heilpädagogik, Bad Heilbrunn 1995

Kaschubowski, Götz: Heilpädagogisches Handeln auf der Grundlage der Erkenntnistheorie und Menschenkunde Rudolf Steiners, Hamburg 1998

Klein, Ferdinand: Janusz Korczak. Sein Leben für die Kinder; Bad Heilbrunn 1996

König, Karl: Heilpädagogische Diagnostik. Neuauflage Arlesheim 1994

Langhanky, Michael: Die Pädagogik von Janusz Korczak. Neuwied, Kriftel, Berlin 94

Matile, Angela: Der Einbruch in das Menschenschicksal. In: Z. Seelenpflege 4/1995

Moor, Paul: Heilpädagogik - Ein pädagogisches Lehrbuch. Luzern 1994

Müller-Wiedemann, Hans: Die Kinderkonferenz. In: Z. Lernen Konkret 3/ 1992

Salzmann, Christian Gotthilf: Ameisenbüchlein. Berlin, Leipzig 1948

Schneider, Peter: Einführung in die Waldorfpädagogik. Stuttgart 1985

Steiner, Rudolf: GA 28 Mein Lebensgang. Dornach 1983

GA 317 Heilpädagogischer Kurs. Dornach 1979

Strohschein, Albrecht: Die Entstehung der anthroposophischen Heilpädagogik, In: Wir erlebten Rudolf Steiner. Stuttgart. 6. Auflage 1980

Der Autor

Dr. Götz Kaschubowski, geb. 1957, verh. Vater von drei Kindern, Dipl. Päd., Sonderschullehrer, Dr.päd.; nach dem Referendariat neun Jahre Mitarbeit in einer Heimsonderschule, im fünften Jahr an einer Tagesschule für Lernbehinderte (Förderschule) und Erziehungshilfe; Dozententätigkeit in der Ausbildung von Heilerziehern und Lehrern an heilpädagogischen Schulen.

Falkenburgstr. 13

D 67122 Altrip

Tel. 06236/30602

Quelle:

Götz Kaschubowski: Heilen und Erziehen. Eine Einführung in die anthroposophische Heilpädagogik

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 6/2000; Reha Druck Graz S. 11-20

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 11.07.2005

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