Freiheit und Solidarität durch Demokratie

Autor:in - Felix Mattmüller
Themenbereiche: Schule
Textsorte: Zeitschrift
Releaseinfo: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/99. Thema: Modelle der Kooperation Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft (4/5/1999)
Copyright: © Felix Mattmüller 1999

Freiheit und Solidarität durch Demokratie

Pädagogik geht immer einher mit der sozialen, ökonomischen und politischen Situation. In dieser Vernetzung hat die Bildungsinstitution "Schule" eine entscheidende Verantwortung. Ist sie Gehilfin der Wirtschaft und Gesellschaft, die intellektuelle Leistungsmenschen benötigt, die sich isoliert in die herrschenden Machtstrukturen "einpassen"? Oder entwickelt sie eine Gegenkraft dazu? Eine Gegenkraft, die darin liegt, ein Verhalten zu lernen, das mit Lebensliebe, Lebenslust, Offenheit und Solidarität zu tun hat - aus der kritische, selbständige Bürgerinnen und Bürger mit Herzensbildung hervorgehen?

Prolog

Zum eidgenössischen Nationalfeiertag vom 1. August 1998 hält Nationalrat Andreas Gross eine vielbeachtete Rede[1]. Im Zusammenhang mit unserem Thema zitiere ich daraus folgende Stelle: Es geht um die politische Freiheit.

"Frei ist nicht, wer zwischen verschiedenen Angeboten wählen kann, sondern wer mit anderen, ähnlich gesinnten Menschen eine gemeinsame Lebensgrundlage schaffen kann, die ein Leben nach unser aller Interessen ermöglicht.

Passiv läßt sich folglich nicht frei sein. Auch allein kann kein Mensch frei sein. Allein kann er verzweifeln. Um frei zu werden, braucht er seine Mitmenschen. Oder wie es in der Menschenrechtserklärung der französischen Revolution hieß, welche die Grundlage war für die Helvetische Republik vor 200 Jahren, die wiederum viele Eidgenossen von der Unfreiheit der alten Eidgenossenschaft befreite: Frei sind diejenigen, welche nur jenen Gesetzen gehorchen, die sie selber direkt oder indirekt mitbestimmt haben.

Nicht alles stellt sich her in der Geschichte, was sich, stellte es sich wirklich her, auch bewähren würde. Probleme institutioneller Ordnung lösen sich nicht schon deshalb, weil es sie gibt. Es genügt auch nicht die Einsicht einiger Menschen in die Wünschbarkeit einer neuen Ordnung, selbst wenn sich diese Einsicht mit klarsten Vorstellungen darüber paart, wie die neue Ordnung auszusehen habe.

Es reicht also nicht, wenn Menschen einsichtig sind und sich vorstellen können, daß es anders besser sein könnte, sondern sie müssen auch noch ganz persönlich ein Interesse daran haben, zur Herstellung der neuen Ordnung auch wirklich beizutragen.

Ermutigende Zeichen und Erkenntnisse aus ganz Europa sind derzeit auch für die Schweiz unübersehbar: Mittlerweile sind fast in allen der vierzig europäischen Staaten Bürgerinitiativen zu beobachten, welche die repräsentative Demokratie als zu dünn empfinden und zusätzliche direktdemokratische Volksrechte verlangen. In vielen europäischen Staaten manifestieren Bürgerinnen und Bürger ihren Willen, politisch freier zu werden, die Politik nicht nur den Gewählten zu überlassen, sondern auch in die eigenen Hände zu nehmen.

Heute muß die Demokratie nicht nur auf kommunaler oder regionaler, nicht mehr nur auf der Ebene des nationalen Staates verankert werden: Sie muß es auch auf internationaler Ebene."

Wo und wie lernen wir Demokratie? [2]



[1] Andreas Groß, Rede zum Eidgenössischen Nationalfeiertag, Tagesanzeigermagazin, 7. 7. 1998, Zürich

[2] Felix Mattmüller/Marcus Ehinger, Schule einmal anders, fröhlich, zärtlich, spannend. 1. Auflage Z-Verlag 1988, vergriffen, 2. Auflage als Tatort Schule - Wider den Pädagogischen Ernst! Verlag Paul Haupt, Bern, 1991

I. Vom Gefühl, richtig, gut und willkommen zu sein[3]. (Jean Liedloff)

Dieses Gefühl kann in der Familie entstehen, wenn nicht die in jedem Menschen angeborene Glücksfähigkeit zerstört wird. Wenn der Säugling seinen angestammten Platz, während er getragen wird, in den Armen eines Menschen erfährt, entwickeln sich Sicherheit und Selbstvertrauen. Seine momentanen Bedürfnisse sind erfüllt. Seiner Entwicklung ist dies förderlich.

"Ohne das Gefühl des Richtigseins hat man kein Gespür dafür, wieviel an Wohlgefühl, Sicherheit, Hilfe, Gesellschaft, Liebe, Freundschaft, Gegenständen, Lust oder Freude man beanspruchen kann. Einem Menschen, dem dies Gefühl mangelt, kommt es oft vor, als sei ein leerer Fleck, wo er selbst ein sollte." [4]

Das positive Selbstgefühl ist Voraussetzung für das Funktionieren des "inneren Parlamentes":

Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft, Staat, Verwaltung nach menschlichem Maß zeigt sich offen-freundlich-verpflichtet und läßt sich nur mit demokratisch gebildeten Persönlichkeiten erreichen. Innerlich sind wir Menschen nämlich erstaunlicherweise demokratisch konstruiert.

Konrad Lorenz spricht von einem "Parlament der Instinkte", das Entscheidungen vorbereitet und ausbalanciert. Dabei steht der "Brutpflegeinstinkt" (Liebesinstinkt) dem "Selbstbehauptungsinstinkt", der defensiven Aggression, gegenüber. Dementsprechend lautet der Titel des Buches, in welchem Lorenz mit dem "Parlament der Instinkte" zitiert wird, sinngemäß "Liebe und Haß, zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen". Ebenso können wir sprechen von einem "Parlament der inneren Persönlichkeiten", etwa nach psychoanalytischen Erfahrungen Jungs, und nicht zuletzt von einem "Parlament der Gefühle": Enttäuschung, Wut, Hoffnung, Freude, Trauer usw.. So werden im "Inneren Parlament" Entscheidungen demokratisch erarbeitet mit der Möglichkeit, daß Offenheit-Freundlichkeit-Verpflichtung überall, wo verwaltet werden muß, im eigenen Interesse und im Interesse des jeweiligen Gegenübers zur Leitlinie werden[5].

Deshalb sind sichernde "Geborgenheits-Rituale" bedeutungsvoll: Geschichten, Geplauder und Zärtlichkeiten vor dem Einschlafen, ein glücklicher Tagesanfang zu Hause und in der Schule.

Auf diese Weise werden Kinder - und nicht nur sie - stärker!

Gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen vernichten Vereinzelung und Einsamkeit.

Und sobald wir etwas miteinander unternehmen, ist das Politik wie sie Thea Bauriedl in ihrem Buch "Die Wiederkehr des Verdrängten: Psychoanalyse, Politik und der Einzelne"5 beschreibt.

Durch Gemeinsamkeit wird "bürgerliche Kälte" der Vereinzelung abgebaut[6].

Das Ziel der Machthaber war schon immer, die Menschen zu isolieren, damit sich solidarisches Verhalten nicht entwickeln kann. Wenn überhaupt, haben "die Schwachen die Freundschaft (die "Wärme") erfunden". Die Mächtigen dieser Welt brauchen keine Freunde, sie haben die Macht. "Nur die Freundschaft macht die Schwachen stark," meint Rafik Schami in seinen Reden gegen das Verstummen[7].



[3] Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, CH-Beck-Verlag, München 1985

[4] Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Haß, 16. Auflage, Piper, München, 1993

[5] Thea Bauriedl, Die Wiederkehr des Verdrängten, Psychoanalyse, Politik und der Einzelne, Serie Piper, München, 1987

[6] Andreas Gruschka, Bürgerliche Kälte und Pädagogik, Pandora Verlag Wetzlar, 1994

[7] Rafik Schami, Vom Zauber der Zunge - Reden gegen das Verstummen

II. Machen Sie lieber Entdeckungsreisen als Fortschritte[8]. (Heinrich Jakoby)

Das institutionelle Lernen in Schulen und Kursen ist zielorientiert. Da sollen Kinder und Erwachsene auf dem kürzesten Weg nach ausgeklügelten (Computer-)Programmen vom Input zum Output geführt (gedrängelt) werden.

Gefragt ist Tempo. Nachdenklichkeit, Besinnlichkeit, langsame, altersentsprechende Entfaltung ist nicht im Trend[9].

In der Geschichte der Frau, die sich für alles einen Plan machte, ist der übliche Ablauf einer Lektion karikiert[10]. (In der Regel sind es ja Männer, die Pläne schmieden, die nicht funktionieren!)

Die Geschichte von der Frau, die sich für alles einen Plan machte

Eine Frau machte für alles einen Plan. Den schrieb sie auf einen Zettel, und dann mußte alles genau nach Plan geschehen.

Am Sonntagnachmittag sollten Gäste kommen. Die Frau schrieb auf einen Zettel: "1. Tisch decken, 2. Sonntagskleid anziehen, 3. Torte garnieren, 4. Dem Kind die Flasche geben, 5. Den Hund ins Badezimmer sperren, 6. Die Gäste von der Straßenbahn abholen."

Sie deckte also zuerst den Tisch, und dann wollte sie sich umziehen. Als sie damit gerade angefangen hatte, kamen die Gäste schon. Das brachte die Frau ganz durcheinander, weil das ja so nicht im Plan stand.

Sie zog zuerst das Sonntagskleid an und darüber den Büstenhalter. Sie gab dem Kind die Tortenspritze, steckte dem Hund die Babyflasche ins Maul. Dann sperrte sie die Gäste ins Badezimmer und ging zur Straßenbahnhaltestelle.

(Ursula Wölfel)

Nur die ganz Schnellen haben da eine Chance. Sie werden darin geschult, eine Scheinwelt noch nicht genutzter, "virtueller" Möglichkeiten als Wirklichkeit gläubig anzuerkennen und verlieren so den Boden unter den Füßen:

"Die Organisation, die wir auf die Welt mitgebracht haben, wird allein durch Benutzt-Werden, durch Gebrauch, entfaltet, und nur durch entsprechendes Ausmaß und eine bestimmte Qualität des Gebrauchs können die latenten Möglichkeiten offenbar werden. Was meine Hände an differenzierter Leistung zu leisten fähig sind, kann nur offenbar werden, indem ich meine Hände zweckmäßig gebrauche.

Die Erfahrungen anderer kann ich erst wirklich werten, wenn ich selber auch Erfahrungen habe.

Das viele leere Wissen schläfert ein, führt zu Abhängigkeit und verleitet, gegen die eigene Empfindung zu handeln. Machen Sie lieber Entdeckungsreisen als Fortschritte.

Je mehr man ausprobiert, desto mehr Geländekenntnis bekommt man. Wenn ich eine Gegend kennenlernen will, muß ich in dieser Gegend umherwandern und nicht nur eine gute Landkarte studieren. Dabei lerne ich zwar die Landkarte auch kennen, aber nicht ihre Realität, sondern nur örtliche und räumliche Beziehungen. Es geht nicht darum, Berichte und Bemerkungen anderer einleuchtend zu finden.

Wir müssen in das Gebiet reisen, darin spazierengehen, müssen spüren, wie es sich dort lebt, wie es sich dort atmet, wie farbig alles ist, wie es riecht, was alles sich dort bewegt und lebt. Auch durch die beste Reisebeschreibung erfahren wir das nicht." [11]

Gemächlichkeit und Besinnlichkeit empfiehlt sogar Georg Krayer, Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung am Bankiertag 1998 (Basler Zeitung vom 5./6. September 1998) mit folgenden Worten:

"Krayer konnte sich in seiner Präsidialadresse auch einen kleinen, kritischen Exkurs zu den deroutierten Aktienmärkten nicht verkneifen. Im hektischen Bestreben, "real time" auf den gerade allerletzten Ausschlag an globalen Börsenseismographen zu reagieren, merkten manche Schnelldenker nicht einmal, daß sie das Überlegen versäumt hätten: Nachzudenken darüber, daß auch blitzschnelles Handeln an den Finanzmärkten nur das sofortige Mitmachen am Geschehen erlaube, nicht aber das Geschehen selber sei. Das Rascheln der Blätter und das Schwanken der Äste im Starkwind - so Krayer bildlich - habe nichts zu tun mit dem Wachstum des Baumes, das seine Grenzen habe. Diese gründeten in anderen Gesetzmäßigkeiten, eine Schicht oder zwei Schichten tiefer. Man darf diese Worte wohl durchaus als Aufruf auffassen, Börsenoptik und Aktiengeschäfte weniger auf die täglichen Kursausschläge und mehr auf die fundamentalen Gegebenheiten auszurichten."

Diese virtuelle Scheinwelt nähert sich dem Ende, und bald wird wieder handwerkliches Können und sachbezogenes Denken als soziale Tätigkeit in wirtschaftlichen, politischen, sozialen und persönlichen Zusammenhängen gefragt sein. Menschenunwürdiges "Lernen auf Vorrat" (Jakoby) mit Programmen, die auf ihre Bedeutung für die Zukunft kaum durchdacht sind - was wissen wir schon, was die heutigen Erstklässler in 15 Jahren erwartet und was dann zumal wichtig wäre - dieses Lernen auf Vorrat dient so als Machtmittel zur Verhinderung entfalteter solidarischer Menschen, die wissen, was sie wollen und sich nicht manipulieren oder unterdrücken lassen.

"Vielleicht gibt es auf der Welt nur zwei Arten von Fragen. Die einen, die sie in der Schule stellen, auf die die Antwort im Voraus bekannt ist und die nicht gestellt werden, damit irgend jemand klüger wird, sondern aus anderen Gründen." [12]

Da kommt " Das Manifest wider die Hüter der richtigen Antworten" gerade im richtigen Moment. Im Buch "Lernen als Lebensform" von Peter B. Vaill[13] wird am Beispiel einer Geschäftsreise aufgezeigt, was beim institutionellen Lernen unberücksichtigt bleibt:

Unberücksichtigt bleiben

  • Unsere psychischen und biologischen Systeme.

  • Die häuslichen Systeme, mittels derer wir aufwachsen, uns waschen, ankleiden und ernähren.

  • Ein Familien-System, das so ruhig ist, daß wir die für den Tag anstehenden Pläne reibungslos durchführen können, anstatt die Zeit darauf zu verwenden, mit dem Ehegatten, den Kindern oder anderen Familienangehörigen Probleme zu lösen.

  • Das Beförderungssystem.

  • Alle Verkehrskontrollsysteme, die unsere Fahrt zum Flughafen regeln.

  • Das Parksystem am Flughafen.

  • Das System, das uns ein Flugticket und die Bordkarte bereitstellt.

Daher geschieht Lernen als Lebensform stets prozeßorientiert und zukunftsoffen " im permanenten Wildwasser" im gemeinsamen Handeln und Nachdenken. Eine gute Theorie sei die beste Praxis, verkündigt die Wissenschaft unberücksichtigt der Erfahrung, daß der "neueste Stand der Wissenschaft stets der neueste Stand des Irrtums ist" (Detlefsen).

Lernen und Leben, leben lernen im permanenten Wildwasser meint hingegen, daß die beste Praxis eine dauernd überdachte (reflektierte) Praxis sei, bei der Handeln und Denken als soziale Tätigkeiten erfahren werden[14]. Dabei müssen wir uns nicht stressen. Wir haben stets Zeit und Zukunft vor uns nach dem Slogan von Ashley Montagu[15] "Das Ziel des Lebens besteht darin, ‚jung' zu sterben und zwar so spät wie möglich!"

Damit stehen wir immer neu am Anfang eines Weges.

"Unsere fortlaufend einfallsreichen und schöpferischen Anregungen in Systemen und unsere Reaktionen auf Systeme stellen in Wahrheit ein kontinuierliches Lernen dar. Anders ausgedrückt: Fortgesetzte Lernprozesse sind das, was wir erkennen, wenn wir das Handeln von Menschen in komplexen Situationen beobachten.

Wir sollten sorgfältig überdenken, was wir über das kontinuierliche Lernen erfahren müssen, um in den Makrosystemen produktiv leben und uns dabei wohl fühlen zu können.

Wir müssen außerdem darüber nachdenken, ob wir so gut wie möglich auf die Teilnahme an fortgesetzten Lernprozessen vorbereitet sind, und wenn dies der Fall ist, wie man an ihnen teilhaben will."



[8] Heinrich Jakoby, jenseits von begabt und unbegabt, zweckmäßiges Verhalten, Schlüssel für die Entfaltung des Menschen, Christians Verlag, Hamburg, 1983

[9] Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, Serie Piper, München 1987

[10] Felix Mattmüller/Josef Fragner, Integration als Projekt der Gleichwertigkeit, von der Defektologie zur Demokratie, Studienverlag Innsbruck-Wien, 1998

[11] siehe Fußnote 8

[12] Peter Hoeg, Der Plan von der Abschaffung des Dunkels, Rowohlt, Hamburg, 1998

[13] Peter B. Vaill, Lernen als Lebensform. Ein Manifest wider die Hüter der richtigen Antworten, Klett-Cotta, Stuttgart, 1998

[14] Ludwick Fleck, Erfahrung und Tatsache, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1989

[15] Ashley Montagu, Zum Kind reifen, Klett-Cotta, Stuttgart, 1991

III. Wer die Geschöpfe liebt, denen es gut geht, bleibt unpolitisch.

Brief an eine Lehrerin - Die Schülerschule

Mit der Wahl der unterrichtlichen Inhalte, der Texte und Berichte machen wir Politik. In Lesebuchgeschichten, in Rechenbeispielen wird in der Regel eine heile Welt beschrieben.

Ein Beispiel aus dem Arbeitsbuch von Diesterweg:

In der Küche

Wir haben alles aufgegessen.

Nun muß die Mutter spülen.

Ursula und Jürgen helfen ihr dabei.

Das Wasser muß sehr heiß sein.

Zuerst spült Mutter die kleinen Teller.

Dann spült Mutter die großen Teller und die Schüsseln.

Zuletzt spült sie die Messer, die Gabeln und die Löffel.

Ursula und Jürgen trocknen ab.

Sie räumen alles vorsichtig an seinen Platz.

Aber: Wie viele Kinder leben heute noch in einer "heilen Welt" nostalgischer Bürgerlichkeit, wie sie hier als erstrebenswerte Norm suggeriert wird? Wie viele Heranwachsende erhalten noch von der Mutter gekochte, warme Mahlzeiten am sauber gedeckten Tisch auf formschönen Geschirr? Dies wären erfahrungsmäßige Voraussetzungen zur Besprechung dieses Textes[16].

Ein Rechenbeispiel aus einem modernen Rechenbuch zeigt die Verschrobenheit technokratischer Lehrplan-Produzenten. Da paßt wirklich nichts zusammen. Was hat ein "Sack Freizeit" mit einem "Sack Bleistifte" zu tun? Hier werden Inhalte mißbraucht zu formalen Übungen ohne Sinn und Zusammenhang. Damit werden Kinder dazu mißbraucht, unbedacht jeden Unsinn zu schlucken, und so daran gehindert, die wirklichen Probleme zu entdecken.

Die folgenden Dinge sind genau abgezählt oder abgemessen worden.

Der Inhalt jedes Sacks stellt ein Ganzes dar.

Berechne von jedem dieser Ganzen a) 1/2 b) 1/3 c) 1/10 d) 1/5 e) 1/4 f) 1/6 g) 1/8.

(Mathematik 5, Internationale Lehrmittelzentrale, Lehrmittelverlag des Kantons Zürich, 1998, ISBN 3/906719/66/9)

Wir suchen deshalb Texte, die den Kindern nicht eine "heile" Welt vorgaukeln, sondern vielmehr "Primärerfahrungen" aus der Erlebniswelt der Kinder bestätigen und Mut machen, selbst Erfahrungen zu sammeln. Solche Texte wecken in den Kindern das Bewußtsein, daß die Welt und vor allem auch ihr persönlicher Lebensraum veränderbar ist. Wenn alte Tabus und Rollenverhalten überwunden werden, wenn Fantasie, Zärtlichkeit, Kreativität und Solidarität eingeübt werden, wird eine lustvolle, solidarische Welt möglich. Ein Beispiel:

Die Geschichte von den Brüllstieren

Einmal waren zwei Stiere auf einer Wiese. Sie wollten den Kühen zeigen, wie stark sie waren. Der eine hat gebrüllt: "Ich bin stärker als du! Ich kann dich umrennen, wenn ich will!" Und der andere hat gebrüllt: "Nein, ich bin stärker! Ich kann dich mit den Hörnern in die Luft werfen, wenn ich will!" Und die Kühe haben am Zaun gestanden und gestaunt, und die Stiere haben weiter gebrüllt: "Ich kann dich zu Brei stampfen, wenn ich will!" Und der andere hat gebrüllt:" Ich kann dich anschnauben, daß dir dein Fell verbrennt, wenn ich will!" Und die Kühe haben am Zaun gestanden und gemuht und sich gewundert. Die Stiere haben gebrüllt, bis sie heiser waren. Sie konnten nur noch piepsen und quietschen. Der eine hat geschrien: "Ich kann mit den Augen rollen, daß du vor Angst in ein Mauseloch kriechst, wenn ich will!" Und der andere hat geschrien: "Ich kann dich mit der Schwanzspitze antippen, daß du auf den Mond fliegst, wenn ich will!" Da haben die Kühe sich gelangweilt über das dumme Gebrüll. Sie haben den Stieren den Rücken zugedreht und sie allein weiter schreien lassen.

(Ursula Wölfel: Achtundzwanzig Lachgeschichten)

Merke: Der beste Politiker ist nicht der mit der lautesten Stimme!

Die Geschichte vom grünen Fahrrad

Einmal wollte ein Mädchen sein Fahrrad anstreichen. Es hat grüne Farbe dazu genommen. Grün hat dem Mädchen gut gefallen. Aber der große Bruder hat gesagt: "So ein grasgrünes Fahrrad habe ich noch nie gesehen. Du mußt es rot anstreichen, dann wird es schön." Rot hat dem Mädchen auch gut gefallen. Also hat es rote Farbe geholt und das Fahrrad rot gestrichen. Aber ein anderes Mädchen hat gesagt: "Rote Fahrräder haben doch alle. Warum streichst Du es nicht blau an?" Das Mädchen hat sich das überlegt, und dann hat es sein Fahrrad blau gestrichen. Aber der Nachbarsjunge hat gesagt: "Blau? Das ist doch so dunkel. Gelb ist viel lustiger." Und das Mädchen hat auch gleich gelb viel lustiger gefunden und gelbe Farbe geholt. Aber eine Frau aus dem Haus hat gesagt: "Das ist ein scheußliches Gelb! Nimm himmelblaue Farbe, das finde ich schön!" und das Mädchen hat sein Fahrrad himmelblau gestrichen. Aber da ist der große Bruder wieder gekommen. Der hat gerufen: "Du wolltest es doch rot anstreichen! Himmelblau, das ist eine blöde Farbe. Rot mußt Du nehmen, rot!" Da hat das Mädchen gelacht und wieder den grünen Farbtopf geholt und das Fahrrad grün angestrichen, grasgrün. Und es war ihm ganz egal, was die anderen gesagt haben.

(Ursula Wölfel)

Merke: Ich werde unabhängig nur durch Erfahrung!

Wir sind geneigt, den Schülern der Scuola di Barbiana[17] zuzustimmen, wenn sie schreiben:

  • Eine Schule, die Auslese betreibt, zerstört die Bildung. Den Armen (Schwachen) nimmt sie die Möglichkeit, sich auszudrücken. Den Reichen nimmt sie die Kenntnisse.

  • Wehe dem, der euch Hand an das Individuum legt. Die freie Entwicklung der Persönlichkeit ist euer oberstes Glaubensbekenntnis. Die Gesellschaft und ihre Nöte kümmern Euch nicht.

  • Die Theorie vom Genie ist eine bourgeoise Erfindung. Sie stammt aus einer Mischung von Rassismus und Faulheit.

  • Die Kinder der Armen kennen und die Politik lieben ist ein und dasselbe. Man kann nicht Geschöpfe, die von ungerechten Gesetzen gebrandmarkt sind, lieben und nicht bessere Gesetze wollen.

  • Wir haben gelernt, daß das Problem der anderen auch unseres ist. Wenn wir es gemeinsam lösen, so ist das Politik. Löst man es für sich selbst allein, so ist das Geiz.

Worum geht es eigentlich in der Schule? Wirtschaft und Gesellschaft sind sich da einig. Es geht um klar umrissene Aufgaben:

  • Selektion: nur die Stärksten (Rücksichtslosesten?) dürfen aufsteigen.

  • Elitebildung: ungeschriebenes Erbrecht der Männer aus Mittel- und Oberschicht.

  • Einseitige, vor allem intellektuelle Leistungsforderung im formalen Bereich.

  • Forderung von Einzelleistungen nach Konkurrenzprinzip und entsprechendem Notendruck, mit dem Ziel, die einzelnen zu isolieren, und damit Solidarität nicht aufkommen zu lassen[18].

Es geht auch darum, daß die Befehlsstrukturen von oben nach unten in Fleisch und Blut jedes einzelnen eingehen. Diese autoritären Strukturen zeigen später Wirkung, auch in der Schule, in Form von Konkurrenzverhalten, Bloßstellung und Brutalität nach der längst überholten, sozialdarwinistischen Ideologie der "Auslese" nach dem "Recht des Stärkeren", der Toleranz nur übt, wenn er seiner Macht sicher ist. Diese Schule verharrt im Glauben, daß Kinder nur unter Druck und Angst vor schlechten Noten lernen. Nach dieser Meinung dürfen Solidarität und Widerstand gegen ungerechte Behandlung nicht aufkommen. Die politische Dimension dieser Ideologie ist offensichtlich. Erreicht wird lediglich Einpassung in die herrschenden unerwünschten Zustände der Herrschenden.10

Was setzen wir dagegen?

Wir übernehmen die volle Verantwortung für unser Leben. Allein schon damit handeln wir gegen autoritäre Systeme auf allen Ebenen.

Als systemfeindlich werden wir wo immer möglich angeprangert und nicht selten disqualifiziert. Die Vertreter dieses Systems fühlen sich nicht allein von selbständig denkenden und handelnden Menschen in Frage gestellt, sondern mindestens ebenso sehr von Menschen, die sich nicht einpassen können oder einpassen wollen: von Behinderten, Kranken, Arbeitslosen, Homosexuellen, Lesben, RentnerInnen, alleinstehenden Frauen mit und ohne Kinder, Brot- und Heimatsuchenden aus anderen Ländern, Sonderschülerinnen und Sonderschülern usw.; von Menschen also, die auf eine solidarische, demokratische Gesellschaft angewiesen sind. So gesehen ist behindert, wer sich nicht einpassen will oder einpassen kann!

Und nun verlangt die Gesellschaft gerade von diesen Menschen das Unmögliche: Sie haben sich reibungslos einzupassen. Kooperation ist Voraussetzung für Integration. Wir sollten es zwar wissen: Kooperation, Miteinander leben, Zusammenwirken allein ist Voraussetzung für eine Integration, die von Menschenwürde und Menschenrecht ausgeht. In Gemeinschaft mit anderen Menschen finden wir auch unsere persönliche Freiheit in einer Welt, die wir nur miteinander verändern können, indem wir die Freiheit leben und erproben. Anders gibt es keine Freiheit, höchstens hie und da Fehlen von Zwang. Freiheit ist, so gesehen, logische Folge von solidarischem Verhalten. Freiheit können wir miteinander jederzeit herstellen. Geschenkt wird sie uns nicht. Sie ist stets neu zu erringen, gegen alle Widerstände des Systems. Diese Widerstände erfahren wir jedoch nur, wenn wir allein oder mit anderen zusammen gegen alle Ungerechtigkeiten antreten. Erst so erfahren wir, wie uneingeschränkt mit dem Druck zu bedingungsloser Anpassung an die Bedingungen des Herrschenden Überwachung und Kontrolle erfolgt.

Um zu wissen, was einen innerlich und äußerlich zerstört, muß man den Kontrolldruck einer Schulaufsicht (des Systems) erlebt haben. Der Mechanismus der Zerstörung und Verunsicherung läuft ab, kaum durchschaubar, im Verborgenen. Wenn wir uns dagegen wehren wollen, müssen wir ihn kennen. Nur so können wir Gegenmaßnahmen ergreifen. Der Unterdrückungsmechanismus läuft ab auf dem Hintergrund von Macht- und Gewaltstrukturen, die gar nicht leicht zu durchschauen sind:

Die von der Schule (und nicht nur von ihr) verherrlichte Arbeit trennt den Menschen von seiner Lust und seinem Glück, erstickt seine Bedürfnisse, zerstört sein Leben. Sie verdammt zu Langeweile und innerer Ödnis. Sie zwingt zu Konkurrenz mit den Mitmenschen und zur Zerstörung jeder Kommunikation. Sie ist eine Ware mit einem Preis, der als Note oder als Lohn ausbezahlt wird. Sie richtet sich nicht nach dem individuell und gesellschaftlich Notwendigen. Was sie produziert, was sie leistet, wird dem Arbeitenden entrissen. Als Arbeitskraft wird sie bei der Austrocknung des Marktes nicht mehr gekauft und der ganze verdinglichte Mensch mit ihr entwertet. Sie produziert und leistet Nichteinsehbares und verdammt zu unausgewiesener Abstraktion. Sie begründet Herrschaft und Knechtschaft. Sie domestiziert den Menschen, um ihn zu verstümmeln. Sie fordert größtmögliches Dabeisein bei kleinstmöglicher Hingabe, totale Nötigung zu geringster Aufwendung menschlicher Begabung. Sie unterordnet den Menschen seinem Arbeitsinstrument und instrumentalisiert ihn. Sie beutet ihn aus und wirft ihn als leere Hülse weg (Hans Hehlen: Gegen die Zwangsarbeit in der Schule).

Gegen die Unterdrückungsmechanismen haben wir wenig in der Hand[19]. Mit der Wahl der Texte und ganz allgemein der Unterrichtsinhalte geht es nicht um Befreiung von, sondern um Befreiung zu etwas! Die Heranwachsenden "sollen die gesellschaftlichen Kräfte kennen, Ideologien und Manipulation durchschauen, zukunftsgerichtet denken und ihre Interessen ins Spiel bringen" lernen[20]. Zugleich geht es um das Erlernen eines Verhaltens, das mit Lebensliebe, Lebenslust, Offenheit, Solidarität, Demokratie, Menschenwürde und Gerechtigkeit als Lernziel zu tun hat? Wo finden wir den Hinweis, daß Wirtschaft und Politik verantwortlich sind für "ein gutes Leben für alle"? [21]

Und doch: Wie anders können wir der wieder aufwallenden braunen Flutwelle begegnen?



[16] siehe Fußnote 10

[17] Die Schülerschule (Schola di Barbiana), Brief an eine Lehrerin, mit einem Vorwort von Peter Bichsel, Verlag Paul Wagenbach, Berlin, 1970

[18] siehe Fußnote 10

[19] Paolo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, Kreuz-Verlag Stuttgart, 1971

[20] Arne Engeli, Politische Bildung in der Schweiz, Verlag Huber, Frauenfeld und Stuttgart, 1972

[21] Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Paul Haupt, Bern, Stuttgart, Wien, 1997

Epilog

Freunde wir haben Arbeit bekommen[22].

Und schon steht der deutsche* Spießer wieder auf dem Sprung.

Hält seinen Vormund leicht geöffnet,

Zu schlucken, was da fault.

Schon laufen alt und jung und Christ

Und kleiner Mann in seine Arme,

Und alles fängt von vorne an.

Die national-soziale Lederhosenreaktion,

Ihr blutiges Beil noch unterm Bett,

Sie fordert schon, im altbekannten Ton,

Für Deutschland ein gesundes Nationalkorsett.

Ich versteh's nicht.

Kein Mensch regt sich.

Und das deutsche Volk pflegt sich.

Die Herren sagen: Randerscheinung.

Und viele sind sogar der Meinung,

Daß man nun diese neodemokratische Farbe

Doch endlich wieder ganz genau unter Kontrolle habe.

Den Scheitel gerade und die Nägel kurz geschnitten,

Das wuchert um sich, zieht Messer blank,

Gen Ostdeutschland wird natürlich auch geritten.

Ich versteh's nicht.

Kein Mensch regt sich.

Und das deutsche Volk pflegt sich.

Ich kann es nicht poetisch sagen,

Ich weiß nur noch von jenen Jahren,

Wo Menschen wie ein Stück Vieh für den Gefreiten waren.

Ich versteh's nicht.

Keiner geht auf die Straße;

Nur, wenn Gammler dort zu sehn,

Bleiben viel Leute stehn.

Und es leuchtet in ihren so friedlichen Augen:

Nur weg mit diesen Untermenschen, die nichts taugen.

Das ist des Spießers Zucht und Ordnungssinn -

Bollwerk gegen den Kommunismus.

Gegen Mode und Sex, Geld und Gewinn

Hilft bei uns nur ein neuer Faschismus.

Das ist der alte Hugenberg-Mief,

Die Hindenburg-Diadochen.

Der braune Mob, das sitzt so tief,

Kommt immer wieder gekrochen

Und sitzt an unserem Familientisch

Und ißt mit uns das gleiche Brot

Und fängt mit uns denselben Fisch

Und schickt Millionen in den Tod.

Ich versteh's nicht.

Kein Mensch regt sich.

Und das deutsche Volk pflegt sich.

Doch, ich denke, darauf können wir uns nicht verlassen.

Unsre Freiheit wird bedroht vom selben Feind.

Die Bevormundung, sie nimmt kein Ende.

Diese deutsche Krankheit kriegt man nicht

Mit Anpassung zu fassen.

Und man möchte mit den Gammlern gehen

Und den freien Himmel täglich sehen,

Und wir lägen am Boden und wären nicht wer.

Und hätten kein Geld und kein Vaterland mehr.

In Kellern säßen wir dann und auf Bäumen

Und wären beschäftigt mit anderen Träumen,

Und wir sehen manchen Kontinent.

Und wir kennen manchen, den man hier nicht kennt.

Und wir hören kein dummes und falsches Geschwätz mehr.

Und fürchten kein Notstands- und Nazigesetz mehr.

Doch, das geht nicht, das geht nicht,

Denn es gibt ein paar Freunde, die uns brauchen;

Und es gibt noch ein paar Menschen, die gescheit sind;

Und es gibt noch ein paar Kinder,

Die noch längst nicht so weit sind;

Und es gibt noch ein paar Tote, die uns beim Wort genommen.

Freunde, wir haben Arbeit bekommen.

(Hans Dieter Hüsch)

* gilt ebenso für den schweizerischen Spiesser und solche anderer Nationen

Referat, gehalten beim 26. Martinstift-Symposion "Schule für alle" am 1. 10. 1998, Evangelischen Diakoniewerk Gollenkirchen.



[22] Jürgen Kessler/Hans Dieter Hüsch, Kabarett auf eigene Faust, 50 Bühnenjahre, Karl Blessing Verlag, München, 1997

Der Autor

Felix Mattmüller

Ehemaliger Leiter einer selbstverwalteten staatlichen Alternativschule mit 200 KollegInnen, aufgeteilt in 30 Kleinschulen. Bildungspolitiker. Mitbegründer der Genossenschaft Z-Verlag. Mitbegründer der gewerkschaftlich-politischen Bildung "Demokratie 2000". Über 20 Veröffentlichungen zu persönlicher Lebensgestaltung, Bildung, Unterricht und Politik.

General Guisan-Straße 8

CH-4054 Basel

Quelle:

Felix Mattmüller: Freiheit und Solidarität durch Demokratie

Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 4/5/99; Reha Druck Graz

bidok - Volltextbibliothek: Wiederveröffentlichung im Internet

Stand: 10.05.2005

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